„Unsere Kindergärtnerin hat gesagt, dass Weihnachten das Fest der Liebe ist. Was bedeutet das, Mama?“, fragte Juliane und zog sich die wärmende Decke bis ans Kinn.
Ihre Mutter saß auf der Bettkante und lächelte sie liebevoll an.
„An Weihnachten hat uns der liebe Gott das Jesuskind geschickt, und Jesus hat uns Menschen Gottes Liebe gebracht. Deshalb geben wir diese Liebe an Weihnachten an unsere Mitmenschen weiter. Wir rücken ein wenig enger zusammen und tun Gutes. Dein Papa und ich spenden zum Beispiel jedes Jahr an Weihnachten Geld, um armen Kindern in Afrika zu helfen.“
„Dann ist Weihnachten ein schönes Fest, wenn sich da alle liebhaben“, sagte Juliane.
Die Mutter gab ihrer Tochter einen Kuss auf die Stirn, streichelte ihr über das Haar und flüsterte ihr „Gute Nacht“ ins Ohr. Juliane kuschelte sich in die Decke und als sie einschlief, stand ihr ein kleines Lächeln im Gesicht. Ja, sie mochte Weihnachten.
Was war das nur für eine herrliche Welt! Julianes staunende Augen glitzerten vor Freude, und in ihnen glitzerten die Lichterketten, Laternen, Kerzen und das große Feuer, das auf dem Marktplatz entzündet worden war. Nicht weit davon stand eine riesige, prachtvoll geschmückte Tanne. Dutzende, hunderte Lichter strahlten ihr vom Baum entgegen. Wo sie auch hinschaute, überall leuchtete und blinkte es in allen Farben. Mit offenem Mund stand Juliane auf dem Platz und konnte gar nicht genug bekommen von dieser hellen Freude.
Zwischen den Buden des Weihnachtsmarktes drängten sich die Menschen. Manche standen mit fröhlich roten Wangen am Glühweinstand, andere schoben sich gestresst und mit mürrischen Mienen durch die Menschenmassen. Juliane hätte diesen Miesgelaunten am liebsten entgegengerufen, dass doch jetzt das Fest der Liebe sei und sie sich daran erfreuen sollen, aber die ernsten Gesichter wirkten nicht so, als würden sie auf Julianes Worte hören wollen.
Vor einem mit Tannenzweigen, Sternen und Lichterketten bunt geschmückten Schaufenster saß ein Mann mit einer Ziehharmonika in einem Rollstuhl. Er hatte nur ein Bein und einen langen ungepflegten Bart. Seine Gesichtszüge wirkten ausgezehrt und harsch, doch ein magischer Zauber strömte von seinem Spiel und Gesang aus, sodass Juliane lange stumm lauschend vor ihm stand und die glitzernde Welt um sich vergaß. Als ihre Mutter sie weiterziehen wollte, fragte sie, ob sie dem Mann nicht ein wenig Geld in das Körbchen werfen dürfe. Natürlich, sagte die Mutter, es sei doch schließlich Weihnachten, und drückte ihrer Tochter ein paar Münzen in die kleine Hand. Juliane ging langsam nach vorne und warf das Geld in das Körbchen. Der Mann nickte und lächelte kurz, bevor er sich wieder in sein magisches Spiel vertiefte.
Sie gingen in ein großes Kaufhaus, wo Mutter noch ein paar Geschenke kaufen wollte. Hier war alles noch viel bunter und greller und leuchtender und glitzernder als draußen, aber die Menschen blickten noch grimmiger und überhaupt nicht fröhlich drein. Und so war Juliane froh, als ihre Mutter endlich mit ihren Einkäufen fertig war und sie wieder nach draußen konnten.
Neben dem Eingang kniete eine dunkle Gestalt, die ihnen ihre ineinandergelegten offenen Hände entgegen reckte. Trübe Augen in tiefen Höhlen blickten sie flehend und bittend an. Die Gestalt war ein Mann mit glattem, dunklem Haar und eingefallenen Wangen. Alles an ihm war hager und dünn – das Gesicht, der Hals, die Finger. Er trug einen abgetragenen Mantel, der nicht warm war. Unter seine Knie hatte er ein kleines Kissen gelegt, damit er nicht so hart knien musste. Stumm streckte er Juliane seine bettelnden Hände entgegen, doch Julianes Mutter riss sie rasch fort.
