"Wenn bei der Hamlet Aufführung ein echter Geist mitspielen möchte, wo bewirbt der sich hier?" Der Regisseur wollte gar nicht aufschauen. Wieder so ein Schauspielstudent, der sich in Szene setzen wollte, mit einem Gag als Einstieg. Er winkte mit der Hand, als wolle er eine Wespe vertreiben. "Nun seien Sie nicht so. Sie bekommen nicht alle Tage oder Nächte die Chance zu einem geistvollen Gespräch. Engagieren Sie mich. Ich bin ein Kassenknüller. Zumindest die Überlebenden werden Mundpropaganda machen mit gellenden Schreien." Der Regisseur lächelte. Er sah von seinem Manuskript auf. "Sehr effektvolles Kostüm. Aber der Geist bei Hamlet trägt Rüstung, keinen Halloween-Ramsch." Der Geist schnaubte. "Das trage ich seit Jahrtausenden - und es hat mir immer gute Dienste geleistet. - Ich habe eine Bitte: Ich muss hier mitspielen. Es gilt, ein Verbrechen aufzuklären und eines zu verhindern."
"Hochdramatisch. ... Man könnte dich engagieren. Man sollte es. Du wirkst. Du überzeugst durch Unheimlichkeit. Und dieser Geruch. Betritt mit diesem Modergeruch eine Parfümerie - und der Laden kann dichtmachen für die nächsten Jahrzehnte." Er rümpfte die Nase; dadurch rutschte ihm die Brille runter. "Hoppla. ... Ich brauche gar keine Brille! Ich sehe alles unglaublich scharf. Beinahe wie Supermann-Röntgenblick." Der Regisseur setzte seine Brille wieder auf - und setzte sie wieder ab. Das wiederholte er einige Male. "Das ist nur einer der Boni, wenn man in meiner Nähe weilt." Der Geist legte den Arm um ihn. "Deine Lederweste - ich kann dir beweisen, dass du einen Kuhgeschmack hast." Die Lederweste des Regisseurs wurde schwarz-weiß.
Der Schauspieler, der den Hamlet spielen sollte, kam auf die Bühne. "Zauberei. Prima. Damit bringen wir zumindest etwas Pep in diese abgeschmackte Inszenierung." "Geistlos! Das ist mein Stichwort.
Was Ihr den Geist der Zeiten heißt,
Das ist im Grund der Herren eigner Geist,
In dem die Zeiten sich bespiegeln.
Ich bin Theater-Fan. Steht Faust demnächst auf dem Spielplan?"
"Ich will den Zeitgeist aus meinem Theater vertreiben! Voraus, daneben - nur weg vom Normalen, dem Jedermann-Pläsier. Du kommst mir gerade recht. Bin kolossal verwirrt. Diese Bühne zum Kolosseum!" Der Geist zog die Bühnenvorhänge zu. "Lasst es uns bedächtig planen. Vertraut mir. Bin einer von den Guten. Der Einmarsch der Herausforderer folgt in Bälde. Verzeiht, ich drifte in den Theater-Duktus. ... Ich heiße Belizander. Die Zeit drängt; ich würde euch gern informieren.
Die Zeit ist aus den Fugen; Fluch der Pein,
Muss ich sie herzustell'n geboren sein!
Ich ergänze:
Die Geisterwelt ist nicht verschlossen.
Auf, bade, Schüler, unverdrossen."
Belizander, der Geist, ließ es auf der Bühne regnen. "Ich steh im Regen. Ist ja interessant: eine kleine Wolke extra für mich." Der Regisseur neigte sich zur Seite, sprang vor und zurück. "Ulkig. Sie folgt mir. Eine Privat-Wolke. Anspielung darauf, dass ich es verstehe, mich auf der Sonnenseite des Lebens zu befinden, auch wenn Schicksal mir alles verhageln will?"
"Was ist mit dir, Hamlet? Ahnst du, was es mit diesem Bühnengespräch auf sich hat? Wirst du wieder zögern – das Zaudern anschwellen lassen, bis es orkanartig alles niederreißt, was dir lieb ist? Die Zeit ist aus den Fugen! Wiederholung alles! Ihr habt diese Szene - jede Szene Eures Lebens millionenfach durchexerziert; musstet leben. Weil ihr von Wiederholung keinen Schimmer. Und dennoch trage ich's euch an: flehe euch an, mir zu glauben: dass aus dem Rad des Schicksals auszusteigen, jederzeit, jetzt machbar, ratsam ist. Ach, armer Yorick!" Er projizierte auf der Rückseite des Vorhangs eine Armada von Geistern. "Im Traum nicht zu wissen, dass man träumt; doch es ahnen." Er schnipste mit den Fingern. "Geht der Geist euch auf den Wecker? Denkt ihr, ich übertreibe, trage zu dick auf? Ihr habt schon Hauch einer Ahnung, wie wiederholungsreich ihr Routiniers euch im kleinsten Kreise dreht?"
