Stille. Und Dunkelheit. Ein Sonnenstrahl bleibt hartnäckig auf meinen Augen stehen und das dunkle weicht einem Orangerot. Ich spüre wieder das Gras unter meinen Füßen und für einen kurzen Blick sehe ich die weiten Gerstenfelder von Suikagodon, goldgelb in der Sonne. Die roten Mohnblumen, die stolz dazwischen wachsen.
Als ich die Augen öffne, blicke ich seinerseits in die erwartungsvollen von Yugin. „Hier!“ Lächelnd schaue ich zu, wie er sich auf das Stück Trockenfleisch stürzt, das ich beim Abendmahl am vorherigen Tag eingesteckt habe. Der Schattenschleicher hatte sich sehr schnell an mein morgendliches Meditationsritual gewöhnt. Unser Meditationsritual. Ich greife erneut in meine Tasche. Das Brot, was Alayne mir heute früh zugesteckt hatte, war immer noch warm.
Es wirkte so friedlich hier. Alles wirkte so friedlich. Im Rebellenlager waren alle so unglaublich hilfsbereit und offen zueinander, die „höhergestellten“ Offiziellen wie Garwyn erzählten Geschichten und in Hingebungs‘ lockere und zutrauliche Art schienen sich nicht nur Leo und Fintis direkt verliebt zu haben.
Eine nasse, warme Zunge fährt mir übers Gesicht und die Grübelfalten auf meiner Stirn glätten sich wieder. „Hey! Ich habe mich schon gewaschen heute!“ Diese Lachfalten fühlen sich so viel besser an. „Aber leider ist es nicht so friedlich, Yugin. Es ist nicht immer alles so, wie es auf den ersten Blick scheint.“ Der Schattenschleicher schaut irgendwie nachdenklich drein, als er in meinen erneut verdüsterten Gesichtsausdruck blickt. Ich krame ein zweites Stück Fleisch heraus und füttere ihn, nachdenklich. „Lass mich dir erzählen, auf wen du dich eingelassen hast, du Holzkopf. Mein Leben wirkte großartig von außen. Richtiggehend ideal. Viele Menschen sagten mir, sie wollten gerne mit mir tauschen. Und in gewisser Hinsicht ging es mir auch wirklich gut. Ich musste mir nie darüber Gedanken machen, ein Dach über dem Kopf zu haben. Oder wo die nächste Mahlzeit herkommt. Und trotzdem. Mich hat dieses Leben innerlich zerfressen.“
Ich wuchs auf in X‘Caret, Dakyr Armalté, der Sohn von Rodrik und Kedira. Es fühlt sich merkwürdig an, meinen Nachnamen zu nennen, den eigentlich habe ich diesen seit langer Zeit abgelegt. Ich hatte außerdem eine Schwester, Akyrla. Ich frage mich, was wohl aus ihr geworden ist. Vermutlich führt sie mittlerweile eine wichtige Soldatenbataillon an. Sie kam immer mehr nach Vater als ich.
Mein Vater, der erste Offizier der königlichen Marine. Und ich, sein erstgeborener Sohn, der ihn stolz machen und ebenfalls eine Offizierslaufbahn einschlagen würde. Nur, dass das nie passierte. Solange ich mich erinnern kann, wurden mir von meinen verschiedenen Privatlehrern Dinge eingebläut, die wichtig für eine Militärkarriere waren. Strategisches Denken. Verschiedene Kampfarten. Leitende Positionen übernehmen. All dies interessierte mich nicht. Ich tat das Mindeste, um aus dem Schulraum entlassen zu werden. Liebte es, mit meiner Mutter in unserem großen Garten Tee zu trinken und Geschichten von ihr erzählt zu bekommen. Mich faszinierte die Natur, wollte diese besser verstehen. Leider sah mein Vater das anders und als er von den Lehrern von meiner Mangelleistung erfuhr, ließ er mich spüren was passieren konnte, wenn man sich nicht ordentlich im Kampf verteidigen konnte. „Nimm dir ein Beispiel an deiner Schwester! Sie ist die Beste ihrer Altersklasse und zeigt jetzt schon das Zeug eines wahren Strategen!“ Tee und Geschichten mit meiner Mutter gab es seltener, denn meistens durfte ich von da an das Lehrzimmer nur verlassen, wenn ich vor Müdigkeit über meinen Unterlagen einschlief.
Es war für mich eine richtige Erleichterung, als ich alt genug für die Militärschule war. Endlich raus aus dem Haus, etwas anderes sehen. Die Schulgebäude waren in der Nähe des Hafens und so verbrachte ich viel Zeit, bevor ich nach dem Unterricht nach Hause zurückkehrte, damit, mir den Trubel im Hafen anzusehen und am Strand nach neuen Dingen zu suchen. Das waren wundervolle drei Jahre, bis meine Schwester auch auf die Schule kam und mein dies Vater mitbekam.
Freunde hatte ich keine. Alle hatten unglaublichen Respekt vor mir. Der Sohn des ersten Offiziers. Sie hatten entweder Angst und gingen mir aus dem Weg oder bekamen keinen richtigen Satz zusammen, wenn sie mit mir sprachen. Oder sie wollten sich bei mir einschleimen. Zumindest war das mein Gefühl.
Ich fing daher an, mich zu verkleiden und schlich mich aus dem Haus, um so die Stadt zu erkunden. Die verschiedenen Handelsschiffe hatten es mir angetan, vor allem da meine Mutter auch immer viel erzählte. Ihr Vater hatte es zu einem reichen Händler gebracht, doch zu Beginn seiner Karriere war sie wohl viel mit ihm unterwegs gewesen. Es gab so viele interessante Dinge zu sehen. Und manchmal fand ich sogar ein Buch oder eine Schriftrolle mit Alchemie-Wissen, die ich mir leisten konnte. Du warst doch reich meinst du, Yugin? Ja, ich konnte von unseren Angestellten alles bekommen, das ist richtig. Solange es meinem Vater gefiel selbstverständlich.
Auf einem der Schiffe heuerte ein junger Matrose an, Súnfor, ein junger Halbelf, dessen unbeschwerte fröhliche Art es mir irgendwie angetan hatte. Ich besuchte ihn wann immer sein Schiff, der Meeresdrache, im Hafen lag. Wir spielten Schach in irgendeiner Spelunke, tranken zu viel Bier und wanderten anschließend singend am Strand entlang. Es war gar nicht so einfach, danach wieder ins Haus zu schleichen.
Als ich 13 war entwickelte Akyrla langsam kleinere magische Fähigkeiten. Mein Vater war regelrecht besessen davon. Er hatte so viele Ideen, wie man Magie in der Armee einsetzen konnte. Ich fand ihre Magie auch total spannend. Mich interessierte allerdings eher, wo sie herkommt, wie sie entsteht. „Zeitverschwendung,“ meinem Vater nach. Er schleppte Akyrla in die Hauptstadt, damit sie sofort mit einer tiefgründigen Magierausbildung beginnen und die Anumati erhalten konnte. Ich sah sie fortan nur noch selten, wenn sie zu Besuch kam. Mit meiner Schwester in der Hauptstadt und damit dem „Objekt seines Stolzes“ nicht in Reichweite, wendete sich mein Vater wieder mehr mir und meiner Ausbildung zu. Etwas, auf das ich hätte gut verzichten können.
Zwei Jahre später verstarb meine Mutter an einer seltenen Krankheit. Ich sah, wie sie jeden Tag schwächer wurde, versuchte verzweifelt irgendetwas zu finden, was ihr helfen konnte. Doch ohne Erfolg. Als ich das letzte Mal mit ihr sprach, erzählte sie mir von ihrer Reise zum Berg Otomaku und dem Sonnenaufgang, den sie dort gesehen hatte, angeblich der schönste in ihrem Leben. „Ich wollte ihn dir immer zeigen, Dakyr. Es tut mir leid, dass ich es nicht geschafft habe.“ Im selben Gespräch erzählte sie mir, dass sie meinen Vater nur geheiratet habe, weil ihre Familie dies von ihr verlangt habe. „Mache nicht den gleichen Fehler wie ich. Ich sehe doch, dass du unglücklich bist. Versprich mir, dass du dies ändern wirst.“ Interessante letzte Worte, nicht wahr? Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Was sollte ich tun? Ich fühlte mich nicht gerade wie ein Rebell. Andererseits hatte sie Recht, ich war hier nicht glücklich. Ich wollte nicht zum Militär. Und ich hatte es ihr, dumm wie ich war, natürlich versprochen. Und meine Versprechen hielt ich.
Noch in derselben Nacht lief ich von zu Hause fort. Zum einen, da ich am Tag mehr Angst hatte, erkannt zu werden und es die Chancen erhöhte, dass mein Vorhaben scheitern würde. Zum größten Teil hatte ich jedoch Angst, dass ich mir selbst im Weg stehen würde und meine Zweifel am nächsten Tag vielleicht schon so groß seien, dass sie mich an der Flucht hindern könnten.
Ich machte mich also auf, in Richtung Norden zur Brücke, um dort den Fluss zu überqueren.
Von den nächsten paar Tagen weiß ich nicht mehr sonderlich viel. Ich lief die Nacht hindurch und warf immer wieder Blicke hinter mich. Ich konnte die Angst nicht abschütteln, dass meine Abwesenheit schon bemerkt worden und Suchtrupps hinter mir her waren. Doch ich erreichte die Brücke hinter der goldenen Ebene ohne besondere Vorkommnisse. Die beiden steinernen Hände, die aus dem Wasser hinausragten, wurden an beiden Seiten von Soldaten bewacht, doch gegen ein paar Kupfertaler konnte ich unbehelligt passieren. Nach der Brücke atmete ich tief durch und nahm zum ersten Mal seit meinem Aufbruch wirklich meine Umgebung war. Und ich genoss es so ziellos durch die Natur zu wandern. Es war wunderschön. Die anfängliche Freude wich jedoch bald der Müdigkeit und einem verzehrenden Hunger- und Durstgefühl. Ich war nicht gerade ausgebildet für einen Mehrtagesmarsch. Und natürlich hatte ich mangels Erfahrung auch nicht genug Proviant eingepackt. Ich war erleichtert, als ich Galrhan Zhadar, die Stadt, die für den Steinabbau des Reiches verantwortlich war, erreichte. Als ich diese Stadt das erste Mal erblickte, blieb mir bestimmt der Mund offenstehen. Auf jeden Fall hatte ich so etwas Beeindruckendes noch nie gesehen wie diese Stadt, die eins zu sein schien mit dem Fels. Ich schleppte mich zur nächsten Taverne, die für mich der reinste Palast zu sein schien, denn ich bekam dort ein Zimmer und etwas zu trinken und zu essen. Der Wirt schien mir etwas sanfter gestimmt, als ich mich bemühte in einem gebrochenen Zwergisch zu bestellen. Am nächsten Tag gab ich mein letztes Geld für ein neues Proviantpaket aus und machte mich wieder auf den Weg, hinaus aus der Stadt, auf das Gebirge zu. Ähnlich wie nach der Brücke prasselten hier zunächst viele neue Eindrücke auf mich ein, ich wusste gar nicht wohin ich zuerst schauen sollte. Mir wurde fast etwas leicht und unbeschwert zumute. Doch obwohl mir der Wirt in der Bergmanns Rast zugesichert hatte, dass ich den Berggipfel Otomakus innerhalb von zwei Tagen erreicht haben sollte, wanderte ich immer noch ziellos durch die Gegend. Ich hatte mich verlaufen. Und ich hatte keine Ahnung, wo ich war und wie ich wieder zurückkommen sollte. Es wäre wohl sinnvoll gewesen in Richtung Steinstadt zu laufen und erneut aufzubrechen. Doch sinnvoll gab es in diesem Moment nicht. Ich wusste nicht, was ich tat. Ich hatte mich verlaufen. Meine Trauer, die ich die ganze Zeit komplett unterdrückt hatte, brach aus mir heraus und ich verbrachte immer mal wieder Zeit damit auf den Boden zu sinken und ihn zu bewässern. Geplagt von Hunger und Durst lief ich immer weiter, denn das schien das Einzige zu sein, was ich gegen meine Situation tun konnte. Bis ich irgendwann vor Erschöpfung zusammenbrach.
Ich weiß bis heute nicht, wie lange ich dort gelegen habe. Aufgewacht bin ich in einem Bett, oder vielmehr auf einer Pritsche. Der Raum war spärlich eingerichtet, dennoch hob sich die dunkelgrüne Farbgebung des Mobiliars von den weiß getünchten Wänden in einer merkwürdig beruhigenden Art ab. Die Wand zu meiner Linken schien sehr solide, während ich aus der Richtung der anderen gedämpft Stimmen wahrnehmen konnte. Ich versuchte noch, mir zusammenzureimen was geschehen war, als eine der Wände zur Seite geschoben wurde. „Ah du bist rechtzeitig zur Abendmeditation erwacht.“ Ich blickte das erste Mal in einem Leben auf einen Tortle-Menschen.
Ajuda, so hieß er nämlich, berichtete mir, netterweise beim Abendessen und nicht derselbigen Meditation, dass er mich vor einigen Tagen gefunden habe. „Ich hatte da so ein Gefühl. Die Energie des Windes hat mich nach der Feldarbeit dorthin getrieben.“ Das…naja…so sprach er halt. Ungewohnt ruhig und langsam. Es verwirrte mich zunächst etwas. Und mindestens einmal in der Woche führte man ein Gespräch mit ihm, bei dem man keine Ahnung hatte, worum es eigentlich ging. Aber zumindest ich hatte hinterher immer das Gefühl, irgendetwas gelernt zu haben. Er versprach mir, dass ich so lange im Kloster bleiben könne, bis ich wieder komplett auf den Beinen sei. „Vielen Dank. Ich möchte mich für alles bedanken, was Ihr für mich getan habt, Ajuda. Doch ich fürchte, ich habe nichts, was ich Euch dafür geben könnte. Mein letztes Geld gab ich in der Stadt aus, für ein Bett und Essen.“ Ajuda lächelte. „Du hast starke Arme, die wird man ja wohl für irgendetwas gebrauchen können. Jetzt iss erst einmal.“ Irgendwie hatte seine Art zu sprechen vielleicht doch eher etwas Beruhigendes. Ajuda stellte auch keine großen Fragen. Was ich hier wollte. Wo ich herkam. Ich war da und damit wurde gearbeitet.
Ich nutzte die nächsten Tage um das Kloster, in dem ich gelandet war, etwas näher kennen zu lernen. Es war viel größer, als ich vermutet hatte. Und so beeindruckt ich von den Felsenbauten Galrhan Zhadars‘ gewesen war, so fasziniert war ich von denen des Klosters. Auch hier hatten Architekten ihrerzeit die Bausteine genutzt, die ihnen von der Natur gegeben waren; die Bauten schienen teils auf ihren verschiedenen Ebenen mit dem Berg zu verschmelzen. Nach außen hin wirkten sie hingegen teils zerbrechlich, mit ihren filigranen Pagodendächern und Säulenbauten. Ein Gebirgsbach, der irgendwo oberhalb des Klosters entspringen musste, fügte sich wie natürlich in seine Umgebung. Es schien mir schwer zu sagen was zuerst dagewesen war, der Bach oder das Kloster. Ich genoss die Ruhe, die die kleinen verwilderten Gärten, die zwischen den einzelnen Gebäuden angelegt waren, boten. Und ich war fasziniert von der Ruhe und Freundlichkeit, die mir alle Menschen hier entgegenbrachten.
Als ich mich nach einigen solchen Tagen besser fühlte als je zuvor, wurde ich nach dem Frühstück von jemandem abgepasst. Ein Halbling mit dunklem Haar und verschmitzten Augen. Die Robe, die er trug, war etwas ausgebleicht von der Sonne und man konnte hier und dort Erdspuren erkennen, die sich in den Stoff gefressen hatte. „Dakyr?“ Ich nickte zustimmend. Es war vermutlich auch nicht so schwierig, mich innerhalb der ganzen Mönchskutten ausfindig zu machen. „Ajuda meint ich soll dir mal zeigen, womit ich so meinen Tag verbringe. Pack dir Wasser und Proviant für den Tag ein und triff mich in einer halben Stunde unten am Tor. Ich bin übrigens Finlay.“ Ich tat, wie mir geheißen und als ich auf der untersten Ebene des Klosters eintraf, wartete Finlay schon mit zwei Eseln auf mich. „So geht es schneller,“ zwinkerte er mir zu. Nach einer Weile erreichten wir ein riesiges Getreidefeld. Finlay war nämlich der „Feldbeauftragte“, wie er sich selbst nannte. Er kümmerte sich darum, dass die Felder, die zum Kloster gehörten, ordentlich bestellt wurden. In den nächsten Tagen begleitete ich ihn bei seiner Arbeit und für die nächsten Wochen arbeitete ich mit einigen der anderen Mönche auf den Feldern. Es war eine merkwürdig simple und doch entlohnende Tätigkeit. Bevor ich komplett müde ins Bett fiel, trank ich meistens mit den anderen vom Feld noch etwas von „Bartyn’s Schatz“. Ein ausgezeichneter Whiskey, der anscheinend seit Jahrzehnten im Kloster selbst hergestellt wurde.