„Der Mann sieht ganz traurig aus“, sagte das kleine Mädchen und wurde beim Anblick des hageren Bettlers selbst ganz traurig. „Kann ich ihm denn nicht auch ein bisschen Geld geben, Mama? Es ist doch das Fest der Liebe.“
„Nein, diesem darfst du kein Geld geben!“, antwortete ihre Mutter streng.
„Aber warum denn nicht?“
„Weil diese Leute, die da stumm kniend betteln, von irgendwelchen Kriminellen aus Osteuropa oder woher auch immer hierhergebracht werden, wo sie für diese Verbrecher betteln müssen. Wenn du ihm Geld gibst, dann muss er es nur wieder abgeben und du hast das Geld nicht jemandem gegeben, der es braucht, sondern einem Kriminellen.“
Da wurde Juliane noch trauriger. „Für ihn ist das Weihnachten kein Fest der Liebe, oder?“
„Ha!“, lachte die Mutter. „Hier jedenfalls nicht. Und zudem machen sie die schöne Stimmung kaputt. Aber er hat bei sich zu Hause sicher eine Familie, mit der er dann auch das Fest der Liebe feiern kann. Komm jetzt!“
Eine Woche später waren sie wieder in der bunt und fröhlich glitzernden Stadt, weil Julianes Mutter nicht alle Geschenke gefunden hatte. Diesmal hetzten noch viel mehr Menschen mit ernsten Mienen zwischen den Marktbuden, über die Rolltreppen der Kaufhäuser und durch die Straßen der Altstadt. Sie hatten die Krägen ihrer Mäntel nach oben geklappt und die Köpfe tief eingezogen, denn ein kalter Wind wehte seinen eisigen Atem durch die Stadt.
Dick eingemummt und mit einer wollenen roten Mütze auf dem Kopf stand Juliane auf dem Marktplatz und beobachtete fasziniert ein Pärchen, das vollkommen reglos vor der großen Weihnachtstanne stand. Das Paar war silbern. Alles an ihm war silbern – die Schuhe, die Hosen und Jacken, die Hände, das Gesicht, die Zylinder auf ihren Köpfen. Immer wenn ein Passant eine Münze in die Dose, die vor den beiden auf dem Boden stand, warf, kam plötzlich Leben in die Silbermenschen. Mechanisch bewegten sie ihre Arme, ihren Kopf, manchmal machten sie lustige Gesten, manchmal lächelten sie und manchmal verdüsterten sich ihre Mienen. Dann, mit einem Male, erstarrten sie wieder, als hätte ihnen jemand die Batterie entfernt.
„Darf ich auch eine Münze einwerfen?“, flüsterte Juliane ihrer Mutter zu.
„Selbstverständlich“, antwortete diese und kramte in ihrer Geldbörse.
Ehrfurchtsvoll trat Juliane aus dem Halbkreis, der sich um das silberne Paar gebildet hatte, heraus und warf schüchtern das Geldstück in die Dose. Da zuckte ein Arm, da hob sich ein Kopf, die Silberfrau winkte mit langsamen, abgehackten Bewegungen Juliane zu und der Silbermann lächelte sie freundlich an. Juliane lächelte zurück und verschwand rasch wieder in der Menschenmenge. Ein wenig unheimlich waren die beiden ihr dann doch.
Im großen Kaufhaus, das nun noch voller war als das Mal zuvor, konnte ihre Mutter wieder nicht alle Geschenke finden, weshalb sie immer mürrischer wurde.
„Weihnachten ist ein einziger Stress!“, klagte sie, was Juliane nicht ganz verstand, denn für sie war Weihnachten das Fest der vielen Lichter, der Marktbuden und natürlich der Liebe.
Vor dem Kaufhaus sah sie wieder die dunkle Gestalt. Sie kniete an derselben Stelle wie beim letzten Mal. So, als habe sie sich nie gerührt. Der eisige Wind fuhr in das schwarze Haar des Mannes und zerzauste es. Stumm reckte er wieder seine offenen Hände dem kleinen Mädchen und ihrer Mutter entgegen. Juliane sah, wie sehr sie zitterten.
„Mama!“ Juliane zerrte aufgeregt am Mantel ihrer Mutter. „Darf ich ihm heute ein wenig Geld geben. Schau nur, wie er zittert!“
Doch ihre Mutter nahm sie nur wieder fest an der Hand, zog sie fort und sagte überhaupt nicht liebevoll: „Nein, das darfst du nicht. Ich hab’s dir das letzte Mal schon erklärt! Und schau, der Straßenmusiker und die Bewegungskünstler machen wenigstens etwas, damit sie ein wenig Geld bekommen. Er hier kniet nur stumm und anklagend da und hofft auf unsere Mildtätigkeit!“
„Aber die Kinder in Afrika, denen du und Papa Geld schickt, die tun doch auch nichts dafür, dass sie das Geld bekommen, oder?“, fragte Juliane.