Der Hamlet-Schauspieler meinte: "Du ziehst eine Parallele zur Existenz des Bühnenschauspielers: Er, verdonnert dazu eine Rolle dutzendfach - wenn er gut ist, hundertfach - zu spielen, könnte sie womöglich millionenfach spielen - und würde mit dem Zählen Schwierigkeiten bekommen, da die Vorstellungen in Eine gleiten, sich zusammenfinden zu immer derselben Performance. Stagnation - und Nuancen, Feinheiten, deren Varianten-Maß aber eine Grenze findet: dort, wo seine schauspielerischen Fähigkeiten ihn zur Wiederholung verdammen; zum Kopieren seiner selbst; seines Bewegungsablaufes, seiner Auswahl an Überraschungsmöglichkeit fürs Publikum - und um sich selbst zu überraschen. Ist er limitiert? Fähig, sich aus Limitation in Freiheit des Spiels zu begeben - oder wird man hinaufgetragen von Aufwinden, die da heißen Talent, Begeisterungsfähigkeit und Ehrgeiz?"
"Viel simpler. Ihr steckt in einer Zeitschleife. Das Universum hat derer so viele, wie es schwarze Löcher gibt. Die Zeit versackt in sich selbst, trudelt sich zusammen ... und ausgelöst wird es durch Wiederholung. Immer dann, wenn Repetition gegenwärtig, büßt Gegenwart an Macht ein: Die Zeitregenten sind apokalyptische Reiter, schwingen ihr Zepter wie Zauberstab - ihr Schatten ist vorhanden." Er deutete auf den Bühnenvorhang. "Du nutzt ihn wie eine Leinwand. Faszinierend. Wenn ich noch einige Zeit auf diese Bilderflut achte, dann vermag ich Halluzination, Visionen und Reales nicht mehr zu unterscheiden. Was soll's - da Belizander so ein nettes Zeitschleifen-Szenario mir offenbart - das lässt sich am besten ertragen im Rausch. Seien wir berauscht vom Moment; vergessen, dass eine Ewigkeit uns ernüchtern will mit anbetungswürdigen Maßen: Was könnten wir ihr bieten? Sie ist eine große Schönheit - man reiche mir Sonnebrille, damit ich solchen Anblick geschützt verkrafte." Der Hamlet-Schauspieler setzte sich seine Sonnebrille auf, die er aus seiner Hemdtasche gezogen hatte.
"Bereit sein ist alles. Ich geb ja zu: Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als Eure Schulweisheit sich erträumen lässt. Als Regisseur bilde ich mir ein, mehr Regie-Kompetenz übers Leben zu haben als darin Ungeschulte. Jetzt erfahre ich, dass ich einem erhöhten Risiko ausgesetzt bin, in riskante Repetitions-Schlaglöcher zu geraten? Wiederholung oder nicht Wiederholung, ist das eine Frage? Was wäre das Remedium? Gibt's ein Allheilmittel - oder muss ich es mir selber brauen - und kenn die Rezeptur mystischerweise schon seit geraumer Zeit?"
Der Geist seufzte. "'Ich werde missverstanden. Das war es, was ich fürchtete.' Zitat von Marquis Posa. Mariposa - auf Spanisch Schmetterling." "Wie nett, es regnet Schmetterlinge. Insgesamt eine unterhaltsame Nacht." "Ich wittre Morgenluft. - Du bist ein sehr begabter Zauberer. Werde mir überlegen, wie ich deinen Fähigkeiten die passende Aura zaubere. Mmmh, Richtung Happening. Verblüffung, Irritation, Verunsicherung. Ihnen den Boden unter den Füßen nehmen."
"Dafür brauchst du Rotation. Du drehst dich im Kreis. Habe ich dir den Boden unter den Füßen weggezogen? Ihr beide seid in meine Projektion hineingezogen. Was wäre das Remedium? An Verstand klammern? Zeit nimmt euch auf; Wiederholung setzt ein. Das nächste Mal gelingt uns Variante? Vielleicht führt's uns peu à peu aus Zeitschleife hinaus. Begrüßt die apokalyptischen Reiter!" Aus dem Bühnenvorhang sprengten berittene Geister.
***
"Wenn bei der Hamlet Aufführung ein echter Geist mitspielen möchte, wo bewirbt der sich hier?" Der Regisseur wollte gar nicht aufschauen. "Sieh an, da sitzt ein Schmetterling auf meinem Schuh." Der Schmetterling flog empor und der Regisseur folgte ihm mit seinem Blick - sah den Geist - und für einen Moment war ihm, als müsse er sich in Acht nehmen - aber die Lächerlichkeit des Halloween Kostüms ließ diese Ahnung davontaumeln in der Art eines Schmetterlings. Dessen Taumeln - in dieser Ungenauigkeit lag der Segen, seine Rettung. Das Abweichen von der Ideal-Linie, Zeit für Varianz, Zufall. Freikommen durch kleinste Veränderungen. Das könnte das Remedium sein. "Er denkt", dachte der Geist, "das ist gut. - Ich bin der Geist deines Vaters."
ENDE
Tag der Veröffentlichung: 16.09.2013
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