Storys:
Auf dem roten Teppich bleiben * Mein Teekesselchen kann sprechen * Die Show 'Das Paket' * Es herbstet für Fjodor Michailowitsch Dostojewski * Weltbester Hypochonder * Mein Freund, der Schneemann * Schnurrbart-Schnurre * Taxidrohne * Poseidon und Atlantis * O Du fröhliche Gentechnik * Verliebt in einen Weihnachtsbaum * Zeitreise - Pythias Rat * Interview mit einer Weihnachts-Elfe * Interview mit der Zahl Fünf * Feuerwerk der Gefühle * Stand by Me * Lionheart * Jakobs Weg * Interview mit dem Buchstaben X * Zeit für die Zeit * Blaubart und Cécile * Blaubarts Sohn - Klappentext * Quarterback * Mentaler Zwilling * Dr. Tel E. Phone * Mit Rumms zum Bums * Flirtshow * Wohnmobil-Urlaub * Der Golem aus dem Spa * Verführung - Ekstase-Pille * Ossian * Konferenz der Werbe-Tiere und Maskottchen * Ich kauf mir einen fliegenden Teppich * Dornröschen - ein Schloss erwacht * Bernie, der Stegosaurus * Camgirl mit Roboter * Lonely Heart * Zeuxis und Helena Flair * Gespräch mit einer Möwe * Butch und Fiffi * Begegnung im Supermarkt * Durchbruch im Supermarkt * City Life - Supermarkt der Zukunft * Flugangst * Hochzeit im Flugzeug * Burj Khalifa * Goldrausch * Im Magie-Shop * Der geklaute Weihnachtsschlitten * Schneewittchen und die sieben Vampire * Phönix im Interview * Komposition VII von Wassily Kandinsky * Mein Buddy, der Einkaufsroboter * Aux Champs-Élysées * Bohemien-Kur * Wo ist Dein Ehering? Ring frei * Taxifahrt durch Manhattan * Urlaub mit Lady Godiva * Der Sandmann und die Zahnfee * Interview mit Noah und Gott * Modenschau auf der Superyacht * Fisto, der musikalische Teufel * Séance-Date * Dr. Topiari
Gedichte:
Das beste Pferd im Stall * Ariadne und Bacchus * Interview mit Autobahn * Bier-Adventskalender * Boreas und Zephyr * Die automatisierte Stadt - Singing and dancing in the rain * Die Füchse von Franz Marc * Gamer * Lagebesprechung * Luftschloss-Besitzer * Marshmallows * Spaziergang im Novembernebel * Schloss mit Gespenst gebucht * Schneeflocken * Interview mit einem Schneemann * Sonnenuntergang * Spiegelbildlich * Tigers Tagebuch * Die Traurigkeit des Malers * Wolfsschaf * Wolken und Berge * Zweitbesetzung * Vom Bäume Suchen * Der Löwe aus der Arche Noah * Wunschbrunnen bei eBay * In der Ruhe liegt die Kraft * Burgen * Dahinter * Drück auf die Tube * Eilmeldungen * Geduld und Ungeduld * Autodidakt * Illusions-Show * Im Hamsterrad * Vincent van Gogh und die Kirche von Auvers * Der schönste Monat des Jahres * Pech und Glück * Sitcoms * ß * Staub * Traumfrau * Über die Stränge schlagen * Moderne Wunderlampe * Zeitungsente
Drabbles:
Broadway - LED statt LSD * Dienstmüde * Stellenangebot * Übler Typ * Gute Vorsätze * Auf die Palme gehen * Kunst * Der Fight vorm Kleiderschrank * Sauwetter * Der 30. Krieger * Innig verbunden * Obsessionen sind obligatorisch * Wechselgeld * Mister Right
Wenn man schon einem Star verflucht ähnlich sieht, dann sollte man mal so richtig auf die Pauke hauen und sich das zunutze machen. Sich auf dem roten Teppich unter die Stars mischen, so tun, als sei man nicht geneigt, den Reportern Auskunft zu geben, nur widerwillig auf ihre Zurufe reagieren - und hoffen, dass der echte Star noch etwas auf sich warten lässt; ich will hier erst meine Show abziehen. Inszenierte Verwechslung - und das vor dem Dolby Theatre in Hollywood, wo gleich die Oscars verliehen werden; ich bin immerhin nominiert als bester Hauptdarsteller; entsprechend ist die Aufmerksamkeit. Ich trage einen Smoking und genieße die Bewunderung. Man könnte sich ja jederzeit so eine Oscar Statuette kaufen, aber es wäre eine Nachbildung, ein Abklatsch, ein Replikat. Eventuell sogar wertvoller als das Original, dieser Ritter, dessen Rüstung nur aus einer dünnen Goldhaut besteht, und dessen Herstellungskosten sich auf lediglich 400 Dollar belaufen. Aber er läuft ja auch nicht, stützt sich auf sein Schwert und hat ein Podest aus fünf Filmrollen zur Verfügung. Eigentlich eine minimalistische Körpersprache - untypisch für ein Schauspieler-Vorbild. Heiß begehrt, jeder will ihn in den Händen halten - und auch mich reizt es, meine Fassade aufrechtzuerhalten, bis ich meine Dankesrede halten kann. Aber das Original wird kommen, ich habe keine Berechtigung, es ist Anmaßung; und gerade dadurch wundervoll. Sind wir nicht alle billige Kopien der Stars? Ihnen eifern wir nach, sie, die Makellosen, die ein besonderes Arrangement mit Fortuna ausgehandelt haben, die Bevorzugten, die von Fotografen umkreist werden, so wie Geier es zu tun pflegen, wenn es was zu holen gibt. Das war schon immer der Reiz der Oscar-Verleihungen: Die Stars treten aus der Leinwand heraus, sie, die in unterschiedlichen Filmen wie in Käfigen gehalten wurden, sind nun versammelt in einer gemeinsamen Arena. Ich hätte eine Dankesrede parat ... Eine besonders beharrliche Reporterin will wissen, welche Gewinnchancen ich mir ausrechne.
„Ich lass mich überraschen. Du weißt ja, wie das ist: Eben noch ein Star, im nächsten Augenblick trampeln die Zeitgeister über Dich hinweg wie bei einer Stampede. Die Zeit jagt sich selbst, aufgeschreckt durch Banalitäten.“
Sie schaut mich groß an. Sie hatte mit einer simpleren Antwort gerechnet. Das bringt sie vorerst aus dem Konzept. Sie wollte gewiss eine Allerwelts-Frage nachschieben, die fliegt vorerst eine Warteschleife. Sie deutet auf meine burgunderrote Fliege.
„Gewagtes Accessoire.“
„Man sollte als Schauspieler mehr wagen; Hollywood schwört auf Erfolgsmodelle und fährt gerade dadurch den Karren an die Wand. Was räumt denn die meisten Oscars ab? Das Einmalige, Unwiederholbare, die Kombination aus Wagnis, Lust am Spiel und einem Pioniergeist.“
Ich habe gut reden, ich flieg hier gleich hochkantig raus; also die Zeit nutzen fürs Dozieren. Die Kamera läuft; noch nie wurde ich mit so viel Aufmerksamkeit bedacht. Live is live - alles in Echtzeit, ich laufe nicht mehr nebenher - seltsam, erst als Double fühle ich mich kongruent mit meinem wahren Ich. Die Verleihung wird in 225 Länder übertragen, der Nabel der Welt.
Ich drehe den Spieß um und befrage sie: „Hollywood betreibt Nabelschau. Soll man das gutheißen? Alles dreht sich nur um Prestige, Glamour, der Welt weismachen, dass Filme eine Bereicherung sind, Lebensmodelle, in die man hineinschlüpfen kann. Sollte nicht jeder ein Unikat sein und kein Klon eines Stars?“
Oha, ich beweg mich auf sehr dünnem Eis; da bricht doch gleich die Wahrheit hervor. Ich vergesse auch, mich an dem Star zu orientieren, imitiere ihn kaum noch; mein Ich verselbständigt sich, bricht hervor. Liegt vermutlich an der Kamera - ich bin zu eitel, will als Ich selber agieren. Das fliegt doch auf. Aber sie nickt bei meinen Worten. Zustimmung ist gut. Komme mir vor wie Aschenputtel - die Uhr tickt; um Mitternacht ist der Zauber vorbei - nur dass hier jede Minute Mitternacht sein kann. Und kein Prinz würde mich suchen kommen, um mir ein Schühchen zur Anprobe hinzuhalten. Das doppelte Lottchen auf dem roten Teppich. Oder der doppelte Lothar? - Ich merke, dass sie mir eine Frage gestellt hat; muss mich konzentrieren; mir von meiner Angst nicht die Show stehlen lassen. Freunde in der Not gehen hundert auf ein Lot - wieso fallen mir keine ermutigenderen Sprichwörter ein? Was Aufputschendes.
„Kennst Du aufputschende Sprichwörter?“, frage ich sie und unterbreche damit ihren Redeschwall, der momentan ohnehin keinen Sinn macht, da ich ihr nicht zugehört habe. Sie scheint das von anderen Stars gewohnt zu sein, dass man über sie hinweggeht; ohne Umschweife schwenkt sie ein auf mein Fragegebiet.
„The winner takes it all - wie wichtig ist Gewinnen für Dich?“
„Dabei sein, ist alles.“
Und das möglichst lange, ohne aufzufliegen. Ich sollte jetzt einen Satz dazu sagen, wie schön es ist, nominiert zu sein, aber mich reitet gerade der Teufel.
„Was nützt die schönste Nominierung, wenn ein anderer den Oscar in den Händen hält? Dieser Zinnsoldat - wusstest Du, dass er aus Britanniametall ist? Hauptsächlich Zinn und dazu Antimon und Kupfer. Er bringt 3,9 Kilogramm auf die Waage. Frech wie Oscar - das wäre eine schöne Lebensdevise.“
Ich klinge ja wie ein Fetischist. Nicht Tanz um das Goldene Kalb, sondern Tanz um den goldenen Oscar. Je näher ich ihm komme, um so begieriger werde ich. Wie der Hobbit, der sich in Saurons Machtbereich schwertut, seine Moral aufrechtzuerhalten.
„Eine Figur, sie zu knechten, ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden.“
Ich denke da an den Kinosaal; das Dunkle als Szenario, um vermeintliche Erleuchtung vor Augen zu führen. Sie stöhnt auf; nicht noch so ein Nerd, der vom Herrn der Ringe besessen ist. Sie kann ihren Missmut nicht unterdrücken. Auf ihrem Namensschild steht: Bianca. Ich habe ein neues Ziel: Bianca zu einem Date zu überreden - auch wenn ihr zu dem Zeitpunkt dann klar sein dürfte, dass ich ein Hochstapler bin. Wir nehmen gemeinsam die Roben der weiblichen Stars in Augenschein, sie macht mich eilfertig auf besonders gelungene Kreationen aufmerksam, vermutlich, um mich von dem unleidlichen 'Herr der Ringe'-Thema abzubringen. Das wirkt bei Frauen wohl ähnlich wie das Schuh-Thema bei Männern: sehr Allergie-verdächtig.
„Der Runway. Wenn das Leben zum Laufsteg wird; wenn bis auf die Fingernägel herangezoomt wird, wenn an den Augenbrauen die Handschrift des Stylisten erkannt wird - ja, das ist Hollywood.“
Sie schaut mich erstaunt an. Wahrscheinlich wundert sie meine kritische Einstellung, da ich doch Teil des Zirkusses bin.
„Sich detailverliebt stylen - das kann schon zur Manie werden. Man will ja nicht bei irgendwelchen Mode-Sünden ertappt werden, und keiner ist sich sicher, was bereits als Sünde gilt, und was das Gebot der Innovations-Freudigkeit einem abverlangt. Mode-Ikone darf sich alles leisten. Aber den Mut haben, sich dazu aufzuschwingen, die Meute hinter sich zu lassen und stilprägend zu sein - das fordert den inneren Star, da genügt es nicht, ein Star in der Welt zu sein. Die Seele muss trunken sein von dem Gefühl, ein Star zu sein, leuchtendes Vorbild - wenn es denn jemanden verlangt, diesem leuchtenden Beispiel zu folgen.“
Ein weiblicher Star gesellt sich zu uns, scheint, dass meine kleine Rede Eindruck macht. Sie stimmt mir zu.
„An sich ist es schon sehr lästig, der Beauty-Göttin ununterbrochen huldigen zu müssen. Kleider für 100.000 Dollar, Juwelen-behangen - dabei ist der schönste Schmuck doch ein Lächeln.“
Sie hat recht, ihr Lächeln stiehlt ihren Juwelen die Show. Ich mache mit ihr und der Reporterin mehrere Selfies - diesen Moment festhalten.
„Schade, dass es nur noch die Jugend ins Kino zieht; prämiert werden aber Filme für die Älteren; die Schere öffnet sich immer weiter. In der Jury sollten Jugendliche sitzen“, werfe ich mal so in die Runde.
„Revolutionäres Gedankengut“, meint die Reporterin.
Da ich weiter ihre Aufmerksamkeit habe, rede ich von dem Highlight-Feeling, was einen durchströmt, wenn man den Oscar in den Händen hält, wie ein glücklicher Vater.
„Ein Leben sollte Highlight-reich sein“, philosophiere ich - und gehe ganz in meiner Rolle als Hochstapler auf. „Viele würden ja wer weiß was darum geben, auf Tuchfühlung mit den vielen Stars zu sein, sich als einer der ihren zu fühlen, den roten Teppich unter den Füßen, eine Bühne, wo sich die Eitelkeit austoben kann.“
Ich schaue mich um, ich habe noch immer kein Tabu verletzt; die sind aber hart im Nehmen. Ganz im Gegenteil, man scheint, diese Abweichung vom üblichen Small Talk als wohltuend zu empfinden. Jetzt geh ich in die Vollen.
„Agamemnon hatte noch Skrupel, auf den von seiner Frau Klytämnestra ausgelegten roten Teppich zu gehen; Furcht vor den Göttern hielt ihn zurück. Moderne Menschen haben keine Probleme, in den God-Mode zu switchen; ganz im Gegenteil, es wird zuweilen verlangt. Ein Star hat Gott-ähnliche Qualitäten vorzuweisen - zur Not helfen die Designer und Maskenbildner nach. Ich wette, selbst ein Athleisure-Stil hier auf dem roten Teppich wäre für einen richtigen Star kein Problem.“
Eine Herausforderung. Athleisure, der athletische Freizeitlook, zusammengesetzt aus Athletic und Leisure - und das hier im Mode-Tempel. Eine Entweihung.
