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LESEPROBE

1| Peer

 

„Es ist und bleibt eine saublöde Idee, Peer!“ Ich hebe entschlossen den letzten Koffer aufs Bett, um ihn mit den restlichen Pullovern, der alten Skihose und diversem anderen Krempel zu füllen, der sich bisher ganz hinten in meinem Kleiderschrank befunden hat. Dass sein Hintern im Weg ist, stört Stian, meinen besten Freund seit Kindertagen, wenig. „Mal im Ernst. Du kannst mich hier nicht allein lassen!“ Weil ich immer noch nicht reagiere, rollt er sich vor den Koffer. Grinsend strecke ich mich und werfe den Haufen, welchen ich zwischen beiden Händen halte, einfach blindlings über seine Schulter. „He“, meckert er, als ihn die Taucherbrille trifft, ehe sie von ihm abprallt und wie gewünscht in den Koffer fliegt.

„Dann lieg da eben nicht so blöd rum“, schnauze ich zurück, muss aber bei seinem gequälten Gesichtsausdruck lachen. Ich stopfe noch zwei Gürtel an den Rand, dann schiebe ich das schwere Teil zur Seite und lasse mich neben Stian auf die Matratze fallen. „Ich muss hier weg, das weißt du doch.“

„Aber wieso willst du ausgerechnet nach Norrbotten, in die totale Einöde ziehen? Urlaub machen, okay. Im Nationalpark wandern, von mir aus. Es soll ja Menschen geben, die auf Natur stehen. Aber dort leben? Dir ist hoffentlich klar, wie viele wilde Tiere es dort gibt und dass es da nicht mit rechten Dingen zugeht.“

„Du sollst keine Gruselgeschichten lesen“, schelte ich ihn.

„Ha, das sind keine Geschichten, sondern Tatsachen. Es gibt genug Berichte von Urlaubern, die von Monstern angegriffen wurden, und jedes Jahr verschwinden Touristen.“ Ich schüttle innerlich den Kopf und öffne die Arme. Stian nutzt die Aufforderung prompt aus, um sich an meine Brust zu kuscheln. „In sechs Wochen ist Weihnachten“, wimmert er, während ich durch seine weichen Locken kraule. Sein schlanker Körper schmiegt sich vertrauensvoll an mich und ich genieße die letzten Momente, in denen mich seine freundschaftliche Zuneigung wärmt.

„Ich weiß, aber darauf kann ich keine Rücksicht nehmen. Abisko ist fünfzehn Stunden von Stockholm entfernt. Die Chancen stehen demnach gut, dass mich da niemand kennt und ich nicht ständig von abwertenden oder gehässigen Blicken verfolgt werde.“

„Dabei bist du unschuldig. Das ist total ungerecht.“

„Nur leider kann ich das nicht beweisen. Also ist es egal.“ Wir hängen für eine Weile unseren eigenen Gedanken nach. Meine Familie stellt Nutzfahrzeuge, Omnibusse und Lastkraftwagen her, wodurch ihr Name sowohl in Stockholm als auch weit über die Stadtgrenzen hinaus so gut wie jedem bekannt ist. Mein Vater herrscht als uneingeschränkter Patriarch über das Unternehmen. Ihm zu Füßen liegen sein Bruder, dessen Sohn sowie meine jüngere Schwester. Da Klischees dafür da sind, bedient zu werden, kann man mich wohl guten Gewissens als schwarzes Schaf der Familie bezeichnen. Anstatt mich wie alle anderen seinem Willen zu beugen, habe ich mich lieber durch Kindheit und Jugend hindurch mit ihm gestritten und gegen alle Regeln rebelliert, die er jemals aufgestellt hat.

