Die Sonne schien heiß über den ausgedorrten Feldern des kleinen Reiches, das weit von uns entfernt in jenem fernen Morgenlande lag. Sie brannte nieder auf die trockene Erde, die schon längst aufgeplatzt und von tiefen Rissen durchzogen war. Sie sengte über den Tälern, durch die früher breite Flüsse geflossen waren, und in denen nun nur noch schmale Rinnsale tröpfelten. Trocken war es und heiß in diesem kleinen Reich und die Menschen litten Hunger und Durst. Die Äcker gaben kein Getreide mehr, das Vieh war verendet, die Brunnen versiegt. Voll Verzweiflung riefen die Menschen ihre Götter an, sie sollen ihnen Regen schicken, doch die Götter schwiegen. Kein Tropfen benetzte die Erde. Seit Wochen ging es bereits so, seit Monaten – der letzte Regenschauer kam ihnen wie ein Märchen aus einer wundervollen Vergangenheit vor.
Durch den Palast des Radschas, der über das kleine Reich herrschte, wehte trostlose Trübsal. Die Menschen gingen gesenkten Hauptes umher, und wenn sie mit Berichten aus dem Reich vor den Radscha treten mussten, sah man die Angst in ihren Augen glänzen, weil sie einen weiteren Wutanfall ihres Herrschers befürchten mussten. Farbenfrohe Feste, prunkvolle Paraden und bezaubernde Bankette wurden hier gefeiert – früher, als der Himmel seine Schleusen noch öffnete, als Wasser im Überfluss vorhanden war. Doch nun gab es keine Festlichkeiten mehr. Immer öfter sah man den Radscha grübelnd und das Gesicht tief in seinen Händen verborgen auf dem Thron sitzen. Das Wohl seines Volkes lag ihm stets zutiefst am Herzen. Jetzt aber starben die Menschen qualvolle Tode, und er wusste nicht, was er dagegen tun sollte. Schon begann das Volk zu murren. Musste nicht er, der Radscha, die Gunst der Götter verloren haben, wenn sie ihm keinen Regen mehr schickten? Dem Radscha wurde berichtet, wie das Volk dachte und redete. Mit großer Sorge nahm er diese Nachrichten entgegen und versank nur noch mehr in trüber Grübelei.
Eines Tages trat Shirin, die Tochter des Radschas, zu ihm an den Thron, auf dem er einsam und verlassen saß.
„Vater“, sagte sie. „Schon seit mehreren Tagen ist es mir verboten zu baden. Ich will aber ein Bad nehmen.“
Der Radscha blickte sie wütend und zugleich tief traurig an. Shirin war seine einzige Tochter, sie war sein Augapfel, wunderschön und elegant. Ihr Gang war anmutig, ihr Körper feenhaft, ihre dunklen Augen glänzten wie die kostbarsten Perlen. Doch ihrer äußeren Schönheit stand eine harsche, überhaupt nicht anmutige Seele gegenüber. Überheblich war sie gegenüber Gleichaltrigen, herrschsüchtig und herablassend gegenüber ihren Dienern. Passte ihr etwas nicht, ergab sie sich in wütenden Tobsuchtsanfällen, bekam sie nicht, was sie begehrte, schlug sie nach den Dienern, widersprach man ihr, trat man ihr besser einige Tage lang nicht mehr unter die Augen.
„Das Volk verdurstet. Die Menschen sterben, weil sie kein Wasser haben. Und dir fällt nichts anderes ein als zu baden?“, fragte der Radscha seine Tochter gereizt.
„Es ist mir egal, was das Volk macht. Ich will baden!“, fauchte die Prinzessin, verschränkte ihre Arme vor der Brust und warf ihren Kopf bestimmt nach hinten.
„Geh! Geh mir aus den Augen!“ Der Radscha wollte sie anbrüllen ob ihrer Worte, doch nur müde und verzweifelt kam ihm der Befehl über die Lippen.