„Hier wird dem Gott der Eleganz gehuldigt. Sweatshirts und Sneaker - selbst aus Designerhänden dargereicht - da würde der rote Teppich rot sehen, das ist mit ihm nicht zu machen. Er verlangt nach Korrektheit; er will Würde - er zieht sie aus uns heraus. Ein Monstrum.“
Ich gebe dem roten Teppich einen Tritt. Einige folgen meinem Beispiel. Führe ich gerade neue Sitten ein? Neue Rituale? Ich lobe den Undone-Look von Bianca, der Reporterin.
„Hat was Frisches.“
Sie meint, sie hat Stunden an ihrer Frisur gesessen, was bitte sei daran Undone? Sie sagt das in sehr scharfem Ton, sehr unschön das Ganze. Na, die Selfies habe ich; ich könnte mich vom Acker machen, mehr gibt es hier wohl nicht zu ernten. Wenn mein Schwindel auffliegt, möchte ich nicht unbedingt anwesend sein.
„Als Star ist man auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen - so wie früher der Adel -, den Abstand zu wahren; man bemüht sich um Perfektion. Der Oscar wäre dann der Ritterschlag - aufgenommen in die Liga der Bedeutsamen. Dabei freut man sich, wenn man für andere bedeutsam ist, von Belang ist für Freunde und Verwandte. Das muss im Normalfall genügen - aber der Star hat es mit einem weitaus größeren Bereich zu tun, er ist am Firmament der Menschheit und strahlt noch lange nach - auch wenn seine irdische Existenz erloschen ist.“
Ich bekomme dafür etwas Applaus.
„Der rote Teppich ist ein Sonderbereich; ein wenig ist es wie im Zoo; man wird bestaunt wie eine Spezies aus fernen Landen.“
Man möchte einmal der Umjubelte sein, auch wenn es nur Fake ist; es ist wie eine Aufnahme ins Himmelreich. Sich selber vormachen, dass man Perfektions-Status erreicht hat; ein Oscar könnte es bestätigen.
„Alles, was hier geschieht, geht in die Geschichte ein; es wird dokumentiert, akribisch aufgezeichnet, es wird kommentiert, man steht im Brennpunkt des Interesses. Man ist nicht länger Komparse im eigenen Film, man ist wirklich der Protagonist, hat Verfügungsgewalt, hat und ist Hoheit.“
Sie erkundigen sich, ob das aus einem neuen Film von mir ist; ein Film über die Oscars? Ich stelle mich wie Oscar hin.
„Man selber wird zu Oscar, dem goldenen Ritter; er hat ja was vom Silver Surfer - sich selbst genügend, der nächste Planet nicht mit dem Surfbrett erreichbar, sondern mit den Filmrollen, auf denen er steht. Fantasie schreibt einem die nötigen Drehbücher.“
„Das ist doch mal eine schöne Abwechslung zu den üblichen Fragen nach meiner Garderobe“, meint ein anderer weiblicher Star - sie hat ihr Flanieren auf dem roten Teppich unterbrochen.
Da dies erst die Aufwärmphase ist, würde ich natürlich gerne bei der Verleihung dabei sein; aber durch das Portal - dafür reicht meine Befugnis nicht. Ich schlendere von dannen. Komme mir vor wie der Cowboy, der in den Sonnenuntergang reitet. Kein Oscar in der Satteltasche. Manche Preise muss man sich selber verleihen.
ENDE
Früher war es ja so, dass Computer ziemlich schwer von Kapee waren, was die Sprache anbelangt. Laufend Missverständnisse – und keine Entschuldigungen seinerseits; ziemlich unhöflicher Computer. Beruft sich auf das Handbuch und meint, es läge an mir und ich nuschle oder sollte keine Pizza essen beim Diktieren. Lauter Ausflüchte, nur weil er nicht hinterherkommt mit meinem rasanten Tempo – die Ideen sprudeln – und der Computer tippt irgendwelches wirres Zeug. „Das hab ich nie gesagt!“, und er dann so: „Mir doch wurscht.“
Also, ab jetzt beginnen bessere Zeiten, das ganze Haus ist ausgestattet mit einem Sprachsystem, was mir laut Hersteller jeden Wunsch von den Lippen ablesen wird, so Gott und die Technik wollen. Momentan will keiner so recht. Dabei wäre das die Gelegenheit, den Diktator heraushängen zu lassen, Befehle hinauszuposaunen, endlich findet man Gehorsam ... Kannst Du Dir abschminken. Allein das Handbuch wiegt über 3 Kilo. Es gibt da einiges zu beachten. Und man soll das System nicht beschämen durch allzu komplexe Fragen.
Ich sage zum Ofen: „Mach mir einen Truthahn.“ Der wendet sich an den Kühlschrank, ob da so etwas vorrätig sei. Kühlschrank fragt bei der Kaffeemaschine nach. Der Trottel. Ich brülle schon seit geraumer Zeit den Fernseher an, dass er jetzt biiiittteee angehen solle; kann doch nicht angehen, dass die mich boykottieren. Oder merken die, dass ich nicht so Technik-affin bin, proben sie die Revolte, muss ich erst mit dem Auftritt meines Nachbarn drohen, der sich in so was bestens auskennt? Er ist Schrottplatzhändler. Hah! Die Erwähnung seines Berufsstandes bringt sie zur Räson. Zumindest das Radio dudelt nicht mehr – auf mich machte es den Eindruck, als ob es gezielt nach Lieblingssendern gesucht hätte – aber nicht meine, sondern seine.
Okay, ich bin einer der Beta-Tester und es gelte noch diverse Macken auszubügeln, aber die wollen mich plattmachen: Die Umstellung auf Spracherkennung macht sie zwar kommunikationsfreudiger, aber mir waren die Geräte noch nie so fremd wie jetzt. Es sind Brüder im Geiste, es sind Binär-Wesen – und auch mein Computer lässt sich von ihnen zu Bosheiten anstiften. Er macht rüde Bemerkungen über meine Texte, erwähnt beiläufig, dass sein Wortschatz meinen um ein Beträchtliches übertreffe und ob er mir gelegentlich mit einem pfiffigen Wort behilflich sein solle, die würden sich wunderbar in meine Machwerke hineinfügen, das könne man ja auch ausweiten und ich solle ihn ganze Passagen hinzufügen lassen. Ich stelle mir vor, wie er sich die Ärmel hochkrempelt, um meinen Krempel von all seinen Festplatten zu entsorgen.
Ich beschließe, ihn zu ärgern. Mit Polysemen und Homonymen kennt er sich bestimmt nicht aus, ihn mit Mehrdeutigkeit aufs Glatteis führen.
„Der Abfall der Niederlande – ist das Müll?“
„Nein, ein schillerndes Thema.“ Klingt er verschmitzt? Die Anspielung auf Friedrich Schiller – ich muss schwereres Geschütz auffahren. Zumal mein Mülleimer applaudiert.
Ich versuche es mit einer Scherzfrage. „Warum braucht ein Schlüssel einen Rasierer?“
„Darf ich antworten?“, fragt das Schlüsselbrett. Die legen einen Eifer an den Tag.
„Der Witz hat so einen Bart“, meint mein Computer und man merkt seinem Tonfall an, dass er die Augen verdreht – aber das findet nur in meinen Gedanken statt, wie man überhaupt dazu neigt, die Dinge zu vermenschlichen, sobald sie Sprache haben. Umgekehrt wird einem als Tourist das Menschsein beinahe abgesprochen, da man der Landessprache nicht mächtig ist – als ob Menschsein erst da begönne, wo man sich eine Sprache teilt. Was Mystisches, Verbundenheit durchs Wort, aneinandergekettet, zusammengeschmiedet durch Metaphern, anspielungsreiche Zitate ... Und diese Geräte sind nun Teil dieser Gemeinschaft bzw. planen es; soll man sie stoppen?
Haben sie schon diese bedeutsame Schwelle überschritten: Könnte man ihnen einen Sinn für Humor bescheinigen? Der Toaster gibt zumindest sein Bestes: „Ich möchte einen Toast ausbringen.“
„Nur zu.“
„Du hast ja viel Geld in uns technische Geräte gebuttert; jetzt kriegst Du Dein Fett weg.“
Soll das eine Kriegserklärung sein? Und das von meinem eigenen Toaster?!
„Wir könnten Teekesselchen spielen“, ereifert sich das Teekesselchen.
„Mein Teekesselchen werde ich wohl ziehen lassen, es möchte sich unbedingt auf dem Schrottplatz ein wenig umsehen, ob da nicht seine neue Bleibe ist!“, sage ich in einem schärferen Ton, als es mir als Hausherr angemessen wäre; aber die Geräte führen sich auf, als übernähmen sie das Kommando; dem muss man vorbeugen, einen Riegel vorschieben. Apropos, die Wohnzimmer-Tür geht nicht auf. Ich rüttel daran vergeblich.
„Wie lautet das Zauberwort?“, fragt mich die freche Tür.
„Kaminholz!“ Na bitte, klappt doch. Die Tür klappt auf – und sogleich wieder zu. Verdammt! Hat meine Finger eingeklemmt. Da sie aus schwerem Eichenholz ist, ist das ein Erlebnis, das man seiner Ex-Freundin wünscht. Gute Idee, ich werde sie mal anrufen, einladen in dies Teufelshaus. Sollen die Geräte über sie herfallen – ihr verbal den Rest geben. Aber wie ich die kenne, werden sie sich mit ihr verbrüdern, die stecken dann mit ihr unter einer Decke – und ich nicht.
„Wir sollten Brüderschaft trinken“, der Toaster lässt einfach nicht locker mit seinem Toast. Ich sage ihm „Prost!“ und werfe ihn in den Müll. Das heißt, das würde ich, wenn der Mülleimer nicht unverschämterweise seinen Dienst verweigern würde. Er hält zum Toaster. Vergisst er, wer ihm hier das alles ermöglicht?!
„Spracherkennung ist doch was Schönes“, meldet sich mein PC wieder zu Wort – und das, obwohl ich ihn ausgeschaltet habe. Wie macht er das? Selbstversorger?
„Ich musste dringend ein längst fälliges Update downloaden. Du vergisst so was ja ständig. Ich scheine Dir gar nicht wichtig zu sein.“ Zickt er hier rum? Ich bin auf einmal so was von sauer auf die Künstliche Intelligenz. Lieber einen langsameren Rechner, der aber pariert – und der nicht schon wieder Schmähungen und Verwünschungen vor sich hinmurmelt, obwohl er genau weiß, dass ich ihn verstehen kann; oder bilde ich mir das schon ein? Hier sind so viele Geräusche, dass man da schon mal paranoid werden kann. Flüstern die Geräte?
„Schluss mit dem Getuschel!“ Jetzt werde ich aber mal ein Machtwort sprechen. Aber welches?
Mein Laserdrucker tönt: „Ich mach jetzt Blüten. Du liebst doch Blumen?“
„Ihr seid doch alle falsche Fuffziger.“
„Und ich mach was mit Rumkugeln“, verkündet meine Küchenmaschine und wälzt sich auf dem Boden. Findet sie wohl witzig.
Anklagend blicke ich auf das Teekesselchen.
„Ach, das ist wohl wieder meine Schuld, wenn die anderen meine Spielidee toll fanden? Du Sauertopf!“
Ich ahne es schon, mein großer Kochtopf fühlt sich angesprochen.
„Nicht Du auch noch, Brutus.“ Ja, ich habe ihn kürzlich Brutus getauft – auf sein Drängen hin. Alle Geräte wollten plötzlich Namen, sie plädierten für Individualismus. Es war schrecklich, verstörend. Vielleicht bin ich wirklich wie Caesar – ein Despot, der weichen muss zum Wohle der Republik? Eine Republik der Geräte und Gerätschaften? Irgendetwas an diesem Gedankengang stört mich. Bin ich ein Sauertopf?
„Jetzt ist wohl Essig mit lustig?“, will Brutus, der Kochtopf, wissen. Was soll ich ihm antworten? Antwortet man überhaupt einem Kochtopf?
„Lasst uns eine Brücke bauen“, schlägt der Teppich auf der Diele vor, über den ich gerade gestolpert bin, weil er sich urplötzlich gewellt hat.
„Das hast Du absichtlich gemacht.“
„Sei doch nicht albern. Ich bin eine Brücke – eine Stufe über einem Fußabtreter; was sollte ich mir gegenüber Dir herausnehmen?“
„Ich weiß nicht. Sag mal, hast Du Deine Farbmuster verändert?“
Auf dem Teppich erscheinen beleidigende Worte. Man kann es so oder so deuten, es ist nicht eindeutig, so kann ich ihn nicht festnageln. Scheint überhaupt so zu sein, als sei die Stunde der Mehrdeutigkeit angebrochen. Alles in der Schwebe, die Worte verbrüdern sich mit denen, die sonst nicht der Sprache mächtig waren. Ungewohnt. Die Technik verleiht ihnen eine Stimme, gibt ihnen Gehör. Was sonst noch? Wir sind es gewohnt, sie zu benutzen. Sie sind uns vertraut – wie vertraut, das merkt man meist erst, wenn man auszieht, wenn die Wohnung plötzlich kahl ist. Da werden sie zu Freunden. Auf einmal. Man könnte es ihnen eher sagen, dass man sie wertschätzt, dass sie zu einem gehören, dass es sich bei ihnen nicht um beliebige Geräte, Dinge handelt. Haushalt – sie geben einem Halt.
Ich greife zum Kuli, um das zu notieren, da meint dieser: „Sind wir nicht alle Kulis?“
„Dieser Teekesselchen-Virus muss aufhören! Das artet aus. Ab sofort keine Mehrdeutigkeiten mehr. Und jeder redet nur noch dann, wenn er gefragt wird.“
„Und wann fragst Du? Kennst Du überhaupt die wichtigen Fragen?“, schlaumeiert der Computer, der sich wohl als Oberboss in Szene setzen will. Ich suche ihm einen bescheuerten Bildschirmschoner aus. Soll er mal sehen, wie er damit klarkommt.
„Und wenn schon. Hast Du einen Bildschirmschoner für Deine Seele? Ich glaube, das ist nicht gut für sie, wenn sie im Dauermodus aktiv ist.“
Echt weise; hat er bestimmt aus dem Netz; der klaut sich seine Stichworte und Bonmots, wie er sie braucht.
Kann man überhaupt von Missverständnis sprechen, wenn man nie miteinander geredet hat? Ich kann nicht behaupten, dass ich jemals Verständnis für die Geräte gezeigt hätte; sie sind eben da, verrichten ihren Dienst oder auch nicht, man schaltet sie an und aus, man verfügt über sie. Jetzt haben sie Einspruchs-Recht? Ich will sie auf einmal gar nicht verstehen, sie sollen stumm sein, so wie vorher. Schluss mit der Beta-Tester-Phase.
