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LESEPROBE

1| Jeldrik

 

 

„Ich sehe komplett lächerlich aus.“ Im Lager des Supermarktes stehen zwei Stahlspinde und in einem von ihnen ist ein Spiegel an der Innenseite der Tür angebracht. In diesem betrachte ich mich gerade skeptisch. Al hat mir ein altes Weihnachtsmannkostüm aufgenötigt, das hinten und vorne nicht passt. Der ehemalige Besitzer war nicht nur kleiner, sondern auch um einiges fülliger als ich. Ergo reicht mir die rote Samthose kaum bis zu den Waden und die Jacke wirkt eher wie ein unförmiges Zelt.

„Du trägst doch Stiefel, also ist die Hosenlänge egal und unter die Jacke stopfen wir ein Kissen. Fertig!“ Vergnügt zuppelt Al an dem Anzug herum, wobei sie auf einem ihrer stinkenden Zigarrenstummel herumkaut.

Ich schenke meiner Tante einen angewiderten Blick und meckere: „Deine Sargnägel sind widerlich. Kannst du nicht auf Lutscher oder von mir aus auf E-Zigaretten umsteigen?“ Sie nimmt den durchweichten Stumpen aus dem Mund, fletscht ihre erstaunlich weißen Zähne und ehe ich reagieren kann, gibt sie mir einen kräftigen Klaps auf die Wange.

„Du bist mit Abstand der charmanteste Bursche in unserer Familie. Es ist mir ein Rätsel, wieso du noch allein bist.“ Ich wische mir über die schmerzende Stelle und zeige ihr den Stinkefinger. Sie grinst und streckt mir ihre Hand hin. „Los, du Miesepeter, gib mir die Jacke! Das Ding mache ich schnell etwas enger. Mit den Hosen musst du dieses Jahr leben. Irgendwo müssen hier noch rote Stulpen rumliegen. Damit sollte es gehen.“ Die Zigarre landet wieder in ihrem Mundwinkel, als sie auf die uralte Nähmaschine zustampft und sich auf dem runden Hocker davor niederlässt. Unschlüssig, ob ich entlassen bin oder nicht, bleibe ich an den Spind gelehnt stehen.

„Was ist? Willst du mir dabei zusehen?“ War ja klar, dass ich hierbei falschliege. „Hilf lieber deinem Vater dabei, den Weihnachtsbaum aufzustellen. Wie ich ihn kenne, sitzt er nur faul herum, trinkt Glögg und erzählt dem Freund deines Bruders sämtliche Geschichten, die wir anderen bereits auswendig kennen. Der arme Peer tut mir richtig leid.“ Al gibt sich nicht mal die Mühe so auszusehen, als ob es ihr wirklich leidtäte.

„Bin schon weg, du alte Hexe“, rufe ich ihr aus sicherer Entfernung zu. Trotzdem fliegt einer der Stiefel, den sie nach mir wirft, nur haarscharf an meinem Gesicht vorbei. Laut lachend kicke ich ihn mit dem Fuß in eine Ecke und mache, dass ich Land gewinne.

Kaum habe ich den Gehweg betreten, stülpe ich mir meine Wollmütze auf den Kopf. Es weht ein frostig kalter Wind, der von dichten Schneewehen begleitet wird. Bei solchen Temperaturen würde ich am liebsten den ganzen Tag in meiner pelzigen Gestalt durch die Gegend laufen. Den Pick-up habe ich schräg gegenüber neben der Kneipe geparkt. Das einzige Haus in der gesamten Straße, an dem jegliche weihnachtliche Dekoration fehlt. Bei Halvar Lundqvist ist eben Hopfen und Malz verloren. Ich grinse in meinen Schal wegen meines äußerst passenden Vergleichs.

 

 

Sobald ich Platz genommen habe, werfe ich die Sitzheizung an und stelle die Lüftung auf volle Power. In gemächlichem Tempo fahre ich über den eisbedeckten Asphalt und biege am Bahnhof in Richtung Skistation ab. Es geht bergauf und ich bin froh, dass mein altes Mädchen keinerlei Probleme mit den Straßenverhältnissen hat. Hinter der nächsten Biegung taucht unerwartet eine vermummte Gestalt auf. Ich trete auf die Bremse und schaffe es in letzter Sekunde – vor wem auch immer – zum Stehen zu kommen. Stinkig, weil ich mich so erschrocken habe, reiße ich die Wagentür auf und steige aus.

