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LESEPROBE

 

1| Ilari

 

 

Ich kann es gar nicht erwarten, mein Ziel zu erreichen. Es ist viel zu lange her, seit ich den schwedischen Teil unserer Familie zum letzten Mal besucht habe. Ständig kam irgendetwas dazwischen, häufig die Arbeit und gelegentlich eine meiner Affären. Als nun Farfi fragte, wer meiner Tante frisches Elchfleisch und mehrere Paletten Arktischen Honig für ihr Restaurant vorbeibringen könnte, meldete ich mich sofort.

Tamos Besuch Anfang Dezember machte mir zusätzlich bewusst, wie sehr ich meine Cousins und die restlichen Leute aus Abisko vermisste. Als er zwei Wochen danach erneut vorbeikam, um Peer, seinem neuen Freund, unsere Rentierfarm zu zeigen und mit ihm über den urigen Weihnachtsmarkt zu bummeln, hatte ich schon längst beschlossen, demnächst ein paar Urlaubstage in Schweden einzuplanen.

Die beiden dermaßen verliebt zu erleben, löste außerdem etwas in mir aus, was ich immer noch nicht genau benennen kann. Ein leichtes Sehnen vielleicht, nach dieser einen besonderen Person, die ganz allein für mich bestimmt wäre. Zum Glück verschwand die melancholische Stimmung nach ihrer Abreise rasch wieder, wurde mir jedoch wenig später durch meine Großmutter abermals ins Gedächtnis gerufen, als sie mir freudig mitteilte, dass sich Jeldrik, Tamos jüngerer Bruder, sowie deren bester Freund Espen nun ebenfalls in festen Partnerschaften befänden. Wie war es möglich, dass drei langjährige Singles in solch kurzer Zeit ihr passendes Gegenstück fanden? Meine Neugierde war sofort geweckt und gleichzeitig pikste mich ein fieser Stachel, den ich als Eifersucht identifizierte. Um diese zu überspielen, machte ich einige flapsige Kommentare darüber, dass Tamo, Jeldrik und Espen von jeher dazu geneigt hätten, dem jeweils anderen alles nachzumachen und wie öde ich es fände, sich den erstbesten Kerl ans Bein zu binden. Innerlich habe ich mich für meine Missgunst geschämt und gedanklich Abbitte bei ihnen geleistet.

Ich konzentriere mich wieder auf die Straße und freue mich darauf, dass ich in knapp einer Stunde meinen knurrenden Magen füllen kann. Tante Lennja ist die Chefköchin des GourmetBjörnar, wo ich garantiert Stammgast wäre, würden zwischen Abisko und unserer finnischen Rentierfarm nicht fünf Autostunden liegen. Deshalb plane ich bei jedem Familienbesuch in Schweden genug Zeit ein, die ich dann bei meiner Tante, in ihrer Küche, verbringe.

„Ilari, ist das schön, dich zu sehen!“ Ich schaffe es kaum, aus dem Auto auszusteigen, bevor mich eine junge Frau umarmt.

„Hallo, meine Hübsche“, begrüße ich Mathilda erfreut und drücke sie kraftvoll an meine Brust. Sie ist die Schwiegertochter von Al, meiner anderen Tante. Suchend sehe ich mich nach ihren inzwischen vierjährigen Zwillingen um, die meist nicht weit von ihr oder Felix, ihrem Vater, entfernt anzufinden sind. Als ich ein Stechen an meinem Unterschenkel spüre, löse ich mich prompt von Mathilda und blicke nach unten. Ein bäriges Pelzknäuel hat seine Pfoten um mein Bein geschlungen und gibt sich alle Mühe, daran emporzuklettern. Höchstwahrscheinlich erfolgreich, wenn nicht ein weiteres Bärenjunges den Versuch torpediert hätte. So purzeln sie beide über den Boden und verkeilen sich ineinander.

„Mats, Thies benehmt euch!“, ruft ihnen Mathilda zu, bückt sich und hebt einen der kleinen Bären hoch. Ich übernehme den zweiten Unruhestifter, der mich aus großen, braunen Augen betrachtet und gleich darauf seine Zunge herausstreckt und mir voller Begeisterung das Gesicht abschleckt.

„Du Frechdachs.“ Lachend strecke ich die Arme aus und schaffe somit genügend Abstand, um einer erneuten Gesichtswäsche zu entgehen. „Wo sind denn die anderen?“, frage ich und setze das Bärenjunge ab, als es sich in meinem Griff windet.

„Noch hier und da verstreut, aber sie werden pünktlich zum Mittagessen im Hotel eintreffen.“ Mathilda scheucht ihre Jungs vor sich her und ich folge ihr, nachdem ich die Reisetasche vom Rücksitz meines Wagens geholt habe. Zwischen hohen Tannen kommt die beeindruckende Jönsson-Villa in Sicht, welche aus mehreren roten Einzelhäusern mit weißen Spitzdächern besteht, die durch Veranden und Balkone verbunden eine harmonische Einheit bilden. Ganz rechts wurde ein Gerüst aufgestellt, das ich nun interessiert betrachte.