Shirin funkelte ihn wütend an, als sie aber erkannte, dass dies das letzte Wort ihres Vaters war, machte sie auf dem Absatz kehrt und stolzierte zur Tür hinaus.
Tage und Wochen vergingen und kein Tropfen fiel vom Himmel. Das Volk wurde wütender und sie sprachen immer schlechter vom Radscha, bei dem sie den Grund ihrer Not vermuteten. Da ließ der Radscha seinen Guru herbeirufen. Noch einmal sollte er die Götter befragen, weshalb kein Regen falle. Viele Male hatte er es bereits getan. Dies sei das letzte Mal. Wenn es auch jetzt nicht fruchte, werde er sich dem Volk stellen, das mit ihm tun und machen dürfe, was es wolle. Da ging der Guru in seine Gemächer und blieb dort bis zum Abend. Dann kam er wieder heraus, fiel vor dem Radscha auf die Knie und sagte:
„Die Götter sind wütend. Sie strafen das Volk, indem sie alle Wolken vom Himmel fernhalten und die Sonne die Felder und Flüsse austrocknen lassen. Besänftigt werden sie nur dann, wenn…“
Er stockte. Der Radscha und alle Anwesenden beugten sich neugierig nach vorne.
„Wenn?“, fragte der Herrscher.
„… wenn Prinzessin Shirin von drei Menschen geliebt wird und diese ihre Liebe auch zeigen.“
Mit offenem Mund starrte der Radscha seinen Guru an. Niemand liebte Shirin, das wusste er genau, und auch alle, die um sie herumstanden, wussten es.
„Shirin!“, rief der Radscha. „Tritt vor.“
Die Prinzessin trat vor den Thron ihres Vaters.
„Du hast gehört, was der Guru gesagt hat.“
Shirin lächelte.
„Das wird wohl kein Problem sein“, sagte sie und ließ drei ihrer Diener hereinrufen. Eilig kamen sie angelaufen und verbeugten sich tief vor Shirin und ihrem Vater.
„Ihr da!“, herrschte Shirin sie an. „Sagt, ihr liebt mich doch alle, nicht wahr?“
„Oh ja, oh ja, sicher, Prinzessin!“, riefen da die Diener und verbeugten sich noch etwas tiefer.
„So, da habt ihr’s!“, lachte die Prinzessin und blickte spöttelnd zu des Radschas Guru. „Sie lieben mich!“
„Ihr…“ Der Guru, der noch vor dem Thron kniete, räusperte sich nervös. „Ihr müsst von drei Menschen wirklich aufrichtig geliebt werden, Prinzessin.“
Rasch zog er den Kopf ein, denn er wusste, was nun geschehen würde.
„Was?!“, schrie da die Prinzessin und ihr liebliches Gesicht wurde puterrot. „Du willst also sagen, diese da lieben mich nicht aufrichtig?“
Dann trat sie mit ihren spitzen Schuhen nach dem Guru, der seine Hände schützend vor sein Gesicht hielt und laut aufheulte, als sie ihn wieder und wieder traf.
„Schluss jetzt!“, brüllte der Radscha. „Shirin! Du hast gehört, was der Guru gesagt hat. Noch heute wirst du den Palast verlassen und nicht eher wiederkehren, als du drei Menschen gefunden hast, die dich ehrlich und aufrichtig lieben! Du wirst nicht als Prinzessin nach draußen gehen. Du wirst keine Diener haben. Nur so wirst du zeigen können, dass die Menschen dich und nicht deinen Titel oder deinen Reichtum lieben!“
„Aber Vater…“
„Keine Widerworte! Dies ist ein Befehl und du wirst ihn befolgen!“, rief der Radscha und schlug mit der Faust auf die Lehne seines Thrones.
Shirin zuckte zusammen. Nie zuvor hatte ihr Vater so mit ihr geredet. Wütend, verständnislos und auch ein wenig ängstlich senkte sie den Kopf und schloss die Augen.