Ein wenig später, ich konnte die Tage irgendwann nicht mehr genau zuordnen, lernte ich Bartyn dann auch persönlich kennen. „Oi! Neuer! Ja, guck mich doch nicht an wie ein Affe, siehst du hier sonst noch jemanden der so lächerlich hier rumläuft?“ Ich war gerade dabei mich umzudrehen, als mir eine Zwergin mit beeindruckendem rotem Bart auf die Schulter schlug. „Mitkommen. Wird Zeit, dass du mir meinen Whiskey nicht nur wegsäufst.“ Die anderen Mönche hatten das Zeug also Bartyn’s Schatz genannt, weil sie für die Whiskey-Brauerei zuständig war. Und mit zuständig meinte ich sie hatte die Herstellungsweise wohl erfunden und die Destillerie aufgebaut. Also lernte ich auch wie man den berühmten Whiskey des Klosters herstellte. Und nachdem ich mich an Bartyns‘ ruppige Art gewöhnt hatte, kamen wir auch prima miteinander aus. Diese ganze Whiskeysache hatte sie eh nur einem Zufall zu verdanken, wie sie meinte. „Haben früher immer Bier gebraut. Aber irgendwann mal zu viel dabei gesoffen und was falsch abgefüllt und irgendwo hingeschafft. Wollte es dann mit ein bisschen Alchemie wiederauffrischen und das is dabei rausgekommen. Saufe persönlich nix anderes mehr.“ Sie war außerdem eine hervorragende Schachspielerin und wir spielten so manchen Abend eine spannende Partie. Ihr habe ich es auch zu verdanken, dass ich mittlerweile fast akzentfrei Zwergisch spreche, das war, als ich im Kloster angekommen war, angeblich eher „ein beleidigendes Fiepsen“. Bartyn lacht heute noch darüber, wenn ich einen bestimmten R-Laut ausspreche. Aber was man da mit seiner Zunge machen muss, ist halt auch merkwürdig!
Eines Abends saß ich allein in einem der Gärten und trank Tee, ein Ritual was ich nach einigen Tagen im Kloster begonnen hatte. Es erinnerte mich an die Geschichtsstunden mit meiner Mutter. Ein großer Vorrat an Tee und ein kleiner Kessel gehörten mit zu den einzigen Dingen, die ich von zu Hause mitgenommen hatte. Ich war gerade dabei mir noch eine Tasse einzufüllen, als sich ein Schatten über mein Sichtfeld legte. Ajuda war zu mir herangetreten, ohne dass ich es bemerkt hatte. „Kann ich mich dazu gesellen?“ Er reichte mir eine Tasse. Lächelnd nahm ich sie entgegen. „Aber gerne doch.“
Wir saßen eine Weile schweigend nebeneinander, bis Ajuda das Dämmerungslied der Vögel unterbrach. „Wir müssen mal darüber reden.“ Oh. Ich hatte fast verdrängt, dass ich hier ja nur Gast war. Ich sollte hier arbeiten, bis meine Schulden abbezahlt waren. Das war wohl der Fall. Ich glaube das ich insgeheim gehofft hatte, dass sie das irgendwie vergessen hatten. Alle. „Worüber müssen wir reden Ajuda?“ Seine Augen schlugen sanfte Falten. „Warum du noch immer hier bist. Deine Schuld hast du schon vor einiger Zeit beglichen. Die meisten Leute hätten wohl gefragt, ab wann dies der Fall ist und sich dann weiter auf den Weg gemacht. Oder sie wären zurückgegangen. Nun, du tatest dies nicht.“ Ich senkte meinen Blick. „Nein.“ Momente strichen vorbei. „Wenn jemand weder aufbricht, noch zurückkehren möchte, könnte man den Eindruck bekommen er habe weder Ziel noch Heimat.“ „Und wenn dem so wäre?“ Mein Blick traf Ajudas‘ als ich den Kopf hoch, der Klang meiner Stimme war ungewohnt harsch und schneidend in meinen Ohren. Ajuda erwiderte meinen Blick, standhaft, auffordernd, geradeheraus. Und doch fast … sanftmütig. „Ich bin nicht hier, um dich zu verurteilen. Viele haben ihren Weg hier im Kloster wiedergefunden. Für Manche ist das Kloster der Weg. Doch unsere Weisen eignen sich nicht für jeden. Und es gehört mehr dazu, als im Feld zu arbeiten und Whiskey zu brennen. Wenn es das ist, was du möchtest, kann ich dir eine Karte geben und den Weg nach Helethir einzeichnen. Wenn nicht, dann sehe ich dich morgen früh zum Training. Danke für den Tee, er schmeckt wirklich ausgezeichnet.“ Er leerte seine Tasse in einem Zug und ging schnellen Schrittes Richtung der Unterkünfte der Meister.
Am nächsten Morgen fand ich eine Uniform vor meiner Tür. Ich hatte einige der jungen Mönchsrekruten schon darin rumlaufen sehen. Sie war einfach, schwarz und wurde von einer weißen Schärpe zusammengehalten. Ich fühlte mich zugleich unglaublich glücklich und unsicher. Es gab mir ein Zugehörigkeitsgefühl und die Sicherheit, nicht so bald fortzumüssen. Doch ich fragte mich auch was wohl auf mich zukommen würde und ob es das sei, was ich wollte. Ajuda erwartete mich bereits vor dem Gebäude. Still bedeutete er mir, ihm zu folgen. Er führte mich zu einem viereckigen Platz, umsäumt von Holzwegen unter Säulenpalisaden. Ich hatte ihn hier schon beim Kampftraining mit den jungen Rekruten gesehen. Ich spürte, wie sich kalter Schweiß auf meiner Stirn bildete. Ich…ich wollte doch nicht kämpfen. Ajuda stellte sich mir gegenüber. „Bevor ich dich auf die anderen Schüler loslasse, muss ich wissen, wo du stehst.“ Er sah mir lange in die Augen und verneigte sich dann. Ich tat es ihm gleich, doch wohl war mir nicht bei der Sache. Und dann griff Ajuda mich an.
Ich spürte, wie ich reagierte. Ich ging in die Defensive, intuitiv, das Ergebnis jahrelanger Übung. Doch es war fast so, als würde ich mir von außen zuschauen. Ich war mit dem Kopf nicht bei der Sache, meine Bewegungen mechanisch, repetitiv. Der Kampf kam mir vor wie eine Ewigkeit, doch eigentlich hatte Ajuda mich ziemlich schnell außer Gefecht gesetzt. „So wird das nichts. Du bist vollkommen blockiert. Willst du überhaupt hier sein?“ Blut schoss mir ins Gesicht. Mir wurde heiß, nein kalt, nein doch heiß. Tausend Gedanken schienen in meinen Kopf zu strömen, keiner war klar zu fassen. Es war, als würde ich ihn einen Strudel gerissen werden, kein Entkommen. Was machte ich eigentlich hier? Ich weiß nicht, wie lange ich so dastand. Ich kam zu mir, wie aus einer Trance gerissen, als Ajudas‘ Stimme in meinem Kopf donnerte. „Weglaufen ist keine Lösung, Dakyr!“ Das Glasige wich aus meinem Blick. Ich starrte auf den kleinen Fluss, den Holzpfeiler vor mir. Das hatte ich wohl tatsächlich vorgehabt. Ich ließ mich auf die Knie fallen, spürte wie heiße Tränen sich einen Weg über meine Wangen bahnten und mit einem leisen ‚donk‘ das Kirschholz dunkel färbten.
Eine Hand legte sich auf meine Schulter. „Komm mit.“ Er brachte mich zur Spitze des Klosters, auf dessen Gebäude man sich auf das Dach setzen konnte und einen wunderbaren Ausblick hatte.
„Dieses Kloster existiert schon sehr lange,“ begann er ohne umschweifende Einleitung. „Wir sind zumeist autonom, handeln ein wenig mit Händlern oder Bauern der Umgebung, aber zum größten Teil leben wir hier in einer Gemeinschaft für uns. Diesen Teil hast du bereits kenngelernt, hast tüchtig gearbeitet und dich gut in die Gemeinschaft eingefunden.“ Ich setzte an etwas zu sagen, doch Ajuda hob die Hand und bedeutete mir so, still zu sein. „Dies ist ein Teil, der wichtig ist und dazugehört und uns allen viel Freude gibt. Doch das Kloster ist so viel mehr als das. Und deswegen ist das Kloster auch nicht entstanden. Man erzählt sich, dass zu Beginn des Klosters vier Freunde sich hierher in die Wildnis zurückzogen. Sie waren zu Ende ihres Lebens alle Gelehrte, unglaubliche Koryphäen auf ihrem Gebiet. Als sie hier ankamen, waren sie wohl die reinsten Grünschnäbel. Sie wollten die Zurückgezogenheit nutzen, um sich Wissen anzueignen und fingen an, sich hier ein Zuhause aufzubauen. Jeder stürzte sich kopfüber in die eigenen Lehren. So lebten sie eine Weile friedlich, bis sie eines Tages angegriffen wurden, von einer Gruppe Banditen. Zunächst sah es so aus, als seien die Freunde hoffnungslos verloren. Doch dann taten sie ihr Wissen zusammen, kombinierten ihre Fähigkeiten und es gelang ihnen den Feind in die Flucht zu schlagen. Daraufhin fingen sie an, sich gegenseitig in ihre Wissensgebiete einzuweisen. Ab und an verirrten sich Wanderer hierher, und wer ihre Ansichten teilte, den luden sie ein, zu bleiben. Ebenso brachten sie manchmal motivierte junge Menschen aus den Städten hierher, machten sie einmal einen Ausflug dorthin. Und so fing die Gemeinschaft an zu wachsen und der Tempel wuchs mit ihnen und seither geben die Meister ihr Wissen an die Novizen weiter, bis der Kreislauf weitergeht und es einen neuen Meister gibt.“ Ich bin mir bis heute nicht hundertprozentig sicher, ob das Kloster tatsächlich so entstand, oder ob dies eine seiner Motivationsgeschichten war. Auf jeden Fall hatte er meine Aufmerksamkeit. „Wir lehren seither, dass es im Leben wichtig ist, eine Balance in sich zu tragen. Ausgeglichenheit. Zwischen Körper und Geist. Zwischen Geist und Herzen. Wir lehren auf die Natur zu hören und ihre Elemente zu verstehen. Und diese Elemente durch uns hindurch fließen zu lassen.“ Er schaute mich ernst an. „Du bist nicht im Einklang mit dir selbst. Es herrscht eine große Kluft zwischen Körper, Geist und Herz. So bist du nicht empfänglich, für unsere Lehren. Ich kann sehen, dass du eine gute Ausbildung hattest. Doch du willst sie nicht nutzen. Ich kann einen unglaublichen Wissensdrang sehen. Doch du bist nicht eins mit deinem Geist. Du stehst dir selbst im Weg.“ Sein Blick änderte sich. Fragend richteten sich seine Augen auf mich.
„Ich …ich will nicht kämpfen. Es ist mein Leben lang von mir erwartet worden. Ich solle meinen Körper trainieren und meinen Verstand dafür einsetzen, wie ich am besten andere Menschen damit besiege. Aber ich will meinen Verstand eigentlich nur dafür einsetzen, mehr zu Lernen. Alchemie hat mich immer fasziniert…ich will neue Dinge erfahren, Dinge verstehen, Menschen kennenlernen. Ich will nicht…zerstören.“
Ajuda nickte. „Das ist nobel von dir. Und unglaublich dumm.“ Ich schaute ihn überrascht an. „Aber…Ihr sagtet doch ihr lehrt die Balance. Ausgeglichenheit. Besinnen auf die Natur. Ich … verstehe nicht.“ „Nein, nein, das tust du nicht. Dakyr, sage mir woran denkst du als Erstes, wenn du an Feuer denkst?“ „Vermutlich an seine Zerstörungsgewalt. Wie Feuer ganze Siedlungen niederreißt.“ Worauf wollte er hinaus? Dass auch die Natur zerstören kann? „Und bei Wasser?“ „Nun, wir brauchen es. Zum Leben. Als Trinkwasser. Für unsere Bewässerungssysteme und die Schifffahrt.“ „Sagen wir du seist unterwegs, im Winter, hättest seit Tagen nur Schnee gesehen und kein Dach über dem Kopf gehabt, worüber würdest du dich mehr freuen, Feuer oder Wasser?“ Zerknirscht murmelte ich ein leises „Feuer“ in mich hinein. „Und jeder, der mit einem Schiff je in einen furchtbaren Sturm geraten ist, wird dir wohl alles darüber erzählen können, welch zerstörerische Macht in unserem geliebten Wasser liegt.“ Ich schaute ihn misstrauisch an. Ahnte er, wo ich herkam? Gleichzeitig hätte ich mich am liebsten gegen den Hinterkopf geschlagen. Ich hatte mein Leben lang Geschichten von der See gehört, zumeist Schreckliches. Und doch kam sie mir immer so friedlich vor. „Es gibt kein entweder oder im Leben Dakyr. Es gibt immer nur eine Neigung des Gleichgewichtes. Und genauso ist es auch mit dem Kämpfen. Es ist deine Entscheidung, wozu du etwas nutzt. Sie, die Sicheln die ihr zur Feldarbeit nutzt. Sie können bei der Ernte helfen und Leben bringen. Sie sind ebenso eine tödliche Waffe. Die Entscheidung liegt bei dir, wie du sie einsetzt. Wenn du kämpfen kannst, kannst du dies nutzen, um anderen Menschen zu schaden und sie zu unterdrücken. Doch wenn du Menschen schützen und dich verteidigen willst, dann stehst du ganz schön hilflos da, wenn du es nicht kannst.“ „Hilflos……,“ meine Gedanken schweiften ab zu meiner Mutter, der ich nicht hatte helfen können. „Nein, das ist vielleicht wirklich nicht klug. Ich verstehe, was ihr mir sagen wollt, Ajuda. Doch ich weiß nicht, ob ich so schnell daran glauben kann.“ Er lächelte. „Wenn man ein Tor geöffnet hat, finden sich die Menschen meist ganz von alleine ein.“
In den nächsten Tagen fing ich also an mit den neuen Rekruten zu trainieren. Außerdem stellte mich Ajuda bei den anderen Meistern vor; Sarim, der Meister für Astronomie, Kimya, die Meisterin für Alchemie und Alnabat, der Meister für Botanik und Heilkunde. Gleichzeitig bekam ich Zugang zur klostereigenen Bibliothek, einfach ein Traum für mich. Ich konnte lernen so viel ich wollte, solange ich nur auch den Klosterpflichten nachging, denn jeder trug seinen Teil zur kleinen Gemeinde bei. Gerade anfangs schickte Ajuda mich des Öfteren in die Umgebung wandern, „um mich selbst zu finden“, wie er sagte. Es war merkwürdig, doch irgendwie nahm ich alles auf eine ganz andere Weise wahr. Von meiner Wanderung zum Kloster erinnerte ich mich nur verschwommen an meine Umgebung. Als ich im Feld arbeitete, konzentrierte ich mich darauf, mir die kürzesten Wege einzuprägen. Jetzt ging ich auf das ein, was um mich herum geschah, betrachtete einen kleinen Wassertropfen auf einem Blütenblatt ebenso lange wie ich einem Eichhörnchen bei der Futtersuche zuschaute. Immer im Hinterkopf Ajudas Worte, dass alles im Leben eine Heilbringende und eine zerstörerische Seite habe. Wie ein Mantra hatte es sich in meinem Gehirn festgesetzt. Und ich versuchte, mehr im Einklang mit mir selbst zu sein und somit meiner Umgebung. Dabei half mir auch die tägliche Meditation, die, seit ich mich entschieden hatte mit der Mönchausbildung anzufangen, auch nicht mehr freiwillig war. Doch am liebsten meditierte ich alleine, in einem der kleinen Gärten des Klosters, in der Nähe einer der Bäche. Der Klang von laufendem Wasser hatte etwas so Beruhigendes. In den Abend- oder Morgenstunden war ich oft dort anzutreffen, in der Regel mit frisch gebrühtem Tee. Ajuda kam das ein oder andere Mal, setzte sich hinzu, bediente sich mit einer Tasse und ging anschließend seines Weges. So irgendwie gelang mir dieses im Einklang sein auch, zumindest machte ich große Fortschritte in allen Disziplinen und Ajuda hatte die Sache seit unserem Kampf nicht mehr angesprochen.
