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Der Mertsch, so nennen sie sie. Die grösste Katastrophe der Menschheit. Und wie so oft in der Geschichte wurde auch diese Katastrophe vom Menschen selber hervorgerufen. Der Mertsch ist wahrscheinlich das ultimative Produkt der digitalorganischen Ära. Er ist ein Loch. Ein Loch in der Materie. Ein schwarzer Punkt in Amerika.

Der Mertsch ist ein digitalorganisches Virus. Er wurde am 23. Mai 2023 in Washington DC gestartet und wächst seither stetig, zwar langsam, aber auch unaufhaltsam, weiter. Das Loch in der Materie löscht alles, was es berührt. Pflanzen, Tiere, Menschen, Erde und Luft. Ein kompaktes, schwarzes Loch. Übrig bleibt nur eine dunkle Blase, gefüllt mit der Leere, die sonst nur das All kennt. Wenn man sie berührt, wird man vom Virus befallen und selbst langsam in diese Leere, dieses Vakuum umgewandelt. Man wird aus der Welt gelöscht.
Sie nannten es einen grossen Sprung, als Dr. Alexander Mertsch, ein deutscher Physiker in Genf die kleinste Einheit der Materie entdeckte: die Mertsch-Strahlung. Er erkannte, dass die Sub-Quarks, die seit 2015 als die kleinste Einheit der Materie galten, aus reiner Energie bestanden.

„Wissen Sie noch, wie wir vor fünf Jahren die kleinste Einheit feierten?“, fragte Dr. Mertsch in die Runde, als er am 23. Mai 2020 seine Entdeckung bekannt gab. „Ich weiss nicht, ob meine Strahlung unteilbar ist - aber sie ist der einzige Bestandteil unserer Sub-Quarks.“
Diese Energie hatte zwei verschiedene Zustände, sie war entweder hell oder dunkel. Er benannte die zwei Arten der Energie M1 und M0. Eins und Null. Dr. Mertsch erkannte und bewies mit seiner Forschung, dass die gesamte Materie unseres Universums auf einem binären System aufbaut.

Die Tatsache, dass die Materie auf einer binären Strahlung aufbaut, veränderte nicht nur alle Vorstellungen der Physik, sondern ermöglichte auch eine neue Technologie. Wenn alles, was man sieht und fühlt, auf einer Strahlung aufbaut, die nur aus Einsen und Nullen besteht, muss diese auch verwendet werden können wie die binären Daten eines Computersystems. Mit einem Schlag konnte ein Stein zu einem Prozessor oder einem Speichermedium werden.

Von dieser Entdeckung überzeugt schlossen sich die beiden grössten Softwarehersteller zusammen und gründeten die Firma MergeSoft. Der Name der Firma war zum einen eine Hommage an Dr. Mertsch und zum anderen stand er als Symbol für die Verschmelzung (engl. the merge) der analogen und digitalen Welt.

Der neu ernannte CEO von MergeSoft meinte bei der ersten Pressekonferenz heroisch: „Es wird noch viel komplizierter, als es bisher schon war - aber wir werden Ihren Computer ein weiteres Mal revolutionieren!“

Genau ein Jahr nach der Entdeckung von Dr. Mertsch präsentierte MergeSoft dann das erste Produkt: das SmartPaper. Das SmartPaper war wirklich eine Revolution in der Computergeschichte, denn es war ein voll funktionsfähiger Computer in den Ausmassen eines Blattes, das man normalerweise in den Drucker legte. Weiter konnte es, ohne Schaden zu nehmen, gefaltet und gebogen werden. Das SmartPaper war auf der einen Seite ein rahmenloser Bildschirm, der auf Berührungen reagiert, und auf der anderen Seite weiss mit einem farbig leuchtenden MergeSoft-Logo. Es konnte ohne zusätzliche Geräte bereits das Tausendfache einer bisher normalen Computerfestplatte an Daten speichern. Es hatte eine Grafik- und Rechenleistung, die alle bisherigen Computersysteme weit in den Schatten stellte.

„Und das wahrscheinlich Beste ist der Preis!“ MergeSoft versprach das SmartPaper zu einem Viertel der aktuellen Computerpreise.
Die Benutzerführung wurde mit einem revolutionären Betriebssystem bereitgestellt, das sie GiantLeap nannten. Der Name des Systems war eine Huldigung an den grossen Sprung, den die Welt mit der Entdeckung der Digitalorganik gemacht hatte.