„Sind Sie lebensmüde?“, brülle ich los und baue mich vor dem Trottel auf, den ich nun eindeutig als jungen Mann identifiziere. Er trägt einen vollgestopften, unförmigen Armeerucksack auf dem Rücken und unter seiner schneeverkrusteten Mütze lugen nasse, blonde Haare hervor. Statt mir zu antworten, bleibt er nur wie festgewachsen stehen und sieht mich aus riesigen, blauen Augen an. Selbst an seinen langen Wimpern hängen Schneekristalle, was nett zu seinen geröteten Wangen aussieht. „Können Sie mich verstehen?“, frage ich langsam und überdeutlich und als er nicht reagiert, formuliere ich die Frage noch einmal auf Englisch. Vielleicht ist er taub, überlege ich und kratze mir nachdenklich über die Wange. Obwohl seine Mundpartie von einem unordentlichen Bart verdeckt wird, kann ich erkennen, dass er sich ein Grinsen verkneift. „Das habe ich laut gefragt, oder?“ Er nickt und grinst jetzt richtig. „Können Sie auch reden?“

„Wenn es sein muss, ja“, sagt er mit glockenheller Stimme. „Bei Leuten, die sauer auf mich sind, warte ich meist, bis sie sich vom Schreien verausgabt haben.“ Ich verschränke die Arme vor meiner Brust.

„Aha, also haben Sie damit Erfahrung?“ Er zuckt mit den Schultern und leider verschwindet gleich darauf der Schalk aus seiner Mimik. „Haben Sie sich verlaufen? Ich kenne mich hier aus und kann Ihnen bestimmt helfen.“ Es dauert einen Moment, bis er reagiert. Anscheinend überlegt er, ob er mein Angebot annehmen soll oder nicht. Die Wetterlage entscheidet am Ende wohl zu meinen Gunsten.

„Ich möchte etwas bei Familie Jönsson abgeben.“ Ich studiere noch einmal sein Gesicht und komme zu dem Schluss, dass sich Axtmörder anders verhalten. Meine empfindliche Nase identifiziert ihn als Polarfuchs, fängt jedoch ansonsten keine ungewöhnlichen Gerüche ein. Hinzu kommt, dass meine Familie einen zwar gelegentlich zur Weißglut bringt, aber soweit ich weiß, niemand auf feindlichem Fuß mit ihnen steht. Na ja, vom alten Lundqvist und seinen Spießgesellen, die er Mitarbeiter schimpft, einmal abgesehen. Aber da sich seine Streitlust gleichmäßig auf alle Dorfbewohner verteilt, würde ich nicht von einer expliziten Fehde sprechen.

„Mein Name ist Jeldrik Jönsson“, stelle ich mich dennoch sicherheitshalber vor und frage: „Zu wem von uns wollen Sie denn genau?“

„Oh.“ Seine Finger suchen an den Riemen seines Rucksacks Halt und er seufzt, ehe er weiterspricht. „Sie können mit meinem Namen bestimmt nichts anfangen, aber ich heiße Barnet Dalin.“ Er irrt sich, denn in meinem Kopf formt sich sogleich eine Erinnerung.

Mein Großonkel Len, Als Bruder, kam vor sechs Jahren unerwartet mit zwei kleinen Jungs an seiner Seite zurück nach Hause. Einer der beiden war sein zehnjähriger Sohn Sven, den anderen hatten wir noch nie zuvor gesehen. Er war kleiner, jünger und besaß im Gegensatz zum Rest unserer Familie blonde Haare. Nicht verwunderlich, denn als er sich das erste Mal verwandelte, erschien kein dunkelbraunes Bärenjunges, sondern ein weißer, flauschiger Polarfuchs.

Len erklärte uns, dass Bent aus einer flüchtigen Affäre entstanden wäre und seine Mutter leider vor Kurzem verstorben sei. Wir nahmen das so hin, immerhin war mein Onkel von jeher ein Freigeist, der es nie lange in einer Beziehung ausgehalten hatte. Als ihn wenig später mal wieder das Fernweh packte, verblieben die beiden Kinder in Als Obhut. Bents Nachname, ehe Len ihn als seinen Sohn anerkannte, war Dalin gewesen.

