Ich öffne dem Gast die Schlosstür. Erwarte den Schrei. Doch der Mann sieht mich nur an – ruhig – als hätte er es jeden Tag bei seinen Hausbesuchen mit einem Geist, einem Schlossgespenst zu tun. „Buh!“, sage ich.
„Buh!“, antwortet mir der Mann. Ich bitte ihn herein in das Schloss und sage: „Also gut, da wir die Begrüßungszeremonie hinter uns haben – was kann ich für dich tun? Ich hause hier alleine in diesem Schloss Wilmore. Wie lange schon – das weiß ich nicht.“
Der Mann reicht mir die Hand. Er betrachtet meine weiß-graue, neblige Substanz. Ich selber nenne das Material aus dem ich bin: Nebula. Ich ergreife vorsichtig seine Hand. Wenn ich mich stark konzentriere, dann kann ich Dinge greifen, bewegen. So auch eben die Schlosstür. Aber es ist mühsam. Ich zittere. Ein zitterndes Schlossgespenst! Der Mann bemerkt mein Zittern.
Er sagt: „Ich bin hier, um dir zu helfen. Ich heiße Jerry, genauso wie du. Eigentlich bin ich ein Teil von dir. Frage mich nicht welcher. Aber wir haben ein Problem! Sie stellen gleich die Maschinen ab! Du musst hier raus. Raus aus diesem Schloss. Das ist der erste Schritt.“
Ich schwebe zu einem der hohen Schlossfenster. Die Scheibe ist kaputt. „Ich kann nicht aus diesem Schloss! Es ist verfallen, alt – und doch hält es mich gefangen mit einer unglaublich starken Kraft."
Jerry sagt: „Es ist ein Symbol für den Zustand deines Körpers: gebrechlich, am Randes des Todes. Die Klippe ist sehr nah. Komm, gehen wir einige Schritte zurück. Komm mit mir.“
Jerry greift nah mir. Greift hindurch durch meine Nebula-Substanz, verwirbelt meine Existenz. Ich konzentriere mich, sammle mich. „Jerry, nicht ich bin in Gefahr, sondern du! Vor dir waren andere hier. Sie sind alle hier aus diesem Schloss nicht wieder herausgekommen.“
Jerry atmet tief durch. „Ich weiß. Letzter Versuch. Es kommt auf deine Kraft an. Deinen Willen. Wenn dir jemand sagt, dass du träumst und dein Leben davon abhängt, dass du aufwachst – wie könnte so ein Mann dich überzeugen, dass er die Wahrheit spricht?“
Jerry setzt sich in einen der roten Ledersessel vor dem Kamin.
„Sage die Wahrheit. - Gibt es einen Weg hinaus aus diesem Schloss für mich? Mir ist, als sei ich gefangen in einem Zwischenreich – weder Diesseits noch Jenseits. Keiner will mich haben. Ich wohne hier als Untermieter in diesem verfallenen Schloss Wilmore. Es ist öde hier. Ich sehne mich nach dem Jenseits.“
Jerry ballt die Fäuste. „Widerstehe! Hast du keinerlei Erinnerung an das Diesseits, an wundervolle Plätze außerhalb des Schlosses?“
„Ich sehe von hier die kleine Brücke über dem See. Einige Bäume, Nebel. Hier ist sehr oft Nebel.“
Ich schwebe zu Jerry und er greift vorsichtig nach meinem Arm. „Du liegst im Koma. Gleich werden sie die lebenserhaltenden Maschinen abstellen. Du liegst schon sehr lange im Koma. - Bitte wache auf.“
Jerry hat Tränen in den Augen. Ich sage: „Du bist verwirrt. Du bist eben mit deinem Wagen in dem See gelandet. Ein Unfall. Wie vor dir schon Dutzende. Sie alle kommen ab von dieser Straße und landen im See.“
Jerry schüttelt den Kopf. „Das ist nicht entscheidend. Genau genommen gab es dieses Ereignis nur ein einziges Mal: Du bist von der Straße abgekommen, und wärest beinahe im See ertrunken. Sie konnten dich retten und seitdem liegst du im Krankenhaus von Wilmore im Koma. - Klingt das plausibel – kannst du mir geistig folgen – so als Geist?“
Ich sage: „Versuchst du es jetzt mit Humor? - Dann wäre dies ein Selbstgespräch? - Und wer ist dann dieser schwarze Engel, der hier von Zeit zu Zeit auftaucht?“
„Ein Bote aus dem Jenseits. Betrachte mich als seinen Gegenspieler. Du bist in deiner inneren Welt. Hier findet der Kampf statt. - Besiege dich selbst. Wache auf!“
Ich schwebe empor zu der Decke des Schlosses. „Wie soll ich irgend etwas machen? Außer Umherschweben ist mir nicht viel geblieben. - Ganz im Gegenteil, ich freue mich schon jedes Mal auf die Besuche des schwarzen Engels. Er ist Abwechslung. Er ist amüsant.“
