Wedelnd hielt sie mir die aufgeschlagene Zeitschrift der Airline unter die Nase. „Zitate und Aphorismen übers Reisen“ stand da in dicken Lettern und darunter folgten eine Reihe kluger und auch weniger intelligenter Sprüche über das Reisen. „In der Fremde ist niemand exotischer als der Fremde selbst“, meinte zum Beispiel Ernst Bloch und Tucholsky gab zum Besten: „Die größte Sehenswürdigkeit, die es gibt, ist die Welt – sieh sie dir an.“ Goethe wiederum war der Ansicht, dass man nicht reise, „nur um anzukommen, sondern vor allem, um unterwegs zu sein“. Der Mann hat Nerven, dachte ich mir, und rutschte gequält in meinem engen Sitz herum, der nun schon seit mehreren Stunden mein Zuhause war. Da sprang mir der gute Fontane ins Auge, der natürlich ebenfalls etwas beizusteuern hatte. „Wer reisen will, muss zunächst Liebe zu Land und Leute mitbringen, zumindest keine Voreingenommenheit. Er muss guten Willen haben, das Gute zu finden, anstatt es durch Vergleiche tot zu machen.“ Ich schloss die Augen, damit Sabine, die erwartungsvoll neben mir saß, nicht sehen musste, wie ich sie verdrehte.
„Lies dir das durch!“, sagte sie und klopfte mit ihrem Zeigefinger nachdrücklich auf ein Zitat weiter unten auf der Seite.
Ich las: „Das Reisen führt uns zu uns zurück“ (Albert Camus).
„Ist es nicht so?“, fragte sie und schaute mich dabei freudig und zugleich tief traurig an. „Unsere Reise führt uns zu unserem Ausgangspunkt zurück.“
Unsere Blicke trafen sich und wir verharrten lange in nachdenklicher Stille. Ihre Augen schimmerten leicht, als sich Tränen in ihnen sammelten. Dann hustete sie heftig. Sie war blass.
„Sie ist Rückkehr, sie ist Endpunkt und…“ Ich versuchte zu lächeln, was mir nur bruchstückhaft gelang. „…und sie ist der Beginn einer neuen Reise.“
Dann schwiegen wir lange gemeinsam. Sabine schaute durch die kleine Luke hinab, wo in weiter Tiefe Afrika unter uns vorbeizog.
Der Flughafen mit seinen hunderten und tausenden Stimmen, schreienden Kindern und sich küssenden Erwachsenen, stumm Wartenden und hektisch Eilenden sog uns wie ein Strudel in sich auf, bis er uns endlich, nachdem wir unser Gepäck ergattert hatten, wieder ausspuckte, direkt in ein Taxi, dessen Fahrer nicht minder tosend war. Wir wurden überschwänglich in Südafrika willkommen geheißen, um dann in einem endlosen Schwall die gesamte Geschichte Kapstadts wie auch Südafrikas wie auch der Familie des Fahrers erläutert zu bekommen. Unsere Ohren bluteten, als wir vor dem Hotel aus dem Taxi stiegen. Wir gaben üppiges Trinkgeld, woraufhin sich der Fahrer mit einem neuen Redeschwall aufs Herzlichste bedankte. Erschöpft, aber glücklich lächelten wir uns an. Wir waren zurück. Zurück am Anfang.
Ich war beeindruckt, mit welcher Kraft Sabine die lange Reise hierhin bewältigt hatte. Dabei war sie so schwach, fahl ihr Gesicht, hager ihr Körper. Und ich dachte mir wie schon so oft, wie ungerecht die Welt doch war. Ich hätte an ihrer Stelle hustend und zitternd auf dem Hotelbett liegen sollen. Doch sie war stark. Stärker als ich. Es war meine Schuld, dass sie da lag. Hätte ich damals an jener Kreuzung nur besser auf den Verkehr geachtet…
Es folgten Tage leichter Melancholie und schwerer Glückseligkeit. Wir besuchten all die Orte wie damals vor fünfzehn Jahren. Am Kap der Guten Hoffnung spürten wir wenig Hoffnung und viel Gischt, im Theater sahen wir Romeo und Julia sterben und weinten bitterlich, im Township sahen wir viele schwache Starke, auf Robben Island wandelten wir auf der Spur der großen Freiheit, beim Promenieren an der Waterfront musste ich Sabine schon im Rollstuhl fahren. Wir lachten zusammen und weinten gemeinsam, wir hielten uns in den Armen und schauten uns lange tief in die Augen. Nie waren wir uns so nah wie jetzt. Nach Jahren der Unsicherheit und Angst konnten wir endlich wieder ein Stück Glück spüren. Das Glück des sicheren Weges, der vor uns lag.