Digitalorganik, so nennen sie diese Ära, die durch die Erkenntnisse von Dr. Mertsch eingeläutet wurde. Tausende von Firmen schossen aus dem Boden und immer mehr neue digitalorganische Produkte wurden auf den Markt gebracht. Mit der Digitalorganik war es innert kürzester Zeit möglich, alle Materie zu verändern. Schnell wurden Produkte veröffentlicht, welche die Umprogrammierung der Materie vereinfachten. Es wurde so einfach wie eine Webseite herzustellen. Für viele war die beste Neuerung das AirNet. Es ermöglichte allen digitalorganischen Geräten einen freien Zugang auf das Internet. Das AirNet war überall verfügbar, wo dessen Medium, die Luft, verfügbar war.

Die goldene Ära der Digitalorganik hatte jedoch auch ihre Schattenseiten. Die Gefährlichsten waren, und sind Viren. Man nennt diese neuen Viren ACV – analoges Computervirus. Es sind Computerviren, die sich selbst auf Materie übertragen, die ausserhalb des eigentlichen, digitalorganischen Gerätes liegen. So kann sich ein solches Virus, das auf einem SmartPaper ausgeführt wird, auf andere Materie in seinem Umfeld übertragen. Auf die Möbel, Pflanzen, Tiere oder auch den Menschen selbst. Das Geschäft mit Antiviren-Produkten, wie Antiviren-Kleidung oder Sicherheitskästen für das SmartPaper, boomte von Anfang an.

Und genau ein solches ACV war es, das nun drohte, die ganze Welt, gar das Universum, zu zerstören. Das Loch in der Materie wuchs weiter und es war lange keiner Antiviren-Firma gelungen, ein Antivirus herzustellen. Nicht einmal Teilerfolge waren zu verzeichnen.

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Doch das ist die Vergangenheit. Jetzt ist der 20. Juli im Jahr 2023 und eine Frau in der Schweiz beendet ihr bisher wichtigstes Projekt: ein Antivirus für den Mertsch.

„Wir haben Glück, dass er nur so langsam wächst, nicht wahr, Anna?“ hatte Daniel ihr gesagt, als sie nach einem Monat der Studie noch immer keine Erfolge verzeichnen konnte. Daniel war in Washington, als das Virus freigesetzt wurde. Es wuchs innert kürzester Zeit auf einen Durchmesser von ungefähr einhundertfünfzig Quadratmeter. Danach wuchs es jedoch nur langsam weiter. Ein neues Monument für Washington. Der Mertsch, die grosse Kugel aus Nichts, hatte das berühmte Washington Monument einfach ausgelöscht.

Als Daniel eine Probe des Virus nahm, waren bereits einige andere an diesem Versuch gescheitert und wie das Monument gelöscht worden. Der Begriff, dass einen das Virus löscht, war eine Erfindung der Medien. Diese Bezeichnung passte jedoch exakt darauf, was das Virus macht. „Einfach ausgedrückt“, begann einer der Reporter seine Erklärung, “Es kopiert sich von Molekül zu Molekül. Sobald das Virus kopiert ist, setzt es alle Mertsch-Strahlung auf null. Danach bleibt nur noch eine grosse Leere — diese schwarze Kugel.“

Daniel hatte aus den Fehlern seiner Vorgänger gelernt - er näherte sich nicht zu sehr der dunklen und imposanten Kugel, sondern nahm sich eine sehr lange Metallstange und hielt diese in die Kugel. Nach kurzer Zeit war auch die Stange infiziert. Dank eines Spezialabkommens mit der amerikanischen Regierung konnte er in einem gesonderten Flugzeug zurück in die Schweiz fliegen. Dort wurde er bereits in seiner Firma Enjor DOT mit Spannung erwartet. Insbesondere Anna Bright, sowohl seine beste Angestellte als auch beste Freundin, war vom Mertsch fasziniert. Sie hatte sich bereits in der Freizeit der Analyse des Mertsch und der Suche nach einem Antivirus gewidmet. Sie freute sich nun natürlich darauf, endlich ein echtes Versuchsobjekt zu haben, - sofern Daniel ihr erlaubte, dass sie eine eigene Probe mit nach Hause nahm. Sie war guten Mutes, denn sie wusste, dass Daniel und sie auf der gleichen Wellenlänge lagen. Sie war sich sicher, dass sie ihre Freizeitanalyse weiterführen konnte. Doch sie wusste nicht, dass Daniel bereits etwas anderes für sie geplant hatte.

