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Kurbel-Taschenlampe in Chile, San José

„Wieso hast du die Taschenlampe gekauft? Die ist zum Kurbeln. Braucht keine Batterien. Unpraktisch eigentlich. Doch hier ist sie mit Gold nicht aufzuwiegen. Und Gold haben wir hier im Überfluss – sind begraben im Gold. - Sieh mich nicht erstaunt an – ich rede nur so vor mich hin. Wenn du willst, dann schreibe ich weiter mein Tagebuch.“

Edison legt seine Kurbel-Taschenlampe vorsichtig zur Seite und sagt zu Victor: „Du schreibst. Ich laufe. So versucht jeder auf andere Art damit fertig zu werden, lebendig begraben zu sein. So tief begräbt man normalerweise keine Menschen. 700 Meter. Welcher Totengräber hätte dafür Zeit – und welche Schaufel sollte er nehmen dafür?“

Edison lacht kurz auf und blickt nach oben. „Ich will die Sonne wiedersehen. Verschüttet, abgeriegelt vom übrigen Weltgetümmel. Noch vermodern wir nicht. Doch meine Gedanken, mein Sinn, der fängt an zu modern. Ich verrotte von innen heraus. Deswegen will ich laufen – jeden Tag – durch die Stollen – durch die Dunkelheit – um meiner eigenen Dunkelheit zu entkommen. Sie will sich auf mich stürzen. Lauert wie ein Tiger im Gebüsch auf mich. Funkelt mich an mit listigen, intelligenten Augen . Will mich packen und mit ihren Reiß-Zähnen ...“

Victor schüttelt Edison an der Schulter. „Steigere dich da nicht hinein. Irgendwann finden sie uns hier. Wir sind doch leicht zu finden. Was sind - na sagen wir 600 oder 700 Meter – für modernste Technik ? Gar kein Problem. So etwas meistern die spielerisch. Wirst sehen.“

Edison kurbelt an seiner Taschenlampe. „Gar nichts werde ich sehen. Die Welt ist Dunkelheit. Hast du das nicht gewusst? Es wird mir immer deutlicher. Gestern als ich lief im Stollen, da traf es mich wie ein Blitz: Dunkelheit ist immer und beständig um mich – und um uns alle. Wir sind eingehüllt in Dunkelheit. Und nur diese eine kleine Taschenlampe hier – die spendet Licht. Ich muss sie aufziehen, regelmäßig, ihr Energie geben, dann brennt sie weiter, gibt uns Licht. Meine Energie gibt Euch Licht.“

Edison schmunzelt. Victor schreibt einige Zeilen in sein Tagebuch. „Ich freue mich, dass du auf mein Gespräch eingehst. Es ist nicht gut, dass der Mensch zu einsam ist und sich zurückzieht. Wir brauchen einander. - Weißt du, ich bewundere uns. Ehrlich. 33 Mann – und kaum Streit. Kaum Ärger. Verzweiflung ja – jede Menge. Hoffnung? Schwankend. Ich schreibe das alles hier auf. Tagebuch. Als ob ein kleines Mädchen ihre romantischen Empfindungen festhält – und eines Tages, wenn sie Großmutter ist, wird sie in ihrem Tagebuch blättern, darin lesen und schmunzeln oder weinen über ihre damaligen Gefühle. Werden ihre Gefühle ihr den richtigen Weg gewiesen haben? Oder wird sie in Dunkelheit ihr Leben verbracht haben? Können unsere Gefühle uns erhellen, uns ein Licht sein im Lebens-Dunkel?“

Victor reibt sich seine Augen. „Meine Augen brennen. Staub, alles Staub. Gib es Räume ohne Staub? Wo kommt der her? Ich glaube selbst wenn alle Galaxien Vergangenheit sind – dann wird es immer noch Staub geben. Zentimeterdick wird er auf der Ewigkeit drauf liegen und sie bedecken. Den kriegst du nicht weg.“

Victor hustet. Edison macht einige Kniebeugen. „Du solltest mit mir laufen. Der Körper trägt uns. Er ist die Basis. Man sollte ihn nicht vernachlässigen. Ich habe ein Ziel: Ich werde Marathon laufen. Nicht gewinnen. Nur teilnehmen. Und unter sechs Stunden. Das müsste zu schaffen sein. Ich habe ein Ziel. Weißt du, wen ich besiegen will? Nicht die anderen Läufer. Auch nicht meinen inneren Schweinehund. Nur diese Tiefe, in der wir begraben sind. Die will ich meistern. Der will ich die Stirn bieten. Und will ihr trotzig entgegenschreien: ich besiege dich!!“

Edison weint. Victor schaut zur Seite. Er schreibt einige Zeilen. In dem 50 Quadratmeter großen Raum sind noch 31 weitere Männer. Sie alle haben den Oberkörper frei. Es ist dunkel. Bis auf das kleine Licht von der Kurbel-Taschenlampe, die Edison in seiner Hand hält. Victor blickt auf von seinem Tagebuch. „Sie könnten uns finden. Gott wird ihnen den Weg zeigen. - Weißt du, warum du diese Taschenlampe gekauft hast? - Ich weiß es. Gott wollte, dass du sie kaufst. Wider jede Vernunft – du tatest, was dir als richtig erschien, was du empfandest – ohne Rücksicht auf Logik. Ich bin dankbar, dass wir nicht nur aus Logik zusammengesetzt sind. Da steckt mehr in uns drin. Hier in der Tiefe, in der Dunkelheit, inmitten meiner Angst spüre ich es. Oder ich rede mir ein, dass es dort vorhanden ist. Wünsche es uns allen.“