Wenig später schloss sich das schwere Tor des Palastes hinter ihr. Unsicher trottete Shirin die ausgetrocknete Straße zur Stadt hinunter. Ihre feinen Kleider hatte sie nicht abgelegt, wie es ihr Vater empfohlen hatte. Sie würde doch nicht in Lumpen herumlaufen! Nur ihr kostbares Diadem und ihren Schmuck hatte sie in ihrem Gemach im Palast gelassen.
Sie wanderte durch die engen Gassen der Stadt, sah die ausgemergelten Menschen und beeilte sich, von ihnen und aus der Stadt wegzukommen. Doch wo sollte sie nur hin? Und wo sollte sie Menschen finden, die sie wirklich liebten? War es denn tatsächlich so, dass es niemanden gab, der sie ehrlich und aufrichtig liebte? Welch ein Unsinn, den dieser vermaledeite Guru ihrem Vater eingeflüstert hatte! Pah, und wie erbarmungslos ihr Vater gewesen war. Nicht ihr Wüten, nicht ihr Betteln, nicht ihr Heulen hatte ihn erweichen können. Unnachgiebig hatte er sie vor die Tür gesetzt. Sie fluchte, doch alles Fluchen, alles Jammern half nun nichts mehr. Ganz allein war sie hier draußen und hatte niemanden, an den sie sich wenden konnte. Ihre Füße waren geschwollen, ihre gepflegte helle Haut bald von der Sonne verbrannt, der mit Wasser gefüllte Schlauch, den sie mitbekommen hatte, leergetrunken.
Die Nacht brach herein, und da sie nirgends ein Haus entdecken konnte, legte sie sich unter einen Baum, dessen Äste kahl waren, obwohl er sonst zu dieser Zeit viele Blätter trug. Der Boden war hart, der Stamm knorrig. Mücken umschwirrten und stachen sie zuhauf. Wie sehr sie sich da nach Hause sehnte in ihr Gemach, in ihr weiches Bett! Eine kleine Träne floss ihr über die Wange und tropfte zu Boden.
Die heißen Strahlen der Sonne weckten sie aus unruhigem Schlaf. Sie rieb sich die Augen, stand auf und klopfte sich den Staub aus ihren feinen Gewändern. Wie dreckig sie war! Und Hunger hatte sie! Im Palast hatte man ihr knackiges Obst und frische Milch ans Bett gebracht. Hier gab es nichts. Nur vertrocknete Erde, verdorrte Bäume und Staub. Mit hungrigem Magen machte sich Shirin auf und gelangte bald in ein Dorf.
Sie klopfte an die Türe des ersten Hauses, die von einem hageren Mann geöffnet wurde. Er trug kein Obergewand, sodass man seine heraustretenden Rippen sehen konnte. Er musste schon seit längerem Hunger leiden. Neugierig musterte er die junge Frau, die vor seiner Türe stand, sah ihre feinen Kleider, ohne in ihr die Tochter des Radschas zu erkennen.
„Gib mir zu essen! Ich habe Hunger!“, befahl die Prinzessin.
Der Mann legte den Kopf etwas schief und beäugte die Frau. Dann brach er in schallendes Gelächter aus.
„Was ist?“, fragte Shirin barsch. „Gib mir was zu essen!“
Der Mann beruhigte sich, wurde ernst und sagte: „Selbst wenn ich etwas zu essen hätte, würde ich es niemandem mit solch feinen Kleidern und einem derart unhöflichen Ton geben. Aber ich habe sowieso nichts.“
„Wie sprichst du eigentlich mit mir?“, empörte sich die Prinzessin und sie wollte hinzufügen, ob er denn wisse, wen er vor sich habe, aber da fiel ihr ein, dass das Volk gerade ziemlich wütend auf ihren Vater war, und sie ließ es bleiben.