Deshalb hatte er anscheinend auch keinerlei Skrupel, der aufmüpfigen Schwuchtel, also mir, Brandstiftung in einer der Produktionshallen in die Schuhe zu schieben. Die Versicherungssumme war astronomisch hoch. Dafür lässt man gern sein eigen Fleisch und Blut über die Klinge springen. Ich kam mit zwei Jahren auf Bewährung davon. Nach Prozessende suchte mich mein Erzeuger auf und unterbreitete mir ein Angebot. Für eine einmalige Abfindung würde ich das Urteil nicht anfechten und auf mein Erbteil verzichten. Andere hätten vielleicht für ihre Rehabilitierung gekämpft und auf ihr Geburtsrecht gepocht, aber mir fehlte ganz einfach die Kraft dafür. Also nahm ich das verdammte Schweigegeld, beantragte die Änderung meines Nachnamens und ging nach Hause, um zu packen.

„Wenn ich es nicht ohne dich aushalte, kann ich dann nachkommen?“

„Jederzeit“, sage ich sofort und drücke ihn noch einmal fest an meine Brust.

Die angenehme Stille wird unterbrochen, als sich Stian aufrappelt, vor mich hinkniet und mit großen Augen fragt: „Was wirst du überhaupt in dem Kaff machen?“

„Ich habe die einzige Tankstelle im Ort und die darüberliegende Wohnung gekauft“, erkläre ich und grinse ihn an.

„Eine Tankstelle?“ Er rümpft seine gepiercte Stupsnase. „Was tut man denn da außer rumsitzen und Geld abkassieren?“ Nun lache ich los, weil seine Äußerungen manchmal einfach so herrlich naiv sind.

„Also kommst du doch nicht nach?“, necke ich ihn.

„Doch, schon“, lenkt er gleich darauf ein. „Nur, was soll ich denn da machen?“

„Ich wollte eine schicke Kaffeebar mit ein paar gemütlichen Sitzmöglichkeiten einrichten. Dafür bräuchte ich dann einen Barista.“ Stian strahlt, springt auf und hüpft auf dem Boden herum.

„Wenn du die nächsten Wochen in dem Kaff überlebst, bin ich bis Weihnachten bei dir.“ Entschlossen dreht er sich um und schnappt sich den letzten Kleiderberg aus dem Schrank, um ihn in den Koffer zu legen. Ich drehe mich auf den Rücken und spüre, wie sich ein Klumpen, der sich in meinem Magen gebildet hat, auflöst. Meinem Freund ist gar nicht bewusst, wie froh ich bin, dass es ihn gibt.

 

***

 

Draußen geht gerade die Sonne auf, als ich von heiterer Popmusik geweckt werde. Voller Tatendrang verlasse ich das Bett und sprinte ins Bad. Obwohl ich seit meiner Ankunft fast ununterbrochen die Heizung anhabe, ist es im Haus immer noch nicht richtig warm. Kein Wunder bei Außentemperaturen von minus 10°. Dagegen kommt einem der Winter in Stockholm fast sommerlich mild vor. Wird Zeit, dass das Holz für den Kamin im Wohnzimmer und den Ofen in der Küche geliefert wird. Zufrieden sehe ich mich um und freue mich, dass die Zimmer trotz der spärlichen Möblierung inzwischen richtig wohnlich aussehen.

 

*

 

Je näher ich vor fünf Tagen meinem Ziel kam, umso kälter schien es zu werden. Als ich vom Bahnhof auf die Straße stolperte, war meine Ankunft angenehm unspektakulär. Ein fremdes Gesicht mit zwei großen Koffern und einem riesigen Rucksack auf dem Rücken schien trotz der geringen Einwohnerzahl kaum jemanden zu interessieren. Der Lastwagen vor dem kleinen Supermarkt wurde unbeirrt weiter von zwei Männern entladen, mehrere Fußgänger eilten an mir vorbei und selbst der Briefträger war ausschließlich auf das Verteilen seiner Post konzentriert.

Ich unterdrückte ein Gähnen, atmete die eisige, glasklare Luft ein und sah mich neugierig um. Es gab nur eine lange Hauptstraße, die seltsam unpassend zwischen der ansonsten ursprünglichen Natur wirkte. Zwei schmale Straßen und ein Feldweg, welche von ihr abgingen, ließen noch auf weitere Zivilisation schließen. Auf einem Berg, der hinter dem Bahnhofsgelände aufstieg, thronte eine Skistation, die neben dem Nationalpark für Touristeneinnahmen sorgte. In den Ort selbst verirrte sich anscheinend niemand, denn ich konnte weder Busse noch Autos mit fremden Kennzeichen ausmachen.