Doch im Nachhinein denke ich es war einfach, dass er auf den für sich passenden Zeitpunkt gewartet hatte. Eines Abends als er sich zu mir gesellte und seinen Tee trank, fing er erneut davon an. „Du hast große Fortschritte gemacht, Dakyr.“ „Danke, Meister. Ich gebe mir Mühe. Doch, ich habe das Gefühl ihr würdet dies nicht ohne Grund ansprechen?“ Ajudas‘ Mundwinkel zog sich ein winziges Stück nach oben. „Hmm. Du baust die Schranken in deinem Kopf langsam ab. Stück für Stück. Das ist gut so. Doch, du kannst sie nicht ungeschehen machen, die Vergangenheit. Deine Vergangenheit ist Teil von dem, was du bist. Sage mir, Dakyr, wohin warst du unterwegs, als ich dich auflas?“ „Ich…ich wollte zum Berggipfel Otomakus. Mir den Sonnenaufgang dort ansehen.“ Es kam mir so dumm vor. Doch vielleicht sah Ajuda darin wieder eine metaphorische Rätselbotschaft deren Sinn mir noch verschlossen blieb. „Vielleicht solltest du morgen früh dorthin aufbrechen. Es könnte dir guttun. Du erinnerst dich, als wir über Ziele und das Heimkehren sprachen Dakyr? Nun, manche Menschen müssen ihr Ziel erreichen, ehe sie heimkehren können.“ „Aber Meister, ich fühle mich wohl hier, ich möchte hierbleiben, ich will nicht zurück nach Hause!“ „Man kann zu vielen Orten zurückkehren. Heimat ist derjenige Ort, den wir in unserem Herzen dazu machen. Ich werde den anderen Meistern Bescheid geben. Ich wünsche dir viel Erfolg, Dakyr. Möge der Windgeist dich leiten.“
Tja, da saß ich, etwas perplex und starrte in meine Teetasse. Ich wusste nicht, was sich Ajuda davon versprach, mich auf den Berggipfel zu schicken. Aber meine Mutter hatte mir davon auf ihrem Sterbebett erzählt. „Ich wäre so gerne noch einmal dort gewesen und hätte den Sonnenaufgang beobachtet. Ich wollte ihn dir immer zeigen, Dakyr. Es tut mir leid, dass ich es nicht geschafft habe.“ Ihre Worte hallten in meinem Kopf wider. Nein, das war etwas, was ich noch machen musste. Ajuda hatte recht. Und warum nicht jetzt? Außerdem hatten die Ratschläge des komischen Kauzes mir noch immer weitergeholfen. Seufzend machte ich mich auf den Weg in mein Zimmer, um zu packen.
Ich brach am nächsten Morgen direkt nach dem Frühstück auf, Richtung Otomaku. Erstaunt stellte ich nach einiger Zeit fest, wie leicht mir das Wandern fiel. Es hatte nichts mehr von der Beschwerlichkeit der Hinreise, als ich von zu Hause weglief. Gerade in der Nähe des Klosters kannte ich mich aus, ich hatte gelernt auf meine Umgebung zu achten, wusste welche Pflanzen in der Nähe essbar waren und was gefährlich. Je näher ich zum Gipfel des Berges kam, desto beschwerlicher wurde der Aufstieg, doch mit den Trainingseinheiten, die ich bei Ajuda in letzter Zeit absolviert hatte, war meine Ausdauer wesentlich besser als noch einige Monate zuvor. Und doch, es war nicht nur das. Immerhin hatte ich auch während meiner Ausbildung eine gute Grundausdauer erhalten. Irgendwas war anders. In meinem Kopf. In meinem Herzen. Ich konnte es nur nicht ganz greifen. Nach einer Weile zog ich meine dunkelbraunen Stiefel aus und lief barfuß weiter. Ich wollte die Erde unter mir spüren. Da sich auf meine Fußsohlen mittlerweile eine dicke Hornhaut gebildet hatte, lief ich ebenso schnell wie mit Schuhen. Und doch, ich fühlte mich mehr verbunden mit den Elementen um mich herum. Als ich den Gipfel Otomakus erreichte, war die Nacht bereits hereingebrochen. Ich suchte mir einen Felsüberhang zum Schutz und ruhte mich dort aus. Meine Augen fielen immer mal wieder zu, doch ich spürte eine Aufregung in mir, die mich nicht schlafen ließ. Endlich kündigte sich die Sonne an, langsam tauchte sie den Himmel in helle Farben, eine rot-goldene Kugel schob sich hinter der Hügelkette langsam hervor und tauchte Berg und Wälder in ein zauberhaftes Licht. Nie hatte ich einen solch schönen Sonnenaufgang gesehen. Er schien von einem Neuanfang zu künden, in allen Dingen, in denen ich es wollte. Erst als die Sonne aufgegangen war und ich mich zum Gehen wandte, fiel mir auf, dass meine Wangen nass und verkrustet waren. Ich hatte wohl die ganze Zeit im Stillen geweint. „Lebe wohl, Mutter. Ich liebe dich.“ Meine Worte verliefen sich im Wind. Doch tief in mir merkte ich, dass ich bereit war, mein altes Leben hinter mir zu lassen, nicht zu vergessen, doch es sollte mich auch nicht herunterziehen. Ich war bereit für einen Neuanfang. Nach erneuter Wanderung, diesmal zumeist bergab, sah ich die Pagodendächer Suikagodons im Sonnenuntergang schimmern. Ich lächelte. Ich war zu Hause.
Bevor ich mich in mein Zimmer begab, ließ ich mich neben meinem Lieblingsbach nieder und braute in alter Vertrautheit meinen Tee. Nach kurzer Zeit hörte ich Ajudas bedachte Schritte näherkommen. Ihm entging wirklich nichts, was in diesem Kloster passierte. Er nahm sich etwas Tee und setzte sich im Schneidersitz mir gegenüber. „Hmm...interessant. Neue Teesorte?“ Ich schlug die Augen auf und grinste. „Sozusagen. Sehen Sie, Meister, es ist eine Kombination aus meinem alten Leben und meinem neuen. Ich finde, sie macht sich äußerst gut.“ Ajuda lächelte, als er die Flasche Whiskey in Augenschein nahm, die leer neben meiner Tasche lag. „In der Tat, eine äußerst gelungene Kombination. Willkommen daheim, Dakyr.“
So kam es also, dass ich das Kloster in meinem Herzen zu meinem Zuhause machte. Mehr als es meine tatsächliche Heimat je gewesen war. Und außerdem erfand ich eine, wie ich finde sehr schmackhafte Getränkekombination, die gleichzeitig eine Verbindung zwischen meiner Vergangenheit und Gegenwart für mich darstellte. Natürlich musste ich mir von den anderen einiges anhören zu meiner „Getränkemarotte“. Doch selbst Bartyn musste grimmig zugeben, dass es „schlechtere Verwendungen für ihren guten Whiskey“ gäbe. Was aus ihrem Mund ja schon so etwas hieß wie „schmeckt ziemlich gut“.
Für mich begannen von da an die besten Jahre meines Lebens. Alles war so ruhig und friedvoll. Ich nahm regelmäßig an Ajudas Kampfunterricht teil, besuchte den Alchemieunterricht und verbrachte Tage im Kräutergarten und Nächte auf dem Astronomieturm. Ich genoss es, mich auf nichts anderes konzentrieren zu müssen, außer darauf, mir Wissen anzueignen. Klar, ich musste auch dazu beitragen, dass es dem Kloster gut ging. Doch das war eine Selbstverständlichkeit und es war auch mal eine schöne Abwechslung, mit den anderen Rekruten auf dem Feld herumzualbern, anstatt über den Büchern zu sitzen. Ach, die Bücher. Ein wenig vermisse ich mittlerweile schon auch meinen Rückzugsort, die Bücher in der Bibliothek. Eine wirklich große Bibliothek mit unglaublich viel verschiedenem Wissen hatten die Bewohner des Klosters da über die Zeit zusammengetragen. Es war einfach wundervoll. Und so sehr ich meine Alchemiestunden auch liebte (es war üblich sich auf eines der Gebiete zu spezialisieren), es war auch toll, etwas komplett anderes zu lernen. Oder einfach in eine fabelhafte Geschichte einzutauchen.
Mit der Zeit fühlte ich mich immer mehr mit den Elementen verbunden, so wie Ajuda es erzählt hatte. Beim Kampf war ich vollkommen ruhig, spürte meinen Atem, fühlte jede Regung meines Körpers und lernte diese einzusetzen. Die Sichel wurde später die Waffe meiner Wahl, als es nicht mehr darum ging nur mit den eigenen Gliedmaßen umzugehen. Das fühlte sich zunächst wieder vollkommen falsch an. Ajuda lachte mich aus „Wenn du sie richtig einsetzt, sind deine Fäuste genauso tödlich wie deine Sichel. Nur keine falsche Scheu. Beim Getreide ernten nutzt du sie doch auch, als sei sie ein Teil von dir.“ Irgendwie war man gegen seine Lehren machtlos. Doch ich hatte ja Zeit, um zu Lernen und schließlich fühlte sich die Sichel an, als sei sie einfach nur eine Verlängerung meines Arms.
Die Stunden, die wir Rekruten hatten, wurden weniger mit der Zeit. Wir wurden mehr uns selbst überlassen. Die Bibliothek stand uns zur Verfügung, wann wir wollten, ebenso der Astronomieturm mit seinen Sternkarten und Teleskopen, die vor Generationen hierhergeschafft worden waren. Wir durften im Kräutergarten ernten und Heilsalben herstellen und Alchemie Experimente im Labor durchführen. Wenn Ajuda nicht gerade seine Lehrstunden hielt, konnte man außerdem auf dem Trainingsplatz seine Kampfkünste schulen und Meditieren wurde ermutigt, wann immer einem danach war, so lange man sich ab und zu in der Gruppenmeditation sehen ließ. Zudem wurde man einem der Meister unterstellt, dieser erkundigte sich regelmäßig nach den eigenen Fortschritten und gab einem den ein oder anderen Denkanstoß. Und ja, Ajuda war mein Meister. Generell galt einfach das Prinzip, sich fortzubilden und einander dabei zu unterstützen.
Abgesehen von den Ernte- und Instandhaltungspflichten und dem Helfen bei der Whiskeyherstellung musste einfach generell der Klosterbetrieb in Gange gehalten werden. Stieg man als Schüler auf, so hielt man ab und an auch Unterricht für neue Rekruten. Unsere Kampfkünste mussten wir bis auf den gelegentlichen Banditen- oder Raubtierangriff unterwegs auf Botengängen nach Helethir oder Galrhan Zhadar jedoch nie in der Praxis einsetzen. Die Abgeschiedenheit des Klosters sorgte dafür, dass es dorthin nicht viele Menschen verschlug, bis auf die, die bei uns lernen wollten, oder diejenigen die wir selbst zu diesem Zwecke aus der Umgebung mitbrachten. Trotzdem gab es irgendwie eine Fluktuation. Für immer im Kloster dort zu bleiben, das lag den meisten nicht. Einige kamen um zu Lernen und zogen dann in die Welt Aisolons hinaus, um zur Akademie zu gehen, um Orte, von denen sie gelesen hatten zu erkunden. Um ihre eigene Heilstube zu eröffnen. Es gab die verschiedensten Motivationen. Einige zogen auch los, zu Abenteuern, und um neue Bücher ins Kloster zu bringen, und man sah sie nur noch selten.
Ich wartete dann bereits, um den neuen Lesestoff entgegenzunehmen. So sehr ich in meiner Kindheit auf die Politik gedrängt wurde, so sehr schottete ich mich alsbald davon ab. Klar, die ein oder andere Neuigkeit wurde beim Essen beredet und man hörte davon, doch generell bekam ich in den nächsten Jahren nicht mit, was in der Welt um mich herum passierte. Ich wollte es nicht wissen. Ich hatte ja meine Bücher, und meine Gärten und meinen Tee. Was will man schon mehr.
Nun, es kam der Tag, an dem ich unverhofft mehr bekommen sollte als ich es wollte.
Ich war gerade auf dem Rückweg von einer Botenmission aus Galrhan Zhadar, als sich der sonnige Nachmittagshimmel verdunkelte. Innerhalb von Minuten zog eine Wolkenfront auf und der Himmel war nachtschwarz. Blitze zuckten über das Firmament und in der Ferne hörte ich Donner grollen. Ich fluchte leise, denn das Kloster war zwar nicht mehr weit, doch nie im Leben würde ich es noch rechtzeitig schaffen. Ich beschleunigte meine Schritte, doch schon fielen mir die ersten Wassertropfen ins Gesicht. „Die Lichtung!“, schoss es mir durch den Kopf. Sie musste hier irgendwo in der Nähe sein. Ich hatte dort schon öfter Rast gemacht oder war zum Meditieren dort gewesen. Doch mittlerweile peitschte mir der Regen ins Gesicht, sodass ich kaum noch meine Hand vor Augen erkennen konnte. Ich weiß bis heute nicht wie ich es geschafft habe, doch es dauerte zum Glück nicht allzu lange bis ich auf die Waldlichtung stolperte. Irgendwo…irgendwo gab es dort diesen Steinvorsprung, da konnte ich mich zumindest etwas unterstellen. Da! Es war sogar mehr Platz als ich erwartet hatte, ein richtiger kleiner Höhlenvorsprung. Ich musste mich ducken, um hineinzugelangen, doch ein paar Meter weiter konnte ich mich aufrecht hinsetzen. Es musste ja auch mal Vorteile haben, nicht der Größte zu sein. Unter tiefen Seufzen setzte ich meinen Rucksack auf den Boden und ließ mich gegen die Wand sinken. Nach einer kurzen Verschnaufpause entledigte ich mich meines Reisemantels, nur um festzustellen, dass meine neuen tiefroten Roben darunter nass an meiner Haut klebten. „Ich schätze ihr seid damit auch eingeweiht.“
Nicht viel zuvor war ich morgens beinahe über den Kleiderstapel vor meiner Zimmertür gefallen. „Vorsichtig,“ kicherte Ajuda, als er um die Ecke bog. „Ich habe darauf gewettet, dass es länger als einen Tag dauert, bis du sie das erste Mal waschen musst, also streng dich bitte etwas an.“ Erstaunt blickte ich ihn an. „Heißt das…?“ Er nickte…stolz? Oder bildete ich mir das nur ein? „Voll ausgebildeter Mönch, Glückwunsch. Nicht, dass du dir jetzt etwas darauf einbildest. Unter uns Mönchen bist du immer noch ein Grünschnabel und hast jede Menge zu lernen.“ Er zwinkerte und deutete auf die weiß-gelbe Schärpe, die zuoberst lag. Mein Blick fiel auf die Seine, tiefschwarz, mit eingestickten Elementsymbolen. Ajuda lachte sein warmes, baritones Grummeln. „Na los, zieh sie schon an, ich hab nicht den ganzen Tag zu vetrödeln.“ Grinsend verschwand ich erneut in meinem Zimmer. Wie hatte ich darauf gewartet endlich die Mönchsroben zu erhalten! Die weite schwarze Hose unterschied sich nicht wirklich von der Rekrutenkleidung, doch die Obergewänder waren prächtig. Gehalten in verschiedenen Rottönen lagen sie bemerklich leicht auf der Haut. Zusammengehalten wurden sie von einer farbigen Schärpe, die den Kenntnisgrad des Mönchs bekannt gab, Weiß-gelb für den untersten Grad, so wie meiner, oder irgendwann eben das Schwarz eines Meisters. Ich trat aus der Tür, als ich gerade den Gurt fest zusammenzog. Erst jetzt fiel mir auf, dass das Gelb im Band daher stammte, dass kleine Flammensymbole in den weißen Stoff gestickt waren. Ich hielt inne, und statt des freudigen, okay, vielleicht auch etwas kindlichen, „Ta-Das“, was mir auf den Lippen lag, entwich mir nur Luft und ein fragender Blick gen Ajuda. Er lächelte sein sanftmütiges Lächeln. „Ja die anderen Meister haben ähnlich reagiert. Aber ich bin nun mal Dein Meister und folglich kenne ich dich besser als du dich selbst.“ „Ihr …ordnet mich dem Feuerelement zu?“ Es war eine Tradition des Klosters, welches sich ja auf die Lehre der Elemente berief, seine Schüler dem Element zuzuordnen, das am Meisten mit der Persönlichkeit in Einklang war. Nicht, dass dies irgendeine weitreichende Konsequenz gehabt hätte. Nur…Feuer? Ich? Das konnte ich nicht sehen. Irgendwie…war es das Element, was ich mir selbst am wenigsten zugeordnet hätte. Unbemerkt war Ajuda an mich herangetreten. Ich blickte auf als sich seine Hand auf meine Schulter legte. „Manchmal ist es einfacher für Außenstehende etwas in uns selbst zu sehen, was wir noch nicht sehen können.“ Er drehte sich um und ging den Gang hinunter. „Abgesehen davon bist du einfach ein schwieriger Fall. Die anderen Meister waren alle unterschiedlicher Meinung, was dich anging. Also war meine Stimme entscheidend. Und pass auf, dass ich meine Wette nicht verliere!“ Ich schnaubte belustigt und machte mich gut gelaunt auf den Weg zum Frühstück.
