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Cinderellas Wahl


1

Cinderella füttert die Tauben. Cinderella: »Ich brauche Rat, habt ihr nicht welchen für mich? Eine Taube sagt: »Gurr, Gurr.«
Cinderella: »Das könnte ich machen. Du meinst, ich sollte einen Prinzen heiraten und meiner entzückenden Stiefmutter den Rücken kehren, alles hinter mir lassen und in einem wunderschönen Schloss neu anfangen. Gute Idee. Die nächste Gelegenheit für solche Tat wäre der Schlossball. Der König lädt aber nur vornehme Damen ein. Ich gehöre wohl nicht dazu. Ich hätte ja nicht einmal ein Kleid, was ich anziehen könnte. Ich trage nur Lumpen. Damit bekomme ich garantiert keinen Einlass. Nicht einmal zum Hintereingang.«
Eine Taube schaut sie an, legt den Kopf schief und sagt: »Gurr, Gurr.«
Cinderella: »Ich könnte mir etwas Passendes stehlen bei meinen Stiefschwestern. Ich müsste mir deren Kleider passend schneidern. Denn sie sind beide sehr viel dicker als ich. Kein Wunder, ich bekomme ja auch fast gar nichts zum Essen.«
Eine Taube schiebt ihr einen großen Brotkrumen zu. Cinderella: »Nein, Nein, der ist für dich. Wenn meine Stiefmutter auch so großzügig wäre wie du und mir so wohlgesinnt, dann wäre mein Leben schön. So aber ist es fatal. Wie konnte mein Vater diese unmögliche Frau heiraten?«
Ihre Stiefmutter Griselda ist aus der Haustür gekommen und steht nun hinter Cinderella. Griselda: »Soso, ich bin eine unmögliche Frau. Du siehst die Dinge verkehrt: Du bist unmöglich. Beschwerst dich bei Tauben über dein Leben. Sollen sie dir etwa raten und Empfehlungen geben? Nichts kannst du verändern. Gekettet bist du an dieses Leben wie ein Hofhund an seine Hundekette. Erfülle deine Aufgaben mit Sorgfalt und stelle dich nicht immerfort so ungeschickt an.«
Cinderella: »Wuff, Wuff.«
Griselda: »Ich hätte dich davonjagen sollen. Doch weil ich ein gutes Herz habe, durftest du mich und meine beiden Töchter bedienen. Leider war das ein Fehler. Ungeschickt bist du und immer dreckig.«
Cinderella: »Kein Wunder wenn ich bei der Asche schlafen muss beim Herd.«
Griselda: »Möchtest Du lieber ein Federbett haben mit einem Baldachin darüber? Nun, wenn der Prinz dich heiratet, mag es so sein. Doch bis dahin, wird weiter in der Asche geschlafen. Dort ist dein Platz. Ich meine es doch nur gut mit dir. Sonst kämst du nur auf hochfahrende Gedanken und träumst von einem Dasein, was dir nicht angemessen ist. Zu wissen, wo jemandes Platz ist, das ist wichtig. Zu wissen, wo man hingehört.«
Cinderella: »Meinem Vater gehörte dieser Gutshof. Es war mein Erbe. Hinausgedrängt aus meinem Erbe hast du mich.«
Griselda: »Verklage mich doch bei deinen Tauben. Bei ihnen wirst du Gehör finden. Bei wem sonst?«
Eine Taube sagt: »Du bist ein Biest.«
Griselda schlägt sich die Hand vor den Mund und starrt die Taube an. Griselda: »Die Taube kann sprechen? Das warst doch gewiss du mit einem deiner Tricks. Dass du mir ja keinen Streich wieder spielst. Übel würde es dir bekommen.«
Die Taube sagt: »Cinderella ist unschuldig. Ich spreche ohne Tricks. Tauben sind ehrlich und ohne Falsch. Ganz anders als du.«
Griselda: »Cinderella, höre sofort auf mit diesen Albernheiten und sage nicht so ungezogene Sachen zu mir mittels dieser Taube. Sonst jage ich dich hinfort und …«
Die Taube fliegt hoch und fliegt Griselda ins Gesicht. Griselda springt zurück und fällt hin. Griselda ruft: »Zu Hilfe, eine Taube fällt mich an.«
Aus dem Haus ist eine Stimme zu hören. Es ist ihre Tochter Jasmin, die ruft: »Habe ich richtig gehört, Mutter? Eine Taube fällt dich an? Das kann doch wohl nicht sein. Du meinst Hector, den Nachbarhund.«
Griselda: »Wenn ich Taube sage, meine ich auch Taube. Ich weiß doch einen Hund von einer Taube zu unterscheiden. Die Taube sagt: »Wuff, Wuff.«
Jasmin: »Ich habe aber ganz deutlich ein Bellen gehört. Warte, ich komme raus. Ich bringe den Besen mit, um dich zu verteidigen – egal ob gegen gefährliche Tauben oder zahme Hofhunde.«
Griselda: »Mache dich nicht lustig über mich, sonst schläfst du auch bei der Asche.«
Cinderella: »Darf ich dann in Jasmins Bett schlafen? Eine Nacht in Daunenfedern, das wäre wunderbar.«
Griselda steht vom Boden auf und wedelt mit ihren Armen, um die Taube zu verscheuchen. Griselda: »Dass du dich an Zartheit und kostbare Bettwäsche gewöhnst? Auf keinen Fall. Zur Strafe zerreiße ich deine Einladungskarte zum Schlossball. Der König oder der Prinz hat dir unerklärlicherweise eine geschickt. Das ist doch völlig lächerlich. Das muss ein Versehen gewesen sein.«
Griselda nimmt die Einladungskarte aus ihrer Kleidertasche und betrachtet sie genauer. Griselda: »Es steht dein Name darauf: ‚Cinderella‘. Hat du etwa den Prinzen verhext? Das darfst du nicht.«
Jasmin kommt aus dem Haus mit einem langen Besen. Cinderella: »Ah, da bringst Du mir ja meinen Flugbesen. Als Hexe brauche ich solche Utensilien.«
Jasmin: »Woher kennt Cinderella solche schwierigen Worte? Sie hat doch nie Unterricht bekommne. Dafür haben wir gesorgt. – Wo ist die gefährliche Taube?«
Die Taube fliegt auf die Schulter von Jasmin. Jasmin: »Die sieht doch harmlos aus. Keine großen Zähne, keine Adlerklauen. Und die hat dich angefallen, liebste Mama?«
Griselda: »Die verstellt sich. Mit der ist nicht zu spaßen. Am besten, ich mache aus ihr einen schönen Braten: Taube mit Obstfüllung und Weißwein.«
Die Taube sagt: »Igitt. Da kenne ich ein besseres Rezept aus Frankreich: Stiefmutter und Stiefschwester in Taubendreck.«
Die Taube macht eine große Portion auf des Kleid von Jasmin. Die anderen Tauben fliegen hoch und auch sie bekleckern mit großen, weißen Klecksen die Kleider von Griselda und Jasmin. Griselda: »Rufe deine Tauben zurück! Die sind dressiert, scheint mir. Was du da wagst, ist ungeheuerlich. Da werde ich lange über eine Strafe für dich nachdenken müssen. Immer diese Mühe. Nur Arbeit hat man mit dir, Cinderella.«
