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Gretel und die Hexe

Gretel: "Wie jetzt, das Lebkuchenhaus ist nur ein Trick, um Kinder anzulocken? Hier?! Mitten im Wald? Kannste das nicht zentraler platzieren; an einer Hauptstraße?"

Gretel reinigt den Tisch und schnappt sich gelegentlich ein Stück des Mauerwerks. "Gutes Zuckerwerk; ein bisschen süß nach einer Weile womöglich - aber momentan stehe ich da voll drauf. Boah, wir sind echt voll ausgehungert. Kannst dir ja denken, dass ein Holzfäller weniger Holz vor der Hütte hat als du ... der Graf will nicht, dass man wildert und das Holz hat er rationiert."

Hexe: "Wieso kennst du solche Ausdrücke? Gebildete Kinder - du könntest mir etwas vorlesen. Meine Augen sind zwar noch super, aber ich komme hier um vor Einsamkeit. Menschliche Stimme hören - nicht nur das Tirili der Waldvögelein und das Schrubben der Waschbären. Ach, ich werde sentimental. Das passt jetzt aber gar nicht zu meiner kannibalistischen Ader. Ist der Mensch nicht ambivalent?"

Gretel: "Könnte sein. Wenn wir philosophieren wollen, dann müsste ich allerdings eine Garantie bekommen, dass Hänsel Aussicht hat, aus seinem Mast-Käfig wieder rauszukommen - wir könnten es hier so nett haben. Lebkuchen alle Tage. Nicht nur zur Weihnachtszeit. Aber immer kommt einem die eigene Gier dazwischen; bei dir ist es ein mir nicht nachvollziehbares Verlangen nach Kinder-Rezepten. Hast du mal in deiner Kindheit recherchiert, ob du da einen Grund findest für dieses Gelüst? Ein Gespräch mit einer Therapeutin kann da sehr aufschlussreich sein. - Ich könnte diesen Part auch noch übernehmen. Aber wie gesagt, das hängt alles ab von Zugeständnissen ..."

Die Hexe unterbricht sie. "Ja ja! Ich bin ambivalent, verstört, wahllos meinen Gelüsten nacheifernd. Eine traurige Existenz! Und ja, hier mitten im Wald meine Basis anzulegen mit dem Lebkuchen-Ensemble - eher meschugge als maliziös, oder? Hat Euch das weiße Waldvögelein nicht genau hierher zu mir geführt? Hah! Nein, es ist keine Mitarbeiterin von mir. Die Nachtigall - warum sie weiß ist - keine Ahnung. Vielleicht eine Botin des Himmels. Mahnerin? Mich gemahnen daran, dass ich in Sünde wandle, bzw. da durchstapfe? - Es hat seinen Plan - aber nicht der Meinige. Achtung, jetzt kommt der philosophische Part: Ist meine Bosheit systemimmanent? Wird sie benötigt für tolles Heil? Ich weiß es nicht. Ich futtere weg, was hier so vorbeikommt; ist inzwischen Gewohnheit. Ist die Nachtigall dann auch Teil des Bösen oder agiert sie als getarntes Engelein - wo wäre das Gute dann als Resultat? Warten darauf, dass ich mich ändere, meine Schlechtigkeit einsehe? Ach, Gretel, reich' mir mal den Rum. Am besten, ich besaufe mich."

Gretel nimmt vorher einen kräftigen Schluck aus der Buddel. Gretel: "Gestatte mir, mir Mut anzutrinken, um dir was zu verklickern! Das hätte mein Vater auch bei meiner Mutter machen sollen! Statt vor ihr zu zittern! Was für ein Holzfäller - wie eine Axt im Moral-Wald! Uns im Wald aussetzen! - Ich überlege gerade, wer bösartiger ist, herzloser? Momentan stehst du noch ganz gut da. Langweile ich dich?“ Hexe: "Nur zu! Bin's zwar nicht gewohnt, dass mir mein Festschmaus vorher einen Vortrag hält, aber es könnte ja appetitsteigernd sein - nur nicht zu viel Moralinsaures, das schlägt mir auf den Magen."

Gretel: "Kontraste. Hier der Überfluss - bei uns der Hunger. Kein Ausweg? Nur der Holzweg? Ich glaube, es gibt immer einen Weg, der aus tiefem Wald uns hinausführt – na, sagen wir zu einem Lebkuchenhaus, dessen Funktion als Segenshaus noch offenbar werden könnte."