Eines Nachts stellte sich uns ein Mann in den Weg und wollte unsere Geldbeutel haben. Da fauchte ihn Sabine an und rief, sie würde ihm nicht raten, näher zu kommen, denn sie habe AIDS. Wenn er es doch wage, würde sie ihn kräftig beißen. Er solle es sich überlegen. Ha, und der Mann überlegte nicht lange. Kurz war er unsicher und wusste nicht, was er tun sollte, dann machte er schleunigst kehrt und behelligte uns kein zweites Mal. Wir lachten und lachten, bis uns die Luft wegblieb. Im Hotel weinten wir. Dann betranken wir uns. Am nächsten Morgen ging es Sabine schlecht. Sie war schwach. Heftiges Husten raubte ihr die letzte Kraft. Wir nahmen unsere Medikamente.
Die ganze Stadt und das weite Meer lagen uns zu Füßen. Die Sonne schien warm, doch der Wind pfiff kalt über den Tafelberg. Eng kauerten wir aneinander und schwiegen zusammen.
„Wirst du mich ganz fest in deinem Arm halten?“, fragte Sabine schließlich und blickte mich ängstlich aus schwarzumränderten Augen an. Ihr Gesicht war eingefallen und kreidebleich.
Ich nickte und lächelte verzagt. „Werde ich meinen Kopf in deine offene Hand legen dürfen?“, fragte ich, während sich mein Hals zuschnürte.
Mit einem Blick, der mehr sagte als nur „Ich liebe dich!“, der sagte „Ich werde dich lieben in alle Ewigkeit – in alle Ewigkeit!“, hauchte sie mir ein leises „Ja“ zu.
Kraftlos legte sie ihre Hand in meine und gab mir neue Kraft. Gab mir Kraft, obwohl ich der Kräftigere war.
Ich wollte nicht hierhin, doch Sabine meinte, wir sollten alle Stationen unserer Hochzeitsreise besuchen. Da gehöre auch die Kreuzung dazu, an der mich das Auto erfasst und über die ganze Straße geschleudert hatte. Sabine wollte auch zu dem Krankenhaus, in dem ich viele Tage gelegen hatte, operiert worden war und die Bluttransfusionen bekommen hatte, die verseuchten. Damit hatte alles angefangen, unsere lange Reise. Jetzt kehrten wir zurück.
„Wollen wir das letzte Stück gehen?“, fragte Sabine ernst. Sie sah mir tief in die Augen. Ich nickte schwach. Dann umarmten wir uns lange. Das letzte Stück gehen wir gemeinsam – das hatten wir vor langer Zeit beschlossen. Sabines Kräfte gingen bald zu Neige. Nun machten wir uns auf den letzten Teil der Reise.
Wir schauten den heranrollenden Wellen und der schäumenden Gischt zu. Die Abendsonne schien rot und warm. Der Sand unter unseren Händen ganz weich und fein.
Wir legten uns in den Sand und blickten in hohe, weite Bläue, in endlose Ewigkeit. Dann trafen sich unsere Blicke und wir schauten uns lange an. Ihre grünen Augen in dunklen Höhlen, sie lächelten warm.
„Ich liebe dich!“, flüsterte sie.
„Ich liebe dich!“, sagte ich.
Wir nahmen die Pillen und zerbissen sie. Ich nahm Sabine fest in meinen Arm und legte meinen Kopf in ihre offene Hand. Wir spürten uns, fühlten unsere Wärme. Wir haben uns.
Ich hörte die Wellen rauschen. Sie rauschen ewiglich.
Tag der Veröffentlichung: 17.10.2010
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