Henry arbeitet als Auslieferfahrer bei einer Lebensmittelkette. Dass er mit seinem Verdienst keine großen Sprünge vollbringen kann, findet er nicht schlimm, da er sowieso niemals ausgeht und auch sonst sehr zurückgezogen lebt. Neben der Restaurierung gebrauchter sowie ausrangierter Kleinmöbel, sind die Besuche in einer Zuflucht für Tiere seine einzige Leidenschaft.
Deshalb ist Henry gar nicht sicher, ob er auf die deutliche Anmache eines Kunden eingehen oder ihn besser zurückweisen soll. Nachdem sie von dessen Freund überrascht werden, bereut Henry, nicht auf seine innere Stimme gehört zu haben. Für diese Einsicht könnte es tatsächlich zu spät sein, denn obwohl der Mann umwerfend gut aussieht, erinnert er von seiner Größe her an einen nordischen Krieger.
Trotz der miesen Aussichten schafft er es, die Wohnung der beiden unbeschadet zu verlassen. Nach ein paar Tagen hat er sein Erlebnis unter ‚interessante Erfahrungen‘ abgehakt, als er erneut dem attraktiven Hünen gegenübersteht. Dieses Mal, davon ist Henry überzeugt, stehen seine Chancen denkbar schlecht, heil aus ihrer Begegnung herauszukommen.
Als Henry am frühen Morgen im Verteilerlager ankam, hatten sich vier der Auslieferfahrer krankgemeldet. Um die Bestellungen trotzdem pünktlich abzuliefern, wurden die Touren von den Distributoren einfach auf die restlichen Angestellten aufgeteilt. Somit schleppte Henry seit über zehn Stunden Lebensmitteltüten sowie schwere Getränkekästen in die Haushalte. Dabei arbeitete er normalerweise bloß fünfundzwanzig Stunden in der Woche und sogar das brachte ihn oft genug an seine Grenzen. Am liebsten hätte er sich bereits vor drei Stunden ausgeklinkt, nur sein Pflichtbewusstsein hinderte ihn daran.
Alle Straßenmarkierungen waren gänzlich unter einer dicken Schneedecke begraben und selbst die Übergänge zu den Bürgersteigen konnte man nicht mehr erkennen. Egal wie schön die weiße Winterlandschaft auch aussah, das Wetter erschwerte Henry die Fahrt mit seinem Kleintransporter immens. Hinzukam, dass seine Konzentration am seidenen Faden hing, von den Schmerzen in seinem Rücken ganz zu schweigen.
Zweimal war er vor unzureichend freigeschippten Hauseingängen ausgerutscht und hatte nur mit Müh und Not sein Gleichgewicht gehalten. Mehrere Kunden beschwerten sich, als Henry verspätet bei ihnen anlieferte. Andere hingegen waren zum Glück verständnisvoll, boten ihm heißen Kaffee an und gaben sogar ein Trinkgeld. Kurz nach 21 Uhr trug er die verbliebenen Tüten zu einem älteren Mehrfamilienhaus, in dem es leider keinen Aufzug gab.
Die letzten Treppen für heute, machte er sich selber Mut, bevor er die erste Stufe erklomm. Als er in der vierten Etage ankam, ging sein Atem so schwer, dass er den Oberkörper nach vorn beugen und die Hände auf seinen Knien abstützen musste.
„He, Alter, kippst du gleich um?“ Henry sah auf und entdeckte einen jungen Mann, der gelassen am Rahmen der geöffneten Wohnungstür lehnte. Ohne den zotteligen Bart und das spöttische Lächeln, würde er gut aussehen, dachte Henry und griff nach den vollen Papiertüten.
„Wo darf ich die Sachen abstellen?“, fragte er und versuchte, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.