Eine der Tauben schnappt sich die Einladungskarte von Griselda und fliegt damit davon. Griselda läuft der Taube nach und ruft ihr hinterher: »Das ist nicht deine Einladung. Bei Fuß. Komm zurück.«
Jasmin: »Mutter, das sind keine Hunde. Die musst du anders kommandieren. Die hören nur darauf, was der Besen ihnen zu sagen hat.«
Jasmin schwingt ihren Besen hin und her und versucht die Tauben zu treffen. Cinderella. »Schnell, meine Tauben fliegt hoch und rettet euch. Wir besprechen uns nachher weiter. Habt Dank für eure Hilfe. Doch bringt euch nicht in Gefahr.«
Cinderella stellt sich schützend vor die Tauben. Jasmin haut Cinderella den Besen vor die Brust. Cinderella packt den Besen und reißt ihn Jasmin aus der Hand. Sie schwingt den Besen wie ein Schwert und attackiert Jasmin. Jasmin ruft: »Schwester zu Hilfe. Jessica, wo bist Du.«
Aus dem Haus ertönt eine Stimme. Ihre Schwester Jessica ruft: »Ich backe Kuchen für den Prinzen. Störe mich nicht.«
Jasmin: »Ich werde angegriffen von meinem eigenen Besen und von Tauben.«
Jessica ruft: »Du bist verwirrt. Zu viel Sonnenlicht. Du hast dich heute zu lange gesonnt. Arbeite lieber. Mache auch was Feines für den Prinzen, so wie ich. Wir haben gute Chancen, dass er uns in die engere Wahl zieht. Stell Dir vor: Prinzessinnen.«
Jasmin: »Das kann nur eine schaffen. Es gibt nur einen Prinzen. Und den schnappe ich mir.«
Jasmin schnappt sich den Besen und will ihn Cinderella aus der Hand reißen. Cinderella lässt plötzlich los und Jasmin fällt rückwärts hin. Jessica kommt aus dem Haus. Sie hat die Hände voller Kuchenteig. Sie reicht ihrer Schwester Jasmin eine Hand und will ihr beim Aufstehen helfen. Jasmin greift in ihre klebrige Hand und lässt erschrocken wieder los. Erneut fällt sie rückwärts auf den Rasen. Jasmin: »Hättest Du dir nicht die Hände waschen können, bevor du mich, die künftige Prinzessin, anfasst? Ich habe königliches Blut in mir, schon bald.«
Jessica sieht sich um und betrachtet ihre Mutter Griselda, wie sie an dem Apfelbaum hochspringt, auf dem die Tauben sitzen. Jessica ruft ihr zu: »So bekommst du die nie zu fassen. Nimm doch eine Leiter. – Wieso jagst Du Tauben mit der bloßen Hand? Was ist nur in euch gefahren? Seid ihr toll?«
Jasmin steht auf, doch eine der Tauben startet erneut einen Angriff auf sie und fliegt sie direkt an. Jasmin hält sich die Hände vors Gesicht und rennt ins Haus. Griselda ruft zu Jessica: »Halte die Taube, das ist die, mit der Einladungskarte.«
Jessica schüttelt den Kopf und geht ebenfalls zurück ins Haus. Sie sagt: »Verrückt. Alle verrückt.«


2

Cinderella sitzt im Wald in ihrem Baumhaus. Neben ihr auf dem Ast sitzen die Tauben. Cinderella betrachtet die Einladungskarte in ihrer Hand. Sie sagt: »Vielen Dank. Eine Einladungskarte für den Schlossball habe ich nun. Doch woher nehme ich ein schönes Kleid und Schmuck? Auch Schuhe habe ich keine, die passend und würdig wären für solch einen Ball. Ich selber bin nicht würdig für solch einen Ball.«
Eine der Tauben sagt: »Gurr, Gurr.«
Cinderella: »Wie kommt es, dass ihr gestern mit meiner Stiefmutter und meinen Stiefschwestern geredet habt, richtig geredet mit Worten? Ganz deutlich war es zu hören. Sie glauben immer noch es war ein Trick von mir. Als ob ich eine Bauchrednerin wäre. Ich habe nichts gelernt. Doch: jagen kann ich, schießen mit Pfeil und Bogen. Das hat mir mein Vater beigebracht. Damals in den glücklichen Tagen. Auch kämpfen kann ich mit dem Holzstock und mit dem Schwert. Das hat mir der Stallbursche beigebracht: Tim, ein netter Kerl. Oft haben sie ihn gescholten dafür, dass er mit mir gesprochen hat. Warum nur kann mich meine Stiefmutter nicht leiden? Soviel Fragen – und ihr bleibt auf einmal nur bei eurem Gurr, Gurr? Einige klärende Worte wären hilfreich.«
Eine Taube sagt: »Du hast uns gefüttert und zu uns gesprochen schon oft. Wir Tauben vergessen so etwas nicht. Darum halten wir zu dir, weil wir dich mögen und deine Gesellschaft schätzen. Großes hat das Schicksal mir dir vor. Denke nicht klein von dir. Sind das Wort, die dir guttun?«
Die Taube hüpft auf ihren Schoß und betrachtet Cinderella mit wachem Blick. Cinderella: »Ich fühle mich wie im Märchen, wo auf einmal seltsame, unerhörte Dinge geschehen. Dinge, die es nicht geben dürfte. Tauben können nicht sprechen. Oder zumindest nur die Tauben-Sprache.«
Die Taube sagt: »Wir haben es von dir gelernt. So viel Stunden hast du zu uns geredet, da wurden wir neugierig, was du uns zu erzählen hast. So lernten wir aus Neugierde deine Sprache.«
Eine andere Taube kommt hinzugeflogen. Sie landet auf dem Knie von Cinderella und sagt: »Ein schönes Baumhaus hast du hier. Hoch über dem Boden des Waldes wiegt es sich mit dem Wipfel im Wind. Hast du noch einige Brotkrumen und Körner? Ich sehe da in der Ecke einige Dosen Vogelfutter.«
Cinderella beugt sich hinüber und angelt aus dem Holzregal eine Dose Vogelfutter. Cinderella: »Das ist Eure Lieblingssorte. Das habe ich mir gemerkt. Nur zu, bedient euch. Ich sollte eine Gastwirtschaft aufmachen, nur für Vögel. Die sind eine nette Gesellschaft und gute Gäste.«
Sie schüttet die Körner in eine Schale. Cinderella: »Bedient euch.«
Eine Taube sagt: »Wir sind keine guten Gäste. Wir zahlen nicht. Mit uns würdest du arm werden in deiner Gastwirtschaft.«
Cinderella: »Ihr macht mich reich durch eure Gesellschaft und durch eure Nähe. Wenn man seine Not jemandem erzählen kann, dann ist die Not schon nur noch halb so schlimm.«