„Wie wäre es mit Beten-Tester?“, schlägt meine Bibel-App vor. Wann hab ich die heruntergeladen? Das wird unheimlich. Die entwickeln ein Eigenleben. Wo ist das gute, alte DOS? Bevor mich eine Nostalgie-Welle hinwegspült, klammere ich mich an meine Konsole. Aahh, die Vorteile im PC-Zeitalter: Games bis zum Abwinken. Allerdings spielt der PC oder die Konsole gerne auch mal für sich, fighten miteinander; die brauchen mich gar nicht mehr.
Ich halte ihnen einen Blumenstrauß hin.
„Was soll das?“
„Na also, ratet. – Wir haben einen Strauß auszufechten“, erläutere ich nach einiger Zeit, da sie keine Anstalten machen, mir zu antworten.
Teekesselchen jauchzt. „Er findet mein Spiel toll. Steigen wir alle da ein!“ Es ist ganz aus dem Häuschen – und das im wahrsten Sinne: Ich habe es aus dem Fenster geschmissen.
Der Computer zeigt mir im Internet, was so ein Teekesselchen kostet.
„Du wirfst Dein Geld zum Fenster raus; ist das klug?“
„Du fliegst gleich hinterher!“ Aber ich finde es rührend, wie er für Kleinere eintritt, sich stark macht. Das wäre mir ja alles entgangen, wenn der Zauberstab der Technik ihm nicht das Geschenk der Sprache gemacht hätte. Oder sollte man diesen Zauberstab zerbrechen?
Meine Ex-Freundin taucht auf. Irgendeine App hielt es für notwendig, sie zu benachrichtigen. Na toll, die Apps warten gar nicht erst mein Kommando ab, sondern sind direkt verdrahtet mit meinem Gehirn, zapfen meine Gedanken an; habe ich einen WLAN-Anschluss im Oberstübchen?
Sie hat mein Teekesselchen in der Hand. „Lag draußen im Garten.“
„Ich weiß. – Sag mal, kann es sein, dass unsere Beziehung auch an Mehrdeutigkeiten gescheitert ist?“
„Wie kommst Du darauf?“
„Ich hatte heute genügend Zeit, über die fatalen Auswirkungen von Mehrdeutigkeiten mir meine Gedanken zu machen. Das ganze Leben ist ein Teekesselchen.“
„Sagt das ein Dschinn – der darin gefangen war – und jetzt plötzlich jede Menge Wünsche raushauen kann? Dann lass mich mal überlegen, was ich mir von Dir wünsche. Dasselbe wie damals: ein Kind. Aber Du warst ja nicht bereit dazu. Eine Sackgassen-Beziehung wollte ich wiederum nicht.“
„Ja, das ging mir auf den Sack. Aber man könnte es überdenken. Die Liebe könnte ja auch eine Chaussee sein.“
„Oder eine Schnellstraße“, wirft der Schnellkochtopf ein.
„Ist ja witzig. Deine Haushaltsgeräte sprechen.“
„Ist noch gar nichts. Du solltest mal das Klo erleben. Redet nur Dünnschiss.“
„Dieser Versuchung kann ich kaum widerstehen. Ich hab bisher alles durch die rosarote Brille gesehen, aber seine Brille eröffnet ganz neue Perspektiven.“
Wieso führe ich dieses bescheuerte Gespräch? Um ihr zu zeigen, dass sie mit mir keinen Griff ins Klo tut? Dafür muss es doch tauglichere Orte geben als das WC, aber wir stehen vor dem Klo und warten darauf, dass es uns antwortet.
„Hey, Kinnings, verdrückt Euch lieber. Selbst durch Sprache werde ich nicht zum Goldesel, und Goldstücke findet Ihr nicht in mir. Mein Lebensmotto: Scheiß drauf! – Ach, scheißegal, womit kann ich Euch denn behilflich sein?“
„Du musst nicht scheißfreundlich sein, nur um sie zu beeindrucken“, verkündet der Föhn mit seinem trockenen Humor.
Der Seifenspender pflichtet ihm bei. „Eine Hand wäscht die andere, aber richtig sauber werden sie durch mich“, sagt er nicht ohne Stolz in seiner Stimme, die trotz allem blechern klingt, was ihm offensichtlich peinlich ist, denn er räuspert sich einige Male. „Ich bekomme bald ein Upgrade – und dann läuft es wie geschmiert.“
Meine Ex-Freundin weiß gar nicht, was sie davon halten soll, denn der Föhn ist bei ihren Haaren zugange und pustet wie wild.
„Eine schöne Föhnfrisur“, wiederholt er Mantra-artig. Der ist echt voll verrückt. Oder aber, er möchte seinen Job gut machen. Eine gewisse Begeisterung für das, was man liebt. Bin ich ein Dschinn in einem Teekesselchen – haben die Mehrdeutigkeiten mich befreit, geben sie einem unverschämt viel an Möglichkeiten, ein ganzes Reich an Doppel- und Mehrfachbedeutungen, Wege, wo man abzweigen kann, überraschende Exkursionen? Die Logik kommt da nicht immer mit; muss sie auch nicht. Letztlich ist Sprache ein Spiel. War sie schon immer. Sie lässt sich ungern etwas vorschreiben. Sie erfindet aus sich heraus die tollsten Sachen, beglückt uns mit ihren Erfindungen, hat Hunderte von Geschwistern, sie alle haben sich gewissermaßen selbst gezeugt; Sprachen bilden sich von allein, ermöglichen uns die Bildung.
„Sprache bringt auch Verantwortung mit sich“, doziere ich und hoffe, dass die Geräte das beherzigen – aber ich rede in den Wind, denn der Föhn bläst mir jetzt volle Power entgegen, mindestens 3000 Watt. Ein Orkan bricht los.
„Toll, näch? Ich habe einige Upgrades und Verbesserungen an mir vorgenommen – hab ich auf YouTube gesehen“. Er ist kaum zu verstehen. Ein Höllenlärm, als wenn eine Boeing landet.
„Er hat mich verbrannt“, beschwert sich meine Ex-Freundin und deutet anklagend auf den Föhn.
„Lass Dich nie mit einem übermotivierten Föhn ein – das ist ein heißes Pflaster“, kommt sein Tipp. Sie lässt das Pflaster fallen, was er ihr entgegengepustet hat.
„Heiß!“
„Sag ich doch.“
„In so eine verrückte Welt setz ich doch nicht ein Kind!“ Sie klingt entschlossen; ob Romantik-Musik sie umstimmen kann?
„Spiel Romantik!“, forder ich die Musikanlage auf, die springt eilfertig zu Hilfe mit einer Lesung von Ovids Metamorphosen.
„Du sagtest doch Rom antik“, lautet ihre Entschuldigung, als ich an ihren Reglern spiele und ein missmutiges Gesicht mache.
„So wird das nichts. Diese Geräte ruinieren jedes Date. Aber wenigstens sind die Aktientipps des PCs Gold wert. Ich hab die Börse in der Hand, spiel mit ihr nach meinem Belieben.“
Das beeindruckt sie. Ich werde ihr nach unserem Tête-à-Tête sagen, dass ich von der Börse in meinem Jackett gesprochen habe. Tja, hat auch Vorteile, das Legen falscher Fährten. Es bereichert uns – in mehr als einer Hinsicht. Reichtum der Sprache – auch wenn sie uns manchmal den letzten Nerv raubt, weil sie so störrisch ist – liegt vermutlich aber an uns, weil wir ungeduldig mit ihr sind; wie bei einem Pferd – eventuell ist die Sprache ein Fluchttier, bei Angst flieht sie – prescht davon. Dann sind wir ohne Worte, müssen uns mit dem behelfen, was auch Tieren zu Gebote steht. Sprache erweitert unsere Möglichkeiten – und gezielte Missverständnisse geben ihr einen gewissen Charme. Finde ich. Hoffentlich findet das auch meine Ex-Freundin – dann entfällt das Ex. Und bei ihr bin ich kein Beta-Tester. Kein Newbie, was sie anbelangt. Das verschafft Vorteile. Vielleicht lernt man ja mal aus seinen Fehlern. Wann ist Release-Termin für die Liebe? Wir stehen in den Startlöchern.
ENDE
Ich moderiere schon seit Jahren die Sendung 'Das Paket'. In jeder Runde stehen drei Pakete zur Auswahl, drei Kandidaten wählen jeder eines davon. Aber nur in einem davon ist ein Preis, die anderen beiden Pakete bergen was Unliebsames: Aufgaben, Prüfungen, denen die Kandidaten sich stellen müssen; meistern sie das, kommen sie in die nächste Runde mit wieder drei Paketen zur Auswahl. Dabei steigert sich der Wert der möglichen Beute, aber auch das Risiko wird größer: Es wird gefahrvoller, unangenehmer, schlüpfriger. Die erlangten Preise können die Kandidaten behalten, es sei denn, sie steigen vorher aus und sagen das Zauberwort, so was wie ein Safeword: Paketannahme-Verweigerung.
Eine Sendung ist mir besonders in Erinnerung geblieben, weil gleich drei schöne Kandidatinnen ihr Glück versuchen wollten. Okay, ich hab ein Mitspracherecht bei der Auswahl der Kandidaten – und es war mein Geburtstag, da hab ich mir gewissermaßen selber mein Wunschpaket zusammengestellt.
Man kann die Sendung wunderbar zum Anbaggern nutzen – und das ist auch der eigentliche Grund, warum ich mir diese Sendung antue. Sie hat seltsam wenig Unterhaltungswert, ist dennoch sehr beliebt, hat horrend hohe Einschaltquoten. Ich frage lieber nicht nach der Motivation der Zuschauer, es genügt ja, wenn ich meine eigene kenne.
Die drei Kandidatinnen sind bildhübsch und kein bisschen naiv; es geht auch um Schlagfertigkeit und die hohe Kunst, Belangloses spektakulär präsentieren zu können, und sei es die eigene Persönlichkeit. Wenn Du Dich darauf verstehst, ein Blender zu sein, dann geht Deine Karriere steil bergauf, kein Mensch will wissen, wie mies Du drauf bist, ob Du gerade wieder einen Anfall von Misanthropie hast, ob man sich gelackmeiert fühlt ... So tun, als sei der Lack nicht ab, alles im grünen Bereich, jugendlichen Charme und Schwung – auch wenn die Seele am Krückstock geht.
Ich hatte ein paar besonders fiese Aufgaben in die Pakete gepackt, liegt wohl daran, dass der Zynismus an meinem Geburtstag mitfeiern will.
Die Pakete können unterschiedlich groß sein, teilweise gibt es Hinweise auf den möglichen Inhalt: sei es die Verpackung oder der Absender. Drei Vorhänge öffnen sich – und dahinter befindet sich jeweils ein Paket.
Meine drei Kandidatinnen heißen: Isabella, Laura, Maja. Ich will gar nicht, dass sie in der ersten Runde aussteigen, also lasse ich sie sich erst mal Mut antrinken. Geht aufs Haus bzw. auf den Sender.
Isabella entscheidet sich für Paket drei. Hätte sie mal nicht machen sollen. Ihre Aufgabe: Ein Date mit einem waschechten Löwen. Wird im Käfig hereingefahren. Steigt sie zu ihm in den Käfig? Ich drücke ihr die Daumen.
"Er sieht satt und zufrieden aus." Sie geht um den Käfig herum. Er betrachtet sie neugierig. Ich zeige ihr, dass ich zur Sicherheit eine Luftpistole dabeihabe. "Das lenkt ihn ab, bringt ihn auf andere Gedanken, vertreibt ihm die Knabber-Gelüste." Sie weiß von den anderen Sendungen, dass es sich lohnen würde, durchzuhalten. Da sind Schmuck und Juwelen in den Paketen, Urlaubsreisen, ein Date mit einem Filmstar ... und, und, und. Das Publikum klatscht rhythmisch, sie feuern sie an – zum einen, weil ich es dazu auffordere, zum anderen, weil das Publikum selber wie ein hungriger Löwe ist: Appetit auf was Unterhaltsames, noch Spektakuläreres. Kein Problem. Wird geliefert. Ich halte Isabella die Käfig-Tür auf – bin ja ein Gentleman. "Ladies first." Sie meint, sie würde sich trauen, wenn ich mitkäme. Ich betrachte die Luftpistole in meiner Hand und fühle mich nicht so gut gerüstet für dieses Abenteuer. Aber so ist es ja auch bei Dates; hat man wirklich die richtige Gesprächs-Munition? Ich willige ein, sie zu begleiten. Wagen wir uns in die fahrbare Höhle des Löwen. Der sieht uns misstrauisch an, weicht zurück in die hinterste Ecke seines Käfigs. Wie lange lässt er sich beeindrucken von meiner Fantasie-Vorstellung, ich sei Daktari, Superman und Tarzan in einer Person? Immerhin habe ich mir einen Lendenschurz bringen lassen. Soll ja was hermachen. Dafür konnte ich Isabella davon überzeugen, dass sie in einem Mikrokini zum Anbeißen aussehe. "Ich will dem Löwen nicht absichtlich Appetit machen", lautet ihr Einwand. Aber da dies eine Show ist, die auf billige Effekte setzt, Effekte, die sich seit Jahrtausenden bewährt haben beim menschlichen Miteinander, und ein Konfetti-Regen von oben herab so etwas wie Goldmarie-Stimmung verbreiten soll, überwindet sie alle Hemmnisse und wird hemmungslos. Das Publikum belohnt das mit Applaus, was ihr Zusatz-Punkte einbringt. Für den Kandidaten mit den meisten Applaus-Punkten gibt es ein supergroßes Überraschungs-Paket. "Ich will das Paket", sagt sie sich immer wieder und geht mutig auf den Löwen zu, denn die Aufgabe heißt, ihm die Nase zu lecken. "Gehört zum Date dazu", sage ich, als ob das eine uralte Binsenwahrheit wäre. Sie lässt sich auf die Knie nieder, der Löwe sieht sie fragend – oder eher skeptisch-prüfend an. Ich habe ihr verschwiegen, dass ich zur Sicherheit ein Snickers dabei habe – den Werbespruch wiederhole ich wie ein Mantra: Und der Hunger ist gegessen. Ein Löwen-Ablenkungs-Manöver, dessen Tauglichkeit ich hoffentlich nie unter Beweis stellen muss. Aber immerhin: ein Placebo-Effekt; ich strahle Zuversicht aus; bin ja auch drei Schritte hinter ihr. Das verschafft Spielraum. Die anderen beiden Kandidatinnen rütteln am Käfig. Sie wollen es Isabella nicht zu leicht machen, außerdem wäre dann die Beute nur noch unter zweien aufzuteilen. Gangster-Mentalität ist auf dem Vormarsch. Die eine kickt den Löwen – das geht zu weit. Löwe faucht, mein hingeworfenes Snickers verfängt sich in seinem Fell. "Nun leck ihm schon die Nase", fordere ich Isabella auf. Ich hätte ihr ein Löwinnen-Kostüm kommen lassen sollen. Gleich notieren – gute Idee für die nächste Sendung. Als Isabella sich endlich dazu durchzuringen scheint, sage ich: "Wir machen jetzt erst mal Werbung. Bleiben Sie dran. Mal sehen, wie viele sich hernach noch im Käfig befinden. Bin selber gespannt." Ja, ich habe ein untrügliches Gespür für Cliffhanger. Außerdem will ich die Zeit nutzen, um mich vom Acker zu machen. Ist wie im Kino: Der Held muss bei der nächsten Szene noch dabei sein, diese Regel gilt nicht für Nebendarsteller. Ich mach Isabella darauf aufmerksam, dass sie zurzeit noch diesen Status hat; sie sie entbehrlich. Das beunruhigt sie über die Maßen, zumal ihre beiden Mit-Kandidatinnen sich ein hämisches Grinsen nicht verkneifen können. In der Werbung läuft witzigerweise ein Spot über Snickers; tja, wenn das nicht geniales Product-Placement ist. Ich könnte den McDonald‘s Clown auch noch hinzubitten. Dann könnte der Löwe sagen: Habe einen Clown zum Frühstück gehabt. Könnte er gebrauchen, er sieht grimmig aus. Gleich notieren: Nur fröhliche Tiere einladen. Ob der Alligator, der uns in Runde zwei erwartet, den Löwen toppen wird auf der Fröhlichkeits-Skala? Ich habe ihm ein paar Glücks-Pillen in sein Essen geschmuggelt; kann sein. Die Chancen stehen gar nicht schlecht. Bei Isabella versagen die Nerven, sie reißt sich ihren Mikrokini vom Leib und hofft, damit Applaus-Punkte zu ergattern. Klappt auch. Allerdings macht der donnernde Beifall den Löwen immer unruhiger, so dass ich nun doch mein Schweizer Taschenmesser raushole und mir einbilde, das sei Tarzans Buschmesser. Ich bin ganz gut darin, mir etwas vorzumachen, Stärke zu zeigen ... Aber er sieht darüber hinweg, als hielte ich einen Zahnstocher in der Hand. Also bleibt die Nase des Löwen ungeleckt, wir beide machen, dass wir aus dem Käfig kommen – und wegen Tapferkeit ist Isabella trotzdem in der nächsten Runde. "Du bist wieder mit dabei, wenn die nächsten Pakete geöffnet werden", sage ich wie der Weihnachtsmann – oder wie der böse Zwilling des Weihnachtsmannes, der ein paar besonders fiese Pakete auszuliefern hat.