„Park den Kram hierher in den Flur.“ Der Mann zeigte mit dem Daumen hinter sich, bewegte sich jedoch kein Stück zur Seite, sodass Henry gezwungen war, sich an ihm vorbeizuzwängen. Er stellte die Tüten neben der Garderobe ab und zog den zusammengefalteten Lieferschein aus seiner Gesäßtasche. Als er sich umdrehte, stand der Mann plötzlich ganz nah vor ihm und betrachtete ihn interessiert.
„Wieso suchst du dir so einen Job aus, wenn dir das Schleppen schwerfällt?“ Henry könnte ihm von den erkrankten Kollegen erzählen und davon, dass er schon den ganzen Tag durcharbeitete. Aber dafür war er zu müde und außerdem fand er, dass es den Kerl überhaupt nichts anging.
Statt einer Antwort gab er ihm die Papiere sowie einen Stift und sagte: „Wären Sie bitte so nett und würden hier unterschreiben? Der Durchschlag ist dann für Sie.“ Das spöttische Lächeln erschien erneut, zuzüglich zu einer angehobenen Augenbraue.
„Bitte sehr.“ Er hielt Henry den unterschriebenen Lieferschein hin, doch als er danach greifen wollte, griff der Mann nach seinem Handgelenk und zog ihn mit einem Ruck zu sich heran. „Trinkgeld“, erklärte er und senkte seinen Mund auf Henrys. Sein erster Impuls war, sich sofort zurückzuziehen, doch die Lippen des Mannes fühlten sich unerwartet gut an. Die Barthaare waren zudem erstaunlich weich, weswegen Henry es geschehen ließ und sich dem Kuss hingab. Sein geringer Widerstand konnte auch damit zusammenhängen, dass das letzte Mal, seit ihn jemand geküsst hatte, verdammt lange her war. Nach einer Weile leckte eine Zungenspitze Henrys Oberlippe entlang, die er widerstandslos willkommen hieß, indem er seinen Mund öffnete.
„Du schmeckst wirklich gut“, murmelte der Mann, während er die Arme um Henry schlang. Das Ganze hier war völlig verrückt, aber gleichzeitig viel zu erregend, um grundlos aufzuhören. „Wann hast du Feierabend?“ Henry brauchte einen Moment, bis die Frage durch sein vernebeltes Gehirn gedrungen war.
„Jetzt“, verriet er, woraufhin sich der fremde Mann neuerlich auf seine Lippen stürzte. Er trat mit dem Fuß gegen die Wohnungstür, die daraufhin lautstark hinter ihnen zuknallte. Henry wurde rückwärts durch den Flur ins Schlafzimmer hineingeschoben. Kurz nachdem sie ineinander verkeilt auf das Bett gefallen waren, durchbrach der penetrante Ton der Türklingel die Ruhe. Da Henrys Kusspartner keinerlei Anstalten machte aufzustehen, versuchte er, das wiederholte Läuten, ebenfalls zu ignorieren. Erst als es sich mit dumpfem Hämmern abwechselte, unterbrach er seufzend ihr Tun. „Willst du nicht nachsehen gehen, wer das ist?“ Der Mann erhob sich widerwillig, schloss den Knopf seiner Jeans und zog den Reißverschluss nach oben.
„Bin sofort wieder da“, versprach er eindringlich, bevor er aus dem Raum stürmte. Henry hörte deutlich, wie er die Eingangstür aufriss und rief: „Was soll’n der Scheiß, hier so nen Krach zu schlagen?“ Und dann nichts mehr. Kein Mucks, stattdessen Totenstille. Beunruhigt trat Henry aus dem Zimmer und blieb gleich darauf wie festgewachsen stehen. Ein zwei Meter Koloss, mit blonden, zum Zopf gebundenen Haaren und Vollbart, hielt den Mann in seinen Armen, mit dem er sich noch vor wenigen Minuten auf der Matratze gewälzt hatte. Er war sich selten so fehl am Platz vorgekommen, wie in diesem Augenblick. Wenn die beiden und ein Seesack nicht den kompletten Türrahmen blockieren würden, hätte sich Henry dezent aus dem Staub gemacht. So blieb ihm nichts weiter übrig, als durch ein Räuspern auf sich aufmerksam zu machen. Der blonde Hüne hob den Kopf, checkte ihn ab und runzelte die Stirn.