Ich betrachtete das traurige, verschlammte Häufchen Kleider vor mir auf dem Boden. „Dann bin ich mal gespannt, ob Ajuda seine Wette gewonnen hat.“ Ich schaute mich um. Links von mir Dunkelheit durch die der Schimmer eines Regenvorhangs ab und zu durchblitzte. Rechts von mir huschten ein paar Schatten über den Boden. Ratten? Wenn ich doch nur mehr sehen könnte. Ich tastete nach meinem Rucksack und suchte die Fackeln und Zündhölzer. Die Fackeln schienen noch funktionstüchtig mit ihrer wasserabweisenden Wachsschicht. Die Zundhölzer gaben ein klägliches Geräusch von sich, als ich versucht sie zu entzünden. „Na großartig. Wo ist mein Feuer jetzt, Ajuda, ich könnte es gebrauchen.“ Zwei große dunkle Augen schauten mich aus der Dunkelheit an. „Ja ich rede mit mir selbst,“ teilte ich der Ratte teilnahmslos mit. Moment…das war gar keine Ratte. Das war ein Streifenhörnchen, das mich äußerst interessiert musterte. „Oh hey Kleiner. Versteckst du dich auch vor dem Sturm?“ Ich wandte mich nochmal dem Rucksack zu und kramte darin herum. Ich wurde auch schnell fündig und warf dem Hörnchen ein – mehr oder weniger trockenes – Stück Brot zu. Es schaute mich skeptisch an, lief dann zum Brot, nagte versuchsweise daran und schnappte es sich und machte sich auf in die andere Richtung. Neugierig raffte ich mich auf und kraxelte ihm hinterher. Und damit meine ich, ich tastete mich in der Dunkelheit in einem Schneckentempo in die Richtung, in die es verschwunden war, weiter in die Höhle hinein. Nach einer Weile gewöhnten sich meine Augen zumindest an das Dunkel und ich konnte Schemen erkennen. Nicht, dass mich das weit gebracht hätte, hätten mich nicht bald wieder zwei funkelnden Augen skeptisch von der Seite angeschaut. Ich tastete meinen Weg dort herüber und entdeckte den Eingang zu einem weiteren Tunnelsystem, viel kleiner und scheinbar mechanisch herausgebuddelt. Das musste der Bau des Hörnchens sein. Und ich befand mich scheinbar direkt vor den beiden wichtigsten Kammern, die geschützt in der Höhle lagen: Die Schlaf- und die Vorratskammer. Und zu meiner Freude stellte ich fest, dass der Schlafplatz des Hörnchens vollgestopft war mit trockenem Geäst, Blättern und Moos. Vielleicht könnte ich es schaffen damit ein Feuer zu erzeugen und daran die Fackel entzünden. Ein bisschen Wärme und Licht wäre nicht schlecht. „Schön hast du es hier. Sag mal, denkst du wir können tauschen? Ich gebe dir mehr Brot und dafür bekomme ich etwas von deinem Nestmaterial? Ich bringe dir später auch gerne Neues.“ Erwartungsvoll schaute ich das Hörnchen an. Zwei leuchtende Augen starrten unverändert zu mir zurück. Ich griff in meine Ledertasche, in der ich die Brotreste verstaut hatte, nahm das Brot heraus, brach die Hälfte ab und fuhr mit der Hand in die „Vorratskammer“. „Ahhh!“ Ein stechender Schmerz breitete sich plötzlich von meinem Finger in meinen Körper aus. Das Hörnchen hatte mich überraschenderweise wohl nicht verstanden und war überhaupt nicht begeistert von der Aussicht, eine Menschenhand in seiner Wohnung zu haben. Ich öffnete meine Hand, das Brot fiel heraus und ich fiel nach vorne weg, als ich das Gleichgewicht verlor und fing mich mit der Hand auf dem Boden auf. Zunächst, erneuter Schmerz, weniger scharf, diesmal hatten sich schließlich keine Zähne in meinen Finger gerammt, sondern ich war anscheinend auf einem losen Stein aufgekommen, doch auch der war mehr als unangenehm in meiner Haut.
Und dann wurde ich fast ohnmächtig, doch nicht von dem Schmerz, sondern eher einem rauschartigen Gefühl, dass ich so seitdem nicht wieder gespürt hatte. Es war, als würde von dem Stein eine Kraft ausgehen, eine Kraft, die in meinen Körper strömte, oder auch schon dort war und wegströmte und wieder zurückkam...ich weiß es nicht. Ich kann es nicht wirklich beschreiben. Das hätte ich nicht mal in dem Moment gekonnt. Doch es war, wie bei einer Meditation, ich war mir jeder Faser meines Körpers plötzlich so bewusst. Spürte das Blut durch mein Herz pumpen, durch meine Adern fließen. Doch da war noch etwas Anderes. Neues. Fremdes. Doch gleichzeitig gehörte es unweigerlich zu mir. Wie ein zweiter Kreislauf innerhalb des Blutkreislaufes. Lauter kleine...Funken? Es war warm und schön und erschreckend und unglaublich. Wie berauscht taumelte ich zurück. Und spürte…nichts mehr.
Für einen Moment zumindest. Dann trafen mich das Gefühl von Kälte und Schmerz wie ein Schlag ins Gesicht. Was war los mit mir? Was war diese merkwürdige Wärme, die sich in meinem Körper ausgebreitet hatte? Wo kam sie her? Ich verdrängte die Gedanken an Kälte und Erschöpfung, die sich in meinem Kopf breit machten und tastete mich zurück zu den Tunnelöffnungen. Zwei leuchtende Kreise starrten mich an. „Komm schon, mein Freund, ich will dir nicht wehtun. Aber ich muss wissen, was das war.“ Keine Reaktion. Ich seufzte und versuchte mein Glück mit einer Technik, die ich im Kloster gelernt hatte: Trifft man die richtigen Nerven bei einem Menschen, ist es diesem für eine zeitlang nicht möglich, sich zu bewegen. Mal sehen, ob das auch für Tiere galt. In der Tat hatte ich das Gefühl, dass die Augen sich nicht von der Stelle bewegten. „Entschuldige…“ Ich tastete mich an dem Tier vorbei in die Dunkelheit. Langsam…da! Ich fand etwas das von der Form und Größe ein ganz normaler Kieselstein sein konnte. Doch sobald ich ihn berührte, spürte ich wieder dieses …Etwas in mir. Das Gefühl verstärkte sich als meine Faust den Stein umschloss. Ich zog sie hinaus, doch konnte in der Dunkelheit nicht wirklich mehr erkennen, als dass es sich um eine Art Stein handelte. Schnell griff ich mir noch etwas trockenes Geäst aus der Schlafkammer des Hörnchens und mit einem weiteren gemurmelten „Entschuldige“ trat ich den Rückzug an.
Wieder bei meinen Sachen angekommen entschloss ich mich zunächst für etwas Feuer und Licht zu sorgen. Ich schichtete die mitgebrachten Zweige zu einem kleinen Häufchen auf und fing an im schummrigen Licht des Eingangs im Rucksack nach meinem Feuerstein zu kramen. Doch egal wir häufig ich alle Taschen von innen nach außen umkehrte, ich wurde nicht fündig. Enttäuscht ließ ich mich auf den Boden sinken. Gedankenverloren nahm ich den merkwürdigen Stein in die Hand und ließ ihn von einer Hand in die andere fallen. Zumindest fühlte ich mich wärmer, wenn ich dieses merkwürdige Ding in der Hand hielt. Ich betrachtete ihn genauer, so gut es eben ging, im schummrigen Licht. Der Stein, er sah einem Feuerstein gar nicht so unähnlich, mit seiner glatten, schwarzen Oberfläche. Vielleicht konnte ich damit ja auch Feuer machen? Einen Versuch war es zumindest…“AHHHHHHHHHHHHHHHHH!“ Ich schrie? Ich schrie. Wie in Trance nahm ich meinen Schrei wahr, der sich anfühlte, als würde die Höhle gleich zum Einsturz kommen. In meinen weit aufgerissenen Augen spiegelte sich die Feuersäule. Die Feuersäule?! Die Feuersäule. Die aus dem Stein geschossen kam. Der auf meiner Hand lag. Und gefühlt die ganze Höhle vereinnahmte. Der auf meiner Hand lag?! Was war eigentlich los mit mir?! Ich ließ den Stein fallen. Sofort erlisch das Feuer. Es wurde kalt um mich herum. Der Geruch von verbrannten Haaren stieg mir in die Nase und ich hörte ein ersticktes Fiepen. „Oh nein…oh nein…es tut mir so leid, komm schon Kleiner…“ Ich tastete mich nach vorne und traf auf ein klägliches Fellbündel. Das Streifenhörnchen war wohl zurückgekommen, um mir seine Meinung zu sagen…eh also zumindest könnte ich mir das an seiner Stelle vorstellen. Und wurde von einer Feuersäule empfangen. Ich nahm es auf den Arm und bettete es auf meinen Kleiderhaufen, der durch seine Nässe und Position auf dem Boden anscheinend nur einige Rußflecken abbekommen hatte. Ich nahm meine Wasserflasche und tröpfelte ihm ein paar Tropen auf die Nase, doch es schaute mich nur mit glasigen Augen an. Ich ließ mich erneut gegen die Felswand sinken und schloss die Augen.
Anscheinend war ich eingeschlafen, denn als ich sie wieder öffnete, schien die Höhle etwas heller und freundlicher. Ein Blick auf den Eingang verriet mir, dass es aufgehört hatte zu regnen und der Himmel hell dämmerte. Es schien früh am Morgen zu sein. Mein Kleiderstapel war leer, bis auf ein paar dreckige Pfotenabdrücke und Haarreste. Das Hörnchen schien sich zumindest so weit erholt zu haben, dass es sich davonschleichen konnte. Ich hoffte inständig, dass es ihm gut ginge. Ich zog meine halbwegs trockenen Kleider an und packte meine Sachen zusammen. Dann suchte ich nach dem Stein. Doch ich fand ihn nicht. Alles, was ich fand, war eine kleine kohleartige Kugel an der Stelle, an der ich ihn erwartet hätte. Ich steckte sie ein und machte mich auf den Weg zurück ins Kloster.
Als ich dort ankam schien es gerade Frühstückszeit zu sein. Was mir in meinem Zustand recht gelegen kam; ich ging auf mein Zimmer, schnappte mir ein paar Sachen und machte mich auf den Weg zu den Waschhäusern, um sowohl mich als auch meine Kleidung unbemerkt sauber zu bekommen. Was mir bei Ersterem zwar noch ganz gut gelang aber als ich gerade dabei war meine Kleidung im Becken zu säubern, legte sich ein Schatten über mich und ich hörte Ajuda sagen „Zwei Tage mehr mein lieber Schüler und ich hätte meine Wette gewonnen. Was hast du eigentlich gelernt bei deinem Meister?“ Ich blickte gerade rechtzeitig auf, um in seinem Gesicht den Umschwung von spöttelnd nach besorgt zu erhaschen. Kurz darauf waren seine Gesichtszüge wieder vollkommen neutral, seine Gedanken für mich nicht zu erahnen. „Ich hätte nicht gedacht, dass du sie gleich in Brand setzt.“ „Ich…,“ mein Blick senkte sich „war unvorsichtig beim Feuer machen…“. Ich spürte förmlich, wie sich sein Blick in meinen Kopf bohrte. Schließlich wandte er sich ab und verließ den Raum mit einem „Pass in Zukunft besser auf, wir geben die Kleidung schließlich nicht aus wie Frühstücksbrot.“ Ein langer Seufzer entwich mir. Er wusste, dass ich ihm etwas verschwieg. Ich war auch unglaublich schlecht darin, ihm etwas zu verheimlichen. Aber ich war nicht bereit darüber zu reden. Ich wusste ja selbst nicht, was da passiert war.
Doch ich war entschlossen es herauszufinden. Den gesamten Nachmittag verbrachte ich in der Bibliothek – ohne Erfolg. Ich fragte sogar unseren Bibliothekar, einen älteren Halbling namens Idric, ob er von Büchern wüsste, in denen von magischen Steinen berichtet wird. Er schaute mich fragend über sein riesiges, vor ihm liegendes Buch an. „Was is‘ da los? Du has‘ mich doch nicht mehr nach Bücherrat gefragt, seitdem du den zweiten Tag hier deine Wohnung aufgeschlagen has‘. Kann dir leider nich‘ weiterhelfen. Mir is‘ noch nichts über magische Steine über den Weg gelaufen. Haben hier eh nich so viele Bücher über Magie. Zumeist Elementar-Magie was hier is‘. Viele Bücher sin‘ aber auch für die Akademie abgezogen worden.“ Er zuckte mit den Achseln und wandte sich wieder seiner Enzyklopädie zu.
Meine Bibliothek, der Ort, an dem ich immer eine Antwort fand, hatte mich also im Stich gelassen. Also zu meiner nächsten Anlaufstelle. Dem Alchemielabor. Ich nahm den Kohleklumpen, den ich mitgenommen hatte und versuchte ein Stück abzubrechen, doch egal ob mit Hand, Messerklinge oder Spitzhammer, alles glitt immer wieder an dem Stein ab. Ich versuchte den Stein in verschiedenen Flüssigkeiten aufzulösen, Säure, Lauge, magische Tinkturen. Nichts konnte ihm etwas anhaben. Bei Erhitzen glühte der Klumpen orangerot, so wir bei einem Kohlestück, doch im Gegensatz zu Kohle konnte man mit diesem Stein nicht schreiben. Und meine Standardmethoden zur Substanzidentifikation konnte ich aufgrund seiner Widerstandsfähigkeit nicht anwenden.
So ging das eine Weile. Irgendwie hatte ich aber immer noch keine Antwort. Doch ich wurde die Erinnerung an dieses Gefühl nicht mehr los. Es war eines Abends, als ich mich in den Gärten an meine Lieblingsstelle setzte, mir einen meiner Whiskey-Tees zubereitete und anfing zu meditieren. Doch ich konnte nicht loslassen. Stattdessen wurde mein Kopf geflutet mit Erinnerungen. Erinnerungen aus einem Leben, welches für mich so weit weg war. Die ich so lange verdrängt hatte? Naja, ich hatte damit abgeschlossen. Dachte ich.
„Dakyr! Sieh mal, was ich kann!“ Lachend kam Akyrla zu mir in den Garten gelaufen. Ich saß gegen die große Eiche gelehnt und hatte ein Buch vor mir, eine meiner Lieblingsabenteuergeschichten. Ich blickte auf. „Liest du wieder deinen Fantasie-Quatsch? Hier schau mal her, das können die Leute in deiner Geschichte bestimmt nicht!“ Sie machte eine Bewegung mit ihrer Hand und Schneeflocken fingen an um uns herum zu fallen. Wenn sie mich berührten, fühlte es sich an, als fiele ein kleiner Sonnenstrahl auf eben diese Körperstelle. Ich lächelte. Vor ein paar Wochen hatte Akyrla festgestellt, dass sie Magie nutzen konnte. Wie genau sie das machte, konnte sie mir nicht sagen. Doch so kindlich begeistert hatte ich sie schon lange nicht mehr gesehen. Üblicherweise war sie in Vaters Strategielehrstunden eingespannt. Es war schön, ein wenig von der Schwester zu sehen, mit der ich früher zusammen am Meer gespielt hatte. „Das ist wunderschön Akyrla! Wie machst du das?“ Ihre Stirn legte sich in Falten. „Du weißt doch, ich kann es dir nicht sagen. Ich verstehe es auch nicht so richtig. Aber es fühlt sich großartig an, als wäre da diese Kraft in mir, die durch mich durchströmt und mit der ich Dinge machen kann! Und bald gehe ich zur Akademie, da lerne ich noch mehr und es gibt mehr Bücher und alles…“ Ihr Blick blieb über meiner Schulter hängen. Ihre leuchtenden Augen verhärteten sich plötzlich. Als sie wieder sprach, war ihre Stimme kalt. „Aber natürlich kann ich auch nützliche Dinge damit machen.“ Sie streckte ihre Hand nach vorne und murmelt etwas. Mit einem Fingerschnipsen sprang ein Feuerfunke von ihrem Finger auf mein Buch über und es fing Feuer. „Akyrla!“ Erschrocken sprang ich auf und ließ das Buch aus der Hand fallen. Ich versuchte die Flamme zu ersticken, doch das magische Feuer erwies sich als hartnäckiger als erwartet. „Lies was Sinnvolles, Bruderherz.“ Sie dreht sich um und ging zum Haus zurück. Ich sah ihr fassungslos hinterher. Einige Sekunden später hörte ich den Kies hinter mir knirschen. Ich blickte über meine Schulter und sah meinen Vater in langen, langsamen Schritten den Weg entlang schreiten. „Räum das weg, Dakyr. Asche macht sich nicht auf dem Rasen,“ sagte er nur ganz ruhig, er hielt nicht einmal an.