„Danke“, sagt der schwarze Engel und schwebt herein durch eines der kaputten Schlossfenster. „Glaube nicht, dass ich dich am Aufwachen hindern würde – wie sollte ich das? Meine Macht kommt aus dem Jenseits. Wir haben Anspruch auf dich. Du bist müde – müde vom Leben. Entsinne dich. Wolltest du nicht von der Straße abkommen? - Beenden deinen Lebensweg? Verweile nicht länger hier an dieser Endstation. Es geht weiter im Jenseits. Anders ist es dort. Abwechslung.“
Jerry: „Widerstehen der Müdigkeit. Dem Lebensekel. Dem Lebensüberdruss. Das helle, wache Bewusstsein aktivieren – bereit sein zu leiden – aber auch sich zu freuen. Beides ist machbar, möglich, wenn du mit mir zurückkehrst. Reich mir die Hand.“
Jerry streckt seine Hand nach mir aus. Ich sage: „Sieh dir meine Hände an: Weiße Watte wäre fest zu nennen im Vergleich zu dieser Nebula-Substanz. Ich habe aufgehört zu existieren. - Ich werde dem schwarzen Engel folgen.“
Jerry deutet zu einem der Schlossfenster hinaus. „Sieh dort das Schönste, was dein Auge je gesehen. Was siehst du dort?“
Ich wende mich dorthin. Ich konzentriere mich. „Ich sehe Bücherregale – angefüllt mit Büchern, die ich geschrieben habe. Dicke Bände und auch kleine Taschenbüchlein – vielerlei Ausgaben. Viele davon sind noch nicht geschrieben – ganz neue, unbekannte Titel. Reizvolle Titel.“
Jerry: „Dann schreibe sie. Doch dafür brauchst du das Diesseits. Dein Bewusstsein. Deinen Körper. - Akzeptiere das Unvollkommene. Die jenseitige Welt mag locken mit Vollkommenheit und ewiger Harmonie. Wer will das schon? Kreativ sein kannst du im Chaos. Es bändigen, ordnen mit Wortmacht. - Eine Aufgabe zu haben – das verhindert das Aufgeben. - Habe ich recht?“
Jerry lächelt mich an. Ich schwebe zu ihm. Dann sacke ich zu Boden. „Ich bekomme keine Luft.“
Der schwarze Engel hockt sich neben mich. „Du brauchst nicht zu atmen dort, wohin ich dich führen werde.“
Jerry blickt zu einem der Schlossfenster hinaus in den Himmel. „Die Wolken haben sich sehr stark verdunkelt. Es sieht nicht gut aus. Das Außen ist dein Innen – alles was du siehst um dich herum: das bist du. - Du könntest alles erhalten, verändern – wo in diesem Schloss könnte sich das Licht verbergen?“
„Welches Licht? - Es tut mir leid Jerry. Ich vermag gar nichts mehr. Keine Kraft mehr übrig.“
Ich hebe meine Nebula-Arme in die Höhe, versuche zu schweben - und sacke zusammen. „Ich glaube, du hast recht. Sie haben die Maschinen abgestellt. Mir fehlt etwas Entscheidendes: ist es Luft, Kraft, Licht? - Welches Licht wollen wir suchen? - Es könnte in den Büchern der Bibliothek sein. Dort habe ich oft mich aufgehalten. Mir war, als ob die Buchseiten mitunter leuchteten.“
Der schwarze Engel nimmt mich auf seinen Arm und schwebt mit mir in die Höhe. Ich frage ihn: „Ist es Zeit? Du warst ein angenehmer Bote. Haben sie dich gesandt, weil du die angenehmsten Umgangsformen hast - als Botschafter, der wirbt für sein Land, das Jenseits?“
Der schwarze Engel schwebt mit mir in die Bibliothek des Schlosses. „Schlage eines von diesen Büchern auf – und du wirst leben. Du hast das Jenseits erkannt nicht als erschreckend, sondern als Anderswelt – anders als das Vertraute. Doch bleibe, solange du deine Aufgabe hast.“
Jerry ist die Treppe hochgekommen und lehnt im Türrahmen der Schlossbibliothek. „Am Anfang war das Wort – und das Wort schwebte aus den Büchern zu dir. Das Wort ist das Licht. Nimm das Licht – sieh mit dem Licht – wache auf mit dem Licht!“
Ich greife in ein Regal, tippe einen der Buchrücken an, das Buch fällt herunter auf den Boden. Ich blicke auf die aufgeschlagenen Seiten. Beuge mich tiefer hinunter, will erkennen, was dort steht - und erwache.
Eine Zeile habe ich noch vor Augen, als ich die Augen aufmache im Krankenhaus von Wilmore: „Sei das Licht.“
ENDE
Texte: Coverfoto: Telling Lies to Alice ©Copyright 2003 Alan Ayers http://www.alanayers.com
Tag der Veröffentlichung: 02.11.2010
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