Eine Taube sagt: »Ja, es stimmt, geduldig sind wir. Geduldig haben wir dir zugehört und wussten zwar keinen Rat, doch unsere Aufmerksamkeit – die hast du gehabt. Wir merken es, wenn es jemand gut meint mit uns und mit der Welt. Doch dir fehlt vieles, was es dir ermöglicht im Guten zu wirken, Gutes zu tun. Es genügt nicht, nur gute Gedanken zu haben. Wie willst du wirken ohne Geld, ohne Güter? Wem willst du helfen nur mit deiner Ratlosigkeit und deiner Not? Werde innerlich reich und reicher, dann wirst du bald reich sein auch äußerlich: Geld wirst du haben und kannst kaufen Vogelfutter jede Menge. Und geben den Bedürftigen. Doch vorerst bist du selbst bedürftig. Darum haben wir uns erlaubt dir jemanden mitzubringen. Eine professionelle Hilfe. Jemand, der sich auskennt mit Problemen. Gestatten: die Fee Esmeralda.«
Ein Lichtblitz erhellt das Baumhaus und vor Cinderella sitzt eine Fee. Die Fee sagt: »Dass ich eine Fee bin, kannst Du an meinem Zauberstab erkennen und an meiner ungewöhnlichen Kleidung. Wer sonst liefe heutzutage mit solch unmöglichen Kleidern umher? Die waren modern vor Hunderten von Jahren. Und genau damals habe ich sie auch gekauft. Es gab Mengenrabatt: ich habe gleich ein ganzes Dutzend dieser Kleider gekauft. In jeder Regenbogenfarbe besitze ich sie nun. Gefällt dir dieses Blau? Ist es nicht zu aufdringlich?«
Cinderella sagt zu der Fee: »Ich fantasiere. So weit ist es gekommen mit meiner Einsamkeit. Sprechende Tauben und eine gute Fee. Du bist doch gut? Wäre besser, wieso sollte ich auch eine böse Fee herbei fantasieren? Was brächte mir das? Was bringt mir eine gute Fee, eine irreale, eine ausgedachte? Ich bin ein armes Geschöpf, dass ich es nötig habe, mich zu flüchten in Tagträumereien.«
Die Fee sagt: »Ich heiße, wie gesagt, Esmeralda. Und ich bin kein Tagtraum. Das wüsste ich. Ich helfe gut und ich helfe gern. Aber nimm mich bitte für das, was ich bin: ich bin real. Bin echt. Dieses gleißende Leuchten um mich herum ist doch sehr stimmungsvoll. Von mir geht ein märchenhafter Zauber aus. Das sagen alle.«
Eine Taube sagt: »Ja, das stimmt. Sehr weihevoll. Aber das ist nicht das Wichtigste. Du hast Cinderella doch gewiss etwas mitgebracht. Etwas Nützliches. Oder soll sie gleichfalls mit einem glitzernden Leuchten den Prinzen beeindrucken? So wird das nichts. Dazu gehört ein bisschen mehr. Schicke Schuhe und topaktuelle Mode. Nicht etwas aus deinen vorherigen Jahrhunderten. Hast du so etwas anzubieten? Zeig mal her.«
Die Fee Esmeralda: »Eine vorlaute Taube hast du da zur Freundin, Cinderella. Aber gewiss, ich hätte da was für dich. Eine schöne Auswahl an Kleidern. Garantiert ungetragen und sehr effektvoll.«
Eine Taube sagt: »Haben die auch einen weiten Ausschnitt? Ich habe gehört, das tragen die Hofdamen zur Zeit und das wird gern gesehen von den Rittern und den Kavalieren.«
Cinderella lacht. Die Fee Esmeralda sagt: »Ich habe nur züchtige Mode. Ganz sittsam. Aber zur Anprobe müssten wir hinaus aus diesem Baumhaus. Dafür ist es hier zu eng.«
Cinderella: »Bevor ich irgendwo hin gehe, brauche ich Beweise. Beweise dafür, dass ich nicht plemplem bin und wahrhaftig eine Fee mit mir spricht. Anderenfalls betrachte ich dieses Gespräch als beendet. Ich habe schon ohnehin genug Probleme. Da muss ich nicht auch noch eine Fantasie-Fee haben. Dann höre ich gar nicht hin, was Du mir erzählst. Ich will nicht unhöflich sein, aber …«
Die Fee seufzt und sagt: »Bin ich denn wirklich so unwirklich? Lass das Märchenhafte in deine Welt. Vielleicht bist auch Du nur eine Märchenfigur in einem großen Märchenwald. Und trotzdem brauchst du schöne Kleider für den Schlossball. Denn mehrere Tage dauert das Fest und der Prinz will sich seine künftige Braut aussuchen dort.«
Cinderella: »Ich kenne den Prinzen. Ich bin ihm des Öfteren begegnet hier im Wald. Auf der Jagd.«
Die Fee: »Schau an. Sieht aus, als bräuchtest du meine Hilfe gar nicht. Machst Fortschritte auch ohne mich. Wie waren Eure Begegnungen?«
Cinderella: »Ich habe ihm das Leben gerettet. Ein Wildschein lief auf ihn zu und wollte ihn umrennen. Da habe ich es mit dem Stock vertrieben.«
Eine Taube sagt: »Konnte er das nicht alleine? Was für ein Jägersmann ist denn dein Prinz? Wie unmännlich sich von einer Frau retten zu lassen. Vor einem Wildschwein.«
Cinderella: »Er war von seinem Pferd gestürzt während der Jagd. Und lag am Boden mit gebrochenem Bein.«
Die Fee: »Und da kam das Wildschwein und wollte ihn aus seinem Revier vertreiben. Oder es wollte sich rächen dafür, dass es gejagt wurde von ihm und unwürdig fliehen musste.«
Cinderella: »Wir plauderten danach noch ein Weilchen.«
Eine Taube sagt: »Während er mit gebrochenem Bein am Boden lag. Wie unglaubwürdig ist das denn?«
Die Fee sagt zu der Taube: »Unterbrich Cinderella nicht. Es ist eine schöne, romantische Geschichte. Und ich sorge für das Happy End, ein glückliches Ende. Das machen gute Feen nun mal so.«
Die Taube sagt: »Willst du diesen Schwächling wirklich heiraten? Der noch nicht einmal mit einem Wildschwein fertig wird? Wie soll der ein ganzes Reich regieren? Oder wie soll der mit deiner Stiefmutter klar kommen? Du brauchst einen anderen Typ von Mann. Schau meinen Gemahl an: Das ist ein stattlicher Täuberich. Bruno hat als Brieftaube gearbeitet für den König. Sag auch mal was, Bruno.«
Die Taube Bruno schaut hoch vom Vogelfutter und murmelt: »Ich habe gerade den Schnabel voll von diesem köstlichen Vogelfutter. Exzellente Sorte. So was gibt es nur auf dem Sonntagsmarkt. Vielen Dank, dass Du uns so etwas Gutes servierst.«
Bruno wendet sich seinem Vogelfutter zu. Seine Tauben-Gemahlin sagt zu ihm: »Wie kannst du immer nur ans Essen denken? Hier geht es um Höheres. Es geht um eine schwächlichen Prinzen und eine zauberhafte Cinderella, die nicht im Aschekleid auf den Schlossball gehen kann.«