„Und wie sprichst du mit mir?“, fragte der Mann zurück. „Versuch es anderswo, mein Kind. Und versuche es in einem anderen Ton.“
Damit schlug er die Tür vor der Nase der Prinzessin zu und ließ das hungrige Mädchen wütend und verzweifelt zurück. Sie klopfte an andere Türen, sprach die Händler auf den Straßen und die Bauern auf den verkümmerten Feldern an, zuerst herrisch, dann immer kleinlauter und schließlich bettelnd und flehend, doch niemand wollte ihr etwas zu essen, niemand ihr etwas zu trinken geben. Da wurde Shirin immer verzweifelter, denn der Hunger nagte an ihr und der Durst quälte sie von Stunde zu Stunde mehr. Und jemanden, der sie liebte, konnte sie auch nicht finden. Im Gegenteil, die Menschen schlugen die Türen vor ihr zu und wendeten sich von ihr ab.
So vergingen auch der nächste Tag und der darauffolgende. Nirgends gab es einen Menschen, der sie liebte, nirgends einen, der ihren Hunger und Durst lindern wollte. Ihr Hochmut verflog wie ihr Stolz und schon bald begann sie, den Schweinen das Futter aus den Trögen zu klauen und heimlich fremde Ziegen zu melken, damit sie überhaupt etwas zu sich nehmen konnte.
Am Abend des dritten Tages wankte sie schwach, traurig und allein durch einen Wald, als ein Mann sie einholte und sie neugierig musterte.
„Eine wunderschöne Frau in solch kostbaren Kleidern ganz allein in diesem Wald? Das wundert mich sehr!“, sagte der Mann.
Shirin blieb stehen und betrachtete ihn von oben bis unten. Er hatte klare, dunkle Augen, dichtes, schwarzes Haar und einen ebenso schwarzen Bart. Er trug ein weites Gewand, welches um die Hüfte von einem Gürtel zusammengehalten wurde, in dem ein Dolch steckte. Shirin staunte, denn dieser Mann war der erste wohlgenährte Mensch, dem sie seit ihrem Aufbruch vom Palast begegnet war.
„Deine Eltern scheinen reich zu sein, wenn sie dir solche Kleider kaufen können“, sagte der Mann.
„Ja, das sind sie wohl“, entgegnete die Prinzessin verlegen. „Hungern muss ich dennoch. Aber wer seid ihr, dass ihr so satt und gar nicht vom Hunger geplagt ausseht?“
„Ha“, lachte da der Mann. „Ich führe ganz einfach ein florierendes Geschäft.“
„Und was ist das für ein Geschäft?“
„Nun, meine Männer und ich rauben reichen Eltern ihre Kinder und geben sie für ein sattes Lösegeld wieder zurück!“
Und ehe Shirin verstand, was der Mann gesagt hatte, hatte dieser schon einen großen Sack hervorgezogen, ihr übergestülpt und sie grob über seine Schulter geworfen. Sie schrie und strampelte und schlug um sich, doch hier draußen im Wald hörte sie niemand. Sie wurde davongetragen, ohne etwas dagegen tun zu können. Irgendwann gab sie ihren Widerstand auf und lag stumm und schwer über der Schulter, bis sie abgesetzt und ihr der Sack abgezogen wurde. Shirin erschrak. Zehn oder noch mehr Männer standen grinsend und lachend um sie herum. Sie hatten Fackeln und Dolche in ihren Händen und allesamt sahen sie nicht so aus, als könne man mit ihnen spaßen. Breite Schultern hatten sie und wilde Bärte. Shirin saß am Boden und blickte sich hilflos, panisch um. Was wollten die nur von ihr? Wo war sie überhaupt? Es musste eine Höhle sein, denn dunkles Gestein wölbte sich über sie.
„Wie heißt du?“, fragte einer der Männer.
„Sh…Shirin“, stammelte die Prinzessin. „Was wollt ihr von mir?“
„Shirin bedeutet die Schöne“, sagte der Mann. „Ja, das bist du wohl. Nun würde uns nur noch interessieren, wer dir denn solch wunderschöne und kostbare Kleider kauft. Deine Eltern müssen sehr großzügig sein.“
Er brach in schallendes Gelächter aus und die anderen stimmten aus tiefen Kehlen mit ein. Dann richteten sie wieder ihre wilden Blicke auf die am Boden kauernde Prinzessin.