Natürlich befand sich die Tankstelle, mein neues Zuhause, am anderen Ende des Ortes. Gerade als ich seufzend die Riemen des schweren Rucksacks festzog und nach den Koffern griff, erschien eine ältere Frau am Eingang des Supermarktes. Sie rief zwei jungen Burschen etwas zu, die daraufhin mit zwei Bollerwagen auf mich zukamen. Sie stellten sich als Bent und Sven vor, wuchteten je einen Koffer in die Wagen und zogen sie unaufgefordert die Straße hinunter. Auf Höhe des Marktes blieb ich stehen und ging auf die Frau zu, welche inzwischen an einer der Säulen lehnte, die rechts und links das Vordach stützten, und an einer dicken Zigarre paffte. Im Gegensatz zu mir und den jungen Männern, die sich durch dicke Jacken, Stiefel und Mützen vor der Kälte schützten, trug sie bloß normale Jeans, feste Wanderschuhe und eine Schürze über einem Norwegerpullover.

„Hallo, mein Name ist Peer Blom“, stellte ich mich vor. „Vielen Dank für die Hilfe. Das wäre eine elende Schlepperei für mich geworden.“ Sie zog an der Zigarre, begutachtete mich einen langen Moment und nickte schließlich.

„Ich heiße Almina, aber alle nennen mich Al.“ Sie schob sich die Zigarre in den Mundwinkel und hielt mir ihre schwielige Hand hin. Ich nahm sie und erwiderte den erstaunlich festen Griff. „Wie kommt’s, dass du die Tankstelle gekauft hast? Sie war keinen Tag auf dem Markt.“

„Ich hatte meine Wünsche bei einigen Maklern hinterlegt, weswegen man mich sofort kontaktierte. Der Preis war akzeptabel, also habe ich zugeschlagen.“ Sie bedachte mich mit einem wachsamen Blick.

„Verstehe. Was hast du mit dem Grundstück vor? Willst du es auf Vordermann bringen und dann wieder verkaufen? Falls ja, gibt es hier bestimmt den ein oder anderen, der dir schon jetzt ein gutes Angebot machen kann.“ Sie hoffte, dass ich schnell wieder verschwinden würde. Aber aus welchem Grund?

„Hier kennt garantiert jeder jeden. Wieso ist die Tankstelle überhaupt auf den Markt gekommen?“ Nun war es an mir, Al genauer zu betrachten. Sie blies ein paar Rauchkringel in die Luft und schnippte ein wenig Asche auf den Boden, ehe sie antwortete.

„Fynn starb überraschend und Oliv, seine zweite Frau, war hier nie richtig glücklich. Sie hat gleich nach seinem Tod ihre Siebensachen gepackt und ist abgereist. Wer weiß, sie glaubte vielleicht, dass sie von einem Fremden mehr Geld erhalten würde.“ Die Begründung war lächerlich. Wie hoch standen die Chancen, dass diese Oliv kurzfristig jemanden fand, der eine Immobilie – fernab jeglicher Zivilisation – suchte? Also wollte sie, aus welchem Grund auch immer, nicht an einen Ortsansässigen verkaufen. Das ging mich jedoch zum Glück gar nichts an.

„Das wird nicht nötig sein, denn ich plane zwar tatsächlich in die Tankstelle zu investieren, aber nicht um sie zu wieder zu verkaufen, sondern um sie zu betreiben.“

„Blödsinn, du bist ein Städter und hältst es garantiert keine drei Monate bei uns aus!“ In unser Gespräch platzten Bent und Sven, die verkündeten, dass sie Koffer und Rucksack an meinem neuen Zuhause abgestellt hätten. Ich bedankte mich artig und drückte den erfreuten Jungs je einen 100-Kronen-Schein in die Hand. Anschließend bedachte ich Al mit einem herzlichen Lächeln.