„In den neuen Anbau werden Jeldrik und Barnet mit ihrer Tochter Smilla einziehen. Sie planen auch eine Außenrutsche. Mats und Thies können es kaum erwarten, bis sie fertig ist.“ Plaudernd betreten wir das Innere durch den Haupteingang und durchqueren den Flur. Im Wohnzimmer trennen sich kurz unsere Wege. Während Mathilda ihre eigenen Räume aufsucht, bringe ich meine Tasche ins Gästezimmer. Ein erneutes Grummeln meines Magens meldet sich und erinnert mich daran, wie hungrig ich bin.

Nach einer herzlichen Begrüßung vor dem Hotel helfen alle mit, meinen Kofferraum zu leeren. Anschließend suchen wir endlich den Gastraum auf. Der Tisch ist stilvoll eingedeckt, einige Appetithappen sind bereits auf zwei Etageren angerichtet und kalte Getränke werden gereicht, sobald wir uns niedergelassen haben. Ich sitze zwischen Onkel Geert und Tante Lennja, mit denen ich ein paar Neuigkeiten austausche.

Trotz des reichhaltigen Hauptgangs widme ich mich begeistert dem süßen Abschluss eines fantastischen Mittagessens. Voller Genuss schließe ich die Augen, als mir ein Stück meiner Lieblingsnachspeise auf der Zunge zergeht. Buttrig-zuckrige Waffeln, garniert mit einer fluffigen Sahnecreme und selbst gemachter Marmelade. Köstlich!

„Du bist eine Göttin, Tante Lennja“, murmle ich andächtig. Mein Vater ist ein großartiger Koch, keine Frage, aber seine Schwester schlägt ihn um Längen.

„Es ist so schön zu sehen, dass aus dir so ein charmanter Bursche geworden ist“, antwortet sie. „Irgendetwas muss ich bei meiner Erziehung eindeutig falsch gemacht haben.“ Meine Tante zieht mich in eine mütterliche Umarmung und wirft anschließend Jeldrik, ihrem jüngsten Sohn, einen deutlichen Blick zu. Dieser sieht von seinem Teller auf, als er bemerkt, dass die Geräusche am Tisch verstummt sind.

„Was glotzt ihr denn so?“, fragt Jeldrik gewohnt brummig, was zur allgemeinen Erheiterung beiträgt. Er hebt den Arm, um uns vermutlich seine Lieblingsgeste – den Stinkefinger – entgegenzustrecken. Sein Partner Barnet verhindert es, indem er sich an ihn lehnt und mit der Hand seinen Arm zur Seite drückt.

„Ich finde, dass du ausgesprochen charmant bist, jedenfalls zu mir“, sagt er loyal, woraufhin sie sich tief in die Augen schauen. Ihre Gefühle füreinander sind fast greifbar. Ähnlich verliebt wirken Espen und sein Partner Stian auf mich. Während Tamo und Peer sogar noch inniger miteinander verbunden zu sein scheinen, seit ich ihnen zuletzt begegnet bin. Diese ganzen glücklichen Paare sorgen jedenfalls dafür, dass ich eine innerliche Leere verspüre. Dabei bin ich doch überhaupt kein Beziehungstyp. Ich mag es locker und unverbindlich. Zumindest habe ich das bisher geglaubt.

„Was hältst du davon, wenn wir uns nachher verwandeln und ein Stück durch den Wald laufen? Danach entspannen wir in der Sauna.“ Jeldrik sieht mich erwartungsvoll an.

„Gern“, antworte ich, nachdem ich meinen letzten Bissen hinuntergeschluckt habe. „Aber wird es dann nicht ein bisschen voll in der Hütte?“

„Keine Sorge, ihr seid nur zu viert.“ Stian tupft sich mit der Serviette über den Mund und gibt Espen einen Kuss, ehe er aufsteht. „Ich bin zur Krankengymnastik verabredet und später treffen sich Barnet, Peer und ich zu unserem ersten P-A.“

„P-A?“

„Partner-Abend. Für die zugezogenen Freunde der drei Kerle hier“, sagt Stian lachend. Nacheinander zeigt er auf Espen und die Jönsson-Brüder. Er winkt zur Verabschiedung in die Runde und vergisst auch nicht, sich bei Tante Lennja für das gute Essen zu bedanken. Ich sehe ihm nachdenklich hinterher. Stian ist nicht nur ungemein süß, sondern außerdem richtig sympathisch. Kein Wunder, dass sich Espen in ihn verliebt hat.

„He, starr meinen Freund nicht so sehnsüchtig an!“ Espen greift über den Tisch und schlägt mir mit der flachen Hand energisch auf den Unterarm.