„Also, raus mit der Sprache! Wer sind deine Eltern?“
„Ich… Meine Eltern sind tot“, stammelte Shirin.
„Tot?“, der Mann beäugte sie misstrauisch.
Shirin lächelte gequält. „Deswegen war ich ja auch alleine unterwegs.“
„Soso, eine reiche Waise also. Und von wem können wir dann das kleine nette Sümmchen erwarten, das es kosten wird, wenn wir dich wieder freilassen sollen?“
„Von niemandem“, antwortete Shirin heiser. „Ich habe niemanden und habe auch kein Geld.“
„Jaja, das sagen sie alle, wenn sie hierherkommen. Du wirst dich schon noch an deine Eltern erinnern, wenn du erst einmal ein paar Tage angekettet in unserer feuchten Höhle gelegen bist“, rief da der Mann und wieder brachen sie alle in garstiges Gelächter aus.
Sie packten Shirin, schleiften sie in die hinterste Ecke der Höhle, schlossen eine schwere Kette um ihren Fuß und ließen sie liegen. Höhnisches Lachen hallte durch die Höhle und später, als es Nacht wurde, wilde Gesänge und derbe Sprüche. Die Räuber feierten, während Shirin auf kaltem Boden kauerte und leise weinte.
„Wer bist du?“
Shirin zuckte zusammen. Wer war das? Unter einer dreckigen Decke regte sich etwas und ein kleines Köpfchen mit gekräuseltem Haar lugte hervor. Große runde Augen schauten sie neugierig an. Dann griffen dünne Hände nach der Decke, zogen sie weg und ein kleines Mädchen kam zum Vorschein. Shirin war so sehr mit sich selbst und in ihrem Schicksal beschäftigt gewesen, dass sie nicht bemerkt hatte, dass neben ihr noch ein Mensch lag.
„Shirin“, flüsterte sie. „Und wer bist du?“
„Ich bin Marjanna“, sagte das Mädchen und lächelte.
„Hab dich die Räuber auch…?“
Marjanna nickte traurig und ließ den Kopf hängen. „Schon vor vielen Wochen haben sie mich entführt. Aber mein Vater will kein Lösegeld für mich bezahlen und lässt mich lieber hier versauern.“
„Hat er denn überhaupt genug Geld?“, fragte Shirin.
„Er hat mehr als genug“, schluchzte das Mädchen und fing an zu weinen. „Er hat mich einfach nur nicht lieb!“
„Mich hat auch niemand lieb“, wisperte Shirin, und als das Mädchen nicht aufhören wollte zu weinen, zog sie es zu sich her, streichelte ihr über den Kopf und meinte: „Komm, ich erzähle dir eine Geschichte. Dann musst du nicht mehr weinen.“
Geschichten kannte Shirin wahrlich genügend, denn als kleines Kind wurde ihr täglich eine erzählt und manchmal auch vorgespielt. Marjanna legte ihren Kopf in Shirins Schoß und die Prinzessin begann, eine wundervolle und lustige Geschichte zu erzählen, sodass das kleine Mädchen immer wieder kichern musste. Irgendwann kicherte es aber nicht mehr, denn es war friedlich eingeschlafen. Shirin streichelte ihr über die Wange und saß noch lange wach.
„Die Geschichte war wunderschön!“, sagte Marjanna am nächsten Morgen und lächelte Shirin glücklich an. „Es war die erste Nacht in dieser Höhle, in der mich keine bösen Träume verfolgt haben.“
„Dann erzähle ich dir jetzt jeden Abend eine Geschichte“, meinte Shirin, woraufhin das Mädchen freudestrahlend in die Hände klatschte und sich der Prinzessin um den Hals warf. Und so erzählte Shirin jeden Abend eine neue Geschichte, während sich Marjanna dicht an sie herankuschelte, friedlich einschlummerte und Shirin ihr über die weiche Wange strich. Diese Momente waren glückliche Augenblicke.