„Warten wir’s ab und danke für die Hilfe. Ich schaue morgen vorbei und fülle meine Vorräte auf.“

„Tu das und geh nach Einbruch der Dunkelheit nicht ins Freie. Wilde Tiere sind nachtaktiv“, sagte sie und wirkte plötzlich ausgesprochen besorgt. Ich versprach es, beschloss aber, nicht allzu viel auf ihr Gerede zu geben, denn ich hielt es für unwahrscheinlich, dass Elche oder Polarfüchse in den Ort liefen, um mich anzugreifen. So weit ab vom Schuss wurde man womöglich automatisch ein bisschen seltsam.

 

*

 

Angezogen und mit einem Thermobecher bewaffnet, in dem sich heißer Kaffee befindet, verlasse ich meine Wohnung und gehe die Außentreppe hinunter. Ich habe nicht viele Möbel aus Stockholm mitgenommen, nur mein Bett, den großen amerikanischen Kühlschrank, meinen Fernseher und zwei bequeme Retrosessel. Die restliche Einrichtung habe ich gespendet und mir online alles neu bestellt. Gegen einen kräftigen Aufpreis kommen heute zwei LKWs, die eine Küche, ein riesiges Wohlfühlsofa, Kleiderschrank, Kommoden, Teppiche und eine komplette Gästezimmereinrichtung für Stian anliefern.

Die letzten Tage habe ich damit verbracht, zu putzen und alle Räume frisch anzustreichen. Heute ist mein zukünftiger Arbeitsplatz dran. An den Zapfsäulen kann man bereits seit vorgestern Benzin tanken, allerdings nur mit Kreditkarte bezahlen. Wenn ich meinen Zeitplan einhalte, eröffne ich noch vor dem Wochenende. Langsam steigt meine Aufregung, denn nachdem mir nun doch einige Einwohner eher misstrauische Beachtung geschenkt haben, hoffe ich, dass sie meine Tankstelle nicht boykottieren werden. Ich schließe gerade die Türen zum Lagerraum auf, der momentan nur leere Regale beherbergt, als ein offener Kastenwagen auf den Hof fährt.

Ein hochgewachsener Mann steigt aus, dessen Muskeln deutlich unter seinem Holzfällerhemd sowie der ausgeblichenen Jeans hervortreten. Trotz seiner lässigen Kleidung sind seine schwarzen Haare akkurat geschnitten, der Bart perfekt gestutzt. Als er eine dicke Daunenjacke vom Beifahrersitz nimmt und anzieht, kann ich erkennen, dass es sich um eine ausgesprochen teure Marke handelt.

„Hallo, bist du Peer?“ Er kommt auf mich zu und wir schütteln uns die Hände. „Tamo Jönsson“, stellt er sich vor. „Ich bringe das Brennholz, das du bestellt hast.“

„Du bist doch kein Holzfäller?“, rutscht mir heraus, was mein Gegenüber zum Schmunzeln bringt.

„Was hat mich verraten?“, erwidert Tamo, während er weiter meine Hand hält. Verlegen sehe ich zu Boden und versuche mich von ihm zu lösen, was er jedoch erst ein paar lange Sekunden später zulässt. „He, die Frage muss dir nicht peinlich sein. Der Naturbursche in unserer Familie ist mein Bruder Jeldrik, doch er war verhindert, deswegen bin ich für ihn eingesprungen. Unserer Sippe gehören neben dem Forstbetrieb auch die Skistation sowie der Supermarkt. Meine Tante Al hast du ja bereits kennengelernt, habe ich gehört. Ich kümmere mich um die Finanzen, das Personal und deren Gehälter.“ Ich versuche mich auf seine Worte zu konzentrieren, bin jedoch viel zu sehr von seinen dunkelbraunen Augen eingenommen. Der Kerl ist verboten sexy. Verdammt, noch keine Woche hier und schon bin ich in Schwierigkeiten.

Impressum

Texte: Caro Sodar
Cover: Bildmaterialien: Shutterstock.com, Pixabay.com, Bearbeitung: Caro Sodar
Lektorat: Bernd Frielingsdorf
Tag der Veröffentlichung: 10.11.2019

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