Sämtliche Personen und Ereignisse sind frei erfunden. Ähnlichkeiten wären rein zufällig.
Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung der Covermodels aus.
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Arian und Javid lernen sich an einer französischen Business-Schule kennen, wo sie sich für ein Masterstudium in internationaler Kochkunst angemeldet haben. Zwischen den beiden entwickelt sich eine enge Freundschaft mit gewissen Vorzügen und trotz ihrer unterschiedlichen Lebensziele halten sie über viele Jahre hinweg Kontakt.
Für Arian stellt Javid eine seiner wichtigsten Bezugspersonen dar und als er bemerkt, dass dieser sich von ihm zurückzieht, ist für ihn klar, dass er handeln muss. Auf keinen Fall darf er seinen besten Freund verlieren. Aber sind sie wirklich nur Freunde oder schon längst viel, viel mehr?
Dass Javid nicht am letzten Vortragswochenende der Royal Society in London teilnahm, beunruhigte mich nicht. Denn trotz unserer Bemühungen, bei bestimmten Events aufeinanderzutreffen, klappte es eben nicht immer. Mein Freund hatte mir außerdem kurz zuvor geschrieben, dass er es nicht schaffen würde und damit war es gut. Als er allerdings nicht am Madrider Flughafen auftaucht und keiner – mich eingeschlossen – von ihm gehört hat, schnappe ich mir mein Smartphone und schicke Javid eine Nachricht.
Einmal im Jahr treffen wir uns mit circa zwanzig weiteren Köchen, um mithilfe von Spendengeldern zehn Tage lang in verschiedenen Kindergärten und Schulen Afrikas zu kochen. Unsere Hilfe ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, dennoch ist es zutiefst befriedigend, dabei zuzusehen, wie sich die Kinder die Bäuche vollschlagen. Javid liebt diese Aufgabe besonders, deshalb muss schon etwas Schwerwiegendes vorgefallen sein, wenn er nicht erscheint.
Nach fünfzehn Minuten ohne eine Antwort verliere ich die Geduld und suche aus der Kontaktliste Javids Nummer heraus. Es klingelt etliche Male, ehe er sich endlich meldet.
„Wo steckst du, verflucht?“, meckere ich sogleich auf Spanisch los.
„Arian, bist du das? Zu Hause, und selbst?“
Er klingt müde, wodurch ich mich schlagartig beruhige und sage: „Ich bin auf dem Weg nach Nigeria, Lulo.“
„Mist, das habe ich total vergessen!“
„Was ist los?“, frage ich besorgt und stelle mir vor, dass er – wie so oft – gedankenverloren an seinem Bart zupft.
„Ana Sofia ist abgehauen und meine Mamá hat sich den Arm gebrochen.“
„Merde“, wechsele ich ins Französische. Javids Schwester ist ein liebes Mädchen, die oft unüberlegt handelt und nur in seltenen Fällen über mögliche Konsequenzen nachdenkt. „Hat sie Eva mitgenommen?“
„Was glaubst du?“ Mein Freund schnauft ungehalten. Ich lasse mich auf eine der harten Wartebänke plumpsen und streiche mir mit der Hand über die Augen. Mit fünfzehn wurde Ana Sofia schwanger und bekam nach anfänglichen Schwierigkeiten ihre Mutterrolle ganz gut in den Griff. Zumindest dachte ich das. Nachdem Javid vor vier Jahren sein Restaurant eröffnete, schaffte er für seine Familie eine sichere Einnahmequelle. Er kocht, seine Mutter fungiert als Sous Chef und dann gibt es stets zwei Köche in Ausbildung. Ana Sofias Bereich ist oder besser war der Gastraum, den sie mit wechselnden Aushilfen aus der Nachbarschaft betreute. Ohne die Mitarbeit der beiden gerät Javid in arge Bedrängnis.