Die Taube Bruno sagt: »Wieso nicht? Asche ist die Modefarbe. Alle Welt trägt das jetzt, Kerstin. Ich wollte dir bereits auch einen aschgrauen Nestüberwurf schenken. Tarnt gut und sieht gut aus.«
Kerstin, seine Tauben-Gemahlin sagt: »Du hast von Modesachen keinen blassen Schimmer. Halte dich raus aus unseren Gesprächen.«
Bruno: »Aber Du hast mich doch aufgefordert etwas zu sagen.«
Die Fee schwingt ihren Zauberstab und in dem Baumhaus liegen vor ihnen drei Kleider. Die Fee: »Die müssten dir passen. Sind vom Umtausch ausgeschlossen. Entweder die oder gar keine. Ich bin ein gute Fee, aber auch eine ungeduldige Fee. Zieh die Kleider an, damit wir hier weiterkommen. Drei Tage – drei Kleider. Für jeden Balltag eine Steigerung. Immer schicker und stilvoller. Drei Abende lang hast Du Zeit, den Prinzen zu bezirzen. Wenn das noch immer deine Absicht ist.«
Cinderella betrachtet die Kleider und fasst sie an. Cinderella: »Sie fühlen sich echt an. Kann ein Traum so wirklich sein? Ja, denn immer wenn ich in einem Traum gefangen bin, bin ich überzeugt, dass alles real ist. Erst wenn ich aufwache am Morgen, dann weiß ich, das alles wieder nur ein Traum war. Wann werde ich aus diesem Traum erwachen? Will ich erwachen? Zurück in mein altes Leben? Als Dienstmagd für meine Stiefschwestern? Wohin sollte ich fliehen? Soll ich als Jägerin durch die Wälder streifen?«
Kerstin, die Taube, sagt: »Das wäre besser, als diesen schwächlichen Prinzen zu heiraten.«
Cinderella: »Du kennst ihn nicht. Er ist stattlich, amüsant; er weiß zu erzählen und er war sehr freundlich zu mir. Nicht von oben herab hat er mich behandelt, sondern als wäre ich seinesgleichen.«
Cinderella klettert aus dem Baumhaus und will die Kleider mitnehmen. Die Fee sagt: »Klettere alleine hinunter. Ich schwebe neben dir her und trage auch die Kleider. Nicht, dass sie zerreißen an den Ästen. Ich muss sie später noch zurückbringen in das Feenreich. Andere Feen brauchen sie noch für andere Frauen, die auf der Suche nach ihrem Prinzen sind.«
Cinderella: »Ich dachte, diese Kleider sind ungetragen?«
Die Fee: »Sie werden jedes Mal magisch gereinigt und sind damit so gut wie ungetragen. Wer wird jedes Wörtchen von mir auf die Goldwaage legen?«
Cinderella klettert den Baum hinunter. Die Fee schwebt neben ihr und trägt die drei Kleider. Die Taube Bruno sagt: »Ich nehme die Dose mit dem Vogelfutter mit. Wenn Du gestattest.«
Er fliegt los mit der Dose; doch die Dose fällt ihm aus dem Schnabel und das Vogelfutter fällt auf Cinderella. Sie hat es in ihren Haaren und auf ihrem Körper. Die Taube Bruno sagt: »Warte, ich befreie dich gleich davon. Die sind ganz schnell aus deinem Haar herausgesucht – die paar Körner.«
Cinderella hebt abwehrend die Hände; sie sagt: »Lass schon. Das mache ich lieber alleine.«
Cinderella schüttelt sich und wuschelt sich durch die Haare. Die Fee sagt: »Toll siehst Du aus mit dieser Frisur. Wie sollen dazu meine Kleider zur Wirkung kommen? Ich zaubere dir erst einmal einen Kamm herbei und einen Spiegel.«
Ein körpergroßer Spiegel lehnt an dem Baum und ein Kamm fällt von oben herab. Cinderella hebt den Kamm auf und stellt sich vor den Spiegel. Sie betrachtet sich und sagt: »Es hat keinen Zweck. Ich kann anziehen, was ich will: eine Prinzessin werde ich nie. Ich bin nicht dazu gedacht.«
Die Fee: »Das ist das Problem. Du selber denkst dir, was passend und was unpassend ist für dich. Warum ist nur das Elende und Unkleidsame passend für dich? Warum passt zu dir nicht das Edle, Gute, Reiche? Wenn du es schaffst, es dir passend zu denken zu dir, es nicht als unpassend zu empfinden – dann kann es passieren, dass Wunder geschehen.«
Cinderella: »Das könnte mir passen: Wunder habe ich nötig. Doch leider träume ich nur. Du bist eine liebe Fee und bemühst dich um mich. Ist es dir schon oftmals passiert, dass deine Mühe vergeblich war? Dass sich dein Schützling als unwert herausgestellt hat? Sieh mich an, mit meinen verwuschelten Haaren und der Asche in meinen Kleidern.«
Die Fee: »Das Unreine ist äußerlich. Mache es nicht zu einem Teil von dir selbst. Reinige dich und denke dir dabei, wie du dein Inneres reinigst von Asche und Unreinem.«
Die Taube Kerstin sagt: »Das Mädchen braucht kostbare Kleider und keine Ratschläge. Sie weiß selber, was das Richtige ist. Sonst hätten wir sie gar nicht dir empfohlen, Fee Esmeralda. Wir Tauben erblicken den ganzen Menschen, als wäre er durchsichtig und aus Glas: uns bleibt nichts verborgen vom Innersten des Menschen. Seine Sehnsüchte sehen wir und seine Wünsche, seine Sorgen und seine Güte. Wir sehen aber auch das Boshafte und Falsche. Und deswegen haben wir deine Stiefmutter Griselda geärgert und gefoppt. Wir hoffen, du hattest dadurch keine Unannehmlichkeiten, Cinderella.«
Cinderella hält sich eines der Kleider vor den Körper und betrachtet sich im Spiegel. Cinderella: »Die doppelte Arbeit und einige Schläge. Das Übliche.«
Eine Taube sagt: »Das tut mir leid, das zu hören. Wir meinten es gut und bewirkten noch mehr Unannehmlichkeiten für dich. Wie gut, dass wir jetzt die Fee Esmeralda zu unserer Unterstützung haben. Sie kann Zauber wirken und kann helfen wo unsere Mittel versagen. Taubenschnäbel eignen sich nicht gut, um Krieg zu führen gegen das Böse in dieser Welt.«
Cinderella nimmt die Einladungskarte aus ihrem Kleid und betrachtet sie. Sie sagt: »Da steht mein Name darauf. Sie wissen wohl gar nicht, wie erbärmlich ich bin; jeder heiratsfähigen Tochter des Landes haben sie solch eine Einladungskarte geschickt. Es wäre töricht von mir dort wahrhaftig zu erscheinen. Ausgelacht werden würde ich vom gesamten Hof und vor allem von meinen Stiefschwestern.«