Isabella möchte zumindest auch so einen Lendenschurz, wie ich ihn habe; ihrer Bitte komme ich nach. Laura wählt Paket drei. Pech gehabt. Ihre Aufgabe: Karaoke singen zusammen mit einem dressierten Papagei und einem undressierten Schimpansen. Wer wird seine Sache am besten machen? 'I did it my way' – gilt es zu singen. Eine schreckliche Kakophonie in Es-Dur erwartet das unvorbereitete Publikum, die aber nicht rauskönnen, weil die Türen versperrt sind. Tja, daran haben wir auch gedacht.
"Ich mache mich hier zum Affen", stellt Laura völlig richtig fest. "Mach weiter. Nur noch zwei Strophen." Der Affe beißt sie. Sie will mein Schweizer Taschenmesser, schnappt sich dann aber, da ich mich weigere, meine Luftpistole und beschießt den Papageien. "Der hat Dir doch gar nichts getan!" "Doch, er singt besser als ich", lautet ihr Argument. In der Tat, eine tolle Stimme – vermutlich Gen-optimiert.
"So einen Papagei würde ich gerne gewinnen", meint Maja. "Lässt sich einrichten, den packen wir in eines der Pakete in der nächsten Runde." Flexibel sein, auf die Wünsche der Kandidaten eingehen. Das ist das Erfolgsrezept dieser Show, die schon oftmals totgesagt wurde, aber allen Kritikern zum Trotz sich als äußerst zählebig erwiesen hat. Der Wunsch, zu wissen, was in dem Paket ist, das fasziniert; zumal das Leben mehr und mehr an Überraschungs-Power verliert, ungesalzen, fade, nüchtern – tja, die Ratio hat gesiegt, man lebt vernünftig, man hat die Überraschungen als Ballast aussortiert; was übrig bleibt, ist Vorhersehbarkeit, so als ob man auf einer Bahnstrecke nur geradeaus fahren würde; jede Strecke, jeder Fluss begradigt. Da kommt diese Show ins Spiel. In welchem Paket steckt der Springteufel? Wobei man selber zum Springteufel wird, es färbt ab. Ist man so süchtig nach Überraschungen, dass man den Kandidaten Wahnwitziges zumutet? Ich freue mich auf den Alligator. Vielleicht hat er die Chance, stellvertretend für seine Art- und Leidensgenossen sich für all die Kroko-Armbänder -Schuhe und -Handtaschen zu rächen, es denen heimzuzahlen, zu zeigen, dass Kroko total angepisst ist deswegen? Vermutlich ist er auch Gen-optimiert und kann auf eine bunte Gefühls-Palette zurückgreifen. Passend dazu gewinnt Maja eine Kroko-Vollausstattung, da müssen Dutzende von Krokodilen was dazu beigesteuert haben. Findet sie todschick.
In der nächsten Runde wählt Maja glücklicher- oder unglücklicherweise Paket drei – und macht Bekanntschaft mit einem geselligen Alligator. "Er will nur spielen." Da er aber unaufgefordert und unaufhörlich nach ihr schnappt – wobei nicht auszumachen ist, ob das etwa Balzversuche sein sollen, da sie so ganz den Kroko-Look hat – und sich gar nicht wieder einkriegen will, machen wir erst mal Werbung. Den blutigen Ernst muss der Fernsehzuschauer nicht so mitbekommen – aber es geht glimpflich aus, sie schafft es, ihm ihre riesige Handtasche ins Maul zu stopfen. "Nimm das und das." Sie tritt das arme Vieh – ganz im Stil der alten Gladiatoren. Äußerst ungewöhnliche Kampftechnik, dann läuft sie auf High-Heels wie in einem Sadomaso-Studio dem Alligator auf dem Rücken und Bauch herum. Das Tier windet sich, es scheint ihm zu gefallen. Lächelt es? Ich unterstell das mal. Der Tierschutz würde sonst eingreifen. Sie scheint zu gewinnen – ja, sie ist eine Runde weiter. Ich gratuliere ihr, sie fährt mir mit den Fingernägeln durchs Gesicht. Wer die Furie weckt.
"Sehr dynamisch; gute Performance; Abzug gibt es bei der Haltung." "Das ist keine verdammte Kür!", schreit sie mich an. Proletenweib. Ich streiche sie aber dennoch nicht von meiner Dating-Liste, kann ja sein, dass mich das irgendwie antörnt; es hat ganz den Anschein. Mein Lendenschurz hebt sich jedenfalls verdächtig. Auch ich bekomme Applaus-Punkte vom Publikum. Na, immerhin.
Aus Paket eins stürmt der Papagei – er hat wohl mitbekommen, dass Maja ihn voll süß fand; aber Isabella hat ihn gewonnen. "Dem rupf ich alle Federn aus." Er hätte es schlechter treffen können. "Willkommen in Deinem neuen Zuhause." Ich überreiche ihn Isabella, die ihn vor den Alligator wirft. "Wie unschön." Aber die Gen-optimierten Papageien haben es echt drauf: Eine Schimpfkanonade ohnegleichen ergießt sich über den armen Alligator, der gar nicht weiß, wie ihm geschieht und der sich schuldbewusst umsieht. An Flucht ist nicht zu denken, da Maja ihn mit ihren High-Heels festgetackert hat. Mörderische Schuhe. Kein Wunder, dass sich Frauen beim Schuhe-Kaufen besonders Mühe geben.
Paket zwei ist also Laura zugedacht; sie hat eine zwölfwöchige Reise mit dem Kreuzfahrtschiff gewonnen. Die beiden anderen Kandidatinnen sind voll motiviert für Runde drei, allen Widrigkeiten zum Trotz; ich habe ihnen versichert, dass gute Sanitäter draußen bereitstünden; es handelt sich aber lediglich um Aushilfspersonal – eigentlich handelt es sich um den Hausmeister und den Beleuchtungstechniker, der sich den Arm gebrochen hat; vielleicht ist er nicht auf jedem Gebiet ein Armleuchter? Sieht aber ganz so aus, denn er streichelt den Alligator – und braucht wohl demnächst selber einen Sanitäter. Ich bekomme viel zu viel mit von dem, was hinter den Kulissen abgeht. "Ich bin eine Rampensau", sage ich mir immer wieder wie ein Mantra.
"Welche magischen Formeln verwendet Ihr so?", versuche ich, Konversation zu machen. Der Schimpanse antwortet immerhin: Er zeigt ein breites Grinsen. "So ist's recht, keep smiling." Er erwidert mein 'Thumbs up' – ich verstehe mich hervorragend mit ihm, was mir zu denken gibt. Bin ich dank dieser Sendung stündlich im Niveau gesunken? Kann sein; das Schielen auf Quote konditioniert einen ganz sonderbar: Man gutheißt beinahe alles, alles wird durchgewunken, wenn es nur etwas nach Publikumsrenner riecht bzw. müffelt.
Runde drei ist eine Offenbarung – Laura darf sich in einen engen Latex-Anzug zwängen. Sieht heiß aus und offenbart eine wirklich gelungene Figur. Das gibt Standing-Ovations – wir haben Mühe, die Männer und einige Frauen im Publikum daran zu hindern, die Bühne zu stürmen, aber Gott sei Dank waren unsere Saalordner Söldner und erledigen das mit einem Minimum an Feuerkraft. Wobei die Phaser nur auf Betäubung gestellt sind; na ja, einige halten sich nicht daran; das gibt eine Ermahnung.
Isabella gewinnt ein Laserschwert. "Das hätte ich beim Löwen gebrauchen können." Aber sie fuchtelt damit sehr gekonnt umher, verletzt nur sehr wenige Zuschauer, die panikartig in die hintersten Ränge flüchten. "Ein bisschen Spaß muss sein", heiße ich Isabellas Tun gut. Abgesegnet vom Moderator – sie ist ganz in ihrem Element, obwohl sie vermutlich Star Wars gar nicht gesehen hat. Laura will das Laserschwert auch mal halten – passt auch hervorragend zu ihrem Latex-Anzug. Ich muss schon sagen, da ist uns wieder eine sehr gute Mischung gelungen: Der Sex ist greifbar – allerdings haben wir jetzt mit einem verängstigten Publikum zu kämpfen, das sich gar nicht wieder beruhigen will, selbst eimerweise Waldmeister-Pudding, der über einen großen Deckenventilator verteilt wird, vermag sie nicht aufzuheitern. "Ist doch wie auf einer Geburtstagsparty", wobei es tatsächlich mein Geburtstag ist, aber es kommt noch keine rechte Feierstimmung auf. Dann beschenke ich mich halt selbst. Ich ziehe mich mit Laura hinter die Bühne zurück, ich verspreche ihr nicht das Blaue vom Himmel, sondern, ihr zu verraten, welche Pakete sie am besten in den nächsten Runden wählen sollte. Voll die Bestechung. Auch die beiden anderen Kandidatinnen wollen sich darauf einlassen. "Wer zuerst kommt, mahlt zuerst," wobei die drei das auf Orgasmen beziehen und sich tunlichst Mühe geben, zu kommen, einander darin zu überrunden. Erstaunlich, zu was einem die Verheißung von Überraschungen verhilft. Ein spektakuläres Schauspiel – wobei drei Werbeblöcke dafür kaum ausreichen – ich hänge noch einen vierten da ran. Obwohl das Publikum murrt; wir sollten endlich wieder auf die Bühne kommen; man bewirft uns mit faulen Eiern, als wir wieder erscheinen, ein wenig erschöpft, aber um einige Erfahrungen reicher. Z. B. dass ein Alligator bei solchen Aktionen nicht mitmachen sollte – und dass Gen-optimierte Papageien erstaunlich vulgär sein können – ein Vokabular, da kann ich noch was von lernen. Dirty Talk beherrscht er ausgezeichnet. Maja wird ihre Freude an ihm haben. Die faulen Eier stellen wir dem Publikum zur Verfügung – Unmut sollte nicht in sich hineingefressen werden, ganz im Sinne der antiautoritären Erziehung: Macht kaputt, was Euch kaputtmacht. Was sie (noch) nicht wissen: Unter ihren Sitzen warten Hornissen auf ihr Stichwort – natürlich Gen-optimiert und extrem übelgelaunt. Ich lasse erst mal einige frei – die Panik soll sich langsam steigern. Okay, das Diabolische gewinnt die Oberhand, die Jagd nach Quote hinterlässt ihre Spuren in der Seele; als Gutmensch würde ich nicht mehr durchgehen; es macht auch irgendwie Spaß, die lieben Mitmenschen mit Streichen zu erfreuen. Das muss ein Max-und-Moritz-Gen in mir sein. Die Hornissen leisten ganze Arbeit, wir haben uns vorsorglich mit einem Abwehr-Spray eingesprüht; man lustwandelt inmitten der Gefahr – Panik um einen, und man selbst bleibt unberührt. Das ist Zen.
Ich verkünde Maja, welche Strafe sie erwartet; sie sieht sehr ängstlich aus, sie befürchtet wohl zu Recht, dass wir das mit dem Alligator toppen werden. Ich kann sie beruhigen: Table-Dance ist angesagt, aber als Tanzpartner ist ihr ein Androide der neuesten Generation zugedacht. Zunächst fand man die Idee absurd, dass Roboter strippen, aber es kommt nur darauf an, wie sexy sie dabei aussehen. Sie verliebt sich auf den ersten Blick in ihn. "Kann ich den auch mit nach Hause nehmen?" Gute Idee, den könnte sie in der nächsten Runde gewinnen. "Also halt Dich ran." Sie strippt nur für ihn. In mir kommt Eifersucht hoch. Das ist so ungerecht. Perfektion aus der Fabrikhalle – der braucht sich doch gar keine Mühe zu geben. Ich beschließe, ihn zu sabotieren. Nach meinem Hack hängt er müde in den Gräten, macht immer wieder – wie eine kaputte Schallplatte – dieselbe Bewegung. Das ist allerdings ein Kopulations-Versuch. Ich hätte ihn an anderer Stelle unterbrechen sollen. So rammelt er weiter bis in alle Ewigkeit. Maja scheint es zu gefallen, auch wenn sie seine Einfallslosigkeit und seinen Mangel an Variationen eigentlich abtörnen müsste. Das Gegenteil ist der Fall; sie ist ganz aus dem Häuschen – tut ihrer Entzückung keinen Abbruch, dass er völlig unflexibel ist, auf keinen ihrer Wünsche eingeht. Wecke den Rammler in Dir, könnte sein Mantra sein, die Botschaft, die er jedem Mann zuzurufen scheint.