„Hast du schon Ersatz gefunden?“
„Im Service komme ich über die Runden, aber in der Küche wird es eng. Für Mittwoch hat sich Romero angekündigt.“ Er seufzt und ich tue es ihm gleich. Der bekannte Restaurantkritiker hätte sich wirklich keinen ungünstigeren Besuchstermin aussuchen können, um das Santos zu testen. „Hör mal, ich muss weiter“, sagt Javid in diesem Moment. Ich möchte noch länger mit ihm sprechen, aber nach einem kurzen Abschiedsgruß ist die Leitung tot.
„Na, so einfach wirst du mich nicht los“, murmle ich leise und wähle eine andere Nummer aus meiner Kontaktliste aus. Dieses Mal dauert es keine zwei Sekunden, da meldet sich eine fröhliche Stimme.
„Hallöchen, Ari! Was kann ich denn heute für meinen Lieblingskoch tun?“ Ich schüttle den Kopf, muss aber gleichzeitig grinsen.
„Hast du für die nächsten zehn Tage irgendwelche Pläne, Maxime?“
„Wieso?“, fragt er gedehnt, doch eindeutig interessiert.
„Was hältst du davon, für die Kinder in Afrika zu kochen?“
„Wie du weißt, habe ich keine Zusage erhalten und du hast zusätzlich getönt, dass ich noch nicht so weit …“
„Ja, ja, vergiss, was ich gesagt habe und schwing deinen Knackarsch zum Flughafen. Du kannst meinen Platz einnehmen, wenn du möchtest.“
„Du gibst mir deinen Platz?“ Er klingt deutlich überrascht. „Magst du mir das erklären?“
„Ein unaufschiebbarer Notfall“, antworte ich vage.
„Hm, du willst es mir nicht sagen“, vermutet er richtig. „Na gut, einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul. Ich mach’s und bin so schnell ich kann da. Ach, und Ari … irgendwann verrätst du mir seinen Namen.“
„Vielleicht ist es ja eine Sie?“ Ich beende das Gespräch, bevor der nach Luft schnappende Maxime zu einer Entgegnung ansetzen kann, und gehe lachend zum Schalter, um einen neuen Flug zu buchen. Ein paar Stunden muss ich in der Abflughalle warten, bis der Flieger nach Peru aufgerufen wird. Knapp fünfzehn Stunden später habe ich endlich mein Ziel erreicht. Müde, zerzaust und hungrig schleppe ich mich zu einer der Leihwagenfirmen, wo ich den Vertrag in Turbogeschwindigkeit ausfülle und der verdutzten Mitarbeiterin den Autoschlüssel fast aus der Hand reiße.
Zielstrebig lenke ich den Mietwagen vom Flughafengelände auf die Schnellstraße. Ich passiere das Zentrum von Cusco, umrunde den historischen Altstadtkern und nehme die Bundesstraße in Richtung der berühmten Ruinenstadt, die jährlich von Massen an Touristen heimgesucht wird. Kleinere Ortschaften, die sich im näheren Umfeld befinden, profitieren ebenfalls von den Besuchern aus aller Welt, da diese dort oft einen Zwischenstopp einlegen. Gelegentlich wegen ihres Interesses an der ursprünglichen Lebensweise, in der Regel jedoch, um ihre hungrigen Mägen zu füllen.
Gegenüber den größtenteils rustikalen Gasthöfen sticht Javids ausgefallene Sterneküche stark hervor. Dabei nutzt er wie viele andere fast ausschließlich regionale Zutaten, die auch noch häufig aus eigenem Anbau stammen. Ich liebe es, durch seine Obsthaine zu schlendern und zuzusehen, wie das Gemüse aus dem reichhaltigen Boden sprießt. Er hält außerdem Alpakas als Haustiere und züchtet Forellen in groß angelegten Teichen.
