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Es war einmal ein kleiner Hase. Dieser Hase war kein normaler Hase. Nein, manchmal da war er ein richtig kleiner Angsthase. Wenn morgens all seine Brüder und Schwestern, seine Eltern, Tanten und Onkel und alle anderen Hasen, die bei ihnen im Wald wohnten, nach draußen hoppelten, um den Tag zu begrüßen und den saftigen, noch vom Tau nassen Klee von den Wiesen zu knabbern, da blieb er lieber allein zu Hause.
Seine Mutter fragte ihn oft, weshalb er nicht mitkommen möchte. Draußen sei es doch so schön und nicht so eng und stickig wie im tiefen Bau, meinte sie. Doch der kleine Hase blieb trotzdem lieber zu Hause. Er hatte nämlich furchtbare Angst und manchmal sogar richtig Panik vor all den Gefahren, die außerhalb des Baus auf ihn lauern konnten. Da draußen waren Füchse, die ihn fressen konnten; da gab es Jäger, die Jagd auf ihn machen konnten; in den Lüften lauerten Habichte und andere Raubvögel, die sich auf ihn stürzen konnten. Es drohten so viele Gefahren da draußen. Nein, da blieb er lieber drinnen in dem engen Hasenbau. Hier war es zumindest sicher.
An den wenigen Tagen, an denen er sich gewagt hatte, den sicheren Bau zu verlassen, hatte er natürlich schon viel Spaß gehabt. Sie waren durch die Wiesen getollt, hatten sich die Bäuche vollgefressen und Wettrennen gemacht. Klar, das war schon schön. Und eigentlich war es nie wirklich gefährlich. Nur einmal war es brenzlig geworden, als ein Fuchs ihnen aufgelauert war. Aber, pah, dem schlugen sie ein paar Haken und weg waren sie. Nein, wirklich gefährlich war es nie. Aber man konnte ja nie wissen. Jedesmal wenn er sich nur dem Ausgang des Baus näherte und schnupperte, roch er sofort die Gefahr, die überall da draußen auf ihn wartete. Er blieb lieber drinnen. Hier war es zumindest sicher.
Und so verbrachte der kleine Angsthase tagein tagaus alleine im Bau, während alle anderen alten und jungen Hasen draußen Spaß hatten und ihr Leben genossen. Aber bei ihm war es zumindest sicher.
Eines schönen Morgens plumpste plötzlich ein winzig kleiner Vogel vor dem Ausgang auf den weichen Erdboden. Verwirrt starrten sich beide – Hase und Vogel – an, während sich der kleine Vogel den Staub aus den Federn klopfte. „Wer bist du denn?“, fragte der Hase. „Wie du siehst, bin ich ein kleiner Vogel und lerne gerade das Fliegen!“, lachte der Vogel. „Und wer bist du?“ – „Ich bin ein kleiner Hase und wohne hier“, antwortete der Hase. „Warum bleibst du nicht einfach in deinem Nest, wenn du noch nicht fliegen kannst? Das muss ja ziemlich weh tun, so abzustürzen, wie du es gerade gemacht hast. Hast du keine Angst, dir etwas zu brechen?“
Und der kleine Vogel antwortete: „Natürlich habe ich Angst. Aber wenn ich immer nur in meinem warmen und sicheren Nest bleibe, dann lerne ich doch nie das Fliegen. Und irgendwann klettert eine Katze auf den Baum und ich kann nicht davonfliegen. Das hätte ich dann von meiner Angst.“ Und schon hüpfte der kleine Vogel vergnügt davon und flatterte angestrengt mit seinen Flügeln, bis er abhob und ein kurzes Stückchen flog.
Da wurde der Hase sehr traurig und verzog sich in seinen sicheren Bau.
Am nächsten Tag plumpste der kleine Vogel schon wieder vor dem Bau auf den Boden. „Du hast aber noch nicht viel gelernt, kleiner Vogel“, lachte der Hase. „Na hör mal“, antwortete der Vogel empört, „immerhin habe ich es gestern wieder zurück ins Nest geschafft.“
„Du, kleiner Vogel“, fragte der Hase, „hast du denn keine Angst vor den großen Vögeln, die dich mit ihren scharfen Krallen packen können, oder vor den Katzen, die dich auffressen wollen?“ Da begann der kleine Vogel herzhaft zu lachen und zu zwitschern. „Du bist mir vielleicht ein Angsthase. Natürlich habe ich Angst. Jeder kleine Vogel hat Angst.“ – „Jeden Tag lauern so viele Gefahren auf dich. Willst du dann nicht lieber zu Hause bleiben, wo es zumindest sicher ist?“, fragte der Hase neugierig. „Ach iwo“, zwitscherte der Vogel, „es ist doch so schön, draußen herumzufliegen, die Freiheit zu spüren, hoch in die Lüfte zu flattern und wieder nach unten in die Tiefe zu stürzen. Ich will ein richtiges Vogelleben leben, auch wenn es manchmal gefährlich wird. Das ist doch schöner, als immer nur ängstlich zu Hause zu sitzen und dabei aber nicht glücklich zu sein.“
Da wurde der Hase noch viel trauriger. „Ich bin den ganzen Tag zu Hause, weil ich so große Angst habe.“ Der Vogel fragte: „Bist du glücklich?“ – „Nein“, sagte der Hase, „aber zumindest ist es sicher.“
Der Vogel hüpfte um den Hasen herum und schaute ihn sich genau an. Dann machte er dem Hasen einen Vorschlag. Der Hase sollte ihn nun jeden Tag bei seinen Flugbesuchen begleiten. Da der Vogel in der Luft einen viel besseren Überblick hätte, könnte er den Hasen immer warnen, wenn irgendwo Gefahr lauern würde.
