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Tokio

Unterwegs in einer fremden Stadt,

ist fast so wie auf einem fremden Planeten –

die Sprache sagt einem nichts.

Am besten, man spricht mit der Stadt direkt,

vielleicht findet man so Zugang zu ihr.

"Tokio, wie ist es Dir so ergangen?"

Menschenströme – dennoch nicht elektrisiert.

Keinerlei Handlung vorhanden im Real Life.

Man ist nicht inmitten einer Geschichte.

Es sind Sätze und Abschnitte, die sich wiederholen.

Satzfragmente.

Man fängt die Stimmung auf,

das Gesagte kommt kaum über den Status

eines Geräuschs hinaus.

"Tokio, Du bist recht groß.

Wärst Du lieber beschaulicher?"

 

"Ich liebe es, mich zu recken,

mir meine Größe vergegenwärtigen,

das macht mich schon ein bisschen stolz.

Ich werde jeden Tag bunter,

ich glühe vor LED-Begeisterung.

Ich bin ein Verkünder,

ein Paradies gegen Cash.

Ich bin 'ne Global City –

weitaus mehr als eine Stadt.

Warum sich begrenzen?

Gut, das Meer macht da schon Schwierigkeiten,

ich luchse ihm Land ab.

Faust würde das gefallen."

 

"Man könnte meinen, dass Du dem Berg

etwas entgegensetzen willst."

"Sich nicht dominieren lassen von dem,

was einen überragt.

Überzeugt sein von der eigenen Wichtigkeit,

sich vergegenwärtigen, dass man ein Magnet ist."

"Ziemlich arrogant.

Aber die Touristen lieben Dich.

Man hat in Asien schon immer die Weisheit gesucht,

hast Du in dieser Hinsicht was anzubieten,

was im Angebot?"

 

"Muss mal schauen.

Das Leben ist keine Story;

die Menschen, die an Dir vorübergehen,

lassen sich nicht einbinden in den Plot.

Aber wo wäre der Moment so intensiv wie direkt hier?

Gut, ich kenne keine anderen Städte,

bin insofern etwas eingenommen von mir,

aber 37 Millionen Einwohner ist schwer zu toppen.

Größter Ballungsraum der Welt,

ich sauge Städte in mich auf,

ich wachse ... ich hyperventiliere.

Willst Du ein Autogramm?

Ich hätte auch ein Autokilogramm.

Doch eigentlich bin ich dem Auto gram:

Staus, man flucht auf mich;

es fehlt mir trotz aller Weite Platz.

Ich habe nicht die Unbekümmertheit eines Waldes,

ich bin organisiert, akkurat ...

Wie gerne hätte ich die Lässigkeit eines Waldes,

bei mir ist alles reglementiert.

Mich mit Dir zu unterhalten –

das wird eigentlich gar nicht gern gesehen.

Aber schön, dass Du Dich

für meine Ansichten interessierst.

Schau Dich nur um,

ich selber bin fasziniert davon,

welch wundersame Blüten

meine urbane Fantasie treibt.

Apropos – hast Du schon die Kirschblüten bemerkt?

Mein ganzer Stolz.

Leider sehr vergänglich.

Auch wenn man eifrig fotografiert,

versucht, den Augenblick einzufangen –

man kann die Zeit nicht in sein Handy bannen,

sie einsperren wie einen Dschinn.

Erzähl mir von New York, von Hamburg.

Ich frage gerne die Touristen aus –

nur so erfahr ich Neues.

So viele Stadtgespräche –

aber glaubst Du, einer wendet sich direkt an mich?

Wie unhöflich ist das denn?

Ich hasse es, aufdringlich zu sein,

in bester Reporter-Manier

sich an den zu Befragenden ranzudrängen ...

Aber wie erfahr ich News?

Von meinen Brüdern und Schwestern,

den Weltstädten, den Zentren der Kultiviertheit.

Wo steht man so, wie ist das Ranking,

muss ich mich mehr anstrengen?

Soll ich mehr auf Gentleman machen

oder Finanz-Heini, Geld-Akrobat?

Bald ist Olympiade – bin ich sportlich genug?

Ich muss mich jeden Tag neu erfinden,

Erfolgsdruck, Innovations-Erwartungen.

Was taugt meine Spitzentechnologie?

Wieso gibt es keine Couch für Städte?

Small Talk kann ja auch

therapeutisch wirksam sein,

lass uns reden; hast Du noch Fragen?"

 

"Du hast genau das richtige Flair,

eine Mischung von Fröhlichkeit und Ernst."

"Das ist mein Anliegen: die Zukunft zu designen,

wie eine schöne Skulptur."

"Hau rein!"

 

ENDE

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 26.06.2019

Alle Rechte vorbehalten

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