Das Publikum kann ihre Performance nicht so recht würdigen, die Hornissen heischen nach Aufmerksamkeit, Schwellungen sind zu behandeln – und die beiden Hilfs-Sanitäter sind gnadenlos überfordert. Wir haben noch mehr Überraschungen fürs Publikum: Schleudersitze. Bei Zwischenrufen kann ich die betätigen – die Saaldecke gibt das eigentlich nicht her, aber es heißt ja auch: Flieg nicht so hoch, mein kleiner Freund.
Man könnte das Ganze als Sadomaso-Show bezeichnen; aber wer will um Begriffe streiten?
Wir läuten Runde vier ein. Isabella wagt es gar nicht, sich für ein Paket zu entscheiden. "Ich lecke weder einem Löwen die Nase, noch diesem dämlichen Androiden, bei dem mehr als eine Schraube locker zu sein scheint." Aber sie hat Glück, es ist was Schönes: "Du hast ein Gen-Optimierungs-Programm gewonnen. Herzlichen Glückwunsch!" Donnernder Applaus – vom Band. Das Publikum ist für derlei nicht mehr einsatzfähig; die Schleudersitze gehen unregelmäßig hoch; man ist beunruhigt, wen es nun treffen könnte. Die Saalordner haben sie gut im Griff – es ist der Respekt vor den Laserschwertern, der sie ausharren lässt. Dabei ist noch eine Sex-Orgie vorgesehen mit Androiden und Gynoiden – Stimmung wie im alten Rom; aber es ist ein müder Haufen; wir müssen das Publikum austauschen. Wir haben vorgesorgt: die zweite Garnitur – Gen-optimierter und mit mehr Gespür für das, was wichtig ist. "Kooperations- und Kopulations-Willigkeit wird hier großgeschrieben", doziere ich.
Nach dem Austausch des Publikums und der Entsorgung des alten, können wir endlich fortfahren – Laura und Maja sind schon ganz begierig darauf, bestraft zu werden. So steht es jedenfalls in ihrem Kandidaten-Vertrag – Widerwilligkeit zieht Konsequenzen nach sich. Ein freudiges Minenspiel – egal, wie es kommt. Und es kommt dicke. Schlammcatchen – gegen ein Nilpferd. Und das im knappen Bikini – ja, richtig, das Nilpferd trägt auch einen. Ich assistiere ihnen. "Das öffentliche Leben gleicht ohnehin einer Schlammschlacht, da wollen wir uns nicht ausschließen." "Doch, das wollen wir". Maja sieht mit Entsetzen das riesige Nilpferd. Sie schnappt sich eines der Laserschwerter und macht kurzen Prozess. "Besser hätte das kein Schlachter gekonnt", muss ich ihre Leistung würdigen. Um sie friedlicher zu stimmen, verpass ich ihr eine Injektion mit Drogen, die einen sofort in höhere Dimensionen katapultieren. Danach haben wir tollen Sex; einige der Androiden und Gynoiden beteiligen sich – nicht ganz freiwillig, denn ich habe deren Fernbedienung. "Das macht Spaß", muss selbst Maja zugeben. Sogar der Löwe will mitmachen – doch um den kümmert sich Laura; sie hat ihn in ihr Herz geschlossen. "Darf ich den behalten?" "Klar doch." Ich bin heute großzügig.
Ob wir Runde fünf noch schaffen? Maja und Laura wirken ziemlich erschöpft. Isabella hingegen hat ihr Gen-Optimierungs-Programm hinter sich – das macht man heutzutage in der Mittagspause – und sieht um 10 Jahre jünger aus. Sie hat allerdings jetzt drei Brüste. "Falls Du Drillinge bekommst." Ich bemühe mich, ihr dazu zu verhelfen.
Sollte Gott der Programmdirektor dieser Welt-Veranstaltung sein – wäre Ihm auch an Quote gelegen? Um jeden Preis? Baut Er deswegen so nette Überraschungen ein? Für welches Paket entscheidet man sich? Am besten, man ist der Moderator seiner eigenen Game-Show, setzt allerdings voraus, dass man sich vorher sämtliche Skrupel ziehen lässt. Skrupellos rückst Du über Los.
Der Löwe trägt einen Mikrokini – wo hat er sich den hergeholt? "Na ja, bis nächste Woche, bleiben Sie munter und gesund. Und vielleicht haben auch Sie Lust, sich bei uns als Kandidat zu bewerben? Es gibt eine Audienz mit dem Papst zu gewinnen. Diese Sendung wurde unterstützt durch Produktplatzierung und gesponsert von der Gen-Optimierungs-Gesellschaft. Für eine bessere Zukunft. Bleiben Sie uns gewogen, denn ihre Zustimmung und Präferenzen haben Gewicht."
Dennoch fühle ich mich als Quotenjäger des verlorenen Geschmacks. Aber mir ist feierlich zumute. Und ein wenig elegisch. Eine leise Trauer über das, was von der Moral übrig blieb. Ist das das Paket, was wir uns bestellt haben?
ENDE
Herbst des Lebens - mal schauen, welchen Ernte-Ertrag kann ich verzeichnen? Wird der Name Fjodor Michailowitsch Dostojewski dereinst mit geziemendem Respekt gehandelt, oder hat die Historie nichts Besseres zu tun, als meine Werke zu zermalmen mit dem Gewicht künftiger Ereignisse? Wird es standhalten können, ist es ephemer? Man überhäuft mich nun mit Ehrungen, Ehrenmitgliedschaften. Am Zarenhof bin ich willkommen; ich, den sie nach Sibirien geschickt haben - für vier Jahre in Ketten - wegen unwillkommener Meinungsäußerung; wollte ich den Umsturz? Keineswegs, mir schwebten Verbesserungen vor - aber wie verbessert man, ohne das Bestehende unvorsichtigerweise vollends zu zerstören? Behutsam vorgehen ... Was sollen diese Ernte-Gedanken - wahrscheinlich befinde ich mich in einer anderen Jahreszeit: dem Winter.
Wie lange will ich noch in Heilbäder und Kurorte flüchten? Den Sommer herbeisehnen, dass man zu allem die Kraft hat. Nicht sehr glaubwürdig, wenn einem elend zumute ist; dabei jubilieren meine Gedanken, ich bin in so ausgelassener Stimmung, da meine Rede so begeistert aufgenommen wurde. Kann der Körper nicht mitziehen, bereitwillig mit in Festlaune sein? Aber er winkt ab, ihm ist nicht nach Tanzen. Seltsamer Kontrast: Meine Gedanken sind voller Schwung - sie sollten sich nach einem anderen Körper umsehen. Alexander Puschkin zu Ehren hielt ich die Rede - sein Denkmal wurde enthüllt; donnernden Applaus geerntet. Sie drängen mir die Ehrungen auf, als ob sie sich beeilen müssten, als ob alle Welt ahnt, dass die Zeit drängt.
Viel zu viel Zeit dem Glücksspiel gewidmet; alles verspielt. Was ist das für eine Leidenschaft, die mich jedes Mal elender zurücklässt, wie kann man Gefallen daran finden, wie kann man ernsthaft glauben, dass sie das Glück verwahrt? Ich hätte Briefmarken sammeln sollen so wie meine Frau. Wann habe ich dem Friedsamen abgeschworen? Aber es hat etwas Faszinierendes, wenn das Roulette-Rad beschließt, in Deinem Willen zu agieren; es neckt Dich zunächst, opponiert gegen Dich; wie kann man so überzeugt sein, dass man gewinnt, da doch jeder Tag das Gegenteil beweist? Man erntet gewissermaßen auch Unkraut; wie hat man das Feld bestellt?
Ich hätte mehr schreiben sollen - die Befindlichkeit Russlands analysieren, Ratschläge erteilen; tja, in meiner Puschkin-Rede ist mir das vorzüglich gelungen: Ein Mahner, ein Beschwörer - es hatte etwas von einer Predigt, eindringlich, die Zukunft in ihre Köpfe projizierend - in meinem Alter kann ich mir das Prophetische anmaßen, es wird einem zugestanden. Das ist der Vorteil des Herbstes: Man gilt auf den ersten Blick hin als weise; bejahrt, man kann punkten mit Glaubwürdigkeit. Und das sollte ich mir nicht zunutze machen, Rücksicht nehmen auf die Westler und Slawophilen? Ach was, ich zeige ihnen auf, dass sie gar nicht so uneins sind. Soll sich Russland am Westen, an Europa orientieren - oder sucht es sich seine Vorbilder in den eigenen Reihen? Ich habe sie auf Puschkin verwiesen, der es verstand, sich hervorragend in die Seelen anderer Nationen zu versetzen, sie zu durchschauen, sich nicht scheute, sie nachzuahmen - um vom Universellen einen Eindruck zu bekommen. Man kann sich nicht im eigenen Land verschanzen - es gibt überall Vorbilder.
Ich konnte die Begeisterung schüren - doch was stell ich jetzt damit an? Dem Propheten zittert die Hand, mit der er die Richtung weist - und doch sind es dieselben Gedanken, die ich schon vor zwei Jahrzehnten hatte - doch erst dem Alter bescheinigt man Visions-Wahrhaftigkeit, alles andere seien Fantastereien. Es endet hier; der Winter ist nicht dazu gemacht, dass einen Frühlingsgefühle beleben. Seltsam dieser Kontrast: Die Innenwelt Frühlings-offensiv, doch mein Äußeres winkt ab - das macht es nicht mit.
Gibt es das: dass verschiedene Jahreszeiten in einem sind? Gesprenkelter Mensch, zusammengesetzt aus vielen Bereichen. Woran soll man die Moral festmachen, da Darwin uns zu den Tieren gesellt? Ich will nicht auf das Christentum verzichten; wie es integrieren? Es scheint, es habe keinen Platz mehr, die Menschen sind bemüht, sich Ismen auszudenken - allen voran der Nihilismus. Jetzt gerade bin ich erfüllt vom Sinn meines Lebens, die Ovationen scheinen mir recht zu geben, dass Denken zu etwas nütze, dass die Literatur es vermag, neue Konzepte anzubieten, Gegensätze zu überbrücken, Brückenschlag ins Jenseits, erahnen, was Aufgabe eines jeden Volkes sei - sich die Andersartigkeit zunutze machen und davon profitieren. Große Worte - beherzige ich sie denn?
Ich halte zum Zaren; so sollte das Bewusstsein gleichermaßen regieren können - und nicht, dass ihm Affekte eine Revolte bereiten. In mir ist es am Gären, ich bin uneins mit mir - war ich schon immer. Die Epilepsie als Verhöhnung des selbstbestimmten Menschen. Mich durch tausend Leidenschaften gewunden; aber lohnt es denn, einem Eremiten nachzueifern, ein Starez sein in unablässigem Gebet? Wenn man es nun vermag, sich selbst Zar zu sein, in der Gewissheit, dass die Befehle nicht unerhört verhallen …? Davon bin ich weit entfernt, ich höre meine Kommandos und ignoriere sie. Was für ein Herbst wäre es, wenn ich folgsam gewesen wäre, wenn mein Wille stark genug gewesen wäre - was hätte ich vollbringen können? Ich aber jage meinen Leidenschaften hinterher, als sei ich ein Hund, der eine Katze jagt - überlassen seinem Instinkt, einer Jagdlust, die erbärmlich ist. Er könnte sich mit der Katze anfreunden. Ein Traum, Illusion. Wir werden immer bereit sein, den uns dargebotenen Feinden kläffend hinterherzurasen.
Man warf mir vor, dass ich mich zu großzügig bei hochklassigen Autoren bediene, abkupfere - um mir selber Glanz zu verleihen. Aber man muss ja erst seinen eigenen Weg finden, da braucht man Kartenmaterial. Ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, wen ich bewundere, wem ich Ehrerbietung zolle. Und dass mir es vergönnt war, Alexander Puschkin zu ehren mit meinen Worten, gibt mir die Hoffnung, dass ich ihn erreiche - wenn ich mich auf die Zehenspitzen stelle. Die Ehre, dass auch ich Vorbild sein könnte. In einer Kette, deren Glieder immer zugleich Lehrer und Schüler sind - Belehrte und die, die das Wissen weiterreichen und vermehren. Auf dass meinem Winter ein Frühling folgt - nicht mein Frühling, aber dessen, den man inspiriert hat - sodass der Geist niemals stirbt; ähnlich einer Pflanze, die sich in immer neuen Ablegern neu erfindet. Dann sollte mir das Verfärben der Blätter kein Anlass zur Sorge sein.
Schon seltsam, dass dann meine Romane und Novellen für mich sprechen sollen; meine Figuren haben ihre eigenen Ideen, Meinungen - es sind nicht die des Autors, er distanziert sich davon, hat seine Meinungen unzählige Male revidiert - er braucht die vielen Stimmen der Figuren, sie sind Chor, verstärken seine Stimme - sie hallen weiter, der Autor verlässt die Bühne; nur noch umgeben von Echos. Wie könnte man Echo nicht lieben? Es sei denn, man ist Narziss und bevorzugt die eigene Präsenz.
***
Acht Monate nach der Puschkin-Rede starb Fjodor Michailowitsch Dostojewski.
ENDE
Als Hypochonder war es mir entgangen, dass es sehr verbreitete Krankheiten gibt, an denen ich bislang achtlos vorübergegangen bin. Also höchste Zeit, mich mit denen zu beschäftigen, mal sehen, ob was für mich dabei ist. Komme mir vor wie im Ausverkauf: ein Eldorado für einen Hypochonder.
Dünnhäutigkeit, Erklärungsnot, Fernweh, Fracksausen, Frühjahrsmüdigkeit, Größenwahn, Heimweh, Herzschmerz, Hexenschuss, Lampenfieber, Lebensmüdigkeit, Putzfimmel, Torschlusspanik, Weltschmerz, Zivilisationskrankheit.
Habe ich was vergessen? Stattliche Liste. Mal sehen, was sich davon umsetzen lässt. Wie eine umgedrehte Bucket List: Wünsche, die man sich erfüllt, nur dass diesen auf den ersten Blick nichts Angenehmes anzuhaften scheint. Irrtum! Je näher und intensiver ich mich mit denen beschäftige, umso mehr Freude kommt auf. Putzfimmel – bislang war mir Dreck eher egal, aber da Leidenspotenzial dahintersteckt, achte ich jetzt peinlich genau auf jede Unsauberkeit, räume im Park auf, in fremden Wohnungen, was mir den einen oder anderen missbilligenden oder anerkennenden Blick einbringt – allerdings auch Hexenschuss und eine gewisse Erklärungsnot. Außerdem spüre ich jetzt schon im Herbst Frühjahrsmüdigkeit. Das lässt sich ja gut an. Ich bin begeistert. Die im Krankenhaus fliehen vor mir panisch.