Die peruanische Küche ist von den unterschiedlichsten Einflüssen geprägt und basiert in dieser Region neben Kartoffeln vor allem auf Mais. Die bekannte Pflanzenart wird nicht nur als traditionelle Beilage, sondern auch in Desserts und im Chicha de Jora, dem Maisbier der Ureinwohner, verarbeitet. Ebenso beliebt sind Pachamanca, würzige Eintöpfe, die man entweder langsam auf heißen Steinen köchelt oder von Bananenblättern umwickelt, eingebettet in tiefen Erdlöchern erhitzt. Ich habe eine Schwäche für Cevice, rohen Fisch in Limettensoße, den ich ganz klein hacke und mit roten Zwiebeln, Chili sowie Kräutern verfeinere. Dazu Süßkartoffeln oder gerösteten Mais – ein Hochgenuss.
Ich ignoriere meinen grummelnden Magen und überlege lieber, ob ich Javid über meine baldige Ankunft informieren soll. Es gibt keinen triftigen Grund für meine Geheimniskrämerei, außer einem komischen Gefühl, das ich mir nicht genau erklären kann. Egal wie gestresst mein Freund auch gewesen sein mag, mich am Telefon so kurz angebunden abzuwürgen entspricht so gar nicht seiner sonstigen Art. Möglicherweise reagiere ich bloß empfindlich, denn dass wir uns in London nicht gesehen haben, nehme ich ihm wirklich nicht krumm. Ja, es stimmt schon, auch davor ist ein Treffen nicht zustande gekommen, doch wir haben zwischendurch per Messenger Kontakt gehalten und … selbst da hat sich Javid bereits sehr kühl mir gegenüber verhalten. Wieso habe ich das nicht früher bemerkt? Merde!
Zum Glück kenne ich die Strecke, denn anstatt mich aufs Fahren zu konzentrieren, driften meine Gedanken in die Vergangenheit ab. Vor sechs Jahren schrieb ich mich an einer der bekanntesten französischen Business-Schulen für das Masterstudium in internationaler Kochkunst ein. Dort begegnete ich Javid zum ersten Mal. Während mein Hauptaugenmerk auf der kulinarischen Verbindung zwischen Menschen und der Natur lag, waren meinem Freund die strategischen und innovativen Wege bei der Unternehmensführung in der Luxusgastronomie wichtig. Für ihn war klar, dass er sich irgendwann niederlassen und ein eigenes Restaurant leiten würde. Ich wollte lieber überall auf der Welt kochen; Neues lernen und Wissen austauschen. Was wir jedoch von Anfang an teilten, war unsere Überzeugung, dass man den Gaben der Erde Demut entgegenbringen sollte.
Wir saßen stundenlang zusammen, philosophierten, schmiedeten Pläne oder ließen den anderen an unseren Erinnerungen und Erlebnissen teilhaben. Wir waren uns so verdammt nah. Zuerst nur auf geistiger Ebene, als Freunde und Verbündete. Nach einer Weile wurde es mehr. Völlig ungezwungen, wie eine logische Konsequenz, und tatsächlich fühlte sich unsere körperliche Vereinigung ebenso selbstverständlich wie die mentale an.
Javids Lippen, oh Gott, niemand hatte mich je so geküsst wie er und würde es wohl auch nie tun. Nicht, dass ich es seitdem ausprobiert hätte. Mein Fuß landet auf der Bremse und ich sehe hektisch in den Rückspiegel, ehe ich schlitternd am Straßenrand stoppe. Glücklicherweise ist kein anderes Auto in Sicht. Ich lehne meine Stirn ans Lenkrad und schließe kurz die Augen. Es war mir nicht bewusst, dass ich keinen Mann mehr geküsst habe, seit ich Javid kenne. Dabei war Exklusivität nie ein Thema, da sich unsere Wege eben nur unregelmäßig kreuzen. Mindestens einmal pro Jahr besuche ich ihn in Peru, wir kochen gemeinsam in Afrika und Javid nimmt an ein oder zwei Veranstaltungen teil, bei denen ich ebenfalls erscheine. Es gab eine Zeit, da hat es häufiger geklappt, doch seit etwa anderthalb Jahren wird es immer weniger.
Er zieht sich zurück und ich habe es nicht bemerkt.