„Steig in den Wagen!“, fordere ich ihn auf, ehe ich die Fahrertür öffne und selbst zurück ins Innere rutsche. Er folgt mir auf dem Fuße und setzt den Rucksack vorsichtig zwischen seine Beine. Ich stelle seine Sitzheizung auf die höchste Stufe. Es wird nicht viel bringen, bis wir am Ziel ankommen, aber es ist besser als nichts. „Du bist Bents Bruder.“ Barnet nickt und hält seine Finger vor die Lüftung. „Wo hast du die letzten sechs Jahre gesteckt?“ Er schweigt und schaut aus dem Seitenfenster. Mir liegen weitere Fragen auf der Zunge, doch ich bin davon überzeugt, dass er sie mir nicht beantworten wird. Ich fahre vor dem Haupthaus einen Bogen, damit ich in einen der überdachten Parkplätze hineinrollen kann. „Wir sind da“, sage ich überflüssigerweise. „Komm!“

Wir laufen nebeneinanderher auf die Veranda zu. Barnet sieht sich um und betrachtet die beeindruckende Holzfassade unseres Zuhauses. Das warme Rot harmoniert perfekt mit den weißen Fensterrahmen und den spitzen Dächern in derselben Farbe. Im Laufe der Jahre wurden an das Grundgebäude weitere Häuser angebaut. Erstaunlich, dass es immer noch nach einem harmonischen Ganzen aussieht.

 

 

Sobald ich die Eingangstür aufstoße, dröhnt uns Stimmengemurmel und Lachen entgegen. Ich muss unseren Gast regelrecht in den Flur schieben, weil er plötzlich den Eindruck macht, lieber wieder verschwinden zu wollen. In der Zeit, als ich meine Schuhe ausziehe und die dicke Daunenjacke an die Garderobe hänge, hat Barnet erst seine Mütze vom Kopf gezogen.

„Jetzt zieh schon die nassen Klamotten aus“, bitte ich und will ihm den Rucksack abnehmen.

Rasch dreht er sich weg und sagt: „Nicht!“ Ich hebe kapitulierend die Hände.

„Da ist aber keine Bombe oder so drin?“, frage ich nur halb im Scherz, woraufhin er einen prustenden Ton von sich gibt und den Kopf schüttelt. Vorsichtig stellt er ihn erneut zwischen seine Beine und pellt sich aus seiner klatschnassen Jacke. Der schwarze Rollkragenpullover, den er darunter trägt, ist viel zu dünn und seine Jeans sieht aus, als ob sie jeden Augenblick auseinanderfällt. Die Turnschuhe rutschen, ohne dass er sie öffnen muss, von seinen Füßen und offenbaren löchrige Socken. Wo ist der Kerl bloß hergekommen? Meine Überlegungen werden von zwei johlenden Teenagern unterbrochen, die in ihren Fleece-Hausschuhen auf uns zuschlittern und sich aneinander festkrallen, um nicht hinzufallen. Gleich hinter ihnen erscheinen die Zwillinge, deren Gesichter vor Begeisterung leuchten. Sie sehen süß aus in ihren Indianerkostümen, welche sie am liebsten rund um die Uhr tragen würden. Ihre Mutter, Als Schwiegertochter, hat es manchmal echt nicht leicht mit dermaßen aktiven Bärenkindern.

„Vorsicht, ihr Irren!“ Ich strecke beide Arme aus, bekomme mehrere Gliedmaßen zu fassen und werde nun auch beinahe zu Boden gerissen. Verfluchte Höllenbrut! „Kurze Auszeit“, bestimme ich. „Wir haben Besuch.“ Alle Kinder schnüffeln interessiert, aber nur einer von ihnen wird blass und verkrampft sich.

„Barnet?“, flüstert Bent und umarmt sich selbst. Er schluckt schwer. „Du hast gesagt, dass du immer auf mich aufpassen wirst, aber das war gelogen. Du hast mich einfach allein gelassen. Und jetzt … jetzt brauche ich dich auch nicht mehr.“ Schluchzend dreht er sich um und flüchtet durch das Wohnzimmer, wo es einen Durchgang zum Nachbarhaus gibt, in dem sich sein Zimmer befindet. Sven schaut irritiert zwischen uns hin und her.