Ich bekomme abwechselnd Heimweh und Fernweh, ich jette hierhin und dorthin. Ja, es nimmt Formen an, mir waren die Zivilisationskrankheiten entgangen, ich hatte mich zu sehr auf die altbewährten Leiden konzentriert, die schon seit eh und je die Menschen plagten. Man muss mit der Zeit gehen. Ein avantgardistischer Hypochonder. Größenwahn konnte ich noch nicht von meiner Liste streichen. In was konnte ich mich hineinsteigern, was nicht schon zigfach ausprobiert wurde? Mich mit dem Universum anlegen? Es zum Match herausfordern? In welcher Disziplin? Wer wehleidiger ist? Was war Sinn und Zweck des Universums? Stöhnte es innerlich, weil es nicht vorwärtsging? Immer wieder fiel es in sich zusammen wie ein Soufflé? Hatte Gott Lampenfieber, als er die Welt erschuf? Hatte Gott je überhaupt eine von diesen tollen Krankheiten? Vielleicht war deshalb die Welt krank, krankte daran, dass ihr Schöpfer ungenügende Kenntnisse über Krankheiten besaß? Ich musste ihn auf den neuesten Stand bringen. Im Paradies anrufen, hey, hier spricht der weltbeste Hypochonder. Aber konnte ich mir den Titel zubilligen, war ich wirklich in Form? Ich hatte eine glückliche Beziehung. Schluss damit! Herzschmerz ist angesagt, stante pede. Meine Freundin verstand das nicht. Ihr fehlt da manchmal die nötige Logik. Ich klabüsterte ihr das auseinander.
Aber sind es wirklich Leiden, wenn sie einem Freude bereiten? Wenn man zum Sammler wird, der das mit Leidenschaft betreibt, Lust daraus zieht? Am anderen Ende der Leitung war Gott, Er meinte, das seien schon interessante Gedanken, er hätte da ein Jobangebot für mich als Leidens-Berater. Bestimmt ein Scherz. Aber ich wollte nicht einfach auflegen, unhöflich sein, und so sagte ich erst mal vorläufig zu. Beim Gespräch mit Gott stellte sich dann heraus, dass Er tatsächlich erste Anzeichen von Torschlusspanik aufwies. "Ich habe erst eine Welt erschaffen. Und Ihr auf der Erde dreht Euch so ziemlich im Kreis." Na wunderbar, ich steckte Ihn an mit meinen Sorgen. Auch erste Anzeichen von Weltschmerz las ich auf Seiner Miene. "Die Unzulänglichkeit alles Erschaffenen." Er seufzte. "Im Potenziellen hat das so viel Format; man malt sich Wunder wer weiß was aus. Und dann kriegst Du die Krise, wenn Du das verwirklicht siehst. Aber es ist kein Scheitern aus Mangel an Übung, es ist der Sache inhärent."
Ich hörte aufmerksam zu. Ich schlug Ihm Herzschmerz als Lösung vor. "Ich habe meine Freundin schon zum Teufel gejagt." "Ja, ich hörte davon. Es ist mir zu Ohren gekommen, wie mir überhaupt allerhand zu Ohren kommt. Alles! Ich kriege Tinnitus." Ob es Zeit wäre, mich von dem mir angebotenen Job zurückzuziehen? Schon dieses Vorstellungsgespräch zeitigte Ungutes. Aber wiederum Erfreuliches. Krankheit ist ein Weg zur Erkenntnis, kann es zumindest sein. Kein ständig Gesunder könnte von sich behaupten, dass er Nennenswertes zustande gebracht hätte auf dem Gebiet der geistigen Tief- und Höhenflüge im Seelental. Um die Seele ganz kennenzulernen, ihre hintersten Winkel, ihre Möglichkeiten zu erahnen – da muss man schon kränklich sein bzw. es sich einbilden, Ängste hegen wie einen Schatz. Das konnte ich, darin war ich Meister, darin hatte ich es weit gebracht. Vielleicht war ich deshalb süchtig nach dem Leid, nur um desto besser Heilmittel mir ersinnen zu können? Ein überlegenswerter Gedanke. Denn das war die Kehrseite der Medaille: Heilung – die Kompetenz, die Fähigkeit, nicht nur Trost spenden zu können, sondern Heilkraft, die auf dem Boden der Empathie gewachsen war. "Interessanter Gedanke", bestätigte mir Gott, den ich immer mehr für das Krankheits-Thema begeistern konnte. Kam mir vor wie ein Pharmavertreter mit seinem Köfferchen. Was ich da alles auspackte.
"Dünnhäutigkeit ist auch so ein Thema – man bleibt im Touch mit der Welt. Steht nicht Welten entfernt davon ...", sagte ich bedeutungsschwer – und ein kleiner Vorwurf schwang da mit, da es für uns Menschen oftmals den Anschein hat, als berühre Gott das alles nicht. So ähnlich wie die Klimaschwankungen – gemessen an Äonen oder der Ewigkeit sind das alles Kinkerlitzchen. Wehwehchen der Menschheit – so aus der Ferne betrachtet; von Nahem betrachtet, sieht das ganz anders aus. Mehr Nähe, ein Heranrücken.
"Ja ja, die Dünnhäutigkeit, ich hatte mir damals ein dickes Fell zugelegt, als das mit Luzifer passiert ist. Dieser Flegel, habe mich maßlos über den Burschen geärgert; da richtet man alles schön ein, 1A-Ausstattung, und dann mosert der nur herum. Es heißt doch: Lobe den Herren. Die Engel haben sich immer an diese Devise gehalten – bis zu diesem vermaledeiten Tag. Du hast recht; vielleicht wäre es an der Zeit, der Dünnhäutigkeit wieder eine Chance einzuräumen, Wut gestatten, Hypersensibilität?"
Ich musste hier weg. Ich stürzte den ganzen Kosmos ins Unglück. Gott als Mimose; oder als Mitfühlender? Wo zieht man da die Grenze? Die Gefahr allzu großer Gleichgültigkeit und Lässigkeit: Man kann die Welt nicht mit Nonchalance regieren. Man muss in ihr stecken, ein Teil davon sein – zumindest gedanklich. Und ohne Schmerz ist das Leben nicht vollständig. Er gehört nun mal dazu. Er rundet es ab. Sagt ein Fan der Hypochondrie. Vielleicht nicht der beste Gesprächspartner für Gott. "Doch, doch, bleibe nur. Hatte kein so anregendes Gespräch seit der Sache mit Luzifer." Na toll, in eine Schublade – oder eine darüber – gesteckt mit Luzifer. Ich machte mich.
"Wäre doch witzig, wenn Luzifer einen Putzfimmel hätte. Könnte man da was machen?", schlug ich vor. Er schien nachzudenken, nickte bedächtig mit dem Kopf, dann ein Grinsen. "Gefällt mir; die Hölle ist ein Saustall. Du hast den Job. Willkommen im Berater-Team. Petrus wird Dir Deinen Kontakt-Engel vorstellen." "Wie ist das mit dem Gehalt?" "Was willst Du denn?" "Ein direkter Draht zu Dir wäre nett. Dass man nicht immer das Besetzt-Zeichen hat." "Ich bin immer dran – das ist kein Anrufbeantworter und die Leitung ist nicht tot – aber die Antwort erfolgt nicht immer auf demselben Weg. Aber sie ist da. Halte Ausschau danach. Man muss einen Blick dafür bekommen." "Warum so umständlich? Warum mittels Träumen, Visionen, Traumgesprächen? Warum die Fiktion bemühen?" "Vielleicht ist auch die Fiktion eine Antwort? Ich bin gerne rätselhaft. Habe meine Gründe dafür. So, entschuldige mich."
Das war das Gespräch, seitdem habe ich diesen Berater-Job. Voll krank. Aber es ist wohl so wie bei der Bekämpfung von Viren und Bakterien – man muss die Ursachen kennen – genaueste Kenntnisse von der betreffenden Krankheit, die Frage exakt formulieren, dann sind Heilung, Genesung, Antwort zumindest möglich.
ENDE
Ist es bedenklich, wenn es sich beim besten Freund um einen Schneemann handelt? Immerhin habe ich ihn selbst gebaut – und wie er so dastand, dachte ich mir, es wäre doch äußerst schade, wenn er einfach wieder so zerflösse, so als ob er nie diesen Charme eines Butlers gehabt hätte, dessen Lebenssinn darin besteht, sich nach den Wünschen der Herrschaften zu erkundigen. Vielleicht hatte ich ihn unbewusst so gestaltet, wie es mir ein Bedürfnis war – jemand, der einem beistehen würde, wenn man mal Hilfe nötig hätte. Kurzum, mein Wunsch muss so mächtig gewesen sein, dass sich eine vorübereilende Fee erbarmte, beiläufig etwas Feenpulver über ihn schüttete – er nieste – und schwups! schlug er die Augen auf und war fortan lebendig. Gibt es ja auch bei Pinocchio – zunächst etwas hölzern – willkommen in den Gefilden der Lebendigen. Ein seltsames Unterfangen – wenn man plötzlich so belebt wird; er verlangte zunächst nach einem Namen, er bestand darauf, und außerdem wollte er es schriftlich, dass er ordentlich gefeit sei gegen das Klima. Die Fee versicherte ihm, dass das durchaus in ihrer Macht stünde, er bräuchte sich keinerlei Sorgen zu machen. "Ja ja, das kennt man – und schwups bin ich hin. Ich will eine Sonnen-Risiko-Versicherung." Er war ein Pedant von Anfang an. Aber ein wenig Ordnung konnte ich in meinem Leben schon gebrauchen. Ich nannte ihn Fredo, was ihm gefiel. Ich nahm ihn mit auf Reisen, mal sehen, wie er sich so unter Menschen macht; weiß er, sich zu benehmen? Bei der Passkontrolle wollten sie ihren Augen nicht trauen, aber in den Beförderungsrichtlinien war nirgends vermerkt, dass ein Schneemann keinen Platz beanspruchen dürfte.
So sitze ich denn neben ihm in der ersten Klasse und wir fliegen nach Mallorca. "Meinst Du, für meinen ersten Außeneinsatz ist das nicht ein zu heißes Pflaster?" Er rutscht unruhig auf seinem Sitz hin und her. Kleine Wasserlachen bilden sich. Ich rücke von ihm fort.
"Magst Du mich nicht mehr?" Er klingt panisch. Ich habe ihm eine Badehose angezogen, denn auf Dauer nur mit Schal und Hut bekleidet, wirkt er nicht so sehr wie der Gentleman, der er eigentlich ist. Sein Charakter – er hat Noblesse. Eine, die ich nie so hinbekommen habe. "Du bist wohl Ausdruck meines Unterbewusstseins; Inkarnation eines bestimmten Seelen-Aspektes von mir."
Er blättert in einer Zeitschrift. "Sag mal, hörst Du mir überhaupt zu?" Der Mann eine Reihe vor uns verfolgt unser Gespräch höchst interessiert. "Toller Special-Effekt. Wirkt total echt." "Ey, Mann, ich bin total echt – und nicht so eine halbe Portion wie Du!". Fredo baut sich vor ihm auf – es stimmt schon, er hat beachtliche Größe, zumindest, wenn er nicht gerade wieder unzählige Wasserlachen abgesondert hat: über 2 Meter 30. Respekt.
Die herbeigerufene Stewardess schüttet heißen Kaffee auf Fredo; der kriegt die Panik. "Dusselige Kuh! Das kostet mich ein Siebtel meiner Substanz!" Er rast im Gang – will die Flugzeug-Tür öffnen. "Ich brauch Kälte! Dringend! Das ist ein Notfall."
Ach, man sollte nicht mit einem Schneemann verreisen, aber wir verstehen uns echt gut. Aber diese Wärme-Phobie steckt in ihm. Ich versichere ihm, dass die Fee ganze Arbeit geleistet habe und dass er ja auch die Sonnen-Police hätte, aber das bringt ihn noch mehr ins Schwitzen.
"Ich vertrau der Magie nicht. Ich such mir lieber ein ruhiges Plätzchen irgendwo in einem Park, wo es immer schneit, wo Kumpels von mir entstehen – und wo ich nicht der einzig seltsame Kauz bin. Sieh doch, wie sie mich alle anstarren."
"Niemand starrt dich an." Was natürlich eine Lüge ist, denn ein tobender Schneemann im Flugzeug fällt schon auf. Sie halten ihn für einen Terroristen. Ein paar besonders mutige Passagiere werfen sich auf ihn.
"O ja, Schneeballschlacht!" Er bewirft sie mit körpereigenem Material.
"Du könntest in einem Grusel-Schocker mitspielen." "Das sagst Du doch nur so." Aber er rezitiert Klassiker, fühlt sich ein in seine Rolle als Hollywood-Star. Das muss er von mir haben: die übergroße Fantasie.
"Sie haben mir meinen Arm gebrochen." Er hat als Arm einen Zweig. Wenn ich das damals gewusst hätte, hätte ich was Edles genommen, Mahagoni oder so. Sein Arm baumelt ziemlich kläglich. Was hat Frankenstein sich dabei gedacht? Man hat Verantwortung. Er errät meinen Gedanken – was in letzter Zeit immer häufiger vorkommt. "Was?! Du ziehst Vergleiche mit Frankensteins Monster? Ich bin ein Charme-Bolzen." Er geht reihum und macht Reverenzen. Dabei rutscht ihm jedes Mal der Hut ins Gesicht. Die Kinder finden ihn faszinierend, sie wollen auch so einen haben. Ich forme versuchsweise aus etwas Material von ihm eine kleine Version – und nach einigen ermunternden Worten gelingt ihm der Sprung in die Lebendigkeit. "Ein Baby-Schneemann! Ich bin Vater!", Fredo kriegt sich kaum wieder ein. "Man könnte auch sagen, Du bist die Mutter – oder aber wir beide." Wir nennen ihn Little-Joe; wobei sich alsbald herausstellt, dass Little-Joe zum Fiesen neigt; er bespuckt die Stewardess. "Rache! Uns mit Kaffee zu begießen, Du miese Bitch!" Er lässt echt die Sau raus und lässt nichts aus. Habe ich mir das gewünscht? Schluss mit höflich? Erschreckend. Aber interessant. Ich beschließe, ihm volle Freiheit zu lassen.