In diesem Moment bereue ich meinen übereilten Plan, setze mich auf und greife nach meinem Handy. Wenn er mich nicht hier haben will, ist es vielleicht besser, ihn gar nicht erst mit meiner Anwesenheit in Verlegenheit zu bringen.
Ich starre das schwarze Display an und werfe es wieder auf den Beifahrersitz. „Feigling“, schimpfe ich mit mir selbst. Falls ich wirklich verschwinden soll, muss er mir das gefälligst ins Gesicht sagen. Entschlossen fahre ich weiter und bemühe mich, das Chaos in meinem Kopf zu ignorieren. Gar nicht so einfach, denn auf einmal stürmen zig Begebenheiten auf mich ein.
Sofort nach unserem Abschluss verließen wir Frankreich und gaben Kochkurse für Unternehmen in einem Ferienresort. Das Ziel war, jungen Führungskräften beizubringen, wie man seine verschiedenen Sinne nutzen kann, um starke Emotionen bei Kunden und Geschäftspartnern zu wecken. Obwohl wir fast rund um die Uhr aufeinanderhingen, gingen wir uns nicht auf die Nerven. Spaß am Tag, Leidenschaft während der Nacht. Ich trieb vor mich hin und genoss die herrliche Unbeschwertheit, bis ich eine Anfrage für eine Vortragsserie durch Indien erhielt. Plötzlich fielen mir meine ursprünglichen Pläne ein und dass ich doch unbedingt die Welt bereisen wollte. Javid hielt mich nicht auf, unterstützte sogar meinen Entschluss. Also packte ich mein Zeug, ließ meinen Freund zurück und folgte meiner Bestimmung.
Die ersten Wochen und Monate hielten wir engen Kontakt und als wir uns endlich wiedersahen, war sie immer noch da, die innige Verbundenheit, unsere Lust aufeinander und was mich betraf, die Erkenntnis, wie sehr ich Javid vermisst hatte. Deswegen war es wohl auch nicht verwunderlich, dass mir unsere erneute Trennung schwer zusetzte. Mein Freund schien damit keine Probleme zu haben, weswegen ich meine Gefühle verbarg, um sie ganz tief in mir drin einzuschließen.
Während der nächsten Treffen hatte ich mich besser im Griff und konnte unsere gemeinsame Zeit ohne Herzschmerz genießen. Möglicherweise lag es daran, so hoffte ich zumindest, dass sich meine Arbeit so abwechslungsreich und spannend gestaltete oder meine Schwärmerei schlicht und ergreifend verflogen war. Ich veröffentlichte Artikel in wissenschaftlichen Zeitungen, gab Vorträge über die Zukunft des Essens und kochte mit Eingeborenen, was mir die Ursprünge ihrer Kultur näherbrachte. Ich war so beschäftigt, dass ich weder nach einem Bettpartner Ausschau hielt noch gelegentlichen Avancen nachgab. Wenn ich mir in einsamen Nächten einen Mann vorstellte, dann erschien stets Javids Gesicht vor meinem inneren Auge. Nun ja, bis heute hat sich nicht viel an meiner Vorliebe geändert.
Kurz vor der nächsten Abzweigung betätige ich den Blinker und biege rechts ab. Gleich neben dem Ortseingang wirbt ein Schild für das Santos. Ich schmunzle, als ich daran denke, wie schwer es war, den verdammten Holzpfahl ins Erdreich zu rammen. Anstelle ein Loch auszuheben und das Ganze anschließend einzuzementieren, kamen Javid und ich auf die glorreiche Idee, den trockenen Boden zu wässern. Er sollte aufweichen, sodass wir den angespitzten Pfosten hineindrehen konnten. Nach ein paar Zentimetern war jedoch Schluss und wir begannen auf dem inzwischen schlammigen Untergrund zu rutschen. Javid versuchte sich am Pfahl festzuhalten und ich mich an ihm. Wir kippten in Zeitlupe zur Seite und landeten bäuchlings im Matsch.