Ich schmeckte … Salz. Ich öffnete die Augen. Irritiert wischte ich die Tränenspur über meiner Wange weg. Als wäre da diese Kraft in mir, die durch mich durchströmt. Akyrlas Stimme hallte durch meinen Kopf. Ich dachte daran, wie es sich gefühlt hatte, den Stein anzufassen. Diese Kraft…ich wollte sie wieder spüren. Doch es hatte sich nicht so angefühlt, als sei die Kraft komplett von dem Stein ausgegangen. Mehr als sei es eine Verbindung zwischen mir und dem Stein gewesen. Ich kramte die Kohlekugel aus meinem Lederbeutel hervor. Ich legte sich vor mich und fing an zu meditieren, konzentrierte mich auf meinen Atem, meinen Körper und seine Kreisläufe. So vergingen einige Stunden und als die Sonne schon untergegangen war fühlte ich sie plötzlich. Schwach und klein, doch da waren diese kleinen Funken, die in meinem Inneren herumflitzten.
Ich meditierte von da an jeden Tag, nur um die Funken wieder zu finden und ihre Kraft in meinem Kreislauf zu spüren. Und es wurde einfacher, sie zu finden, denn ich wusste jetzt, wonach ich suchen musste und mit jedem Mal fiel es mir leichter. Nicht, dass ich wirklich hätte erklären können, was ich da machte. Ich fühlte mich, als verstünde ich zum ersten Mal, was meine Schwester mir beschrieben hatte.
Ich fragte mich da natürlich, ob ich es gewesen war, der die Feuersäule erzeugt hatte. Doch es gelang mir nicht, diesen Effekt zu reproduzieren. Wann immer ich es versuchte, spürte ich genau wie die Funken durch meinen Körper schossen und hin zu meiner Handfläche strebten. Und dann, ganz plötzlich verschwanden sie und ich konnte sie den ganzen Tag nicht mehr in mir finden. Ich versucht auch den Kohleklumpen zum Leuchten zu bringen, so wie Feuer es schaffte, doch erfolglos.
Ich spielte mit dem Gedanken, zu der Lichtung zurückzukehren. Doch innerlich hielt mich auch davon noch irgendetwas zurück. Es sollte noch einige Wochen dauern, bis ich mich wieder dorthin aufmachte. Meine Taschen vollgestopft mit Nüssen stapfte ich los. Ohne große Probleme fand ich die Höhlenöffnung wieder. Da es diesmal nicht geregnet hatte konnte ich mir leicht eine Fackel entzünden und ich folgte dem Gang tiefer in den Berg. Als ich an den Tunnelöffnungen vorbei zum Zuhause des Hörnchens kam, machte ich Halt und hielt Ausschau. Ich konnte es jedoch nirgends entdecken. Ich legte die Nüsse vor den Eingang und kroch weiter. Die Öffnung wurde immer kleiner, ich passte gerade noch so durch. Ich wollte gerade schon umkehren, also der Gang wieder größer wurde und ich plötzlich aufrecht stehen konnte. Und mir vor Staunen der Mund offenblieb.
Vor mir erstreckter sich ein riesiger Unterwassersee, also zumindest kam er mir riesig vor, denn ich konnte das Ende mit meinem Fackellicht nicht sehen. Wie Säulen trafen sich Stalaktiten und Stalagmiten an verschiedenen Stellen. Es wirkte so spannend und geheimnisvoll hier. Ich richtete die Fackel auf das Wasser. Ich konnte bis zum Boden sehen, auf dem kleine bunte Fische hin- und herschwammen. Schnell suchte ich einen Felsvorsprung, an dem ich die Fackel befestigen konnte. Hier musste ich einfach schwimmen gehen. Das Wasser fühlte sich an, als würde mir das Blut in den Adern gefrieren. Doch es war auch angenehm leicht und mit kräftigen Schwimmstößen konnte ich mich warmhalten. Nach einigen Tauchversuchen stellte ich überrascht fest, dass der See recht flach war, es waren vielleicht drei Meter in die Tiefe. Ich hielt meine Luft an und schwamm nach unten, um die Fische zu beobachten. Es war schwer zu erkennen, doch sie schienen zu schillern, hätte ich sie doch nur im Hellen sehen können, es waren bestimmt prächtige Farben! Nach einer Weile merkte ich die Kälte dann doch und ich beschloss, noch einen letzten Tauchgang zu unternehmen, bevor ich mich auf den Rückweg machen wollte. Als ich merkte, dass mir die Luft knapp wurde, ertastete ich mit den Händen den Boden und drückte mich nach oben ab. Halt! Was war das? Dieses Gefühl, diese Wärme, nur für einen kurzen Augenblick. Ich stoppte in meiner Bewegung, schaute auf den Boden, sah nichts, nur ab und an die Bewegung der Fische; da verhaspelte ich mich als mir die Luft knapp wurde und schluckte etwas Wasser. Mit einem kräftigen Zug schob ich mich prustend an die Wasseroberfläche. Ich durfte nicht so unvorsichtig sein! Diese dummen Steine hatten mir total den Kopf verdreht. Und doch …dieses Gefühl…es ließ mich nicht los. Ich holte tief Luft, tauchte kerzengerade nach unten und tastete mich vorsichtig auf dem Grund des Sees innerhalb der Umgebung entlang. Ich weiß nicht, wie lange ich da so rumsuchte, doch es kam mir vor wie eine halbe Ewigkeit. Aber es hat sich gelohnt. Denn als ich schon fast aufgeben wollte, umschlossen meine Finger einen Stein und dieses berauschende Gefühl stieg wieder in mir auf. Triumphierend tauchte ich aus dem See auf.
Ich schaute nochmal schnell nach, wie lange meine Fackel noch mitmachen würde und entschied mich sicherheitshalber eine zweite zu entfachen. Ich war dieses Mal ja vorbereitet. Und dann setzte ich mich sofort an den Rand des Sees, um zu meditieren, Stein in der Hand. Das Gefühl war dieses Mal nicht so überwältigend. Ich hatte ja mittlerweile genug Zeit damit verbracht, diese seltsamen Funken, wie ich sie nannte, in meinem System zu suchen und zu spüren. Doch es war einfach so viel stärker mit dem Stein in der Hand. Die Funken strahlten mir in meinem Inneren förmlich entgegen. Es war ein wundervolles Gefühl. Doch als ich darüber nachdachte, Feuer zu entfachen, spürte ich auch jetzt wieder diese Barriere, die aufkam, scheinbar kurz bevor die Kraft mich zu verlassen strebte. Frustriert brach ich meine Meditation ab, schnappte mir die Fackel, und trat den Rückweg an.
Als ich am Tunnelsystem des Streifenhörnchens vorbeikam, lagen die Nüsse unberührt davor. Es ist alles in Ordnung, es ist beim letzten Mal weggelaufen, es geht ihm gut. Es ist wahrscheinlich auf Nahrungssuche. Oder umgezogen, weil es hier Angst bekommen hat. Wie ein Mantra sagte ich mir das in meinem Kopf auf. Immer und immer wieder, bis ich den Ausgang erreichte. Es war bereits Nacht als ich mich auf den Rückweg zum Kloster machte.
Die nächsten Tage fühlten sich ein bisschen an wie ein Déjà-Vu. Ich verbrachte Stunden im Labor und in der Bibliothek, um etwas über den Stein herauszufinden. Ich war mir sicher, dass es die gleiche Art Stein war wie der, der die Feuersäule ausgelöst hatte. Mit dem ich die Feuersäule ausgelöst hatte. Doch nichts konnte dem Stein etwas anhaben, ich konnte ihn in keinem Buch finden, kurzum es gelang mir nicht, mehr über ihn herauszufinden als ich schon wusste. Das hielt mich nicht davon ab, jeden Tag mit dem Stein in der Hand zu meditieren und die kleinen Magiefunken in mir hin und her flitzen zu spüren, stärker als sonst.
Bei einem meiner Gespräche mit Ajuda fragte ich ihn vorsichtig, was er so über Magie wisse. „Soso, Magie also.“ Sein Röntgenblick, so nannte ich ihn zumindest bei mir, durchdrang mich. Er hatte diese Art, Menschen anzuschauen, dass man sich fühlte, als könne er jeden deiner Gedanken lesen und dir direkt in die Seele blicken. „Erinnerst du dich an unser Gespräch Dakyr, als wir mit dem Training begonnen haben?“ „Ja...,“ fragend schaute ich ihn an. Wie konnte ich das jemals vergessen? Doch worauf wollte er hinaus? „Nimm deine Sichel. Schau sie dir genau an. Wie würdest du sagen, unterscheidet sie sich von Magie?“ Ich balancierte die Sichel in der linken Hand. „Meister … ich…“, dann erinnerte ich mich an seine Worte vor all den Jahren. Jahren? Ja, es lag wirklich schon Jahre zurück, dass ich meinen Weg ins Kloster gefunden hatte. „Sie unterscheiden sich nicht...nicht in ihrer Essenz.“ Ajuda lächelte in seiner charakteristisch sanften Art. „Das ist eine Art und Weise es zu betrachten. Es ist die Perspektive, aus der ich es betrachte. Nun, Magie kann etwas, nun ja, vielfältiger in ihrer Anwendung sein. Doch sie kann dazu benutzt werden, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Genauso kann sie dazu benutzt werden, zu zerstören. Es kommt darauf an, wie eine Person ein Werkzeug verwendet, was ihr gegeben wird. Nicht darauf, um was für ein Werkzeug es sich handelt.“ Er schwieg eine Weile. „Weißt du noch, warum wir dieses Gespräch führten, als du herkamst?“ Wieder dieser durchdringende Blick. Ich verschränkte meine Beine in den Schneidersitz, holte tief Luft und schloss die Augen. Und versank in meiner Erinnerung. Als ich die Augen wieder öffnete, saß Ajuda unverändert vor mir und zog nur leicht die Augenbraue an. Ich schaute ihn an und wollte schon den Mund öffnen, als sich seine Mundwinkel hoben und er mir zuvorkam. „Nun vergiss nicht Dakyr, dass es Vielen so geht, dass sie in ihrem Leben stets gegen dasselbe Problem kämpfen. Nur häufig erkennen wir es nicht. Denn auch Probleme wissen es, ihre Gestalt zu verändern. Das ändert jedoch nicht ihren Kern. Hab einen angenehmen Tag.“ Und er stand auf und ging davon. Und ich verbrachte den ganzen Tag damit zu meditieren und seine Worte zu ergründen.
Doch währenddessen wurde ich erneut von Erinnerungen heimgesucht. „Ich will euch allen etwas zeigen!“ Bestimmend und stolz hallte Akyrlas Stimme eines Abends beim Essen in mein Bewusstsein. Ich blickte aus meiner üblichen „Ich konzentriere-mich-nur-auf-mein-Essen“-Haltung auf. Sie war aufgestanden und mir wurde erneut bewusst, dass sie mittlerweile fast so groß war wie ich. Erwartungsvoll blickte sie sich um bis sie sich sicher war, dass sie auch die Aufmerksamkeit des letzten Bediensteten im Raum hatte. Dann drehte sie ihr Handgelenk und ein bunter Schmetterling erschien dort und fing an durch den Raum zu flattern. „Er ist wunderschön, Akyrla.“ Meine Mutter lächelte ihr zu. Ich lächelte und nickte zustimmend. Wie schön es war, ab und an ihre sanfte Seite zu sehen. Sie fing an zu lächeln und ich hatte das Gefühl, dass es den Weg bis hin in ihre Augen fand. „Soso, Magie.“ Die kalte, schneidende Stimme meines Vaters drang durch den Raum und entzog ihm jegliche Wärme. Das Lächeln erstarb in Akyrlas Gesicht. „Ja, Vater. Ich weiß, es ist illegal, doch ich habe gerade erst herausgefunden, dass ich es kann. Ich werde es selbstverständlich nicht mehr tun.“ Sie senkte ihren Blick. Vaters Lachen, das dann erschallte, ließ mir förmlich das Blut in den Adern gefrieren. „Oh da würde ich mir keine Sorgen machen. Du bist schließlich meine Tochter. Außerdem hat ja niemand etwas gesehen.“ Sein Blick schweifte durch den Raum. Die Bediensteten schlugen hastig die Augen nieder und taten, als seien sie sehr beschäftigt. Mit was auch immer. „Ich werde gleich einen Brief an die Akademie schreiben und sie fragen, wann du dort anfangen kannst. Was mich eher wundert ist die Wahl wie du uns deine Magie zeigst. So etwas,“ er deutete spöttisch Richtung Schmetterling, „hätte ich in diesem Haus eher von anderen Personen erwartet.“ Ich senkte hastig meinen Blick, doch trotzdem konnte ich den seinen auf mir spüren. „Ich weiß nicht, was du meinst, Vater,“ hörte ich Akyrlas Stimme sagen. Vor mir wurde es gleißend hell. Neugierig schaute ich wieder auf. Und sah, wie der Schmetterling über dem Tisch verbrannte. Ich zog geräuschvoll die Luft ein. Es fiel keine Asche auf den Tisch. Was Akyrla uns da zeigte, war nur eine Illusion. Doch die war gerade von wunderschön zu grausig geworden. Doch nicht annähernd so grausig wie der hungrige Blick, der sich in diesem Moment auf dem Gesicht meines Vaters zeigte.
Ich schrak aus meiner Trance hoch. Spürte, wie einzelne Schweißtropfen mir den Nacken hinunterliefen. Lange starrte ich einfach nur vor mich hin. Doch, ich wusste jetzt was Ajuda meinte. Ich stand auf und stieg hinunter zum Übungsplatz. Es war bereits am Dämmern und niemand war hier. Ich verlor mich einige Zeit lang in Kampfübungen, konzentrierte mich dabei auf die Fließbewegungen in meinem Körper. Suchte dann die Funken innerhalb dieser Bewegungen. Konzentrierte mich auf diese, dachte an Feuer. Spürte, wie die Funken wärmer wurden, intensiver wurden und auf meine Hand zustreben. Ich ließ es zu, ließ den Funken ihren Lauf. Ich beendete meine Figur unüblich mit einer geöffneten linken Handfläche. Spürte die Funken durch sie hindurchziehen. Und dann stand ich da, in der Dunkelheit, mit einer winzigen Feuerflamme, die vergnügt auf meiner Hand tanzte.