Doch der Rest des Tages war schrecklich in der Höhle. Die Räuber waren grob und widerwärtig. Sie traten nach Marjanna und manchmal schlugen sie Shirin ins Gesicht, wenn sie wieder und wieder sagte, dass ihre Eltern tot seien.
„Sind deine Eltern wirklich tot?“, fragte Marjanna eines Abends.
Shirin lächelte sie geheimnisvoll an und legte verschwörerisch den Zeigefinger auf ihre Lippen.
„Komm ganz nah her, dann flüstere ich dir ein Geheimnis ins Ohr. Aber du darfst es niemandem, wirklich niemandem weitererzählen!“
Marjanna kroch ganz dicht zu ihrer neuen Freundin und da erzählte Shirin ihr, dass ihre Eltern in Wahrheit gar nicht tot waren, sondern sie die Tochter des Radschas war. Marjanna staunte nicht schlecht und starrte Shirin mit großen Augen an. Damit hatte sie sicher nicht gerechnet.
„Dann bist du eine Prinzessin?“, fragte sie strahlend.
„Das bin ich“, antwortete Shirin. „Aber das darfst du denen auf keinen Fall erzählen, ja?“
Marjanna nickte eifrig und legte wie zuvor Shirin den Zeigefinger auf die Lippen. Sie hatten jetzt einen Geheimbund.
„Aber wie konnten sie dich dann fangen? Hast du keine Wachen und Soldaten, die dich beschützen?“
Ein Schatten legte sich auf das hübsche Antlitz der Prinzessin. Zuerst schwieg sie, dann erzählte sie langsam und traurig, wie der Guru die Schuld für die Dürre bei ihr gefunden hatte, wie sie vom Palast verwiesen worden war, wie sie hilflos und allein durch Dörfer geirrt war und niemanden gefunden hatte, der sie mochte und der ihr zu trinken geben wollte. Eine kleine Träne kullerte über ihre Wange, als sie ihre Geschichte zu Ende gebracht hatte. Marjanna schaute sie aus traurigen Augen tief und lange an, dann drückte sie sich ganz fest an Shirin, so fest sie nur konnte, und rief: „Es mir gleich, was andere Menschen über dich sagen. Ich jedenfalls mag dich! Seit du hier bist, habe ich wieder ein wenig Hoffnung!“
Marjannas Worte legten sich wie ein warmer Mantel um Shirins Herz. Sie schloss das kleine Mädchen fest in ihren Arm, murmelte kaum hörbar einen Dank und schon brach sie in heftige Tränen aus. In dieser Nacht war es nicht Shirin, die Marjanna eine Geschichte erzählte, jetzt hatte die Prinzessin ihren Kopf in den Schoß des kleinen Mädchens gelegt und lauschte dessen verzauberten Worten.
Der nächste Tag brachte schlimmes Unheil über die Räuberbande. Mit finstren Mienen kehrten sie von einem Raubzug zurück. Doch nicht alle, denn zwei der ihren waren getötet worden. Ein anderer war schwer verletzt worden. Ein Schwert war ihm tief in den Oberschenkel gefahren und hatte eine klaffende Wunde hinterlassen. Bei jeder Bewegung schrie der Mann fürchterlich und rotes Blut schwappte aus der Wunde heraus. Sie legten ihn zu Shirin und Marjanna, gaben ihm zu trinken und ließen ihn liegen. Es war Nasim, ein Räuber mit noch jugendlichen Zügen, der nicht so harsch und grob war wie die anderen.
Die Tage vergingen und keiner der Räuber kümmerte sich um den Verletzten. Sie brachten Essen und Trinken, doch dann gingen sie wieder. Der Zustand Nasims verschlimmerte sich täglich. Eiter drang aus der Wunde, deren Ränder flammend rot entzündet waren. Nasim war bald kaum mehr ansprechbar, schwitzte und schrie im Fieberwahn und schlug im Traume wild um sich. Shirin wollte ihm helfen, doch ihre kurze Kette erlaubte es ihr nicht, bis zu ihm zu kriechen.