Mehrstimmiges Gelächter verriet uns, dass wir Zuschauer angelockt hatten. Einen Bulli voller Touristen, die unsere unfreiwillige Showeinlage mit Smartphones, Fotoapparaten sowie Videokameras festhielten. Als wir endlich wieder auf unseren Füßen standen, verneigten wir uns, was erneute Erheiterung auslöste. Die Gruppe bestand darauf, in Javids Restaurant einzukehren. So viel Trinkgeld wie an diesem Tag hat er, soweit ich weiß, bis heute nicht mehr erhalten.
Ich lasse den Wagen zwischen drei Meter hohen Kakteen hindurchrollen, welche beidseitig die Einfahrt zum Grundstück der Familie Santos säumen. Hinter einer gepflegt angelegten Rasenfläche lädt die Terrasse des Restaurants zum Verweilen ein und auf der linken Seite warten zwei Schaukeln sowie ein Klettergerüst auf spielende Kinder. Parkplätze für PKWs wurden an der Rückseite geschaffen; Busse müssen auf dem Feld vor dem Gelände abgestellt werden.
Wie von meinen vorherigen Besuchen her gewohnt, fahre ich in den ausgeschilderten Privatbereich hinein und halte vor dem restaurierten Landhaus, in dem Javid mit seiner Familie lebt. Rustikal, die Fassade mit Steinen und Holz verkleidet verschmilzt es harmonisch mit der umliegenden Landschaft. Helikonien, auch als falsche Paradiesvogelblumen bekannt, Cantuta und Orchideen teilen sich den Platz mit Lianen sowie weiteren Baumarten, die eine natürliche Blätterdecke bilden. Das Gezwitscher verschiedener Vogelarten und leider auch das laute Organ der roten Brüllaffen erwecken die grüne Lunge zum Leben. Ich kenne kaum einen Ort auf der Welt, an dem ich je mehr innere Ruhe und Frieden gefunden hätte als hier. Man kann gar nicht glauben, dass im Haus alles mit modernem Komfort ausgestattet ist und es sogar eine – wenn auch langsame – Internetverbindung gibt.
Mein Klopfen an der Vorder- sowie Hintertür bringt keinen Erfolg, woraus ich schließe, dass sich niemand im Haus aufhält. Ein Blick auf meine Armbanduhr zeigt, dass das Restaurant in wenigen Minuten öffnet. Also wird Javid garantiert bereits in der Küche herumwirbeln und wahrscheinlich sind Grace, seine Mutter, und die kleine Eva bei ihm. Ich entscheide, meinen Kram im Kofferraum zurückzulassen und mich zu Fuß auf die Suche zu begeben.
Die ersten Gäste kommen zeitgleich mit mir an. Drei Autos und ein Minivan dürften einen Großteil der Tische füllen. Ich durchquere freundlich grüßend den Gastraum, um zur Küche zu gelangen. Kurz davor werde ich von einer hübschen Frau, an deren Kleidung ich erkenne, dass sie zum Servicepersonal gehört, abgefangen. Ehe ich mich ihr vorstellen kann, bringt ein hoher Schrei meine Trommelfelle zum Klingeln. Im nächsten Moment hängt ein junges Mädchen fröhlich lachend an meinem Hals.
„Ari, was tust du denn hier?“ Ich vergrabe mein Gesicht in ihren langen, dunklen Haaren und drehe mich einmal mit ihr im Kreis.
„Mir wurde berichtet, dass du wieder nur Blödsinn anstellst und ich bin hergekommen, um dich übers Knie zu legen.“ Sie wirft den Kopf in den Nacken und kichert. „Suri, Suri, Suri, immer noch derselbe Kindskopf“, ziehe ich sie auf. Suri ist die Tochter der Nachbarin, welche seit Ewigkeiten mit Javids Schwester befreundet ist und neben dem Studium regelmäßig im Restaurant aushilft.
„Das musst ausgerechnet du sagen“, kontert sie sogleich und stellt mich anschließend Nicol, ihrer Kollegin, als engen Freund der Familie vor. „Hast du schon gehört, dass Ana Sofia weg ist?“ Von einer Sekunde auf die andere rutschen ihre Mundwinkel nach unten.