Doch der Hase hatte große Angst. Trotz der Begleitung war er draußen doch niemals sicher. Aber am nächsten Morgen zwitscherte der Vogel vor dem Bau und der Hase überwand seine Angst. Er ging nach draußen, hoppelte ängstlich und unsicher von einem Busch zum nächsten. Sie entfernten sich nicht weit vom Bau und sie waren auch nicht lange draußen. Der Hase hatte unglaublich große Panik, doch es passierte nichts Gefährliches. Und so gingen sie jeden Tag nach draußen, jeden Tag etwas weiter weg, jeden Tag etwas länger. Der kleine Vogel flatterte vergnügt vorneweg und der kleine Hase hoppelte ängstlich hinterher. Doch es passierte nie etwas Gefährliches. Von Zeit zu Zeit machten sie ein Wettrennen und der Hase hatte dabei großen Spaß. Da vergaß er für kurze Zeit, dass er doch so große Angst hatte. Angst hatte er aber nach wie vor fast immer, aber er hatte zusammen mit dem kleinen Vogel auch viel Freude. Die langweiligen und einsamen Tage im Bau waren Vergangenheit. Auch wenn es da zumindest immer sicher gewesen war.
Eines Tages, als der kleine Vogel gerade den kleinen Hasen abholen wollte, trafen sie auf einen anderen Hasen. Dieser Hase war schnell und mutig. Er hatte vor nichts Angst. „Na, du kleiner Angsthase! Traust dich auch mal von zu Hause weg?“, tönte der mutige Hase. „Ja“, antwortete der kleine Hase schüchtern, „ich will jetzt auch ein richtiges Hasenleben leben.“ Da lachte der mutige Hase laut. „Das musst du aber erst einmal zeigen. Ich habe nämlich vor nichts und niemandem Angst. Wenn du also kein Angsthase, sondern ein richtiger Hase sein möchtest, dann musst du mindestens genauso mutig sein, wie ich es bin“, prahlte er. Der kleine Hase wusste, dass er nicht so mutig wie der andere Hase war; dennoch sagte er: „Ja, das will ich.“ Schließlich wollte er doch kein Angsthase mehr sein. Der mutige Hase sprach: „Wir machen ein Wettrennen. Von hier zur großen Straße und zurück. Auf die Plätze – fertig – Los!“ Und schon waren die beiden Hasen davongeschossen. „Sei vorsichtig“, rief der kleine Vogel hinterher und flatterte aufgeregt mit seinen kleinen Flügeln, aber der kleine Hase hatte ihn wohl nicht mehr gehört. Die Hasen hoppelten zwischen Bäumen hindurch, schlugen zackige Haken um Wurzeln und Steine. Es war ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Dann kamen sie an den Waldrand, von wo es über eine große Wiese zur großen Straße weiterging. Da überkam den kleinen Hasen eine große Angst und er blieb am Waldesrand stehen. „Pass auf!“, rief er dem mutigen Hasen hinterher. Doch der lachte nur und rief: „Du bist und bleibst ein Angsthase!“ Er hörte auf zu lachen, als sich die Krallen des Habichts in seinen Körper bohrten. Der kleine Hase sah, wie der mutige Hase tot von dem großen Raubvogel davongetragen wurde.
„Puh, ich hatte schon Angst um dich“, japste der kleine Vogel, als er den kleinen Hasen am Waldrand entdeckte. „Um mich musst du keine Angst haben, da ich viel zu viel Angst um mich habe“, antwortete der Hase. Da erkannte der Hase, dass es gar nicht so schlimm war, wenn er manchmal Angst hatte. Aber er konnte trotz Angst ein richtiges schönes Hasenleben leben und glücklich sein. Der kleine Vogel sagte: „Schau. Jetzt bist du mutig und ängstlich. Und das ist gut so. Du bist kein Angsthase mehr, kleiner Hase.“

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Tag der Veröffentlichung: 23.09.2010

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