Hexe: "Tolle Optimistin! Na, das ist doch mal ein Schlag ins Gesicht des Pessimismus'! Der Glaube an die Macht des Gespräches. Setzt voraus, dass man noch alle beieinander hat; kann ich von mir nicht behaupten. Knusper, knusper, kneischen, wer knuspert an meinem Verstandes-Häuschen? Ich überdenke Deine Antwort: der Wind, der Wind, das himmlische Kind. - Himmlisches Kind trifft auf höllische Sünd'. Plauder weiter. Fühl dich ganz wie zu Hause."

Gretel: "Lieber nicht! Ich muss etwas Besseres finden als ein Zuhause; einen Ort, wo Zusammenhalt Wert hat, bedeutend bleibt auch bei extremster Belastung. Wo man anderen so viel bedeutet, dass sie unter allen Umständen zu einem halten. Und einen nicht im Wald aussetzen. Alleine. Untröstlich."

Hexe: "Man muss schon nicht bei Trost sein, um hier Trost zu suchen. Doch genau das versuchst du!"

Sie trinken abwechselnd aus der Rum Buddel. Gretel: „Statt uns zu fragen. Uns Kinder miteinbeziehen. Dann haben die Sorgen es mit vier zu tun; die sollen sich in Acht nehmen! Ich hätte den Grafen auf kindliche Art breitschlagen können. Meine Mutter hat unserem Charme nicht vertraut, ihn nicht ernst genommen. Dabei ist es eine Stärke der Kinder: ihre Natürlichkeit. Nun ja, man kann natürlich die Natürlichkeit betont kess einsetzen - dann ist es wieder Berechnung - steigert aber nur die Wirkung."

Gretel setzt sich bei der Hexe auf den Schoß. Hexe: "Zutraulichkeit? Soll ich dir etwa wie eine Märchentante Märchen erzählen?"

Gretel: "Was hat es mit dem Lebkuchenhaus auf sich? Was ist seine Story? Ich meine, man wohnt doch nicht in Hungersnot-Zeiten in einem Lebkuchenhaus - was ist mit dem Regen, wieso tropft er nicht durch das Zucker-Dach?"

Die Hexe lacht. "Du bist ein cleveres Ding. - Ich kam hierher vor Jahren. Das Haus stand schon hier. Es lebte eine Hexe darin. Die wollte mich vernaschen. Ich besiegte sie. Behielt ihr Haus. Blieb. Wartete. Übernahm ihre Eigenarten. So, als ob man ein Organ von jemandem eingepflanzt bekäme - und würde sich nicht mehr ganz selbst gehören. Was ist noch fremd - was mein? - Könnte dir auch so ergehen, Gretel, wenn du mich übertölpelst, schachmatt mich setzt. Es erben sich die Laster und die Gelüste fort - wie sie bezwingen? Geistesverwandte."

Sie streicht Gretel das Haar nach hinten. Sie deutet auf einen großen Spiegel. Hexe: "Ähnlichkeit. Auch wenn die Jahre uns trennen. Vielleicht bist ja du es, die ein Selbstgespräch führt - mit ihrem Alter Ego, dem, was sie in Jahrzehnten sein wird? Dieses Haus ist verflucht! Es wiederholen sich Dinge! Man kehrt ein; man tritt verändert daraus hervor - bleibt ... wartet ... auf Opfer, was man selber ist. Sehr mystisch? - Ach, im Grunde ist es ganz simpel. Bin völlig kirre worden in der Einsamkeit."

Sie kichert. Gretel betrachtet sie genauer. Streicht ihr gleichfalls das Haar nach hinten.

Gretel: "Für eine Hexe bist du sehr hübsch. Könntest direkt auf Lebkuchenhaus verzichten und statt Kinder Männer anlocken mit deinem eigenen Seelenhaus - hast aber Sorge, es sei nicht nach dem Geschmack der Leute - machtest es deshalb zuckersüß? Überzuckert, ein Zuviel - ein Naschwerk-Gebäude, dessen Kulissenhaftigkeit solange nicht auffällt, bis man sich ins Innere begibt?"

Hexe: "Das Haus hat mich gestohlen! Wo bin ich?! Plan, Auftrag, Order - alles übernahm ich von meiner Vorgängerin!"