„Ja, und ich weiß auch von Grace‘ gebrochenem Arm. Deswegen bin ich hergeflogen, um Javid zu unterstützen.“
„Gut, auch wenn du dir ganz schön Zeit gelassen hast.“ Ich gebe ihr einen spielerischen Klaps auf den Hintern.
„Ist er in der Küche?“
„Ich denke, aber bin selbst eben erst gekommen.“ Suri sieht fragend zu Nicol, die bedauernd den Kopf schüttelt.
„Javid ist heute früh zum Markt gefahren und hätte vor zwei Stunden zurück sein sollen.“
„Habt ihr versucht ihn anzurufen?“, frage ich.
„Aber ja, doch er hat sein Telefon in der Schublade vergessen.“ Während wir miteinander sprechen, öffnet Nicol verschiedene Flaschen und verteilt die Flüssigkeiten in bereitstehenden Gläsern. Sie winkt nach einem Jungen im Teenageralter, der umgehend zur Theke kommt, sein Tablett befüllt und mir kurz zunickt, ehe er die Getränke zu den Tischen bringt.
„Und wer kocht jetzt gerade für die Gäste?“
„Das ist eine gute Frage“, erwidert Suri und wickelt eine Haarsträhne um ihren Zeigefinger. Als gebürtiger Franzose liegt mir Hektik fern, aber die übertriebene Gelassenheit der Südamerikaner treibt mich gelegentlich in den Wahnsinn.
„Die Tagessuppe ist schon vorbereitet und ein paar der Salate kriegen die Lehrlinge auch hin“, meldet sich Nicol zu Wort.
„Wie steht es mit Vorspeisen, Hauptgerichten, Fisch und Desserts?“
„Bis das serviert werden muss, ist der Chef bestimmt zurück.“ Ich verkneife mir nachzufragen, was sie denn zu tun gedenken, falls er nicht auftaucht, und greife stattdessen nach einer der Schürzen, die zusammengefaltet unter der Theke liegen. Mit der Speisekarte bewaffnet drücke ich gegen die Schwingtür zur Küche und betrete Javids Heiligtum. Breit grinsend stelle ich mich den zwei erwähnten Burschen vor, die mich ansehen, als wäre ich eine Erscheinung, und im nächsten Moment scheuche ich sie bereits durch die Gegend. Bis Javid wieder da ist, beschließe ich mich hier gehörig austoben.
Henry arbeitet als Auslieferfahrer bei einer Lebensmittelkette. Dass er mit seinem Verdienst keine großen Sprünge vollbringen kann, findet er nicht schlimm, da er sowieso niemals ausgeht und auch sonst sehr zurückgezogen lebt. Neben der Restaurierung gebrauchter sowie ausrangierter Kleinmöbel sind die Besuche in einer Zuflucht für Tiere seine einzige Leidenschaft.
Deshalb ist Henry gar nicht sicher, ob er auf die deutliche Anmache eines Kunden eingehen oder ihn besser zurückweisen soll. Nachdem sie von dessen Freund überrascht werden, bereut Henry, nicht auf seine innere Stimme gehört zu haben. Für diese Einsicht könnte es tatsächlich zu spät sein, denn obwohl der Mann umwerfend gut aussieht, erinnert er von seiner Größe her an einen nordischen Krieger.
Trotz der miesen Aussichten schafft er es, die Wohnung der beiden unbeschadet zu verlassen. Nach ein paar Tagen hat er sein Erlebnis unter „interessante Erfahrungen“ abgehakt, als er erneut dem attraktiven Hünen gegenübersteht. Dieses Mal, davon ist Henry überzeugt, stehen seine Chancen denkbar schlecht, heil aus ihrer Begegnung herauszukommen.
Texte: Caro Sodar
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Lektorat: Bernd Frielingsdorf
Tag der Veröffentlichung: 16.03.2019
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