„Möchtest du mir deinen Besucher vielleicht vorstellen, Noah?“ Zumindest wusste Henry nun den Vornamen des Mannes, dessen Küsse er noch immer auf seinen Lippen spüren konnte. Auf dem Lieferschein hatte nämlich nur N. Barth gestanden. Noah wirbelte herum und machte ein Gesicht, als wäre im völlig entfallen, dass sich bereits jemand anderes in seiner Wohnung befand.
„Ähm, das ist … also …“, faselte er unzusammenhängend und sah Henry bittend an. Ehe er antwortete, nahm er den unterschriebenen Schein an sich und drängelte sich an den zwei Männern vorbei.
„Mein Name ist Henry und ich muss jetzt los.“
„Du brauchst doch nicht gleich gehen“, sagte Noah, aber Henry winkte ab. Ganz bestimmt wollte er sich nicht mit diesem Riesen um seine Jagdgründe streiten. Denn, dass er dabei den Kürzeren zog, stand außer Frage. Außerdem fand er es nicht besonders toll, dass Noah ihn wie’s schien, als kleinen Quickie für zwischendurch betrachtete. Gut, er hatte weder gefragt, ob der Mann Single war, geschweige denn nach dessen Absichten und gewehrt hatte er sich gegen den lustvollen Übergriff auch nicht - aber trotzdem. Der alte Romantiker in ihm hoffte wohl immer noch auf die eine, außergewöhnliche, alles verändernde Begegnung mit seinem Seelenverwandten. Nicht erwähnenswert, dass er dadurch von einer Enttäuschung in die nächste schlitterte und aus diesem Grund schon länger keine Verabredungen mehr einging.
Noah kannte er kaum eine halbe Stunde und deshalb sollte er mit den aufregenden Küssen zufrieden sein und das Ganze als prickelnden Tagesabschluss abhaken. An seinem Lieferwagen angelangt, setzte er sich zwar sofort auf den Fahrersitz, fuhr jedoch nicht gleich los. Stattdessen lehnte Henry die Stirn ans Lenkrad und dachte nach. Soeben war er wie eine beleidigte Leberwurst abgerauscht, anstatt den beiden einen schönen Abend zu wünschen und ganz gelassen zu verschwinden.
„Ich bin eine furchtbare Dramaqueen“, sagte er leise zu sich selbst und schüttelte den Kopf. Nach ein paar Minuten hatte er sich wieder soweit im Griff, um den Zündschlüssel zu drehen und loszufahren. Den Wagen stellte er auf dem Hof der Firma ab und lief zur Bushaltestelle. Bei so einem Wetter blieb sein Roller besser in der Garage, die er sich mit einem seiner Nachbarn teilte.
Es war zwanzig vor elf, als Henry endlich den riesigen Häuserkomplex erreichte, in dem er ein kleines Appartement im fünften Stock bewohnte. Die alten und ausgesprochen hässlichen Möbel des Vormieters, hatte er peu à peu, über viele Monate hinweg, gegen Neuanschaffungen getauscht. Dafür trieb er sich an den Wochenenden bei Wohnungsauflösungen sowie auf Antiktrödelmärkten herum. Besonders stolz war er auf seine Schnäppchen, welche er in mühevoller Handarbeit zu ausgefallenen Einzelstücken aufgewertet hatte.