Sie packt Gretel. "Folge mir nicht nach! Flieh, auf hinaus ins weite Land! - Sollen weiße Tierchen dir Türchen zeigen, die zu Orten dich verleiten, wo du Rettung findest oder Verzweiflung. Es lag ja an mir, musste nicht folgen."

Sie legt die Hände aneinander. "Beten! Als ob es dafür noch einen Platz gäbe in diesem Haus."

Gretel: "Was ist nun mit Hänsel? Wäre doch eine schöne Geste, wenn du ihn freiließest. - Und lass dir gesagt sein: Das Haus stiehlt nicht, es versteckt. Mit deiner Einwilligung, mit deiner Bereitschaft versteckt es deine Seele vor dir selbst."

Hexe: "Meine Schätze nicht geraubt; lediglich verborgen - meiner Kenntnisnahme entzogen - wenn ich recht vermute, dann müsstest du jetzt symbolisch bedeutsam in allen Ecken und Winkeln Perlen, Edelsteine und die üblichen Preziosen finden - was man so bei einem Piratenschatz anzubieten hat. Nur diesmal ist die Piratin eine Hexe und die Schatzinsel ist ein Lebkuchenhaus. Läuft alles auf dasselbe hinaus."

Ein weißer Vogel kommt hereingeflogen. Hexe: "Wie romantisch. Wenn die Nachtigall jetzt zu singen anfängt, dann ist meine Rührung wohl der letzte Tropfen, der mein Wahnsinns-Fass zum Überlaufen bringt. - Könnte sein, dass eine intelligente Person wie du mich aus meinem Stumpfsinn herausziehen könnte ... so, wie man einem im Morast Steckenden einen Ast hinhält oder zumindest den kleinen Finger reicht. Willst du mich hinhalten - übers Ohr hauen - fliehen? Könntest meinen Platz einnehmen - oder aber, ich erlöse uns alle, indem ich den Sprung in die geistige Gesundheit wage. Fürchte mich vor zu viel Realitäts-Gehalt. Das Zuckersüße - es erscheint mir jetzt wie Baby-Behausung - und meine Geburt steht bevor? Sehr symbolreich meine Umgebung - da muss man ja assoziieren bis zum Kollaps."

Die Hexe hält sich am Mauerwerk fest. Das Mauerwerk gibt nach; die ganze Seitenwand stürzt ein. "Komm bloß schnell raus hier! Habe das Gefühl, das Haus blieb nur so lange stabil, wie ich es mit meiner Bedürftigkeit stützte. - Bin frei. - Und ihr sollt es auch sein."

Die Hexe geht zum Stein-Käfig und schließt ihn auf. "Hänsel, deine Schwester Gretel hat ganze Arbeit geleistet als Therapeutin. Und das mit acht Jahren. Ein Wunder!"

Hänsel jumpt aus dem Käfig. "Give me five! Hab ich 'ne coole Schwester oder was?! - Dann brauchen wir den Ofen-Plan gar nicht mehr? - Plan B gefällt mir weitaus besser. Das Mästen nach einer Fastenzeit ist aus diätischer Sicht nicht tolerabel. Wundere dich nicht, dass wir oberschlau reden - mag sein, das war der eigentliche Grund, warum sich unsere Eltern im Wald davongeschlichen haben. Wir haben einen doppelt so hohen IQ, wie man es gerade noch aushalten kann als Mitmensch, ohne kirre zu werden. Aber da du das Kirresein echt gut drauf hast, bist du quasi immun dagegen."

Hexe: "Schön, wenn sich 'ne Kirre und Verstoßene zum traulichen Gespräch finden - dann wollen wir das Thema Kannibalismus ad acta legen. Mal sehen, was die Zukunft bringt. Sagt mal, könnte ich bei Euch einziehen? Die Gespräche mit Gretel würden mir guttun."

Hänsel: "Na klar! Ist vielleicht ganz gut, wenn unsere Mutter sieht, dass Intelligenz was einbringt: Und sei es eine Hexe im besten Alter. Du siehst scharf aus."

Die Hexe macht einen Knicks. Gretel: "Boah, echt krass unser Abenteuer. Man tafelt demnächst bei uns ganz exquisit: Denn den Schmuck, die Perlen, die nehmen wir doch mit?"

Hexe: "Pack ein. - Und eines Tages kann ich Lebkuchen vielleicht wieder was abgewinnen. Momentan hängen die mir echt zum Hals raus."

Hänsel und Gretel unisono: "Na besser, als wir."

ENDE

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 09.12.2013

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