Die Fee Esmeralda: »Das sagen alle meine Schützlinge am Anfang. Immer der selbe Text und dieselbe Litanei. Erhebt euch aus eurem Gram und der Sorge um eure Person. Wichtig seid ihr allesamt. Würdig und einander ebenbürtig ein jeder. Doch nachhelfen muss ich hier und dort. Mut zusprechen und aushelfen mit meinen magischen Habseligkeiten, auf dass sie ausbessern und stopfen, füllen, woran es euch ermangelt. Dir fehlt Selbstvertrauen so sehr, als riefe dein ausgehungerter Körper nach Brot. Ich kann dir dieses Brot nicht geben. Nur du selber kannst es. Suche es dir. Was ich tun kann, ist dir den Weg zu zeigen, wo du suchen musst und wo du fündig werden wirst. Strahlend wirst du dann stehen vor dem gesamten Hof und ihre Blicke werden dir nichts anhaben können. Solcherart sind meine Gaben; es sind nicht nur Kleider und passende Schuhe, die ich dir gebe. Fühle, spüre, was sie verkörpern, versinnbildlichen, wenn du sie trägst. Bewahre dir dieses Gefühl. Das Edle soll Teil sein von dir und soll durch dich hindurchstrahlen auch dann noch, wenn du Aschekleider trägst oder wenn deine Stiefschwestern versuchen dich zu tyrannisieren und zu ärgern. Trotze mit deinem Selbst und deiner Willenskraft deinem Dasein. Ich rede viel, doch ich habe dich beobachtet – schon lange. Ich will, dass mir meine Aufgabe bei dir gelingt; es soll eine gelungene Mission sein, ein schönes Werk, was ich hier bei dir vollbringen möchte. Doch ich brauche deine Mitarbeit. Deinen Willen, deine Glaubenskraft. Willst du mir helfen? Alleine meine Magie vermag den Zauber nicht zu vollbringen. Du musst mithelfen.«
Cinderella lächelt die Fee an und sagt: »Du bemühst dich um mich, als würde meine Mutter versuchen mich zu überzeugen von etwas, so wie sie es früher tat. Das Lesen und das Schreiben hat sie mir geduldig beigebracht und gemeint, es sei eines Tages wichtig für mich. Ich hatte keine Lust und wollte lieber toben und spielen. Doch sie hat sich durchgesetzt und mich überzeugt. Gehorsam habe ich mit ihr geübt und das Buchstabieren erlernt und dann haben wir zusammen Bücher gelesen. Wo ist die Zeit hin? Ich vermisse meine Mutter sehr.«
Cinderella weint ein wenig. Die Taube Bruno blickt auf von dem Vogelfutter und sagt: »Jetzt wird es melodramatisch. Soll ich lieber davonfliegen? Ich vertrage so schlecht tiefe Gefühle. Dann mag ich sogar gar nicht mehr essen.«
Kerstin, die Taube, sagt: »Sage lieber etwas Tröstliches. Wir Tauben sind doch bekannt für würdige Worte, Worte voller Bedeutung und Zuversicht. Hast du als Brieftaube denn gar nichts gelernt auf all deinen Flügen?«
Bruno sagt: »Ich habe manchmal hingehört, wenn der König einen Brief von mir erhalten hat und ihn sich laut vorgelesen hat. Ich weiß schwer Bescheid, was im Reich los ist. Viel Unruhe und schwierigste Probleme. Dem König fehlt Geld. Der Staatsschatz ist aufgebraucht. Zu verschwenderisch lebt der König und vor allem der Prinz. Oft hat er ihm Vorwürfe gemacht, doch der Prinz hat behauptet: er braucht nun mal sieben Pferde – und seine Begleiter und er brauchen edle Kleidung und müssen was herzeigen. Ich glaube, der Prinz wird kein guter König. Oder Cinderella müsste ihm Manieren beibringen und zeigen, wie man sparsam ist. Er verschwendet das Geld der armen Leute, denn die sind es doch, die den gesamten Hofstaat finanzieren. Jede Woche ein Fest und großer Staatsempfang. Wilde, aufwendige Jagden. Cinderella, du wirst da einiges verändern müssen.«
Kerstin sagt: »Bruno, das war die längste Rede, die ich je von dir gehört habe. Ich dachte immer, du bist schweigsam. Du hast ja richtig Ahnung von Politik.«
Die Taube Kerstin schmiegt sich an ihren Bruno und zupft ihm mit ihrem Schnabel einige Körner aus den Federn. Cinderella: »Ihr tut alle so, als ob ich wahrlich den Prinzen heiraten könnte. Schöne Fantasie-Figuren seid ihr mir. Verleiten wollt ihr mich auf eine Bahn, die nur übel enden kann. Hohngelächter und Spott werde ich ernten. Und sonst gar nichts.«
Die Fee Esmeralda reicht ihr das goldene Kleid und sagt: »Nun zieh das erst einmal an. Wir machen ja die Pferde scheu, noch ehe wir überhaupt losgefahren sind. Eines nach dem anderen. Ich habe Zeit und Erfahrung. Das wird schon was. Immerhin kennst du den Prinzen sogar schon und er gefällt dir gut. Nun muss er nur noch dich in einem neuen Licht sehen. Bisher kennt er dich nur als freche Göre. Bald soll er dich erleben als anmutige, elegante Frau, die an seiner Seite über das Parkett schwebt. Wie wäre es mit Tanzunterricht? Hoftänze sind sehr kompliziert. Da verheddert man sich leicht mit den eigenen langen Beinen. Lange Beine hast du und wohlgeformt. Ich werde dieses Kleid ein wenig kürzer zaubern. Dann kommen deine Beine besser zur Geltung.«
Die Fee schwingt ihren Zauberstab und richtet ihn auf das Kleid. Cinderella ruft: »Warte! Ich will zunächst einmal sehen, wie mir die längere Version gefällt. Je weniger von mir zu sehen ist, umso besser. Am liebsten würde ich mich ganz verstecken hinter einem großen Schleier. Sollte ich das tun?«
Die Fee seufzt und sagt: »Ich sehe schon, wir haben noch viel zu tun.«


3

Cinderella striegelt im Stall ein Pferd. Neben ihr steht der Stallbursche Tim. Er schaut ihr zu. Tim: »Schön bist du, Cinderella, und du siehst glücklich aus. Was ist geschehen? Etwas, von dem ich wissen sollte? Hat jemand dir den Hof gemacht? Habe ich Grund zur Eifersucht?«
Cinderella: »Kannst du tanzen?«
Tim: »Klar kann ich tanzen. Sogar fast so gut, wie ich kämpfen kann. Ich habe dir das Fechten beigebracht und wie man sich gegen Angriffe verteidigen kann – zum Beispiel von bösen Stiefmüttern. Viel Prügel hast du einstecken müssen von ihr. Hat mein Unterricht etwas genützt? Warst du wehrhaft und konntest dich tapfer verteidigen?«