Henry warf seine Kleidung in den hölzernen Wäschekorb im Bad, der taubenblau angestrichen und mit einer rostfarbenen Patina überzogen, wie ein edles Designerstück wirkte, und zwängte sich in die winzige Duschkabine. In dem Augenblick, als er die Augen schloss und der heiße Wasserstrahl seinen Körper hinabprasselte, begaben sich seine Gedanken auf Wanderschaft. Noahs Küsse waren heißblütig und leidenschaftlich gewesen. Nicht ungewöhnlich für einen so jungen Mann. Nach Henrys Schätzung dürfte Noah nicht älter als Mitte zwanzig sein. Der blonde Hüne dagegen erschien um einiges reifer, aber das konnte durch seine Größe sowie den dichten Bart auch täuschen.
Ihm sah man jedenfalls nicht an, dass er die Dreißig seit zwei Jahren hinter sich gelassen hatte. Henry erweckte durch seine großen hellblauen Augen, die rotblonden Locken und weichen Gesichtszüge den Eindruck, ein fröhlicher Lausbub zu sein. Inzwischen war er von so einem Menschen meilenweit entfernt. Die Hoffnung, seine alte Unbeschwertheit zurückzuerlangen, hatte er sowieso vor langer Zeit begraben. Heute reichte es ihm, endlich wieder einigermaßen mit sich selbst im Reinen zu sein. Kleine Schritte, das waren die Erfolgserlebnisse, die sein Leben von jetzt an prägten.
Das Abendessen ließ er in Anbetracht der späten Stunde ausfallen und brühte sich nur noch einen Kräutertee auf. Henry liebte den würzigen Duft, den das heiße Getränk verströmte. Er war sich nicht sicher, ob ihm eine Tasse, bevor er zu Bett ging, tatsächlich beim Einschlafen half, aber allein der Glaube versetzte ja bekanntlich Berge. Die Erinnerungen an Noahs Küsse, begleiteten ihn schlussendlich ins Land der Träume.
***
Nach zwei weiteren Tagen, an denen Henry länger als zehn Stunden gearbeitet hatte, waren zum Glück wieder genug Kollegen im Einsatz, sodass er seine Überstunden abfeiern konnte. Er nutzte die freie Zeit um Wäsche zu waschen und den Kühlschrank aufzufüllen. Sobald es aufhörte zu schneien, zog sich Henry warm an, stülpte sich seine Pudelmütze auf den Kopf und stapfte in dicken Winterstiefeln auf die Straße. Tief atmete er die klare, klirrend kalte Luft ein. Wie gewöhnlich führte ihn sein Weg in Richtung des kleinen Parks, in dessen Mitte sich ein winziger Ententeich befand. Im Sommer hatte er oft auf einer der Bänke gesessen, die hübschen Vögel beobachtet und ihnen Brotkrumen zugeworfen. Dieses Mal lief er zügig um den Teich herum und bog rechter Hand in eine der Abzweigungen ein.
Ein paar Querstraßen weiter veränderte sich das Stadtbild. Moderne Wohnkomplexe verschwanden, Einfamilienhäuser, Bungalows und gepflegte Vorstadtgärten begrenzten jetzt die Straßen. Statt der üblichen Supermärkte zwängten sich schmale Einzelhandelsgeschäfte aneinander. Henry hielt auf eine Zoohandlung zu, in der gleichzeitig eine Tierarztpraxis untergebracht war. Die grauhaarigere Dame hinter der Ladentheke lächelte ihm freundlich entgegen.
„Du bist spät dran. Ich habe mir schon Sorgen gemacht“, sagte sie erfreut, weil es ihm augenscheinlich gut ging.
„Überstunden“, erklärte er und holte sein Portemonnaie aus der Hosentasche.
„Verstehe, so was kommt vor. Die Kiste ist bereits für dich gepackt.“ Henry nickte, erwiderte das Lächeln und reichte ihr einen Zwanzigeuroschein. „Danke und wärst du so lieb, das Geld aus der Spendenbox mitzunehmen? Es ist nicht viel drin, aber besser wenig als nichts.“ Den Umschlag mit den Spendengeldern steckte Henry in die Innentasche seiner Jacke, den Karton klemmte er sich unter den Arm.