„Das ist doch etwas ganz anderes!“, fuhr ihre Mutter sie an und das Gespräch war beendet.
Jetzt war bald Heilig Abend. Nur ein paar Tage noch! Juliane war schon ganz aufgeregt. Was würde sie wohl geschenkt bekommen? Die Kerzen auf dem Adventskranz brannten, die Fenster waren mit Engeln und Sternen geschmückt und Juliane durfte sich jeden Tag mit Plätzchen vollstopfen. Weihnachten war toll!
Nur ihre Mutter wurde von Tag zu Tag gestresster. Noch immer hatte sie nicht alle Geschenke beisammen, weshalb sie noch einmal in die Stadt mussten. Juliane freute sich schon auf alle die Lichter und Marktbuden, auf die fröhlichen Menschen, auf die weihnachtliche Stimmung, die überall in der Luft lag. Jetzt schneite es sogar noch dicke, weiße Flocken. Doch die Menschen wirkten nicht mehr fröhlich. Nun hetzten fast alle rücksichtlos aneinander vorbei und schauten sich grimmig an, wenn jemand im Weg stand. Diese wundersame Weihnachtszeit schienen sie nicht zu genießen, ja, nicht einmal wahrzunehmen.
An einem honiglich duftenden Stand wünschte sich Juliane eine Kerze, die sie sogleich anzünden ließ. Ganz vorsichtig musste sie nun über den Weihnachtsmarkt gehen und mit ihrer Hand das kleine Flämmchen vor Schnee und Wind beschützen. An einem anderen Stand kaufte ihr ihre Mutter einen mit Schokolade überzogenen Lebkuchen, der sie so dick und herzhaft anlachte, dass sie am liebsten sofort hineingebissen hätte. Doch sie hob ihn auf und schob ihn in ihre Manteltasche.
Vor dem Kaufhaus war ein Stand aufgebaut, an dem man selbstgefertigte Holzspielsachen kaufen konnte. Julianes Mutter stöberte ausführlich, weil sie noch ein Geschenk für ihr Patenkind brauchte. Da entdeckte das kleine Mädchen wieder den dunklen Mann, der schlotternd in seinen dünnen Mantel gewickelt an seinem Platz vor dem Kaufhaus kniete und den achtlos vorbeieilenden Menschen seine leeren Hände hinstreckte. Auf seinem Kopf hatte sich eine dünne Schneeschicht gebildet. Seine Lippen waren bereits ganz blau und zitterten unentwegt.
Mit sicheren Schritten ging Juliane auf den Bettler zu. Traurige, flehende Augen blickten sie an. Sie nahm ihre Kerze und stellte sie in die offenen Hände des Mannes.
„Fröhliche Weihnachten!“, sagte sie und lächelte ihn an. Dann zog sie den Lebkuchen aus ihrer Manteltasche und gab ihn dem Mann.
Mit großen Augen schaute der Mann das vor ihm stehende Mädchen lange an. Dann lächelte er traurig und doch fröhlich zugleich, während sich ein feuchter Schimmer auf seine Augen legte. Die hohlen Wangen, das leere Gesicht, die tiefliegenden Augen wurden plötzlich von einer Freude erhellt, die so warm war, so ehrlich, aus tiefster Seele heraus, dass Juliane sie nie wieder vergessen würde.
„Danke“, flüsterte der Mann, packte sie bei den Schultern und zog sie zu sich. Er drückte sie ganz fest an sich, und sie spürte die Kälte seines Körpers und die Wärme seiner Dankbarkeit. „Danke!“
„Was machen Sie mit meinem Kind! Lassen Sie mein Kind los!“, herrschte Julianes Mutter den Bettler an, der rasch seine Hände fortzog und schüchtern seinen Blick senkte. Am starken Arm der Mutter wurde Juliane weggerissen und zum nahestehenden Auto geschleift.
„Was hast du dir dabei nur gedacht?!“, fragte ihre Mutter, während sie Juliane das Gesicht wusch. „Er hat dich ganz dreckig gemacht!“
Juliane aber hörte gar nicht, was ihre Mutter sagte. Sie hatte die Freude des Mannes gesehen, seine tiefe Dankbarkeit gespürt. Still und glücklich lächelte sie, während der Waschlappen grob über ihre Wange fuhr.
Tag der Veröffentlichung: 21.11.2010
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