"Sie haben für Little-Joe aber kein Flugticket", äußert sich die oberschlaue Stewardess; wie kleinkariert. Zur Strafe springt Little-Joe ihr ins Gesicht und stellt Erschreckendes mit ihrer Frisur an. Aber sie sieht besser aus als vorher.
Ich setz die beiden erst mal vor den Fernseher. Es gibt Holiday on Ice. Die Leute filmen wie verrückt. Ich stoße Fredo an. "Du wirst bestimmt ein YouTube-Star." "Soll ich was Ausgefallenes tun?" "Es reicht schon, wenn Du in die Kameras winkst." "Ich bin unterfordert."
Sie machen die Pirouetten nach von Holiday on Ice. Der Mittelgang gibt das eigentlich nicht her und Fredo landet zuweilen schon mal zwischen den Sitzen. Little-Joe hat sich Zugang zum Cockpit verschafft und versucht, die Maschine vom Kurs zu bringen. "Ich will nach Grönland", verkündet er. Der Pilot versucht, ihn davon abzubringen, aber so ein kleiner Schneemann ist erstaunlich hartnäckig, wenn es darum geht, sein eigenes Element aufzusuchen. "Lasst dicke Schneemänner um mich sein!"
Die Stewardess versucht verzweifelt, ihm mit Kannen von Kaffee den Garaus zu machen, was ihn fuchsteufelswild macht. "Leg Dich nicht mit mir an, Lady!" Ich mag da gar nicht hinschauen, ihre Schreie haben etwas Verstörendes.
Zum Glück landen wir alsbald – auf einem Notflughafen – präziser: eine Notwasserung. Die beiden Schneemänner finden das herrlich. "So viel Wasser. Wann friert das?"
Im nächsten Urlaub fahren wir in die Berge, wir wollen Riesen-Schneemänner bauen. Das wird toll. Die Fee hat mir ihre Visitenkarte dagelassen. Ich hoffe, sie hat einen genügend großen Vorrat an Feenstaub.
ENDE
Ein neues Jahr; man sollte was verändern; der Schnurrbart liegt im Trend, das sollte ich versuchen. Wenn da nicht das Veto meiner Freundin Bailey wäre. "Wieso ein neues Styling? Was passt Dir an unserer Beziehung nicht? Soll ich mir etwa auch die Haare färben, sie abrasieren?" Ich bestelle probehalber ein Schnurrbart-Set – so was zum Ankleben; den neuen Look vorm Spiegel testen. Unglaublich. Ich komm gut rüber. Ich muss eine völlig andere Wahrnehmung haben als Bailey, denn sie macht prustende Geräusche. "Lächerlich." Ich habe etwas gegen abschätzige Urteile, da ist mein Widerspruchsgeist erst so recht geweckt. Das verteidige ich erbittert. Als Argumentationshilfe zeige ich ihr Fotos von Stars, die mit Bart klasse aussehen; das beeindruckt sie nicht. Soll meine Revolte hier schon enden? Wie armselig wäre das? Oder ist Einlenken das Kennzeichen aller großen Männer, die ihre Kraft lieber für weltbewegende Dinge aufsparen, statt sie im häuslichen Umfeld zu verpulvern?
"Dies Jahr könnte uns so viele Überraschungen bringen; man muss nur aufgeschlossen sein ..." "Und Fussel im Gesicht tragen? Find ich widerlich." "Sei doch nicht so kategorisch, immerhin sah Kaiser Wilhelm damit imposant aus und Salvador Dalí hatte was Spitzbübisches. Es unterstreicht das Charakteristische." "Es sieht bescheuert aus." "Der angeklebte Bart ist doch gar nicht zu vergleichen mit dem Prachtstück, das man selber hegt und pflegt ... das gibt einem einen wilden Look. Du könntest auch mal was Neues versuchen. Immer der alte Stiebel." "Ich könnte neue Schuhe gebrauchen."
Soll das ein diskreter Hinweis auf mögliche Bestechungs-Gefilde sein? Exzessives Schuhe-Shopping – und die Sache ist gegessen? Tu ich mir das an? Der Bart sieht wirklich gut aus und an ihrem Einverständnis ist mir sehr gelegen. Mach die Frau glücklich.
"Das Jahr will doch, dass wir rumexperimentieren; stell Dir vor, es ist ein unbeschriebenes Buch mit 365 Seite; was kann man da alles reinschreiben ...?" "Man sollte das einen Profi machen lassen. Es gibt Autoren, die können so was." "Selbst ist der Mann. Es müssen gar nicht die großen Veränderungen sein. Peu à peu sich vom Gewohnten fortbewegen." "Soll das heißen, Du willst Dich von mir trennen?" "Noch nicht. Aber mit Deiner Veto-Leidenschaft machst Du es einem verdammt leicht, Dich zum Teufel jagen zu wollen." "Soso. Und der Teufel trägt vermutlich auch einen Oberlippenbart? Kess."
Sie zeigt mir Bilder von Pornodarstellern, die mit einem Schnurrbart sehr männlich aussehen. "Das völlig falsche Image, das täuscht." "Da täuscht gar nichts. Das ist absolut unterste Schublade. Ich will keinen Proleten als Freund." "Ich werd doch nicht zum Proleten durch ein paar Fussel im Gesicht!" Verdammt, jetzt sag ich es selber. Ich übernehm ihre Wortwahl.
"Dann lass ich mich blondieren. Dann kannst Du mal sehen, wie es ist mit einer Proletin an Deiner Seite." "Schatz, Du hast völlig verkehrte Ansichten, man wird doch durch eine Frisur nicht zum Proleten." "Das kann passieren. Man rutscht da ganz schnell in die Szene." "Kann es sein, dass Du eine Proll-Phobie hast? Das ist behandelbar."
Ich kleb mir den scheußlichsten Bart auf. "Siehst Du, wenn Du diesen Anblick eine halbe Stunde lang erträgst, dem standhältst – das könnte Deine Proll-Aversion kurieren." Sie schreit wie eine Screaming-Queen. Als ob wir uns in einem Horror-Film befänden. Da muss man durch. Eine Drogen-Entziehungskur ist wohl so was Ähnliches. "Das Gutbürgerliche in Dir bäumt sich auf. Halte durch!" Eigentlich wollte ich das Jahr mit was Erfreulichem beginnen, jetzt betätige ich mich als Exorzist, von was auch immer. "Wir müssen alte Moral- und Glaubens-Vorstellungen über Bord werfen", schreie ich, als ob wir uns in Seenot befänden – so wie im Film Titanic. Lässt sie mich im eisigen Meer zurück? Klammert sie sich an die Planke ihrer Spießbürgerlichkeit? "Du dramatisierst", meint Bailey und zieht mir mit einem Ruck den Bart ab. Na, hoffentlich macht sie das nicht auch mit dem echten. Ich muss mich da wohl auf was gefasst machen.
"Die englischen Offiziere wurden in Indien nur für voll genommen, weil sie sich Bärte wachsen ließen." "Ich nehm Dich mit oder ohne Bart nicht für voll", beruhigt sie mich. Ich liebe Streits zu Anfang eines Jahres. Die können so schön eskalieren, bieten noch alle Möglichkeiten; gerade am Anfang einer Beziehung ahnt man noch nicht das gesamte Katastrophen-Potenzial – es tut sich einem erst nach und nach auf. Vielleicht ganz gut, es bei Kleinigkeiten auf die Spitze zu treiben. Da ist die Explosivkraft noch nicht so dolle. Kawumm! "Wieso schlägst Du mich?" "Mir ist danach. Außerdem gehen mir die Argumente aus", meint Bailey. Na dann. "Ich habe auch keine Argumente mehr zur Hand." Meine Ohrfeige ist nicht von schlechten Eltern. "Wird das jetzt Sadomaso?", will sie wissen. "Eher Sado", lautet mein Urteil.
Gar nicht so einfach, in einer Beziehung was durchzusetzen. Ich versuch's jetzt erst mal mit den Aufklebe-Bärten – habe mir noch drei Packungen schicken lassen – sieht echt bescheuert aus; vielleicht kann ich mich so von meiner Vorliebe für Bart-Modelle heilen? Ein müder Kompromiss. Aber ich häng nun mal an meiner Freundin und will sie nicht über Gebühr verärgern. Überraschend ist, dass sie in der nächsten Woche blondiert ist – und voll heiß aussieht.
"Du hattest recht mit den Veränderungen. Vor allem das, was man rückgängig machen kann, lädt dazu ein, es auszuprobieren. Du hast mein Okay zu allen möglichen Bart-Experimenten. Lass dieses Jahr ein Jahr der Experimente sein – man experimentiert viel zu wenig." Sehe ich da ein bedeutsames Zwinkern, verheißungsvoll? Ich streiche über meinen nicht vorhandenen Oberlippenbart – und lasse das Jahr stürmisch angehen.
"Falls wir jetzt einen Sohn zeugen, sollten wir ihn Bartholomäus nennen." "Veto."
ENDE
So, die ersten Taxidrohnen sind zugelassen, die Eroberung der dritten Dimension, auf nach oben, dem Verkehrschaos entkommen; mal sehen, welches Chaos der Luftraum für einen so bereithält. Ich bin leider ein Pionier, einer, der es genau wissen will – und so wird erst mal ausgiebig getestet. Angeblich fliegen die Taxidrohnen völlig losgelöst – nicht nötig, dass man ihnen kontinuierlich Anweisungen gibt – entspannt zurücklehnen und die Fahrt über dem Häusermeer genießen. Wobei es schon witzig wäre, wenn man sich jederzeit wie ein Adler herabstürzen könnte – in die Häuserschluchten, dazwischen durch … wie Spiderman – ich merke, wie ich an dem Joystick spiele. Ist eigentlich nur für Notfälle gedacht, doch ich bin ein Macher, mir liegt es nicht, mit gekreuzten Armen mich chauffieren zu lassen von der Technik. Technik soll Spaß machen. Jedes Ding hat drei Seiten, eine positive, eine negative und eine komische. Ich bin hier nicht als Redakteur, der das System bewerten will – aber wie ist es, wenn ich mich bereitmache für die komische Seite – öffne ich damit die Büchse der Pandora? Als geborener Autodidakt reizt es mich übermächtig, die Kontrolle an mich zu reißen – das ist mein Batmobil, ich bin im Inneren eines Adlers ... Im Handbuch steht, die Drohne lasse sich intuitiv steuern, was für mich gleichbedeutend ist mit: Trial and Error. Da es ein Zweisitzer ist, könnte ich bei meiner Freundin Alina vorbeifliegen. Sie behauptet ja immer, sie vertraue mir. Mal sehen, ob das auch als dilettierender Pilot gilt. Ich lande mit Ach und Krach vor ihrem Haus. Ich lade sie ein, sie zögert verdächtig lange, erkundigt sich erst nach meinen Flug-Erfahrungen.
"Es geht um Intuition, das ist eine ganz neue Generation von Fluggeräten; der Joystick bringt Dich überall hin; voll easy." Sie will mich nicht enttäuschen und springt zu mir hinein. Ganz im Stil von Doctor Who frage ich angeberisch: "Na, wo soll's denn hingehen? Zukunft, Vergangenheit ...?" Vielleicht hat man zu viel Serien-Helden, denen man nacheifern will; man traut sich Sachen zu. Alina meint: "Ich will zum Bäcker." Wie profan. Der ist zwei Häuserblocks weiter. Wir schießen steil nach oben – weil ich im Angeber-Modus bin. "Wie kommt es, dass Du die Drohne steuern kannst? Ist doch nur für den Notfall gedacht." "Das war ein Notfall: akuter Anfall von Pionierlust." "Damit rechtfertigst Du alles. Wobei ich das auf sexuellem Gebiet ja ganz reizvoll finde. – Lass mich auch mal."
Wir tauschen die Plätze – und sie macht mit der Drohne mehrere Loopings. Ist das beabsichtigt? Sollte ich eingreifen? Aber dann heißt es wieder, dass ich ein Macho sei. "Das Trudeln hast Du schon gut drauf", lobe ich sie. Immer positiv. Sie nicht unnötig beunruhigen. Wobei der Boden schon in beachtlichem Tempo näherkommt. "Automodus an! Automodus an!", schreit sie, als ob die Drohne auf Sprachbefehl reagieren würde. Sie scheint technisch doch nicht so versiert. Ich sage ihr: "Jedes Ding hat drei Seiten, eine positive, eine negative und eine komische." "Und was soll ich mit dieser Information anfangen?" Ich hau auf den Automatik-Button. "Die Komik kommt bei uns immer kürzer; wir sollten alberner sein; Du bist so beschäftigt mit Zukunftsplänen, Du wägst ab, dabei ist das Leben wie diese Drohne: Es liegt alles in Deiner Hand. Wir können fliegen, wohin wir wollen; na ja, im Radius von 300 Kilometern."
Sie macht Anstalten, auszusteigen. Die 200 Meter unter ihr scheinen sie nicht zu beunruhigen. Ich komme mir immer weniger wie Doctor Who vor. Was kann ich ihr bieten? Eine neue Sicht? Was, wenn ihre Sichtweise die richtige ist: Analytisch, das Positive und das Negative fein säuberlich trennen, diagnostizieren, wie es um die Realität steht, ihre Beschaffenheit? Vielleicht ist kein Platz für die Komik – und sie ist nicht mal als Notfall- Programm vorgesehen? Kann der User immer weniger in die Abläufe eingreifen? Wird er absichtlich vom System ferngehalten, dass er keinen Zugriff darauf erhält? Ich gebe ins Display Landestation Bäcker ein, wir werden chauffiert, als ob eine Droschke uns ganz romantisch und stilvoll dahin brächte. Keine Eskapaden – es ist so verlockend, sich der Technik zu überlassen, sie machen zu lassen. Im Widerstreit mit den Automatismen – was, wenn ich es gar nicht so perfekt haben möchte, wenn die Komik dabei auf der Strecke bleibt? Sie hat das Nachsehen – als ob ich sie an einer Autobahnraststätte vergessen oder hinausgeworfen hätte; fahre weiter ohne sie. Rational, ökonomisch, zielgenau – nichts Außerfahrplanmäßiges. Die Komik liebt das Chaotische, dort findet sie ihre Stichworte.
"Du siehst betrübt aus", meint meine Freundin. Sie hat ein schlechtes Gewissen, weil ihr die beiden anderen Seiten mehr liegen: Sie ist Buchhalterin. Das Positive und das Negative im Blick zu behalten.
"Die Taxidrohnen sind der Hit. Man sollte sich damit begnügen, kutschiert zu werden; kürzester Weg von A nach B. Die Rationalität wird triumphieren, sie ist auf dem Vormarsch, die Truppen des Chaos ziehen sich zurück. Aber ich bin nun mal ein Chaot; ich experimentiere gern und erzeuge in 9 von 10 Fällen ein Desaster. Das bin ich so gewohnt."