„Wo sind mein Vater und Peer?“

„Ähm, Peer ist in Tamos Haus und Onkel Geert hilft Tante Lennja die Weihnachtsgeschenke vom Skiresort hierherzubringen. Sie hat uns mal wieder nicht vertraut und alles dort gehortet.“ Sven verdreht theatralisch die Augen. Ich nicke und sage: „Geh bitte Bent nach und nimm die Zwillinge mit.“ Er schnappt die zwei Indianer und klemmt sich je einen unter seine Arme, als ob sie nichts wiegen würden. Kaum sind sie aus unserem Sichtfeld verschwunden, reibe ich mir seufzend über den Kopf.

„Bent hat recht, ich sollte gehen“, sagt Barnet neben mir. „Aber vielleicht könnt ihr …“ Er kniet sich vor den Rucksack, aus dem ich nun deutlich kratzende Geräusche vernehme. Barnet öffnet die Riemen und klappt den Stoffdeckel weg. Auf einem weichen Bett aus T-Shirts und einer Decke liegt ein winziger Polarfuchs mit blauschwarzem Fell, der sogleich neugierig seine Umgebung mustert.

„Wer bist du denn?“, schmeichle ich, hocke mich ebenfalls hin und streichle ihn hinter den Ohren.

„Das ist Smilla. Ihre Mutter war meine drogenabhängige Nachbarin. Sie ist vor ein paar Tagen abgehauen und hat ihre Tochter zurückgelassen. Ich wollte nicht, dass man Smilla in ein Pflegeheim steckt.“ Er schaut auf, wodurch sich unsere Blicke treffen.

„Kann ich sie bei euch lassen? Sie ist ein liebes Mädchen, die kaum Arbeit macht.“

„Du kennst uns doch gar nicht?“, gebe ich zu bedenken und hebe den kleinen Fuchs aus dem Rucksack. Sie knurrt mich leise an und kratzt, weil sie ganz klar zu Barnet will. Lächelnd reiche ich das Pelzknäuel an ihn weiter. Sofort kuschelt sie sich an seine Brust. „Sieht so aus, als hätte sie schon entschieden, bei wem sie bleiben möchte.“

„Nein, das geht auf keinen Fall.“

Die Eingangstür schwenkt auf und meine Eltern erscheinen vollbepackt im Flur. Wir erheben uns gleichzeitig, doch während Barnet zur Seite tritt, nehme ich meiner Mutter einen Teil der Geschenke ab. Nachdem ich unsere Besucher vorgestellt habe, nickt sie Barnet kurz zu und konzentriert sich anschließend nur noch auf Smilla. Sie nähert sich langsam dem kleinen Polarfuchs und säuselt: „Ja, wen haben wir denn hier?“ Ich halte den Atem an, als sie beginnt eine beruhigende Melodie zu summen und ihm das zappelnde Bündel aus den Armen nimmt. In gurrendem Ton befiehlt sie Smilla, sich zu verwandeln. Eine halbe Minute später erscheint anstelle des Fuchses ein blasses, dunkelhaariges Mädchen, das nicht älter als drei Jahre alt sein kann.

„Was hältst du von einem heißen Kakao, während sich die Männer unterhalten?“ Meine Mutter wickelt sie rasch ihre Decke ein, woraufhin sich Smilla widerstandslos in die Küche bringen lässt. Barnet blickt ihr mit einem traurigen Lächeln hinterher, greift seine nasse Jacke und schlüpft in die kaputten Schuhe.

„Sag meinem Bruder bitte, dass es mir leidtut.“ Er öffnet die Tür und flieht ins Freie. Ich rufe ihm nach, dass er warten soll, aber er geht einfach weiter. Draußen schafft er nur wenige Schritte, bis ihm die Beine wegknicken und er seitlich in einen Schneehaufen fällt. Fluchend renne ich, nur mit meinen Wollsocken an den Füßen, auf den ohnmächtigen Barnet zu und hebe ihn hoch. Er wiegt fast nichts und als sein Kopf gegen meine Schulter schlägt, trifft mich zum ersten Mal sein einzigartiger Duft. Überwältigt presse ich ihn näher heran und gehe kommentarlos an meinem Vater vorbei, der stirnrunzelnd im Türrahmen steht.

„Jeldrik?“

„Ich kümmere mich erst mal um Barnet und wir reden später, okay?“ Um eine mögliche Diskussion zu vermeiden, eile ich ohne ein weiteres Wort mit meiner wertvollen Beute davon. 

Impressum

Texte: Caro Sodar
Cover: de.depositphotos.com, Bearbeitung: Caro Sodar
Korrektorat: Bernd Frielingsdorf
Tag der Veröffentlichung: 21.03.2021

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