Eines Tages kamen die Räuber, begutachteten den vor ihnen liegenden Nasim und sagten: „Er bringt uns nichts mehr. Gesund wird er ohnehin nicht mehr. Es ist besser, wir töten ihn jetzt und ersparen ihm das Elend hier.“
Daraufhin zog einer der Räuber sein Schwert, um den Verletzten zu töten, doch Shirins schriller Schrei ließ ihn innehalten.
„Nein! Ihr dürft ihn nicht töten!“, kreischte sie. „Das dürft ihr nicht!“
„Seit wann sagst du uns, was wir dürfen und was nicht?“, höhnte der Räuber.
„Bitte“, flehte Shirin. „Ich kann ihm helfen. Ich kann ihn heilen, wenn ihr mir nur sauberes Wasser und alle Kräuter, die ich brauche, bringt. Dann wird er bald wieder gehen und mit euch räubern können.“
Die Räuber zögerten, doch dann willigten sie ein. Sieben Tage gaben sie ihr; wenn bis dahin keine Besserung in Sicht wäre, würden sie ihn töten müssen. Sie brachten ihr die Kräuter und Pflanzen, nach denen sie fragte, legten Nasim neben die Prinzessin und sie begann, aus den Kräutern Salben zu mischen, die sie auf die Wunde auftrug, nachdem sie sie gewaschen hatte. Jeden Tag salbte sie das Bein mit einer neuen Mixtur und schon bald zog sich die Schwellung zurück. Am siebten Tage sahen die Räuber, dass es Nasim besser ging. Er fieberte nicht mehr und war wieder öfters bei Sinnen. Da ließen sie ihn leben und sagten zu Shirin, sie solle ihn weiter pflegen. Allmählich heilte die Wunde und schon bald konnte Nasim wieder erste Schritte machen. Als Shirin ihm eines Tages den Verband am Bein wechselte, schaute er sie lange an. Dann zog er sie zu sich heran und nahm sie fest in den Arm.
„Du hast mir mein Leben gerettet, Shirin. Das werde ich dir immer danken!“, sagte er.
Shirin lächelte ihn an und spürte, wie ihr Herz vor Freude klopfte.
Doch es vergingen nicht wenige Tage, da trat der Räuberhäuptling vor Shirin. Nasim lag nicht mehr bei ihr, da er wieder gehen konnte. Der Häuptling packte sie grob bei der Schulter, presste sie gegen die Wand und zog einen langen Dolch.
„Da du uns jeden Tag glauben machen willst, du hättest keine Eltern und keine Verwandten, von denen wir unser Lösegeld bekommen können, hast du keinen Wert für uns“, sagte er und klang dabei fast gleichgültig.
„Darf… darf ich dann gehen?“, fragte Shirin.
„Ha!“ Der Räuber grinste spöttisch. „Ja, du darfst von uns gehen, denn ich werde dich töten.“
„Nein! Nein!“, schrie Marjanna, die bisher still am Boden gelegen hatte. „Ihr dürft sie nicht töten!“
„Wenn ich sie töten will, dann werde ich sie auch töten“, tönte der Räuber und setzte die Spitze des Dolches an Shirins Kehle.
„Nein! Tut es nicht!“, flehte Marjanna. „Sie ist doch die Tochter des Radschas!“
Augenblicklich zog der Räuber seinen Dolch zurück, schaute triumphierend zu Marjanna, dann zu Shirin und lachte frohlockend.
„Schau an, schau an! Das ging ja leichter als gedacht. Die Tochter des Radschas? Wenn das wahr ist, dann war das wohl der Fang unseres Lebens!“
Ja, es war wahr. In dieser Nacht feierten die Räuber ein rauschendes Fest. Bis in die frühen Morgenstunden schallten ihre frohen Hymnen zu Marjanna und Shirin. Noch vor Sonnenaufgang eilte einer der Räuber zum Palast des Radschas und überbrachte die Nachricht von der Gefangenschaft der Prinzessin und die Lösegeldforderung. Niemand im ganzen Reich mit Ausnahme des Radschas hätte so viel Geld aufbringen können, wie die Räuber forderten. Paläste konnte man davon bauen, ganze Städte. Selbst den herrschaftlichen Hof würde diese Summe an den Rand des Ruins treiben. Doch der Radscha, der seit dem spurlosen Verschwinden seiner Tochter voll Sorge krank, grau und tatenlos im Bett gelegen war, sprang auf und befahl seinem Schatzmeister, die letzte Münze aufzutreiben, um das Lösegeld zusammenzubringen.