Cinderella: »Ich wagte es nicht. Nachher jagt sie mich hinfort. Und wo soll ich dann hin? Die Winter sind kalt. Der Schnee ist hoch und ich würde erfrieren. Wer sollte mich aufnehmen? Ich besitze nichts.«
Tim: »Ach, Cinderella, wenn der Gutshof dir gehören würde, dann hätten wir eine lustige Zeit. Feste würden wir feiern und Gäste haben. Lachen soll hier sein und fröhliche Musik. Aber deine Stiefmutter Griselda ist auch nicht gut zu mir. Tröste dich. Sie macht mir das Leben so schwer, wie sie es vermag. Ich dachte, Drachen wären ausgestorben. Und jetzt leben wir mit einem hier unter einem Dach.«
Griselda ist soeben in den Stall gekommen und sagt: »Der Drache hat gute Ohren und wittert immer, wo über ihn böse Gerüchte in Umlauf gesetzt werden. Tim! Wie kannst du so boshaft von mir sprechen? Soll ich dir den Lohn nochmals kürzen?«
Tim: » Das ist nicht möglich. Ich bin schon bei Null Talern angelangt. Ab jetzt beginnt die Freiheit und ich kann spotten und lästern nach Herzenslust.«
Griselda: »Mir fällt schon noch eine Strafe ein. Darin bin ich gut. Striegelt die Pferde und beeilt euch. Der Acker will gepflügt werden und …«
Tim unterbricht Griselda: »Bekomme ich auch ein Stück Apfeltorte. Ich habe beim Küchenfenster eine Apfeltorte entdeckt. Sie duftet köstlich.«
Griselda: »Die hat Jessica für den Prinzen gebacken. Sie ist fleißig, wenn es sich lohnt. Und talentiert ist mein Töchterchen. Wieso hast du eigentlich gar keine Talente, Cinderella? Stehst immer nur faul herum den ganzen Tag. Mach zu! Bewege dich. Die Arbeit will getan werden. Auch wenn du unbegabt und ungeschickt bist für alles und mehr Schaden anrichtest, als du Gutes tust: bemühe dich zumindest. Ach, nur Sorgen und Ärger hat man mit dir. Als dein Vater noch lebte, hat er dich immer in Schutz genommen. Daran hast du dich gewöhnt, du verzogenes Ding. Gewöhne dich an andere Zeiten. Wenn du hierbleiben willst auf meinem Gutshof, dann arbeite und verdiene dir deinen Aufenthalt. – Und noch einen Angriff von diesen Tauben und ich …«
Eine Taube fliegt in den Stall hinein und fliegt direkt auf Griselda zu. Griselda duckt sich und ein weißer Taubenklecks landet auf ihrem Haar. Griselda läuft schreiend aus dem Stall. Die Taube fliegt hinter ihr her. Tim und Cinderella lachen und sehen sich an. Tim: »Hast du wirklich deine Tauben dressiert? Sie sind mutig, gehen auf Drachen-Jagd.«
Cinderella: »Mit dir zusammen habe ich Spaß und mein Leben erscheint mir nur noch halb so schwer. Ich bin froh, dass du geblieben bist. Du könntest woanders leicht Arbeit finden. Vieles kannst du. Verstehst mit Pferden umzugehen. Das Schwert und den Pflug meisterst du. Wieso bleibst du hier im Drachenland?«
Tim beginnt damit, ein anderes Pferd zu striegeln. Er sagt: »Ich habe so meine Gründe.«
Cinderella: »Bin ich einer dieser Gründe?«
Tim: »Ich hatte früher gehofft, dass du mich bemerken würdest, nicht nur als Kamerad und als Fechtmeister. Sondern …«
Tim geht hinaus zum Brunnen und kommt mit einem Eimer Wasser wieder. Cinderella hat angefangen, den Stall zu fegen mit einem langen Besen. Sie sagt: »Beendest du deine Sätze immer nicht? Soll ich raten, was du zu sagen vorhast?«
Tim: »Es gibt Dinge, die kann man nicht sagen. Die lässt man lieber ungesagt. Du träumst von deinem Prinzen und das ist auch gut so. Er kann dir alles bieten: Reichtum, Würde. Herrin könntest du dann sein über viele Ländereien. Aber es sind Träume, Cinderella. Ich gönne es dir von Herzen, doch …«
Tim hat den Wassereimer in die Pferdetränke geschüttet und geht wieder hinaus zum Brunnen. Cinderella macht einige Tanzschritte im Stall. Zwei Pferde heben ihre Köpfe und betrachten sie dabei. Cinderella: »Ah, ich habe Zuschauer; macht euch nur lustig über meine unbeholfenen Versuche. Los wiehert schon vor Lachen.«
Die Pferde schnauben. Ein Pferd schüttelt den Kopf. Cinderella: »Zum Kopfschütteln ist das doch nicht; man soll ambitioniert sein, zielstrebig und bemüht. Das hat die Fee gesagt.«
Tim, der wieder mit dem vollen Wassereimer in den Stall kommt, sagt: »Was hat die Fee gesagt?«
Cinderella dreht sich um und blickt zu Boden. Tim: »Du glaubst doch nicht etwa wirklich an Feen? Cinderella, wie weit ist es mit dir gekommen? Deine Stiefmutter und deine Stiefschwestern haben dich gehörig verwirrt. Ihre unleidliche Art hat dir zugesetzt. Du musst hier fort. Die sind gar nicht gut für dich. Ich würde dir ja anbieten, mit mir zu kommen. Aber was hätte ich dir zu bieten? Nicht einmal ein Pferd besitze ich. Wir müssten auf Schusters Rappen durch die Lande ziehen.«
Zwei Tauben kommen in den Stall geflogen. Cinderella begrüßt sie und sagt: »Kerstin, Bruno, wie schön, dass ihr beiden euch blicken lasst bei mir. Was gibt es Neues von der Fee? Habt ihr sie gesprochen?«
Tim schüttelt den Kopf und sagt: »Cinderella, es gibt keine Feen und sie sprechen auch nicht mit Tauben. – Oder doch? Die beiden Tauben blicken mich so merkwürdig an. Die sehen schlau aus die Viecher. Bist du etwa eine Hexe und kannst die Tiere deinem Dienste nutzbar machen?«
Kerstin, die Taube, sagt: »Gurr, Gurr.«
Cinderella: »Also gestern konnten sie noch sprechen. Wirklich.«
Tim: »Ich habe es gehört. Sie sagte: Gurr, Gurr. Das braucht man nur noch zu übersetzen und schon hat man eine Kommunikation mit den Tauben hergestellt. Ich habe mein Tauben-Lexikon in meinem Zimmer. Ich werde es gleich holen. Da stehen sämtliche Übersetzungen drin.«
Cinderella: »Du bist ungläubig. Zu recht. Ich wäre auch skeptisch. Hast du gewusst, dass Bruno als Brieftaube gearbeitet hat für den König? Er kennt viele Staatsgeheimnisse.«
Die Taube Bruno trippelt zu Tim hinüber. Tim beugt sich hinunter und betrachtet die Taube aufmerksam. Tim: »Kann ich ihn zu was Politischem befragen? Wird er mir ehrlich Auskunft geben?«