„Bis nächste Woche“, verabschiedete er sich und trat erneut auf den Gehweg hinaus. Die Frau winkte ihm hinterher und wieder einmal schämte sich Henry wegen seiner schlechten Smalltalk-Fähigkeiten. Ihm würde heute niemand mehr glauben, dass er früher eine Quasselstrippe gewesen war. Wer sollte es ihnen verübeln, es stimmte ja, inzwischen war er ein völlig anderer Mensch. Je näher er dem schiefen Gartenzaun kam, hinter dem eine alte Backsteinvilla emporragte, umso aufgeregter wurde er. Bevor er den verwitterten Klingelknopf betätigen konnte, stemmte ein riesiger Schäferhund seine Vorderpranken gegen das Eingangstor und initiierte ein regelrechtes Heulkonzert. Anstatt zurückzuschrecken, begann Henry zu lachen.
„He, Cookie, du Schreihals! Hast du mich zuerst bemerkt?“ Die Hündin stellte die Ohren auf und wedelte mit dem Schwanz. Ein helles Miauen folgte, woraufhin Henry nach unten sah und einen schmalen, rotgescheckten Kater entdeckte, der um seine Beine schlich.
„Hallöchen, Lukas! Da wäre ich ja beinahe über dich gestolpert.“ Ein wohliges Schnurren erklang, sobald Henry sich hinhockte und sein Köpfchen streichelte. „Wo treibt sich denn Lilly herum?“
„Tach auch! Der Prinzessin ist es draußen zu kalt. Sie hat es sich in ihrem Körbchen am Ofen gemütlich gemacht“, verkündete eine tiefe, sympathische Stimme, die zu einem älteren, korpulenten Mann mit spärlichem Haarwuchs gehörte. Das Tor wurde geöffnet, doch ehe Henry es schaffte aufzustehen, war der Schäferhund auf ihn zugesprungen und fing an, ihm das Gesicht abzulecken.
„Igitt, Cookie. Lass das!“ Er fasste mit beiden Händen in das dichte Fell und versuchte ein wenig Abstand zwischen sich und die nasse Hundezunge zu bringen. Lukas sprang empört zur Seite und stolzierte mit hoch erhobenem Köpfchen davon.
„Cookie, jetzt ist es gut.“ Kräftige Finger griffen nach dem Halsband des Tieres und befreiten Henry aus seiner misslichen Lage. Hundesabber war eklig, trotzdem strahlte Henry über das ganze Gesicht. Zügig klopfte er sich den Schnee von der Hose und schnappte sich seinen Karton, den er auf dem Boden abgestellt hatte, um Lukas zu streicheln. „Sie haben dich vermisst“, behauptete der Mann, zu dem die tiefe Stimme gehörte.
„Ich sie auch. Und bei dir, Rudolf? Alles klar?“ Sie begrüßten sich mit einem freundschaftlichen Handschlag und der ältere Mann umging eine Antwort, indem er sagte: „Ich habe frischen Kaffee gekocht. Möchtest du eine Tasse?“
„Sehr gern.“ Henry folgte Rudolf ins Haus und betrat nach ihm den Flur, von dem aus eine geräumige Wohnküche abging. Jedes Mal, wenn er sich in dem Raum umsah, fühlte er sich in der Zeit zurückversetzt. Nicht nur der antike Kachelofen, sondern auch die nostalgischen Steinfließen sowie die uralten Küchenschränke verstärkten diese Illusion. Allein der Edelstahlkühlschrank und ein Herd mit Ceranfeld bewiesen, dass man noch immer in der Gegenwart weilte. Vor dem Ofen lagen zwei Hundedecken, drei Katzenkörbchen und ein Stapel Brennholz.