„Sorry“, schrecke ich aus meinen Gedanken und bemühe mich um ein beschwichtigendes Lächeln. „Ist Stian verletzt?“

„Nein, nein, er unterstützt Aki, der einen schlimmen Unfall hatte, bei dem sein Bein verletzt wurde. Stian ist als Masseur und Physiotherapeut ausgebildet.“ Aki? Ich überlege, wo ich den Namen schon einmal gehört habe. „Sein älterer Bruder und er arbeiten für meinen Vater“, hilft mir Espen auf die Sprünge. Daraufhin erinnere ich mich an zwei motzige Teenager, beide dürr, ungepflegt und reichlich unverschämt. Besonders auffällig waren zudem ihre leuchtend roten Haare. Dass Stian einem von ihnen behilflich ist, bestätigt meinen Eindruck, was für einen feinen Charakter er hat. Und erneut meldet sich diese unerklärliche Eifersucht. Das ist doch nicht mehr normal.

 

Nach dem zweiten Aufguss kühlen wir uns – jeder mit einer eiskalten Flasche Bier in der Hand - im Whirlpool ab. Ich lege den Kopf in den Nacken und blinzle in den sternenbedeckten Himmel. Dabei lasse ich das soeben Vernommene noch mal gedanklich Revue passieren. Die drei haben mir von unseren Vorfahren, Cernunnos, dem Gott der Natur, der Tiere oder der Fruchtbarkeit, sowie der Geisterwelt erzählt. Klingt schlüssig und logisch für mich. Selbst, dass es sich bei Doc Warin um einen praktizierenden Schamanen handelt, habe ich locker weggesteckt. Die angebliche Vorhersage jedoch, dass für vier verlorene Leben am Ende der nächsten Dekade – in der wir uns derzeit befinden – die gleiche Anzahl an Seelengefährten verschenkt werden, kommt mir in höchstem Maße seltsam vor. Vor allem, wer mag der vierte Auserwählte sein, falls an der ganzen Geschichte wirklich etwas Wahres dran ist? Als ich meine Meinung zu diesem Thema kundtue, erhalte ich sogleich zig Gegenbeweise von drei widerlich verliebten Kerlen. Während ich ihnen lausche, trinke ich mein restliches Bier aus. 

„Genug Liebesgesäusel für einen Abend“, werfe ich irgendwann amüsiert ein. „Jetzt hätte ich Lust auf einen guten Schnaps.“

„Dann lasst uns ins Lodjurhål fahren.“ Ich hebe ruckartig den Kopf und sehe Tamo, von dem der Vorschlag, die Kneipe von Espens Vater aufzusuchen, gekommen ist, verständnislos an.

„Du machst Witze, oder bist du auf einen handfesten Streit aus?“

„Es wird ganz friedlich ablaufen“, versichert mir Tamo, woraufhin Espen und Jeldrik zustimmend nicken. „Wir werden vielleicht nie die besten Freunde, aber da Halvar eine Schwäche für seinen zukünftigen Schwiegersohn hegt, bemüht er sich, mit uns allen klarzukommen.“

„Mein Süßer ist halt der perfekte Raubtierflüsterer“, sagt Espen voller Stolz und ein verklärtes Lächeln erscheint auf seinem Gesicht.

„Auf jeden Fall, Alter!“ Jeldrik tätschelt Espen gutmütig die Schulter und zwinkert mir vergnügt zu.

„Na gut“, gebe ich mich geschlagen. „Ist mir eigentlich auch egal, wo ich meinen Schnaps trinke.“

Das Lodjurhål ist eine stinknormale Kneipe. Etwas abgenutzt und schummrig. Dafür hat Halvar richtig guten Stoff im Angebot. Zufrieden strecke ich meine Beine unter dem Tisch aus und nippe an meinem Single Malt von Mackmyra. Ich mag den fruchtigen Geschmack mit dem leichten Vanillearoma im Abgang. Wir besetzen eine gut gepolsterte Nische, sodass sich Halvar einen Stuhl vom Nebentisch heranziehen muss, um uns Gesellschaft zu leisten. Als er mich mit Handschlag begrüßt, verschlucke ich mich fast an meinem Whiskey. Sein wettergegerbtes Antlitz einmal ohne die sonst deutliche Abneigung auf mich oder meine Familie gerichtet zu sehen, fühlt sich surreal an. Nach ein wenig Small Talk trennen sich die Gespräche. Während er mit Tamo und Jeldrik über ein paar Einheimische plaudert, erfahre ich von Espen Genaueres darüber, wie er Stian kennenlernte. Deshalb bekomme ich auch nur am Rande mit, wie Halvar Tamo an einen Gefallen erinnert. Erst als Tamo ungehalten sagt: „Er wird glauben, dass du ihn abschiebst“, und Halvar antwortet: „Egal, Hauptsache er verschwindet so schnell wie möglich“, werde ich hellhörig. Wen, verdammt noch mal, will der alte Lundqvist bloß loswerden?

 

 

Impressum

Texte: Caro Sodar
Cover: depositphotos.com, Bearbeitung: Caro Sodar
Korrektorat: Bernd Frielingsdorf
Tag der Veröffentlichung: 21.03.2021

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