Bruno sagt: »Frage nur. Ich kenne mich aus. Ich weiß schwer Bescheid.«
Die Taube Kerstin sagt: »Schwer. Das ist das Stichwort. Bruno ist zu schwer geworden für seinen Dienst als Brieftaube. Er isst einfach zu viel. Könntest du nicht einmal mit ihm sprechen, Cinderella? Auf dich hört er gewiss. Ich kann reden und reden, alles vergeblich. Er stopft die Körner nur so in sich hinein.«
Tim geht langsam einige Schritte zurück. Er stößt mit dem Rücken gegen ein Pferd. Das Pferd stupst ihn an. Tim dreht sich um und sagt zu dem Pferd: »Möchtest du auch etwas sagen? Möchtest du dich auch äußern zu den neuesten Stallgerüchten? Ich glaube, ich werde genau so verrückt wie du Cinderella. Du steckst mich an mit deiner Fantasie. Das wird mir jetzt unheimlich. Oder hast du mich reingelegt und hast du mich getäuscht? Hast du heimlich gesprochen und so getan, als wären das die Tauben?«
Die Taube Bruno hüpft auf Tim zu. Tim: »Bleibe da, wo du bist. Keinen Schritt weiter, Taube! Erst will ich Klarheit. Dann sehen wir weiter. Zauberei im Stall ist gefährlich. Was da nicht alles passieren kann.«
Bruno bleibt stehen und sagt: »Was denn? Wieso bin ich gefährlich? Welchen Zauber meinst du denn?«
Tim starrt von der Taube Bruno zu Cinderella. Tim: »Ich habe es genau gesehen, Cinderella, du hast deinen Mund nicht bewegt. Wie machst du das? Wie bringst du die Tauben zum Sprechen?«
Kerstin, die Taube, sagt: »Mit Geduld. In vielen Stunden klagte uns Cinderella ihr Herzensleid. Da lernt man als Taube eine Menge von der Menschen-Sprache. Schnappt hier und da auch woanders Worte auf – und siehe da: auf einmal kann ich perfekt parlieren und feine Worte sprechen. Ich mache das gut, nicht wahr?«
Cinderella streichelt die Taube Kerstin und gibt ihr aus ihrer Kleidertasche einige Brotkrumen. Bruno sagt: »Oh, Brotkrumen. Die lassen wir für uns, nicht wahr? Wir brauchen den anderen nichts davon zu sagen. Die schnappen mir immer alles weg und ich werde dünner und dünner.«
Einige Tauben kommen in den Stall geflogen und scharen sich um die Brotkrumen. Tim geht in großem Bogen um die Taube Bruno und stellt sich neben Cinderella. Tim: »Können diese Tauben alle reden? Oder sind wir beide völlig verrückt?«
Cinderella: »Wenn du so schockiert bist, dann wage ich es gar nicht dir von der Fee Esmeralda zu erzählen. Sie hat so ein glitzerndes Leuchten und ist sehr nett.«
Tim: »Ah ja. Mit dir ist es nie langweilig. Was schert es mich, ob ich verrückt werde? Solange ich an deiner Seite bin. Ich gestehe dir, Cinderella: ich bin verrückt nach dir. Ich würde alles für dich tun. Deswegen schmerzt es mich auch so sehr, dass ich nichts dagegen tun kann, wie deine Stiefmutter dich behandelt. Ich bin ein Feigling. Aber sieh meine Stellung: ich bin ein einfacher Stallbursche. Und sie ist Gutsherrin.«
Cinderella: »Ich freue mich, dass du mich magst. Ich verdanke dir viel. Könntest du mir tanzen beibringen? Ich weiß, es kränkt dich, dass ich auf den Schlossball will und wie alle Mädchen im Königreich davon träume, vom Prinzen beachtet zu werden, mit ihm zu tanzen, zu schweben über das Parkett.«
Tim seufzt und sagt: »Du sollst deinen Traum-Tanz haben. Und einen unvergesslichen Ball sollst du erleben. Du sollst die Schönste sein auf dem Fest und alle Augen sollen gebannt auf dich geheftet sein. Keiner vermag wegzuschauen, wenn du vorbeischwebst in den Armen deines Prinzen. Ich wäre auch dann gerne dort, um dich zu sehen. – Aber nein: ich glaube, der Anblick wäre dann doch zuviel für mich. Du in den Armen eines anderen. Wir kennen uns schon so lange. Schon als kleine Kinder haben wir zusammen gespielt.«
Tim blickt sie an. Cinderella gibt Tim einen Kuss auf die Wange. Sie sagt: »Du bist lieb. Wäre ich nur verliebt in dich.«
Tim: »In den Prinzen bist du verliebt? Kennst du ihn denn? Liebst du nicht nur seinen Reichtum und seine Macht?«
Cinderella: »Ich werde es herausfinden.«


4

Cinderella sitzt in ihrem Baumhaus und liest in einem Buch. Zwei Tauben sitzen neben ihr: Kerstin und Bruno. Cinderella: »Ich habe in meinem Baumhaus schöne Bücher. Mein Vater hat sie mir geschenkt und ich habe sie hier versteckt. Meine Stiefmutter hätte sie mir sonst fortgenommen. Hierhin flüchte ich, wenn es mir zu viel wird auf dem Gutshof und ich es nicht mehr ertragen kann. Ich sollte hier lieber schlafen, statt in der Asche beim Herd. Bin ich gelehrt? Ich habe viel gelesen. Aber weiß ich soviel, wie ein Prinz weiß? Er hat jede Menge Lehrer – und Unterricht bekommt er jeden Tag. Er ist gewiss sehr gebildet. Wenn er mich ansieht, dann liegt vor mir die ganze weite Welt ausgebreitet. Ferne Länder sehe ich in seinen Augen und fremde, vergangene Zeiten. Darüber weiß er Bescheid, da bin ich mir sicher. Alte Sprachen kennt er und die Geheimnisse der Welt. Ich würde gerne lange mit ihm reden. Doch kurz sind unsere Begegnungen immer nur. Wie schön, dass er so oft im Wald auf der Jagd ist. Da sehe ich ihn dann hin und wieder. Und er hält sein Pferd an und beugt sich zu mir hinunter und lächelt mich an. Wir wechseln einige Worte und dann gibt er seinem Gefolge den Befehl zum Weiterreiten. Und fort ist er wieder. Entschwunden aus meiner Sicht, fort aus meiner Welt. Kann die Fee mir nicht den Prinzen herbeizaubern, dass wir lange und gemütlich uns unterhalten können in meinem Baumhaus hier mitten im Wald? Hier sind wir fern vom Hof und der Gesellschaft. Hier sind wir nur zwei Menschen, die sich unterhalten. Direkt und keiner würde uns stören.«