Victor holt tief Luft. Edison nickt. „Spontan. Kurz vor ... erst vor ein paar Tagen .. ich hielt diese Taschenlampe in der Hand .. und dachte mir: dich kann ich gebrauchen. Sicherheit. Licht, wenn nichts mehr brennt. Unabhängig von allem. Keine Batterie nötig. Die Zeit kann ihr nichts anhaben. Powert sie nicht aus. Ich brauche diese Power dieser Taschenlampe! Ich gebe nicht auf!“

Victor folgt mit seinen Augen dem Strahl der Taschenlampe. „Gott gab dir diesen Gedanken ein und wusste, du würdest sie dringend gebrauchen können. Ja, das glaube ich. Halte sie fest. Gib sie nicht her. Es ist das Licht, was Er dir in die Hand gegeben hat, damit du uns allen leuchtest.“

Edison lächelt. „Werde nicht sentimental. Dazu neigt man in der Tiefe und in der Dunkelheit.“

Edison kurbelt an seiner Taschenlampe. „Sie müssten sich hinunter bohren zu uns. Weißt du, dass eigentlich niemand aus der Höllentiefe wieder hinauskommt? Wir sind keine Gäste. Wir sind die Bewohner der Tiefe.“

Edison macht einige Faustschläge in die Luft. „Ich muss tätig sein. Sonst staut es sich auf in mir – und überflutet mich – dann ertrinke ich.“

Edison reckt sich in die Höhe. Victor greift nach der Kurbel-Taschenlampe. „Kann ich sie halten für eine Weile? - Dem Licht nah sein. Wie kitschig das klingt. Aber wenn Finsternis alles ist, was du hast, dann freust du dich über ein Glühwürmchen.“

Edison reicht ihm die Taschenlampe. „Ob sie uns finden werden oder nicht. Innerlich wird mich diese Tiefe nicht besiegen. Ich lache über sie. Ich stecke sie in die Tasche.“

Edison steckt seine Hände in seine Hosentaschen und geht in Richtung eines größeren Stollens. „Laufen, um nicht wegzurennen, sondern um dem Licht entgegen zu laufen. Ich werde zum Licht in der Dunkelheit. Ich sehe zwar nichts, aber ich spüre, dass Licht ist um mich. Licht, was ich nicht sehen kann. Nur tasten. Ich musste in die Dunkelheit kommen , um es zu bemerken.“

Victor geht neben ihm. „Entweder wir werden alle hier unten wunderlich oder wir werden offen für wahre Wunder. Ich glaube, unsere innere Kraft entscheidet darüber, welchen Weg wir gehen.“

Sie bleiben vor einer Abzweigung stehen. „Welchen Stollen wählen wir? Den rechten oder den linken?“

Victor blickt nach oben. „Wir wählen den Weg nach oben. Das Sonnenlicht wartet. Ich kann es hier unten spüren.“

Edison schüttelt den Kopf. „Es ist Nacht. Überall Dunkelheit. In der Tiefe und womöglich auch in der Höhe. - Was ist, wenn die Engel auch keinen Rat wissen? Nicht Bescheid wissen, was der richtige Weg ist.“

Victor geht in den linken Stollen. „Dann zeige du den Engeln den Weg. Ich glaube, wir Menschen haben mehr Verstand und Möglichkeit als sie. Wir haben Tiefe in uns. Tiefes Leid. Tiefe Furcht. Das braucht man, um den rechten Weg finden zu können. Die Lichtwesen, die nie in die Tiefe gestürzt sind – wie könnten die den Menschen nützlich sein? Ich glaube, Luzifer ist deshalb in die Tiefe gestürzt, weil er die Tiefe brauchte, um wahrhaft erkennen zu können. Luzifer ist ein Bestandteil von Gott. Gott würde etwas fehlen, wenn er diesen Tiefen-Sturz nicht erlebt hätte, nicht durchlitten hätte. Lichtgestalt könnte uns Menschen nicht verstehen. Hätte uns als Lichtgestalt auch niemals schaffen können. In ihm ist beides: Licht und Dunkelheit. Höhe und Tiefe. Er ist gesegnet mit beidem. - Stoppe meinen Redefluss, wenn ich dir auf die Nerven gehe. Doch mitunter hilft das Reden. Sagt zumindest meine Großmutter.“

Edison bleibt stehen. Er kurbelt erneut an seiner Taschenlampe. „Wir werden diejenigen sein, die am längsten in der gesamten Menschheitsgeschichte begraben waren und die wieder auferstehen werden. Und diese kleine Taschenlampe – die wird ihren großen Teil dazu beitragen, damit es gelingt. Sie gibt mir mehr als Hoffnung. Sie rettet meine Psyche. Mein Verstand würde hoffnungslos sich in der Dunkelheit verlieren. - Ich glaube, so etwas wie diese kleine Taschenlampe – so etwas ist das göttliche Licht in uns. Wir müssen nur täglich und oft und bei Bedarf daran kurbeln, damit wir Energie haben für das innere Licht.“

Edison lächelt. Victor sieht ihn an und lächelt ebenfalls.

***



60 Tage später wurden alle 33 verschütteten Männer gerettet.

Der Name des Lagers in San José, von dem aus die Rettung erfolgte: Esperanza, Camp der Hoffnung.

ENDE

Impressum

Bildmaterialien: http://de.wikipedia.org/wiki/Grubenunglück_von_San_José
Tag der Veröffentlichung: 25.12.2010

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