„Setz dich!“, wurde Henry aufgefordert und nahm sogleich auf einer der Bänke, die am großen Holztisch standen, Platz. Derweil Cookie zu einer der Decken trabte und sich neben dem wuscheligen Mischlingshund – einem Neuling in der kleinen Gemeinschaft - niederließ, öffnete Lilly, Lukas‘ Schwester, ein Auge. Sie gähnte herzhaft und streckte sich, ehe sie ihr Körbchen verließ und auf Henry zulief. Elegant sprang sie auf die Bank und machte es sich wie selbstverständlich auf Henrys Schoß bequem. Er vergrub seine Finger in ihrem weichen Fell und genoss die Wärme, welche der kleine Körper abstrahlte.
„Wie geht es Martha?“, fragte er, während er an seinem heißen Kaffee nippte.
„Sie wird wohl nicht zurückkommen“, antwortete Rudolf und setzte sich mit einem lauten Seufzen gegenüber von Henry an den Tisch. Gedankenverloren verrührte er den Zucker mit einem Löffel in seiner Kaffeetasse. „Seit dem Sturz ist sie immer noch verwirrt. Man hat ihren Enkel gerufen, weil der alle Vollmachten besitzt. Martha hat ihn auch als Alleinerben eingesetzt. Ihre Tochter wollte sie ja am liebsten schon vor Jahren entmündigen lassen, damit sie das Haus und das Grundstück verkaufen kann. Zum Glück war Martha damals noch topfit, aber nun … Ich vergesse gern, dass sie bereits 81 Jahre alt ist.“
„Wird der Enkel hier übernehmen?“
„Glaub ich kaum. Er ist Ingenieur und reist in der Weltgeschichte herum.“
„A…ber was geschieht dann mit der Zuflucht?“ Rudolf zuckte mit den Schultern und senkte den Kopf.
„Ich weiß nicht. Sollte die Villa zu halten sein, würde ich mit ein paar ehrenamtlichen Helfern weitermachen.“ Er wandte sich Henry zu und grinste schief. „Und du bist ja auch noch da.“ Henrys Wangen färbten sich rot.
„Ich wünschte, ich könnte öfter hier sein und mehr tun“, sagte er. Rudolf lehnte sich vor und tätschelte Henrys Hand.
„Sag das nicht. Du hilfst uns wirklich sehr und die Tiere sind ganz vernarrt in dich.“ Sie lächelten sich an. „Komm, wir haben genug Trübsal geblasen. Lass uns zu den Ställen gehen und das Futter auffüllen.“ Sie liefen über den Hof, auf ein längliches Wirtschaftsgebäude zu. Gemeinsam stemmten sie die schwergängige Holztür auf und traten ins Innere hinein. Links und rechts lagerten Heuballen bis zur Decke. Es folgten drei Pferdeställe, gegenüber ein großzügiges, doppelstöckiges Kaninchenhaus und am Ende des Gebäudes ein abgetrennter Bereich, in dem sich zwei kleine, schwarze Schweine tummelten. Zwei Ställe waren leer, in dem dritten stand ein wunderschönes ‚Shetland Pony‘, das sogleich mit dem Huf aufstampfte und zu wiehern anfing, als es Henry erblickte. Rudolf betätigte den Riegel, woraufhin das Pony heraustrat und seine Schnauze in Henrys Armbeuge vergrub.
„Du hast mir auch gefehlt, Apollo“, säuselte Henry und streichelte ihm durch die lange Mähne. Dann holte er einen Apfel aus seiner Jackentasche, den er dem Pony auf seiner ausgestreckten Handfläche entgegenhielt. Die Leckerei war innerhalb weniger Sekunden in seinem Maul verschwunden. Die Männer lachten, als Apollo vor Freude mit den Ohren wackelte.