Sie trafen sich an einem ausgetrockneten Flussbett, dessen Ufer steil abfielen – auf der einen Seite die Räuber, auf der anderen der Radscha mit seinem Gefolge.
„Tu es nicht, Vater!“, schrie die Prinzessin herüber. „Ich bin es nicht wert, dass du dein Reich an den Bettelstab bringst!“
„Du wärst das ganze Reich wert!“, rief der Radscha zurück und stieg zusammen mit zwei Dienern, die die schwere Goldtruhe trugen, in der das Lösegeld aufbewahrt wurde, in das Flussbett hinunter.
„Wenn ihr schon so viel Geld für mich bekommt“, sagte Shirin zum Räuberhäuptling, „dann lasst wenigstens auch Marjanna frei.“
„Weil heute ein Jubeltag ist, soll es so sein“, gelobte der Räuber feierlich und stieg zusammen mit Shirin, Marjanna und einem weiteren Räuber hinunter.
Unten standen sie sich gegenüber – der Radscha und die Räuber. Die Diener übergaben die Truhe und die Räuber übergaben die beiden jungen Frauen. Shirin stürzte in die Arme ihres Vaters, der sie an sich drückte, sie auf Stirn und Wange küsste, wieder drückte und nicht mehr loslassen wollte.
„Mein Augapfel!“, rief er. „Ich habe meinen größten Schatz wieder! Wie hast du mir gefehlt, meine Tochter! Ich liebe dich! Ich liebe dich!“
Der Tropfen, den Shirin da auf ihrer Schulter spürte, war keine Träne ihres Vaters. Er war eine Träne des Himmels. Shirin blickte nach oben und ja, tatsächlich, es begann zu tröpfeln, es begann zu regnen. Es regnete wieder. Und wie es da zu regnen begann! Der Himmel öffnete seine Schleusen und Sturzbäche kamen herabgestürzt. Der Regen prasselte nur so hinunter und verwandelte das ausgetrocknete Flussbett im Nu in einen reißenden Strom. Der Radscha, seine Tochter, Marjanna und die beiden Diener konnten sich gerade noch ans Ufer retten, doch die beiden Räuber mühten sich vergeblich, die Goldtruhe das steile Ufer nach oben zu schleppen. Zu schwer war das Gold. Und so riss der Fluss die beiden Männer mitsamt der Truhe hinfort. Keiner der Männer wurde jemals wieder lebend gesehen.
Die Bauern jedoch, die an dem Fluss lebten, rannten aus ihren Häusern, um den Regen zu loben. Sie rannten an den Fluss, um ihn endlich wieder lebend zu sehen. Aber der Fluss brachte nicht nur Wasser, er brachte ihnen auch Gold in Hülle und Fülle. Da bejubelten sie den Radscha und priesen die Götter, denn sie hatten ihnen nach der langen Dürre, nach Hunger und Tod, Leben und Reichtum geschenkt.
Shirin kehrte als gewandelte Prinzessin in den Palast zurück. Ein anderer Mensch sei sie, hörte man die Menschen flüstern. Sie war gut und gerecht und lachte mit ihren Dienern. Und schon bald wurde sie nicht nur von Marjanna, Nasim und dem Radscha geliebt. Bald liebten alle die bezaubernde, wunderschöne Shirin.
Texte: Alle Rechte liegen beim Autor
Tag der Veröffentlichung: 07.12.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Beitrag zum Wettbewerb "Märchen aus 1001 Nacht"