„Anna, ich weiss, dich wird das hier wohl am meisten interessieren“, sagte er lachend. Sie bejahte und betrachtete die kleine, schwarze Kugel am Ende der weissen Metallstange mit Verwunderung. „Dass das jüngste Gericht so wunderschön ist, hätte ich mir nicht träumen lassen“, meinte sie nachdenklich. Daniel lachte und zwinkerte ihr zu. „Nicht, dass du es dir jetzt anders überlegst und aufhörst, nach einem Antivirus suchen zu wollen.“ Sie fand die Kugel zwar schön, war aber überzeugt, dass ihr Antivirus noch viel schöner sein würde. Sie versicherte ihm dies natürlich mit demselben sarkastischen Unterton. Im selben Atemzug fragte sie ihn, ob sie eine kleine Probe davon für ihre Experimente in der Freizeit haben könnte. „Mit diesen Freizeitexperimenten ist jetzt Schluss.“ Daniel wurde ernst, „Und ich kann schon gar nicht verantworten, dass du das gefährlichste digitalorganische Virus mit nach Hause nimmst, es tut mir leid, aber ...“ „Es tut dir leid?“ unterbrach sie ihn empört. „Was meinst du mit ...“ „Aber!“ Unterbrach er sie seinerseits, „aber ich muss dir leider mitteilen, dass du von nun an nur noch in dieser Firma daran arbeiten darfst. Dafür ganze achteinhalb Stunden am Tag.“ Sie lachte laut heraus und verstand nun, dass er mal wieder einen seiner geliebten Schockmomente abzog. Er liebte es, einem vorzugaukeln, dass man nicht kriegt, was man will. „Du brauchst doch auch mal Freizeit, Mann!“ Er hielt inne, als sie ihn mit einem zugekniffenen Blick streifte. Er überlegte. „Frau, meine ich natürlich“, fügte er mit gespielter Reue seiner vorangegangenen Aussage hinzu. Um das Projekt AntiMertsch zu kriegen, musste sie ihm jedoch wirklich hoch und heilig versprechen, dass sie von nun an in der Freizeit wirklich nur Freizeitaktivitäten nachging. Und wie es zu erwarten war, versprach sie es ihm. „Freizeitaktivitäten von normalen Menschen“, ermahnte er sie.

„Wir haben Glück, dass er nur so langsam wächst, nicht wahr Anna?“ hatte Daniel ihr gesagt, als sie nach einem Monat Studie noch immer keinen Erfolg verzeichnen konnte. Beide lachten darüber und machten eine Pause. Die erst kurze Pause wurde jedoch jäh unterbrochen, als im Fernseher ein Bericht über den Tod mehrerer Schulkinder in Washington ausgestrahlt wurde.

Eine kleine Gruppe von Schulkindern schwänzte die Schule, um sich die grosse, schwarze Kugel anzusehen. Sie kamen ihr zu nahe und wurden infiziert. Zwei der Kinder verschwanden bereits beim Monument, die anderen beiden rannten zu ihrer Lehrerin, welche sich dann durch die beiden auch ansteckte. Die Lehrerin hatte die Kinder gesucht und war gerade zum Monument gekommen, als sie die beiden Kinder auf sich zu rennen sah. Ein Kind berührte sie mit der infizierten Hand am Bein, während es ihr zu zeigen versuchte, wo die anderen beiden Kinder verschwunden waren. Als die Lehrerin dann auch an sich eine kleine schwarze Kugel wachsen sah, wusste sie, dass es für sie alle keine Rettung mehr gab. Der Mertsch war tödlich und unheilbar, aber wenigstens schmerzlos. Sie setzte sich mit den Kindern auf die Wiese, rief deren Eltern an und begann den Kindern eine Geschichte zu erzählen, die letzte Geschichte, die sie in ihrem Leben erzählte. Die letzte Geschichte, die die Kinder je hören würden. Die Kinder waren kurze Zeit später verschwunden, doch sie erzählte weiter. „Das kleine Häschen fand eine geheime Tür und öffnete sie“, sagte sie mit Tränen in den Augen. „Dahinter fand es endlich seine ganze Familie wieder.“ Sie schloss ihre Augen und schluckte ihre Angst. „Alle umarmten das kleine Häschen und freuten sich“, erzählte sie mit letzter Kraft weiter. „Und alles“, begann sie erschöpft ihren letzten Satz, „ist Licht.“ Und einen Augenblick später war sie verschwunden. Am Abend war das Einzige, was von den Kindern und der Lehrerin übrig blieb, eine weitere schwarze Kugel. Der Mertsch

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: © René Jossen
Tag der Veröffentlichung: 17.01.2012
ISBN: 978-3-86479-196-3

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für all jene, die sich meine Ware immer und immer wieder zu Gemüte führen und mich (trotz allem) mögen und schätzen. pf.

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