Sie ließen sich viel Zeit damit, die anderen Tiere zu füttern und ihnen einige Schmuseeinheiten zu geben. Henry mochte die beiden ‚Bergsträßer Knirpse‘ besonders gern. Piggy und Peggy grunzten jedes Mal vor Vergnügen, wenn man ihre Bäuche kraulte. Zu allen Tieren in Marthas Zuflucht gab es eine spezielle Geschichte. Das Pony sowie die kleinen Schweine hatten Unbekannte in einem baufälligen Verschlag zurückgelassen. Die Kaninchen wurden zumeist von Eltern gebracht, die wenige Wochen nach den Festtagen feststellten, dass Haustiere zwar nette Weihnachtsgeschenke für die Kinder abgaben, aber eben auch kosten- und pflegeintensiv waren. Das maunzende Geschwisterpärchen lag eines morgens in einer Kiste neben dem Tor und Cookie fand man ausgesetzt vor einem Supermarkt.
Der Tag verging wie im Flug und Henry fiel es schwer, den Rückweg in seine leere Wohnung anzutreten. Zusätzlich machte er sich Sorgen, dass Marthas Enkel das Haus verkaufen und die Tiere, Gott weiß wohin, abschieben würde. Das wäre einfach schrecklich, weil Marthas Hof nämlich auch zu seiner persönlichen Zuflucht geworden war. Ein Ort, an dem er sich gebraucht, gemocht und glücklich fühlte. Henry hatte große Angst davor, ohne seine tierischen Freunde wieder in dieses dunkle, unheimliche Loch zu fallen, das ihn schon einmal beinahe verschlungen hätte.
Der Vertrag und die Verbannung des Teufels: Sammelband
Der Vertrag mit dem Teufel: Seit mehreren Jahren betreibt Zaid einen beliebten Nachtclub am Rande eines Industriegebietes. Wie ein einsamer Wolf wacht er von seinem Loft, das sich im zweiten Stock des Gebäudes befindet, über das Geschehen zu seinen Füßen. Ihm ist gar nicht bewusst, dass ein Tag dem anderen gleicht und er keine Ziele mehr verfolgt. Erst die Begegnung mit einem hübschen Unbekannten, der sich als ‚John Doe’ vorstellt, rüttelt ihn aus seiner Lethargie, denn der junge Mann scheint dringend seine Hilfe zu benötigen. Er behauptet sogar, dass er einen Vertrag mit dem Teufel geschlossen hätte und weckt damit Zaids Beschützerinstinkt, von dem er nicht einmal wusste, dass er ihn in sich trägt.
Die Verbannung des Teufels: Kann man von einer Hölle einfach in die nächste geraten? Diese Frage beschäftigt Edgar Vornberg, als er von Iven, einem unerbittlichen Söldner, gefangen genommen wird. Er soll für Taten bestraft werden, die nicht er, sondern der Teufel in Form von Vito begangen hat. Er bekommt jedoch keine Möglichkeit seine Unschuld zu beweisen und verzweifelt fast an der ausweglosen Situation.
Weit entfernt von Edgars Aufenthaltsort verprügelt Vito Timothy, der ihm verraten soll, wohin man ihn gebracht hat. Seitdem plagen den jungen Mann Panikattacken, die einfach nicht verschwinden wollen, egal wie sehr er auch dagegen ankämpft. Er weiß, dass er dringend Hilfe benötigt, aber es gibt nur einen Menschen, dem er bedingungslos vertraut. Dieser hat ihn allerdings schon vor langer Zeit verlassen.
Kevin und Marius sind die besten Freunde und haben eine WG gegründet. Aus diesem Grund sind sie davon überzeugt, dass Vito sich nicht trauen wird, ihnen zu nahezukommen. Eigentlich hat Kevin auch ganz andere Sorgen, denn er weiß nicht, wie lange er es noch erträgt, einfach nur Marius‘ Freund zu sein. Als dieser sich mit einem Kommilitonen anfreundet, muss Kevin handeln.
ca. 59.000 Worte/ 250 Seiten
Texte: Caro Sodar
Bildmaterialien: 123rf.com, Bearbeitung Caro Sodar
Lektorat: Caro Sodar
Tag der Veröffentlichung: 19.06.2018
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