Ajuda erwischte mich, als ich eines Abends auf dem Dach der Bibliothek saß und es mir gerade zum ersten Mal gelungen war, den Kohlestein aufzuwärmen, nur in dem ich ihn in meiner Hand hielt. Sein vergnügtes Glucksen ließ mich hochschrecken. „Meister…ich...äh…ich kann das erklären…“ Meine Stimme brach ab. Er winkte nur ab und gestikulierte grinsend zu meinem Gürtel. „Da soll mal noch jemand sagen, ich kenne meine Schüler nicht.“ Er ließ sich im Schneidersitz mir gegenüber nieder und betrachtete den halb glühenden Kohlenstein in meiner Hand. „Faszinierend.“ Sein Gesichtsausdruck wurde ernst, als er sich wieder mir zuwandte. „Du weißt, dass Magie ohne Erlaubnis im Königreich streng verboten ist?“ Mein Gesicht nahm in etwa die Farbe meiner Gewänder an. „Ich…,“ Was hatte ich schon zu sagen? Ich wusste natürlich, dass Magie verboten war. Trotzdem hatte es mich so sehr in den Fingern gejuckt, meine neu entdeckten Kräfte auszuprobieren. Und ich hatte ja absichtlich niemandem davon erzählt. Naja, ich hatte es zumindest vor Ajuda auch nicht wirklich geheim gehalten. „Ich … kann damit aufhören…es ist nur …eigentlich will ich mehr darüber herausfinden. Es ist ein Teil von mir, Meister. Ich wusste nur bis vor Kurzem nicht, dass er existiert…“ Ajuda lächelte. Sanft, wie immer. Die Enttäuschung in meiner Stimme schien in nicht sonderlich zu überraschen. „Ich weiß, Dakyr. Ich möchte auch nicht, dass du damit aufhörst. Ich bin hier, um dir einen Vorschlag zu machen. Sieh mal, mich stört es persönlich nicht, wenn jemand Magie selbst erprobt. So lange er diese zu etwas Gutem einsetzt, hat er für mich nicht das Recht verwirkt, diese zu benutzen. In unserem Gesetz sieht das etwas anders aus. Ein jeder, der nicht die entsprechende Ausbildung erhält, ist stetig in Gefahr verhaftet zu werden. Nun Dakyr, ich sehe dich weder als einen Menschen, dem das Gefängnis guttun würde, noch der sich mitsamt aller Konsequenzen dazu entschließt, außerhalb des Gesetzes zu leben. Nun? Korrigiere mich bitte, wenn ich dich falsch einschätze.“ „Hmmpf…,“ schmollend musste ich ihm zustimmen. „Also muss ich doch aufhören. Eine Ausbildung in der Akademie kann ich mir nicht leisten. Und ich müsste von hier fort…“ „Nun, wie wäre es, wenn du mich zunächst meinen Vorschlag ausführen lässt? Oder hast du das schon vergessen? Anschließend kannst du gerne noch immer den Kopf in den Sand stecken, wenn dir danach ist. Ein guter Freund von mir, Mersadis, wohnt ganz in der Nähe der Akademie, gerade außerhalb von Zon Faimon. Es wäre ein gutes Stück zu Laufen jeden Tag, doch das hält dich fit, wenn du sonst schon nur den Kopf in den Büchern hättest. Die Ausbildung, um die Anumati zu erhalten, dauert nur ein Semester. Wenn du nicht allzu lange mit deiner Entscheidung wartest, könntest du dich zum Winter noch einschreiben.“ „Ihr wollt, dass ich bei eurem Freund unterkomme? Das würdet ihr für mich tun?“ Ich dachte darüber nach was er mir gesagt hatte. „Aber ich hätte immer noch kein Geld, um ihn für Essen zu bezahlen…und ich müsste von hier fort…“ „Mersadis hat einen wunderbaren kleinen Kräutergarten, der dir gefallen wird. Er kann dir bestimmt noch das ein oder andere beibringen. An deinen freien Tagen kannst du ihn dort unterstützen, im Gegenzug für deine Unterbringung. Und abgesehen davon, werde ich dir ein kleines Unterhaltsgeld mitgeben, das für die Zeit reichen sollte, um für deine Nahrung und vielleicht ein, zwei Ale in der Stadt aufzukommen. Willst du mehr Geld ausgeben, musst du schauen, wo du es dir verdienst.“ Ich wollte gerade den Mund öffnen, als er fortfuhr. „Oh, und was die Abwesenheit im Kloster angeht, wir werden schon nicht untergehen ohne dich.“ Er zwinkerte mir zu. Ich presste meine Lippen aufeinander. „Dakyr, du bist seit 9 Jahren hier. Ich weiß, dass es dir hier gefällt und an nichts fehlt, doch es kann sicher nichts schaden, wenn du auch mal etwas anderes von der Welt siehst.“ „Ja...bestimmt. Aber ich mag es hier in meiner kleinen Seifenblase. Ihr seid doch auch nur hier, Meister. Euch schadet es nicht!“ Er lachte. „Ich bin hierhergekommen und habe mich entschieden hier zu bleiben, nachdem ich die Welt gesehen habe, Dakyr. Das ist ein sehr großer Unterschied. Lass es dir durch den Kopf gehen und dann gib mir Bescheid. Dann sende ich einen Brief an Mersadis und einen an die Akademie. Oh und Dakyr, die bräuchten einen Nachnamen von dir, wenn du dich einschreiben möchtest.“ Er stand auf und ging davon, Richtung der großen Eiche, die direkt neben dem Dach wuchs und einem den Aufstieg ermöglichte.
Einige Tage später suchte ich Ajuda in seiner Kammer auf. Die Meister hatten ihr eigenes kleines Tempelhaus, in dem sie wohnten und es war wunderschön mit Symbolen der Elemente verziert. Ich trat in den Hausgang und klopfte schließlich gegen den Türrahmen, der Ajudas Kammer vom Rest trennte. „Meister?“ Die Trennwand schob sich zur Seite. „Dakyr. Tritt doch ein. Was kann ich für dich tun?“ „Ich habe über Euer Angebot nachgedacht.“ Er hob fragend eine Augenbraue. „Nun, ich würde es gerne annehmen.“ „Das freut mich, Dakyr. Ich denke, dass du eine gute Entscheidung getroffen hast. Ich werde gleich an Mersadis schreiben. Und einen Brief an die Akademie aufsetzen.“ Er wollte sich gerade zu seinem Schreibtisch umdrehen, da berührte ich ihn leicht am Arm. Ich hielt ihm einen Brief entgegen. „Der ist schon fertig. Vielleicht könnten Sie ihn einfach mit demselben Boten senden?“ Ajuda nahm den Brief nachdenklich entgegen. „Du wusstest, was du zu tun hast?“ „Ich kannte jemanden, der auch zur Akademie gegangen ist. Ich nehme an, es hat sich nicht so viel geändert seitdem.“ „Ich denke nicht, dass du so viel falsch machen kannst, nein.“ Er wendete den Brief, ich wandte mich zum Gehen. „Armande?“ fragte er nur, leichthin. Ich hielt kurz inne. „Es erinnert mich an Armalté,“ erwiderte ich. Ich hatte den Brief selbst geschrieben, denn ich wollte nicht, dass jemand anders für mich lügt. Doch ich wollte auch nicht, dass die an der Akademie wussten, aus welcher Familie ich stammte. Aber Ajuda anzulügen…nein. Nach all den Jahren hatte er es vermutlich verdient zu erfahren, wo ich herkomme. Außerdem vertraute ich ihm. Und er hatte mich schließlich einfach so aufgenommen, wie ich war. Als die Person, die ich war. Ich trat hinaus und schloss die Tür hinter mir.
Nach ein paar Wochen kamen die Antworten auf die Briefe, zunächst der von Mersadis, dann der der Akademie. Meiner Ausbildung schien nichts mehr im Weg zu stehen. Ich verbrachte die letzten Wochen im Kloster damit, alle meine Lieblingsstellen noch einmal ausgiebig zu besuchen: meine verschiedenen Meditationsplätze in den Gärten, das Dach der Bibliothek, die Bibliothek selbst; ich verbrachte den Tag im Kräutergarten und die Nacht auf dem Astronomieturm. Stand früh auf, um den Trainingsplatz zu nutzen und verzog mich anschließend ins Alchemielabor. Ich besuchte Bartyn in der Distillerie neben den Gerstenfeldern und half ihr Whiskey herzustellen und zu vernichten. Und ich arbeitete in besagten Gerstenfeldern und genoss die Aussicht und das Gefühl, wenn der Wind durch die Ähren strich. Einige Tage vor meiner Abreise wanderte ich noch einmal zum Gipfel Otomakus und beobachtete Sonnenunter- und -aufgang. Auf dem Rückweg schaute ich an der kleinen Lichtung vorbei, wo ich die Feuersteine entdeckt hatte. Sie schien vollkommen unverändert.
Und dann war es Zeit, für meinen letzten Tee mit Ajuda.
Am nächsten Morgen packte ich meine wenigen Sachen zusammen. Als Letztes nahm ich vorsichtig ein Buch unter den Brettern meines Zimmerbodens hervor „Der Atem der Welt“. Ich öffnete es. Auf der ersten Seite war eine vergilbte Notiz eingeklemmt „Ich weiß, es ist nicht das von Súnfor aber…es tut mir leid, bitte entschuldige. Auf Wiedersehen – A.“ Ich hatte mich gerade von ihr verabschiedet. Hatte ihr alles Gute gewünscht. „Auf irgendwann mal, großer Bruder.“ Es hatte in der Geschichte sicher schon herzlichere Abschiede gegeben. Sie brach auf, um eine vollständige Ausbildung an der Akademie anzufangen. Klar, wir hatten uns in den letzten Jahren immer weiter voneinander entfernt. Trotzdem würde es komisch sein ohne sie. Und nun stand ich in meinem Zimmer und hielt das Buch in der Hand, was auf meinem Bett gelegen hatte – ein Abschiedsgeschenk gewissermaßen. Ich hatte ihr nie von Súnfor erzählt. Seitdem habe ich sie nicht mehr häufig gesehen. Sie kam ein-, zweimal zu Besuch, doch dann wurde sie von meinem Vater in Beschlag genommen, um Kampftaktiken unter Einsatz von Magie zu besprechen. Das letzte Mal habe ich sie gesehen, als Mutter gestorben ist. Doch in der Zeit habe ich eh nicht viel wahrgenommen. Und jetzt machte ich mich auf zu eben derselben Akademie. Ich steckte das Buch in meinen Rucksack und mit einem letzten Blick durch mein Zimmer, ging ich los, die letzten Ebenen hinunter, bis zum Eingangstor, wo Ajuda und Bartyn auf mich warteten, um sich zu verabschieden.
Die Reise war diesmal fast fröhlich, verglich ich sie mit meiner letzten Reise dieser Art. Aber dieses Mal lief ich auch nicht weg, ich war ausgerüstet und ich hatte seither die ein oder andere längere Wanderung unternommen. Trotzdem war es ein etwas merkwürdiges Gefühl. Denn mir war schon etwas mulmig zumute. Einerseits freute ich mich darauf, mehr über Magie zu lernen. Andererseits war das Kloster zu meinem Zuhause geworden, mehr, als mein eigenes Zuhause es je gewesen ist. Und ich war nicht wirklich weg gewesen, seit Ajuda mich damals aufgesammelt hatte. Zu wissen, dass ich gerade wieder unterwegs in die „richtige“ Welt war, nun es war etwas unheimlich. Ich hatte mich an meine schöne Seifenblase im Kloster gewöhnt, wusste überhaupt nicht, was in den letzten Jahren in der Welt so vor sich gegangen war. Das würde sich wohl demnächst ändern. Ich war schon mal in Zon Faimon gewesen, mit meiner Familie. Doch da war ich noch ein Kind, es lag so weit zurück, dass ich mich nur ganz verschwommen daran erinnern konnte.
Einige Tage später kam ich bei Mersadis Häuschen an. Oder zumindest vermutete ich es, Ajudas Beschreibungen folgend. Es befand sich kurz außerhalb von Zon Faimon. Zwischen ein paar Bäumen gelegen, konnte man fast das Gefühl bekommen, man sei im Wald, wenn man nicht zu genau hinschaute. Das Dach des Häuschens war mit einer Moosart bewachsen und an der Seite rankten sich Kletterpflanzen empor. Es war aus Holz gezimmert und mit dunkelroter Farbe gestrichen, die an einigen Stellen schon abblätterte. Ein Garten war an der Seite angelegt, mit vielen verschiedenen Kräuterbeeten, von deren Pflanzen ich die meisten, jedoch nicht alle, aus dem Klostergarten wiedererkannte. Der Rauch, der aus dem Schornstein stieg, ließ vermuten, dass jemand zu Hause war. Ich klopfte an. Etwas fiel im Inneren um und kurz darauf hörte ich eine helle Stimme: „Ich komme sofort, ich komme!“ Ein Halbling öffnete mir die Tür, mit dem größten Grinsen, das ich je gesehen hatte. Seine blauen Augen musterten mich von oben bis unten. Er strich sich eine seiner braunen Locken aus dem Gesicht, die ihm über die Nase gefallen war. „Du musst Dakyr sein! Ich bekomme nicht so viel Besuch und schon gar nicht von Leuten, die angezogen sind wie du.“ Er zwinkerte. Seine Stimme hüpfte die Oktaven rauf und runter, während er sprach, sodass es fast ein wenig klang als würde er singen. „Immer rein, immer rein!“ Er öffnete die Tür komplett und gestikulierte aufgeregt nach drinnen. Ich duckte mich unter dem Türrahmen über die Türschwelle und befand mich im gemütlichsten kleinen Wohnraum, den ich je gesehen hatte. Hier befanden sich ein Esstisch und ein Kamin und in den Ecken waren Sitzkissen verteilt. Von den Decken hingen Kräuter zum Trocknen. Ein Kessel köchelte über dem Feuer vor sich hin. „Tee?“ fragte er mich. „Ich habe gerade frische Pfefferminze aus dem Garten geholt!“ Ich nickte zustimmend. „Sehr gerne.“ Wir setzten uns und unterhielten uns ein wenig. Mersadis war eine echte Frohnatur. Nach einer Weile kramte er aus einer Ecke sogar eine Laute und fing an, mir ein traditionelles Halblingslied vorzuspielen. Er machte sein fehlendes Können dabei mit sehr viel Enthusiasmus wett. Nachdem die Sonne schon untergegangen war, fiel ihm ein, dass er mir meinen Schlafplatz noch nicht gezeigt hatte. „Oh ich Schussel, sieh mal hier schläfst du!“ Eifrig lief er in eine der Ecken, in der sich eine Tür befand, die mir zuvor nicht aufgefallen war. Vorsichtig folgte ich ihm, denn obwohl die Decke hoch genug war, dass ich aufrecht gehen konnte, so war doch nicht viel Abstand zwischen meinem Kopf und den Balken und ich traute dem Ganzen noch nicht so recht. Als ich schließlich vor der Tür stand, blickte ich in einen kleinen Raum, dessen gesamte Wände mit Dingen vollgestellt waren. Doch die Mitte war freigeräumt und dort stand ein einfaches Bett. „Ist eigentlich meine Arbeits- und Abstellkammer,“ erklärte Mersadis fröhlich. Aber Ajuda meinte schon, dass du nicht so groß seist und da reinpasst. Ich schlafe hier drüben, falls du irgendwelche Fragen hast!“ Er deutete einmal quer durch den Raum und ich bemerkte, dass sich dort abermals eine Tür in der Ecke befand. „Danke vielmals, Mersadis. Und danke auch, dass ich hierbleiben darf, während ich meine Ausbildung an der Akademie mache.“ „Ach iwoooo. Ich freu mich doch mal über ein bisschen Gesellschaft. Das Bad ist draußen, einmal ums Haus rum. Bis morgen!“
Ich hatte noch ein paar Tage, bis das Semester offiziell begann, die ich damit verbrachte, Mersadis in seinem Garten zu helfen, ihn nach Kräutern auszufragen, die ich nicht kannte und mir die Gegend anzuschauen. Es war nicht weit, bis zum Sisaroth, an dessen Ufer ich gerne Zeit verbrachte und meine Kampfübungen ausführte. Außerdem suchte ich mir schon mal den Weg zur Akademie raus, denn ich wollte nicht zu spät kommen an meinem ersten Tag und die Tore waren morgens nur eine Stunde lang geöffnet. Doch ich war am Abend vorher so nervös, dass ich schon mal nicht ordentlich einschlafen konnte.
Vielleicht hätte ich mir keine Sorgen ums Zuspät-Kommen machen sollen, sondern eher um die Ringe unter meinen Augen. Das dachte ich mir zumindest, als ich eine halbe Stunde vor Einlasszeit vor den Toren der Magierakademie stand und von einem Fuß auf den anderen trat. Ich war viel zu aufgeregt gewesen und mein Körper hatte die Angst, zu spät zu kommen, wohl so sehr verinnerlicht, dass ich einfach schon viel zu früh wach war, aber dank vorhandenem Adrenalin auch nicht mehr einschlafen konnte. Also frühstückte ich, packte etwas Wasser und Schreibzeug ein, und machte mich auf den Weg. Und hier stand ich nun, vor verschlossenen Toren. Um Punkt sechs Uhr wurden die Tore geöffnet. Aufgeregt ging ich als erster hindurch, im Schlepptau ein, zwei andere, die sich mittlerweile ebenfalls vor den Toren eingefunden hatten. Staunend blickte ich auf den Innenhof, der wunderschön angelegt war mit einer Grünfläche und Bäumen. Es schien alles noch sehr leer zu sein. Ich schaute mich um. Verwirrt blieb ich im Hof stehen. Und nun? Im Brief hatte nur gestanden, dass ich mich morgens einzufinden hatte. Wann und wo genau, stand nicht geschrieben. Und ich sah keine Gruppe mit Neuanfängern oder eine Autoritätsperson, die auf Neuankömmlinge wartete. Ich wandte mich an eine der Wachen, die neben dem Tor standen. „Entschuldigung, ich bin neu hier und kenne mich noch nicht aus. Sie wissen nicht zufällig, wo ich mich hier melden muss?“ Ein mürrisches Kopfnicken in Richtung eines der Gebäude war die Antwort. Als ob mir das den Tag verderben könne. „Danke,“ erwiderte ich fröhlich und machte mich schnellen Schrittes auf. Es stellte sich heraus, dass in diesem Gebäude so etwas wie ein Empfang war. Doch die musterten mich kaum, ließen mich einen Unterrichtsvertrag unterschreiben und scheuchten mich dann auf den Hof zurück, wo „euch um 9 jemand empfangen wird.“ Also nochmal warten. Ich setzte mich auf die Grünfläche in der Mitte des Hofes, schlug „Der Atem der Welt“ auf und begann zu lesen. Als es auf neun Uhr zuging, trudelten auch andere Schüler ein, allein oder quatschend in Kleingruppen. Sie schienen alle von der gegenüberliegenden Seite des Gebäudekomplexes zu kommen. Alles Leute, die hier wohnten. Von ihnen würdigte mich keiner eines Blickes. Außer vielleicht dem ein oder anderen, scheel von der Seite, nur um sich dann zurück zur Gruppe zu wenden, die kurz darauf lachte. Ich musste unwillkürlich lächeln. Wie anders sie sich doch mir gegenüber verhielten, jetzt da sie nicht wussten, wer ich war. Und dann räusperte sich jemand und plötzlich waren alle still. Und ich sah zum ersten Mal Nyrociel Ellinar, Mitglied des Hohen Rates für die Magier. Er sah irgendwie königlich aus, wie er dort stand, und er war eine dieser Personen, die sofort Autorität ausstrahlten, einfach nur durch ihre Anwesenheit.