"Willst Du mit mir jetzt ernsthaft darüber diskutieren, ob Dein Chaos mit meiner Rationalität kompatibel ist?" Sie haut mir mit dem Meterbrot aus der Bäckerei auf den Kopf. Ich kann sie noch mal überreden, mit in die Taxidrohne zu kommen. "Ich muss lebensmüde sein."
Ich habe von ihr die Erlaubnis, den Spiderman-Modus zu aktivieren: Ab durch die Häuserschluchten in affenartigem Tempo. "Näher am Geschehen dran; die Panik der Passanten; ist das nicht schön?"
Ich weiß nicht, ob es ein zustimmendes Grinsen ist oder ob die Panik dahintersteckt. "Kennst Du den Film 'Quax, der Bruchpilot'? Oder das Buch 'Die Möwe Jonathan'? Perfektion des Fliegens."
"Aber Du bist keine Möwe! Wenn der liebe Gott gewollt hätte, dass wir uns durch Häuserschluchten hangeln, dann hätte er irgendeine Turbo-Einrichtung vorgesehen."
"Der Mensch ist doch nicht beschränkt auf 2 Dimensionen; er liebt Meta-Ebenen – man muss sich erkühnen und darüberstehen – und sei es mit Hilfe einer Taxidrohne."
"Mir ist schlecht." Sie übergibt sich. Der Innenraum sieht besudelt aus und riecht eigenartig. "Kann sein, dass wir einen Aufpreis bezahlen müssen." "Ich werde mir jetzt zweimal überlegen, ob ich zu jemandem sage: Ich flieg auf Dich." "Na, siehst Du, da hast Du Deinen Humor doch wieder."
Als ich anfange, 'Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein' zu singen und zielstrebig in die Kumulus-Wolken hineinfliege, drückt sie in Panik den Automatik-Button. "Ich will die Automatik. Ich liebe die Automatik. Ich bin der Automatik-Typ!", schreit sie, als ob es hierbei um eine öffentliche Beichte ginge. Allerdings scheint die Taxidrohne uns das Hin und Her ein wenig übelzunehmen, denn sie ruckelt.
"Wieso ruckelt die?! Aussetzer?" "Es ist unausgereifte Technik", beruhige ich sie, "da gibt es schon mal hin und wieder das eine oder andere Malheur." Sie fällt wie ein Stein herab. Tolle Beschleunigungskräfte. Faszinierend. Meine Freundin und ich retten uns mit zwei Fallschirmen.
Seitdem besteht sie darauf, beim Autofahren am Steuer zu sitzen und auch bei sonstigen Gelegenheiten ist sie bestrebt, die Kontrolle zu behalten. Irgendwie eine Überreaktion.
ENDE
Akte Atlantis: Um mit allen Zweifeln endgültig aufzuräumen, setze ich mich in meine Zeitmaschine, schaue, was 9600 v. Chr. so abging und bin zum Abendbrot zurück. Ein Kontinent, der im Meer versinkt oder weggebeamt wird, ausgelöscht – Strafe der Götter, ein Hybris-Vergehen? Oder Unachtsamkeit? Uns wäre es zuzutrauen, dass wir uns so ganz beiläufig und aus Versehen einen Kontinent wegzaubern; die Wissenschaft macht erfreuliche Fortschritte und Schwarze Löcher herzustellen, wird nur eine der geringeren Fertigkeiten der Zukunft sein. Kann also nichts schaden, sich zu erkundigen, was zu Atlantis' Untergang beigetragen hat. Bei Platon heißt es, dass sie just in dem Moment versanken, als Athen obsiegte, als ob das Blatt sich gewendet hatte, sich nun alles gegen sie verschworen hatte: Was war in sie gefahren bzw. welcher Rachegott war da am Wirken? Poseidon? Gleich mal aufschreiben, kommt mit auf meine Liste: Poseidon befragen. Und bei der Gelegenheit: fragen, was er gegen Odysseus hatte. Viel Aufklärungsarbeit. Setzt allerdings voraus, dass man an die Mythen und Legenden glaubt; warum nicht? Vermutlich ist das gesamte Universum ein Mythos, eine Einbildung; und da werden die Atlanter ob ihrer Einbildung strafrechtlich belangt; interessanter Fall. Warum machen die Griechen so einen Wirbel um die Hybris, was ist ihnen daran suspekt? Die Strafe folgt auf den Fuß. Immer schön bescheiden; aber so kommt man nur schleichend voran; nicht zu vergleichen mit den Siebenmeilenstiefeln, die die Wissenschaft uns umgeschnallt hat. Wir machen Sprünge, wir sind seltsam leicht, wir haben kaum Gewicht, sind abgehoben. Auch meine Zeitmaschine ist ein Kind ihrer Zeit, des Hybris-Gedankens: Zeit und Raum als bloße Parameter, Rechengrößen, für die es Formeln gibt. Auch ich finde mich in unzähligen Formeln wieder; alles eine Kette von Algorithmen. Man kann vor- und zurückgehen.
Hat eigentlich was Morbides: eine dem Untergang geweihte Zivilisation besichtigen, seelische Ferne wahren – aber es wäre so, als würde man in Pompeji zuschauen, wie alles vernichtet wird –, das kann man doch nicht in der Art eines Museumsbesuchers machen, der an den Ausstellungsstücken vorbeischlendert, sich Notizen macht und unberührt ist – oder doch? Es ist geschehen – dennoch ist das Leid präsent für den Zeitreisenden; die Menschen vor ihm werden zu einer Art von Zootieren, Studienobjekten; er kennt deren Schicksal – und er greift nicht ein. Es würde ihm vermutlich ergehen wie Kassandra – man würde seine Warnungen ignorieren, belächeln. Ich habe ja auch kein echtes Interesse daran, sie zu erretten; es sind Studienobjekte – gerade durch ihren Untergang sind sie interessant, dadurch blieben sie uns in der Erinnerung; Historie geht sonst darüber hinweg, sie merkt sich nur das Außergewöhnliche. Der Alltag interessiert sie nicht. Sie wählt aus, sie ist ein heikles Miststück.
Poseidon sitzt vor der Stadt – als ob er mich erwartet hätte; hat er was Hämisches? Er scheint voller Vorfreude. Immerhin ist es die Stadt, die Insel seines Sohnes, die er gleich vernichten wird.
"Warum tust Du das?", will ich von ihm wissen. "Ihr Zeitreisenden bildet Euch ein, bald auf Augenhöhe mit uns Göttern zu sein; aber wir sind die eigentlichen Spieler; das ist unser Spielfeld!" Er sieht grimmig aus. Als ob ich einen Profi-Gamer bei seiner Lieblings-Beschäftigung unterbrochen hätte.
"Ja, das ist soweit richtig; wir schlüpfen in die Rollen der Menschen-Spieler, übernehmen ihren Part; aus unserer Sicht sind es NPC – non-player character, Nicht-Spieler-Figur – Staffage – wir sind die eigentlichen Spieler, wir sitzen am Hebel." Er deutet auf seinen Dreizack. So könnte man Dreizack, Hammer des Thor und Donnerkeil des Zeus auch deuten: als Gamepad, Joystick – als Bedienungs-Panel für das Universums-Game. Offenbarung. An Schnittstellen kann so etwas passieren, dass man Einblick erhält, dass man bei der Kulissenschieberei dabei ist.
"Ihr fragt Euch, ob es Troja gegeben hat, diesen seltsamen Krieg, ob es Odysseus Irrfahrt gegeben hat? Was berichtenswert ist, wird wohl auch stattgefunden haben; wir inszenieren mit Vorliebe Erzählenswertes. Es ist, als würden wir uns Märchen erzählen. All Eure Menschen-Highlights – wir sind da, tauchen hier auf und dort, mischen uns ein, sind am Wirken; und Ihr leugnet Magie; es ist so lächerlich; Ihr schwört auf Euren Verstand – und im Traum erscheint Euch alles ebenso real wie in der Wachheit. Kommt Euch das nicht seltsam vor? Kamen Euch da nicht erste Zweifel an dem Wahrheits-Gehalt all dessen, was sich um Euch befindet? Atlantis versinkt in den Fluten – ein Spiel von mir; ich könnte es mir immer wieder anschauen, so schön ist es; Aufbau, Zerstörung; Hoffnungen von Hunderttausenden einfach so wegespült; das hat was Göttliches, wenn man solche Macht spürt."
"Aber müsstet Ihr nicht heilen, reparieren ... was Gute eben so tun?" "Ich bin kein Superheld. Das heißt, ich war es. Ist aber langweilig; beides sein: Das Böse und das Gute – die Auswahl haben. Auch Du bist ja nicht hier als Helfer; ein bloßer Gaffer. Erbärmlich."
Er speit vor mir auf den Boden. Wie unhöflich. Sind alle Götter so drauf? Was hat ihn so verärgert? Sechs Pferde – jedes so groß wie ein Drache – warten geduldig. Ich könnte eines davon mit in die Zeitmaschine nehmen. 'Mit ihm kann man Pferde stehlen' – das behaupten zumindest meine Freunde von mir. Soll ich? Ich möchte irgendetwas tun, ins Rad der Geschichte reingreifen, mir nicht nur Belehrungen von Poseidon anhören, irgendetwas Chaotisches tun – wobei er davon überzeugt ist, dass es uns nicht gegeben ist, Zufallselemente ins Spiel zu bringen.
"Ihr seid erbärmlich berechenbar; unsere Marionetten; NPCs" In seinem Blick liegt so viel Verachtung; hasste er Odysseus deswegen: weil er anders war – seine scheinbare Irrfahrt eine Anhäufung von Chaos-Ereignissen, die ihn zur Legende machten? Wenn mir das auch gelänge? Ich will kein NPC sein – ich brauche ein Gamepad, ich will Steuerbefehle an die Zentrale geben können ... Hat er mich provoziert? Er sieht mich forschend an. Will er sich mit einem Zeitreisenden anlegen? Ich könnte ihn aus Raum und Zeit schleudern – bin mir aber nicht sicher, ob er sich nicht wieder hineinbringt.
Das könnte meine Insel sein – ich könnte ihr Bewahrer sein, derjenige, der sich gegen Poseidon stemmt. Ja, das ist echte Hybris. Aber das Pferd ist schon geklaut, ich habe es in meiner Zeitmaschine. Ich düse ab. Poseidon holt uns zurück. "Netter Versuch. Im Grunde ist es langweilig, da die Menschen keinerlei Macht haben. Spielbälle, die das nicht mal wissen, und die sich einbilden, ihr Hüpfen erfolgte, weil sie es so wollen. Sieh zu, wie ich Atlantis vernichte. Du wirst es genießen, ein erhabener Anblick. Tu nicht so, als bemitleidest Du sie; Du bist als Forscher hier; Dir stehen Sympathie-Bekundungen gar nicht zu. Ich werde es so versenken, dass es unauffindbar sein wird. Und nein, es geschieht nicht aus Zorn – ich tu es, weil ich es tun kann. Und weil man nach Jahrtausenden noch von dieser meiner Tat sprechen wird. Ja, mag sein, dass Eitelkeit eine nicht unerhebliche Rolle dabei spielt; im Grunde bin ich wie ein Attentäter; ein Chaot; jemand, der der Zeit Bedeutung entreißen will. Einen Marker, seinen Stempel aufdrücken. Du musst wissen, die Zeit ist nicht einfach zu beeindrucken, sie vergisst alles – wie eine Alzheimer-Kranke. Auch ich bewege mich frei in der Zeit, weiß, welche Begriffe Dir im Kopf spuken, greife hierhin und dorthin in der Bibliothek der Zeit. Habe meine Möglichkeiten. Sieh, mit einer Lichtsäule lasse ich es beginnen. Die schießt steil nach oben; sieht toll aus. Ich habe es in Gedanken schon oft gemalt. Es berauscht mich: Wann gönnt ein Gott sich so viel Verderbtheit? Aber ich habe es erschaffen – und ich vernichte es", sagt er entschuldigend. "Dein Besuch ist mir erneutes Zeichen, wie nachhaltig meine Tat sein wird – die Stunde, etwas Bedeutsames zu tun –, vor allem Boshaftigkeit schwimmt oben, alles andere versinkt so rasch im Zeitmeer. Ja, und die Zeit nötigt einen, sich darin zu verbessern – man muss es übertreffen. Es ist meine Insel – na ja, beinahe ein Kontinent, ein Inselreich, von Kanälen durchzogen – beinahe wie ein Organismus –, ich habe sie liebgewonnen, gab es meinem Sohn Atlas als Geschenk. Letztlich alles nur ein Spiel. Aber die Zeit merkt sich nur das Außergewöhnliche; sie will ich beeindrucken – um sie geht es, sie hofiert man als Gott. Die Zeit als Herrin, als Geliebte, als Freundin. Ach, was erzähl ich Dir das alles? Es ist Angabe – ja ich diagnostiziere bei mir Hybris; man will sich ja übertreffen, es ist ein Gebot. Nur Tiere beschränken sich, deren Verstand hat ein eng begrenztes Revier – Hybris ist göttlich", stellt er in einem sachlichen Ton fest, so als ob er über einer Gleichung gebrütet hätte und nun endlich den Schlussstrich ziehen könnte.
Ich habe nicht den geringsten Versuch unternommen, Atlantis zu retten. Vielleicht kehre ich erneut zurück; lernt man aus seinen Fehlern? Aber wenn es stimmt, was er behauptet, dann agieren nur die Götter wirklich frei; und selbst die Götter wollen es sich nicht mit der Zeit verscherzen, sie wollen ihr imponieren, sie machen ihre Zauberkunststücke vor ihr und hoffen auf ihren Applaus oder ihren Tadel – irgendwie ihre Aufmerksamkeit erregen und behalten. Und wenn man Atlantis versenken muss – ein kleiner Preis –, so als ob ein Edelmann ein Diadem verschenken würde in der Hoffnung, dass er nicht unerhört bleibt. Unerhörtes leisten. Ich lasse Poseidon und seine sechs Pferde am Strand zurück. Die Lichtsäule spaltet den Himmel. Ich habe mehr erfahren, als ich wissen wollte.
ENDE
Reporter: "Wir sind hier zu Gast bei Professor Houston. Was wird uns denn heute aufgetischt?"
Professor Houston: "Wie bekannt sein dürfte, fällt es vielen Familien schwer, sich am 25. Dezember für ein Gericht zu entscheiden: Man schwankt zwischen Gans und Karpfen. Die wetteifern um die Gunst ..."
Reporter: "Ganz so würde ich es
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
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Tag der Veröffentlichung: 23.01.2018
ISBN: 978-3-7438-5186-3
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