Die Taube Bruno sagt: »Wir Tauben kämen gelegentlich vorbei, um nach dem Rechten zu sehen und um einige Brotkrumen und Körner zu erwischen. Wir würden aber gewiss nicht stören. Ich sage dann auch ganz brav nur: Gurr, Gurr. Ich will doch deinen Prinzen nicht verschrecken mit klugen Worten. Die seien alleine dir vorbehalten. Betöre ihn mit klugen Worten. Du kennst und weißt vieles. Aus deinen Büchern und aus deiner Beobachtung. Denn vieles denkst du dir im Laufe des Tages, wenn du deine Arbeit verrichtest. Du hast uns oft davon erzählt und uns teilhaben lassen an deinen Überlegungen. Was meinst du, warum wir so schlau sind?«
Ein Leuchten erfüllt das Baumhaus und vor ihnen sitzt die Fee Esmeralda. Bruno fliegt erschrocken zur Seite und landet auf Cinderellas Schulter. Die Fee sagt: »Oh. Entschuldigung. Habt ihr mich nicht kommen sehen? Keiner sieht mich kommen, das ist wirklich ein Problem. Ich sollte mir eine Glocke besorgen, dann richte ich keinen Schaden an, wenn ich plötzlich und unvermittelt auftauche. Wie leicht hätte ich mich auf die Tauben raufsetzen können.«
Kerstin, die Taube, sagt: » Autsch. Das wäre gefährlich für uns. Denn du bist nicht gerade schlank, gute Fee, wenn ich das mal so sagen darf.«
Cinderella legt ihr Buch beiseite und sagt: »Ich kann schon ein bisschen tanzen. Tim hat mir einige Schritte und Drehungen gezeigt. Pirouetten und Schwünge. Er ist sehr talentiert. Ein Freund von ihm arbeitet bei Hofe. Und der hat die feine Gesellschaft beobachtet im Tanzsaal. Von ihm hat Tim vieles gelernt, auch das Tanzen.«
Die Fee Esmeralda: »Das schaue ich mir gleich mal an, deine Tanzkunst. Aber erst, schau her, was ich dir mitgebracht habe: gläserne Schuhe, passend für deine Füße. Verliere sie nicht. Die sind unbezahlbar teuer. Ich habe lange reden müssen, bis ich die im Feenreich ausgehändigt bekommen habe. Du musst wissen, die sind sehr begehrt und jede Fee will die haben, die gläsernen Schuhe. Gehe also schön achtsam mit ihnen um.«
Die Fee reicht Cinderella die gläsernen Schuhe. Cinderella probiert sie an und sie passen perfekt. Cinderella strahlt. Sie sagt: »Ob ich damit tanzen kann? Die sehen gefährlich hoch aus diese Schuhe. Damit muss ich erst üben zu laufen. Ich bin nur meine Pantoffeln gewohnt. Etwas anderes hat mir meine Stiefmutter nicht gekauft.«
Bruno sagt: »Die werden deinen Stiefschwestern niemals passen. Du hast zierliche Füße. Schlank und elegant. Die kommen in den gläsernen Schuhen gut zur Geltung.«
Seine Tauben-Gemahlin Kerstin sagt: »Bist du etwa verliebt in Cinderella? Nur weil sie dir die größten Brotkrumen gibt, heißt das nicht, dass sie dich bevorzugt oder für dich besondere Empfindungen und Gefühle hegt. Nicht wahr Cinderella?«
Cinderella blickt hoch von ihren Schuhen und sie hat einen verklärten Blick. Sie sagt: »Diese Schuhe sind unglaublich schön. Ich fühle mich tatsächlich schon sehr elegant. Kleider machen Leute. Es scheint etwas daran zu sein an diesem Spruch.«
Die Fee strahlt vor Freude. Sie schwingt ihren Zauberstab und edler Schmuck liegt vor Cinderella. Die Fee sagt: »Eine Halskette und passende Ohrclips. Dazu eine Brosche und ein Ring. Alles da. Schmücke dich damit; ich bin neugierig, ob meine Auswahl dir steht. Es gab so viel Auswahl im Feenreich, dass ich gar nicht wusste, was ich mitnehmen sollte für dich.«
Cinderella bindet sich die Halskette um und setzt sich den Ring auf ihren Finger. Sie betrachtet ihre Hand und sagt: »Sehr vornehm. Und sehr unpassend. Schau meine Hände sind ganz dunkel von all dem Schmutz bei meiner Arbeit. Meine Fingernägel sind abgebrochen. Ich werde in den nächsten Tagen nicht arbeiten dürfen und muss meine Hände schonen, damit sie gepflegter aussehen. Ich sehe nach Arbeit aus – als wenn ich die schlimmste Arbeit jahrelang verrichtet hätte.«
Die Fee. »Das hast du ja auch. Kein Grund, sich dessen zu schämen.«
Cinderella: »Für dich ist alles so einfach, als Fee. Ein Wink mit deinem Zauberstab und deine Wünsche sind erfüllt. Mein Leben ist nicht so einfach. Ich weiß zum Beispiel gar nicht, was ich mir eigentlich wünsche. Will ich wirklich den Prinzen heiraten? Gut, dass du mir nicht wie üblich, drei Wünsche geschenkt hast. Was hätte ich mir wünschen sollen? Wenn ich meiner Stiefmutter etwas Böses wünschen würde, dass ihr etwas wirklich Übles widerfährt – wäre das wünschenswert? Will ich nur Schadenfreude? Worauf bin ich aus? Zu heiraten weit über meine Verhältnisse? Nach meinen Eltern sehne ich mich. Sie wieder bei mir zu haben. Doch wünsche ich mir, dass du sie wieder lebendig machst? Wäre es nicht vollends wider die Natur? Mir ist gar nicht nach Wünschen zumute. Und doch soll auch nicht alles so bleiben, wie es ist. Denn es ist furchtbar und nicht zum Aushalten. Und immer noch fürchte ich, dass ich immer stärker fantasiere. Ich ziehe alle in meine verrückten Fantasien mit hinein. Sogar Tim hört jetzt schon, wie die Tauben sprechen. In klugen Sätzen.«
Bruno sagt: »Findest du meine Sätze so klug? Vielen Dank. Ich werde mir weiterhin Mühe geben, dich mit meiner Gelehrtheit zu erfreuen.«
Kerstin: » Sei nicht so ein alberner Täuberich. Nur weil du als Brieftaube für den König gearbeitet hast, bist du damit nicht gleich in die große Weltpolitik involviert und verwickelt.«
Cinderella: »Wie kommt es, dass ihr so schwierige Fremdworte kennt? Habe ich die euch beigebracht?«
Kerstin: »Ja; du plauderst vieles Kluge vor dich hin so bei der Arbeit. Ich habe über manches erst lange nachdenken müssen, was du so nebenbei geäußert hast.«
Die Fee: »So, nachdem wir uns alle gegenseitig Komplimente gemacht haben, zurück zu den Vorbereitungen für den Schlossball. Eine Dame von Welt will ich aus dir

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Auch als Taschenbuch: Zwei Märchen-Romane Cinderellas Wahl und Leon, der gestiefelte Kater 221 Seiten, Taschenbuch, EUR 11,80 ISBN 978-3-940445-75-9
Tag der Veröffentlichung: 08.12.2011
ISBN: 978-3-943142-36-5

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