„Willkommen, ihr Schüler Aïsolons. Ihr Glückseligen, die ihr Magie habt, ohne eine jahrelange Ausbildung absolvieren zu müssen! Und doch seh ich euch an, dass ihr euch fragt, warum ihr mit eurem angeborenen Talent trotzdem lernen müsst; warum ihr ein halbes Jahr damit verschwenden müsst von alten Leuten zu lernen, was ihr mit dieser euch innewohnenden Magie anstellen dürft. Wie kann etwas verboten sein, das so natürlich ist, wie die Magie in euch, mögen sich einige von euch fragen. Und in einem halben Jahr werde ich euch diese Frage stellen und ihr werdet mir eine Antwort darauf geben können. Weil ihr nicht vorrangig lernen werdet, wie ihr eure Magie kontrolliert – die meisten von euch können dies – sondern ihr werdet lernen, warum ihr eure Magie kontrollieren müsst.
Mein Name ist Nyrociel Ellinar und die meisten werden mich kennen. Ich bin oberster Magier und besetze als dieser die Stelle der Magier im Rat. Statt dem Akademieleiter Avalarion empfange ich euch an diesem wichtigen Tag, denn ihr seid meine Zukunft. Wenn einer von euch einen schlimmen Fehler macht, werde ich als Vertretung aller Magier dafür grade stehen. Und ich mag meinen Kopf sehr gerne da, wo er ist. Aber abgesehen davon, ist es mir stets die größte aller Freuden in die Gesichter der Zukunft der Magier zu sehen. Unsere Wizards sind äußerst intelligente, gelehrsame Menschen. Aber so wie es viele Arten von Humanoiden gibt, so gibt es auch viele Arten von Magie. Und wir brauchen jede Art der Magie. Und ihr, ihr seid diese Variation, die wir brauchen. Manche von euch ziehen ihre Kräfte aus der Natur. Was wäre Helegrod ohne euch? Manche von euch weben Magie in Musik. Was wären Tavernen, Theater, Lazarette ohne euch? Andere sind gesegnet mit einer magischen Kraft, die in ihren Adern fließt, entstanden durch die mächtigen Drachen. Was wären unsere Armeen ohne euch? Ihr seid die Zukunft Aïsolons. Jeder einzelne von euch kann -und wird- die Zukunft dieses Reiches beeinflussen. Ihr seid hier, damit diese Zukunft eine friedvolle und gute wird!
Und nun folgt mir, ich will euch das Gelände zeigen, das ihr für das nächste halbe Jahr – und vielleicht noch für viel länger – euer Zuhause nennen werdet.“
Nyrociel führte uns durch den gesamten Gebäudekomplex, erzählte uns dabei etwas über die Geschichte der Akademie, und in welche großen Fußstapfen wir das Glück hatten, zu treten, wenn wir nur unsere Köpfe anstrengen würden. Sein Rundgang endete in der Bibliothek, in der wir alle einen Bibliotheksausweis erhielten und uns gezeigt wurde, in welche Bereiche wir hineindurften. Das waren nämlich nur die, zu denen wir auch Unterricht hatten. Also in meinem Fall Geschichte, Persönlichkeiten, Ethik, Religion und Magie. Ich schaute mich erst einmal staunend um. Ich hatte sozusagen in der Bibliothek des Klosters gelebt, kannte jede Ecke, und es war die bisher größte Bibliothek, die ich gesehen hatte. Aber das hier, das war nochmal etwas anderes. Die Bibliothek war in einem großen Gebäude, das optisch hervorstach, da es im Gegensatz zu den anderen Gebäuden nicht aus Stein war. Zumindest sah es nicht so aus. Stattdessen wirkten die Wände -innen wie außen- aus Buchrücken gebaut. Als wäre ein Buch über ein anderes geschichtet und würde so eine solide, wenn auch nicht vollkommen glatte, Wand ergeben. Nyrociel erzählte, dass die Buchtitel willkürliche Repräsentationen der Buchtitel in der Bibliothek darstellten. Auch das Innere war dem Thema Buch und Wissen angepasst. Die Treppen schienen lose Stapel an Blättern zu sein, die Einzeltische ähnelten Tintenfässern und die Sessel im Eingangsbereich waren mit großen Schreibfedern gepolstert. Erst wer den Eingangsbereich mit den Stühlen und Sesseln durchschritten und die Treppe in die oberen Geschosse genommen hatte, fand sich in einer „normalen“ Bibliothek aus hellem Holz wieder. Nyrociel vermochte zu erklären, dass dieses speziell aus Helegrod stammende und von Laegliner Zaubern abgeänderte Holz feuerabweisend war und jede Flamme löschte, die versuchte, an dem Holz zu lecken. Über einen langen Korridor gelangte man in der ersten Etage zu den allen Akademieschülern zugänglichen Abteilungen, eben jene aus dem Stundenplan. Vor jedem der Säle mit den Büchern standen Wachen, die den Ausweis mit der Genehmigung für jenen Raum sehen wollten. In den Räumen selbst gab es säulenartige, runde Bücherregale um die jeweils, durch das runde Bücherregal selbst gerundete Tische einmal um die Säulen herum gewunden waren. Die Buchsäulen waren groß genug, damit um den sie umrundenden Tisch gut 10 Schüler passten. Ich konnte es kaum erwarten, mich hier in die Bücher zu stürzen. „…wo ihr eure Stundenpläne erhalten werdet.“ Nyrociels Stimme riss mich aus meinen Tagträumen. Schuldbewusst blickte ich auf. Wo sollten wir hin? Fragend sah ich mich um, doch ich fand keine Hilfsbereitschaft in den Blicken der Studenten, die um mich herumstanden. Naja…im Zweifelsfall den anderen hinterherlaufen. Das tat ich dann auch und ich erhielt meinen Stundenplan, der generell auch recht voll war. Wenn wir zwischendurch keinen Unterricht hatten, waren wir doch häufig in Kleingruppen unterteilt, in denen Diskussionen geführt wurden, zu Dingen die wir im Unterricht besprochen hatten. Es gab eine Ausgabe, an der mittags Essen verteilt wurde, mit dem man sich irgendwo im Hof niederlassen konnte. Viele der Studenten zogen sich damit auch in ihre Unterkünfte zurück. Ich machte bald eine schöne Ecke etwas am Rand der Wiese ausfindig, wo ich unter einem kleinen Baum meistens meine Ruhe hatte. Die „Internen“ schienen nicht sonderlich daran interessiert mich näher kennen zu lernen, und ich war nicht sonderlich daran interessiert mich ihnen aufzudrängen. Ich zog diese Situation der in X‘Caret um einiges vor, denn wenigstens wusste ich so, wo ich bei den Leuten dran war. Ich fand den Unterricht nicht schlecht, sog das ganze neue Wissen begeistert in mich auf. Doch es war vor allem Wissen über die Geschichte und Politik Aisolons und die Fragestellung nach der ethischen Umgangsweise mit Magie. Daher war das, worauf ich mich eigentlich jeden Tag freute, meine Freizeit, das heißt, die Zeit, in der ich keinen bestimmten Unterricht hatte. Dann schlug ich mein Lager in der Bibliothek auf. Es dauerte auch nicht lange, bis ich am Eingang durchgewunken wurde, die Bibliothekare kannten mich schon. Als der Reiz des Neuen sich ein wenig gesetzt hatte, fing ich an gezielter nach Alchemie zu suchen und schließlich auch nach meinen Feuersteinen, die ich in der Höhle entdeckt hatte, und über die ich im Kloster so frustrierend wenig herausgefunden hatte. Doch so großartig die Bibliothek auch zu sein schien, ich hatte ja nur Zugriff auf einen Bruchteil ihrer Abteilungen. Und das waren jetzt auch nicht unbedingt die Abteilungen, in denen ich Informationen zu den Steinen erwarten würde. Eines Mittags nach erneuter erfolgloser Suche wandte ich mich an die Bibliothekarin Aikara, eine rothaarige Zwergin mit einem eindrucksvoll geflochtenen Bart mit kleinen Perlen und Federn und fragte, was man denn tun müsse um auch in die anderen Abteilungen zu dürfen. Die Soldaten, die vor jedem separaten Eingang standen, machten den Gedanken an ein sich mal kurz hineinschleichen schnell zunichte. Sie beäugte mich misstrauisch. „Dafür brauchst du ne offizielle Genehmigung. Von einem deiner Lehrer oder dem Leiter der Akademie. Sonst gibt’s da nix. Wieso willst du das überhaupt wissen?“ Ihr Blick bohrte sich in meine Augen. Ich zuckte mit den Achseln. „Es hat mich bloß interessiert. Ich finde Bücher einfach unglaublich spannend und Ratsmitglied Ellinar hat es in seiner Einführung nicht erwähnt...glaube ich.“ Mir war gerade wieder eingefallen, dass ich vielleicht auch einfach nicht ordentlich zugehört hatte und ich wandte mich um und machte mich auf den Weg zur Essensausgabe. Wie gewohnt machte ich mich auf den Weg zu meinem Baum, um mich dort in Ruhe niederzulassen. Nur, als ich dort ankam, saß dort schon jemand.
Eine Frau mit dunkelblonden Haaren, die einen leichten Rotstich trugen, saß genau auf meinem Platz vor dem Baum. Vermutlich ein paar Jahre jünger als ich. Ich hatte sie schon mal in einer meiner Diskussionsgruppen gesehen. Wie hieß sie doch gleich? Seorsei oder so. Ziemlich sicher, dass sie eine interne Studentin war und aus einer angesehenen Familie kam. Ich räusperte mich „Hast du dich verlaufen? Die beliebten Grüppchen sitzen eher da vorne. Wobei, seit es etwas kälter wird auch gerne mal in den Wohnhäusern.“ Sie blickte erschrocken auf. Ihre Augen waren gerötet und schauten mich besorgt an. „Ich…eh…Comedian ist nicht so meins.“ Ich zuckte mit den Schultern. Na toll, Dakyr. „Ich treffe hier nur selten jemand anders, aber deswegen hab ich mir die Ecke ja auch ausgesucht. Ist ja genug Platz für uns beide.“ Ich setzte mich im Schneidersitz in etwas Abstand auf den Boden und begann zu essen. „Du heißt Dakyr oder? Wir hatten letzt einen dieser Diskussionskurse zusammen.“ Ich schaute auf und blickte direkt in ihre grünen Augen, die mich neugierig beobachteten. Sie waren etwas heller als meine Eigenen. Ich lächelte und nickte. „Ja. Schön dich kennenzulernen, Seorsei?“ Ich hob meine Stimme fragend an, denn sicher war ich mir immer noch nicht. „Sorsa,“ korrigierte sie mich. Aber den Namen spricht fast niemand richtig aus.“ „Apfel?“ Mir war aufgefallen, dass sie ohne Essenspaket dasaß und die Ausgabe war mittlerweile sicherlich zu. Sie nickte. „Fang,“ rief ich ihr zu als ich den Apfel in die Luft warf, und das tat sie auch, mit erstaunlicher Leichtigkeit. So saßen wir eine Weile stillschweigend nebeneinander. „Macht es dir etwas aus, wenn ich mich öfter mal zu deinem Baum geselle?“ Sie stand auf. „Nun, es ist nicht wirklich mein Baum, weißt du.“ Sie verdrehte die Augen. „Schon klar, das war auch nicht meine Frage.“ „Ich bin mir sicher er würde sich darüber freuen, auch mal jemand anders als mich zu sehen.“ Sie strich sanft über die Rinde des Baumes. „Ich frage ihn bei Gelegenheit mal.“ Dann stapfte sie davon, Richtung Unterrichtsräume.
Und so kam es, dass ich dann auch in meiner Mittagspause des Öfteren Gesellschaft hatte. Zunächst saßen wir beim Mittagessen einfach oft nur nebeneinander, tauschten aus unseren Essenspaketen die Sachen gegeneinander aus, die wir lieber mochten. Dann fingen wir an uns ein wenig über den Unterricht zu unterhalten, über bestimmte Diskussionsthemen. Einmal waren wir so vertieft, dass wir die Diskussion einfach weiterführten auf dem Weg zur nächsten Unterrichtsstunde. Ich überlegte mir gerade mein nächstes Argument und achtete nicht auf meine Umgebung, als mich ein Schmerz von der Seite zusammenzucken ließ. Ein Ellbogen hatte unliebsame Bekanntschaft mit meinen Rippen gemacht, als sich jemand von hinten unsanft an mir vorbeidrängte. „Hey pass doch auf wo du hinläufst. Sosai, was ist denn mit dir los, warum gibst du dich denn mit Externen ab?“ Lachend lief der Junge weiter, ohne sich nochmal umzudrehen. „Alles ok?“ Sorsa schaute mich an. Ich winkte ab. „Halb so schlimm.“ Ich zögerte einen Augenblick, bevor ich nachsetzte „Warum hängst du eigentlich mit mir rum? Also nicht, dass ich meine Gesellschaft besonders schlecht fände…Aber wäre es nicht einfacher für dich mehr mit den anderen zu unternehmen?“ Sie seufzte. „Sicher aber… ich fühle mich nicht wohl. Ich wollte überhaupt nicht hierherkommen. Aber als meine Familie herausfand, dass ich Magie beherrsche…naja da war die Magierausbildung ein absolutes Muss. Vielleicht bekomme ich dann ja einen tollen Ministerposten oder so. Ganz in Familientradition.“ Wütend schmiss sie ihre Tasche zu Boden und ließ sich die Wand runterrutschen. „Dabei mache ich mir da überhaupt nichts draus. Ich bin am liebsten den ganzen Tag bei unseren Pferden oder im Garten. Oder schleiche mich in den Wald, wenn niemand aufpasst.“ Unwillkürlich musste ich schmunzeln. „Jaja lach du nur. Als ob du das verstehen könntest. Du bist freiwillig hier. Du hast es dir ausgesucht, machst sogar jeden Tag freiwillig diesen langen Weg hierher. Und dir kommt die Magie doch zugeflogen, du weißt mehr als die Leute, die hier schon viel länger sind als du. Meine Magie funktioniert nicht mal so, mit Büchern. Die ist eher in mir drin, kommt durch die Natur!“ Ein paar kleine Hagelkörner fingen an mir gegen die Stirn zu prasseln. Entspannt ließ ich mich in den Schneidersitz hinunter. „Würdest du damit aufhören? Ich glaub, damit habe ich noch früh genug auf meinem schönen Weg hierher zu tun, sobald es kälter wird.“ „Entschuldige…“ murmelte Sorsa und machte eine Handbewegung. Die Hagelkörner verschwanden. „Und ja, ich bin hier, weil ich mich dazu entschieden habe. Ich lerne gerne und viel, denn es interessiert mich und ich glaube nicht, dass es schaden kann, mehr über Magie zu wissen, auch wenn sie sich etwas von der Eigenen unterscheidet. Es gibt immer Ähnlichkeiten, immer Nützliches zu erfahren. Aber meine Magie funktioniert auch nicht so und es fällt mir immer noch schwer sie zu kontrollieren. Aber vielleicht können wir uns ja gegenseitig helfen?“ „Das würdest du tun? Obwohl ich gerade so ausgerastet bin?“ „Natürlich.“ Ein Schatten legte sich über meine Augen als ich mich aufrichtete. „Außerdem weiß ich, wie es sein kann, wenn man den Anforderungen anderer genügen will. Komm schon, wir sind schon spät dran.“ Sie ergriff meine ausgestreckte Hand und zog sich hoch. Und von da an hatten wir unsere eigene kleine Lerngruppe. Ich half ihr mit dem Theoriewissen der Magie und sie erklärte mir, wie sich ihre Magie anfühlte, die auf der Verbundenheit mit Natur und Lebewesen beruhte und wie sie diese kontrollierte. Das führte dazu, dass ich bald nicht nur kleine Feuerflammen auf meinen Händen tanzen lassen, sondern auch kleine Windstöße und Regentropfen erzeugen und Erdpartikel durch die Gegend flitzen lassen konnte. Außerdem gelang es mir bald, Wasser aufzuwärmen, was ein nützlicher kleiner Trick war, um meinen Tee zuzubereiten. Und Sorsa schien der Unterricht mehr Spaß zu machen und sie beteiligte sich mittlerweile auch dort an den Diskussionen. Und ich spielte bereitwillig Helfer bei der Suche nach Literatur für ihre Abschlussarbeit. Als es kälter wurde, verbrachten wir die Pausen dann meistens auf ihrem Zimmer, sie ignorierte die Sticheleien der Mitstudenten, und mir konnte es ja sowieso egal sein, ich gehörte ja eh nicht dazu.
Nach einer Weile ergab sich für mich dann sogar die Möglichkeit, Nyrociel erneut zu sehen. Ich hatte ihn nämlich tatsächlich seit der Einführungsveranstaltung höchstens mal mit anderen wichtig aussehenden Persönlichkeiten über den Hof laufen sehen, doch generell schien er als Ratsmitglied anderes zu tun zu haben, als zu schauen, wie es seinen Studenten gerade ging. Umso erfreuter war ich, als eines Morgens in der Religionsstunde angekündigt wurde, dass Nyrociel am folgenden Tag einen Vortrag über Rechtsgeschichte im Auditorium halten würde, dessen Besuch Pflicht für alle derzeit an der Akademie aktiven Studenten war.
So früh wie an jenem Morgen war ich seit meinem ersten Tag an der Akademie nicht mehr dort gewesen. Begeistert schleppte ich die widerwillige Sorsa in die erste Reihe und fieberte dem Vortrag entgegen. Nyrociel war pünktlich auf die Minute, schritt bestimmt auf das Podest zu, begrüßte die Anwesenden freundlich und legte dann los. Recht war tendenziell nicht wirklich ein Thema, was mich begeisterte, doch es war definitiv das, was Nyrociel am Herzen lag. Und diese Begeisterung brachte er auch in seinem Vortrag rüber und es war mir nicht möglich, nicht gespannt zuzuhören. Als alle anfingen zu klatschen, weil der Vortrag beendet war, fing mein Herz jedoch an schneller zu schlagen. Ich musste ihn einfach wegen der Bibliothek ansprechen, wer weiß wann ich nochmal Gelegenheit dazu bekäme. Ich machte extra langsam und ließ mich hinter den aus dem Saal hinausströmenden Massen zurückfallen. Dann fasste ich meinen Mut zusammen und ging auf Nyrociel Ellinar zu, der gerade dabei war, seine Notizen in seiner Tasche zu verstauen.
„Entschuldigung, Ratsmitglied Ellinar? Hätten Sie einen Moment Zeit für mich?“ Er drehte sich um und schaute mich aufmerksam an. Seine grünen Augen hatten etwas Forschendes, wenn auch nicht auf einen unangenehme Art. „Dakyr Amande, wenn ich mich nicht täusche,“ gab er mir zur Antwort. Mein Herzschlag beschleunigte etwas. Woher wusste er denn, wer ich war? Damit hatte ich nicht gerechnet. Meine Antwort kam dementsprechend etwas hektisch und verzögert. „Ja, das…das ist korrekt. Verzeihen Sie meine Überraschung, doch ich habe nicht damit gerechnet, dass Sie wissen, wer ich bin.“
Er lächelte. "Mhhh…nun, Mr. Amande, nicht jeder hier ist so desinteressiert an den Studenten und Studentinnen wie Ihre Professoren das sind." Er hatte seine Sachen mittlerweile zusammengepackt, doch nun schob er diese zur Seite und setzte sich auf die Platte des Tisches vor ihm. "Was kann ich für dich tun? Ich nehme an, du bist nicht hier, um mich zu unserem Gesetz auszufragen." Mir schoss die Röte ins Gesicht. „Ich fürchte …. Nein. Gesetze sind nicht unbedingt mein Spezialgebiet. Aber, wofür ich mich wirklich interessiere, das ist die Alchemie. Und ich war schon öfter in der Bibliothek, um mir mehr Wissen über deren Geschichte und Komponenten und Anwendungsbereiche anzueignen, doch diese Art von Wissen fällt nicht wirklich in die mir zugänglichen Bereiche. Und die Bibliothekarin sagte mir, dass Sie eine weiterführende Erlaubnis ausstellen können.“ Ich überlegte kurz und setzte hastig nach „Ich kann Ihnen selbstverständlich eine Arbeit darüber anfertigen oder so…ich meine ist wahrscheinlich vollkommen uninteressant für Sie, aber ich bin bereit, das zu dokumentieren und Sie daran teilhaben zu lassen. Also eigentlich will ich nur sagen, dass ich im Gegenzug bereit bin, mehr Arbeit da reinzustecken und Sie wissen zu lassen, womit ich mich so beschäftige…nur diese Fülle an Wissen die da ist…“ Großartig, Dakyr, du fängst an rumzubrabbeln. Ich arbeitete noch daran, meine Gesichtsfarbe wieder zu normalisieren. Nyrociel schien das jedoch nichts auszumachen, denn er lächelte erneut. "Nun, ich ahnte es ja bereits. Die abstrakte Schönheit der Gesetze ist nur selten was für jene, die sich nicht ohnehin für das Studium des Rechts entschieden haben." Ich setzte an zu…ich weiß es gar nicht. Einer Entschuldigung vermutlich, denn irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich ihm eine schuldig sei. Doch er brachte mich mit einer kurzen Handbewegung davon ab. "Die Alchemie. Soso. Nun, ich schätze die Suche nach Wissen. Auch wenn ich ihr mit Skepsis gegenüberstehe. Wissen ist Macht und Macht kann gefährlich sein. Also ja, ich werde wohl auf eine Arbeit bestehen müssen. Und du wirst von mir keinen Freifahrtschein bekommen. Aber ich kann dir entweder anbieten, dass du mich begleitest, wenn ich in die Bibliothek gehe oder ich kann ein wenig nachforschen und sehen, ob ich dir sogar einen Alchemisten zur Verfügung stellen kann, der sich in der Bibliothek der Akademie rumtreibt. Ganz wie es dir beliebt, Dakyr." Seine grünen Augen ließen bei all dem nicht von den meinen ab. Ich fühlte mich, als würde er mir direkt in die Seele hineinschauen. Doch er hatte gerade gesagt, dass ich in andere Bereiche der Bibliothek könne! Mein Herz tat einen Hüpfer. „Ich...danke! Ich würde Sie unglaublich gerne begleiten, wenn Sie in die Bibliothek gehen. Wenn ich zusätzlich noch mit einem Alchemisten sprechen könnte, wäre das natürlich großartig und mehr als ich erwartet hätte, viel mehr als das. Ich würde Ihr Angebot gerne annehmen.“ Nyrociel nickte. "Nenn mich einfach Nyrociel." Erneut eines dieser seltenen Lächeln. Dann murmelte er kurz, seine Finger fuhren in der Luft herum und wie aus dem Nichts zog er einen Zettel aus der Luft hervor. "Nun. Wie ich sehe, hast du morgen von 9-13.30h eine Vorlesungspause." Damit stand er auf. "Sei nicht zu spät. Ich warte ungerne." Er nickte mir noch einmal kurz zu, während er Richtung Ausgang ging. In der Tür blieb er noch einmal kurz stehen und sah sich erneut zu mir um. "Ich bin mir sicher, dass du vor Ort einen Alchemisten treffen wirst." Und mit diesen Worten verließ er den Raum endgültig.
Beim Hinausgehen musste ich mich etwas zurückhalten, dass ich nicht anfing zu hüpfen, doch innerlich tat ich es. Vor dem Saal wartete Sorsa auf mich, sie schaute mich nur an und zog die linke Augenbraue fragend nach oben. Überschwänglich fiel ich ihr um den Hals. „Ich darf mit Nyrociel in die Bibliothek! Gleich morgen! In andere Bereiche, um mehr über Alchemie zu lernen!“ Lachend befreite sie sich aus meiner Umarmung. „Das klingt unglaublich langweilig, aber ich freue mich für dich, Bücherwurm.“ Sie schlug mir leicht auf die Schulter und zwinkerte mir zu. „Mittagessen? Morgen bist du ja anscheinend zu beschäftigt für mich.“ Fröhlich folgte ich ihr zur Essensausgabe.
Am nächsten Tag wartete ich überpünktlich vor der Bibliothek auf Nyrociel. Er erschien pünktlich auf die Minute, winkte mich heran und nahm mich mit in die Bibliothek. Die Wachen, die sonst allein durch ihren grimmigen Blick davon abrieten, sich ihnen zu nähern, nickten Nyrociel nur kurz pflichtergeben zu, als wir an ihnen vorbeischritten. An einer Bücherreihe blieb Nyrociel dann stehen, deutete mit der Hand kurz in die Umgebung. „Ich denke hier wirst du erst einmal eine Weile beschäftigt sein, Dakyr. Ich komme dich wieder abholen, wenn ich fertig bin. Solltest du früher gehen wollen oder etwas anderes von mir benötigen, ich bin in der Abteilung der Rechtsmagie.“ Wieder eine kurze Andeutung mit der Hand in Richtung der Abteilung über uns. Ein kurzes Nicken und er verschwand in eben diese. Abends kam er mich wieder abholen. Er ließ mich dann wissen, wann er das nächste Mal in der Bibliothek sei und es stand mir frei, ihn zu begleiten oder nicht. Ich nutzte jede Gelegenheit, die ich konnte, nun da ich endlich Zugriff auf etwas hatte, was mich wirklich interessierte. Nyrociel ließ mich in der Regel allein meiner Recherche nachgehen, ab und an fragte er abends, was ich Neues gelernt hätte, was ich zunächst zaghaft, doch dann immer begeisterter berichtete. Ab und an erzählte er mir auch, woran er gerade arbeitete, was ich zugegeben nicht so spannend fand – es war nach wie vor sehr rechtsorientiert – doch ich mochte seine Art, von Dingen zu erzählen. Manchmal gab er mir auch allgemeine Recherche-Tipps, die ich dankbar annahm.
Nyrociel achtete jedoch leider peinlichst genau darauf, dass ich keinen Unterricht versäumte, um in die Bibliothek zu gehen. „Die Anumati sind wichtig und nicht ohne Grund eingeführt worden, Dakyr. Wie ich bereits erwähnte, ist Wissen Macht, und sollte nur in die Hände derer gelangen, die verantwortungsbewusst damit umgehen. Wenn du deinen Unterricht so auf die leichte Schulter nimmst, bin ich gezwungen dein Verantwortungsbewusstsein infrage zu stellen.“ So kam es, dass ich zwischen den Unterrichtsstunden so oft ich konnte zur Bibliothek flitzte und Sorsa nur noch recht wenig sah. Was sie mir auch immer gerne wieder unter die Nase rieb. „Na, hast du morgen mal wieder Zeit für mich, dass wir unsere Abschlussprojekte durchsprechen könne? Die Themen sind immerhin Ende der Woche fällig.“ Oh verdammt. Das hatte ich vollkommen vergessen. „Eh...Sorsa ich…“ „Lass mich raten,“ sie verdrehte theatralisch die Augen. „Du hast morgen schon ein Date mit unserem ach-so-wundervollen Herrn-Spitzohr-Ratsmitglied, wirst das auf gar keinen Fall absagen da du Angst hast deine Bibliotheksrechte zu verlieren und hast überdies vergessen dich mit den Projekten zu beschäftigen?“ Mein Gesicht lief rot an. „Ich habe kein Date! So ist das nicht, das weißt du doch...“ murmelte ich. „Schon,“ lachte sie. „Aber ich glaube auch nicht, dass es mir je langweilig werden wird dein Gesicht in passender Farbe zu deinen Klamotten zu sehen. Übermorgen. Ich akzeptiere „Nein“ nicht als Antwort.“ Mit einem letzten Zwinkern drehte sie sich um und ging Richtung der Wohnkomplexe. Und ließ mich zurück mit panischen Gedanken über die Wahl meines Abschlussprojektes.
Da ich dann natürlich meine Bibliothekszeit nicht darauf verwenden wollte, saß ich also nachts noch etwas länger wach in meiner Kammer und durchstöberte meine Notizen. Die daraus resultierenden Augenringe wurden von Sorsa direkt mit hochgezogenen Augenbrauen beäugt. „Na dann lass uns doch mal schauen, zu welchen Ideen man so mitten in der Nacht kommt,“ kommentierte sie. Ich zuckte nur mit den Schultern. „Ich habe mich entschieden über Anumati zu schreiben. Also Ratsmitglied Anumati. Vor allem über seinen Kampf die Magie weiterhin für alle zugänglich zu machen und wie er dies mit gewaltlosen Mitteln erreichte.“ Ich blickte von meinen Notizen auf. „Der Schlafmangel scheint noch nicht auf dein Gehirn übergegriffen zu haben. Klingt sinnvoll und nach nem akzeptablen Thema für die da.“ Sie gestikulierte Richtung Universitätsgebäude. Wir saßen in ihrem Zimmer, sie hatte sich auf ihrem Bett niedergelassen, ich saß im Schneidersitz auf dem Teppich davor. Sie zögerte kurz, bevor sie fortfuhr: „Warum hast du dich dafür entschieden? Ich kann mir nicht vorstellen, dass du dir ein Thema aussuchst, an dem du so überhaupt nicht interessiert bist?“ „Das habe ich auch nicht.“ Überrascht schaute ich sie an. „Anumati war der Meinung, dass Magie ein Instrument ist, das sowohl für gute als auch schlechte Zwecke eingesetzt werden kann. Diese Entscheidung, wofür sie eingesetzt würde, wird seiner Meinung nach aber von dem ausführenden Individuum selbst getroffen. Nun ja, so, so sehe ich das eben auch. Außerdem hat er es ohne materielle Unterstützung bis zum obersten Magier geschafft und selbst im Gefängnis für seine Sache gekämpft, und dabei nie zu Gewalt als Mittel gegriffen, sondern mit der Macht der Überzeugung gearbeitet. Ich …ich finde das bewundernswert.“ Ich merkte, wie mir die Röte leicht in die Wangen stieg und beschloss das Thema zu wechseln. „Genug von mir, was für Ideen hat man denn so tagsüber?“ fing ich an den Spieß umzudrehen, und auf ihr idiotisches Grinsen hin, setzte ich noch ein „Raena?“ hinzu. „Hey du musst zugeben sie ist schon verdammt cool! Und sie hat irgendwie etwas getan, was ich mir auch vorstellen könnte zu machen. Eher als so eine Ministerstelle oder so. Oder Bücherwurm an der Akademie. Das ist eher was für dich.“ „Hmmm.“ Überrascht schaute sie mich an. „Wäre es das nicht? Du bist doch so vernarrt darin, neue Dinge aus den staubigen alten Schinken zu erfahren…“ „Schon,“ stimmte ich ihr zu. „Und vor einer Weile hätte ich dir direkt zugestimmt. Aber…es ist alles so…politisch. Das ist eher nichts für mich. Ich will ja einfach nur für mich lernen, nicht um Karriere zu machen oder irgendwelche Dinge durchzusetzen. Aber ich habe tatsächlich überlegt nach den Anumati noch etwas hier zu bleiben. Mal etwas anderes sehen, bevor ich zurückgehe.“ „Halte ich für eine hervorragende Idee. Und jetzt auf, wir haben noch was zu tun heute!“
So verging der Rest des Semesters recht schnell für mich. Ein paar Wochen bevor die Übergabe der Anumati erfolgen sollte, schrieb ich einen Brief an Ajuda. Ich berichtete ihm, dass es gut lief an der Akademie und erzählte ihm vom Prüfungsdatum der Anumati. Außerdem bat ich ihn darum, noch etwas länger in der Stadt bleiben zu dürfen und erzählte, dass ich mit dem Gedanken spielte, eine Weile als Wissenssucher für das Kloster unterwegs zu sein. Ajuda antwortete, dass das selbstverständlich meine Entscheidung sei, und ich eben nur schauen müsse, wie ich mich finanziere. Die Idee des Wissenssuchers begrüße er, ich solle ihm doch nur kurz meine Entscheidung mitteilen, wenn ich sie denn getroffen habe.
Und so kam der Tag der Anumati. Wir hatten einige Tage zuvor unsere Arbeiten eingereicht und wurden nun einzeln in die Aula vor die Anumati-Jury einberufen. Dort saßen Nyrociel Ellinar, der Akademieleiter Avalarion und Vicky Paxton, eine Paladin. Ich führte zunächst die Kür auf, die ich mit Sorsa gemeinsam einstudiert hatte, eine Mischung aus meinen Kampfschritten, in die ich die vier Elemente mit einfließen ließ, jeweils einmal als Angriffs- und als Verteidigungselement. Es erinnerte mich an mein Gespräch mit Ajuda, vor scheinbar so langer Zeit. Dann trug ich meinen Vortrag zu meinem Bericht vor. Zuletzt bedeutete mich Avalarion auf eine Markierung zu treten und Vicky sprach einen Zauber. Ein merkwürdiges Gefühl befiel mich, ein seltsames Unterbewusstsein sagte mir, dass ich nicht unwahr antworten könne, während ich mich unter diesem Zauber befand. Nachdem ich seine vier Fragen anscheinend zufriedenstellend mit „ja“ beantworten konnte, trat Nyrociel vor und wirkte den Zauber, den ich schon in der Rechtsvorlesung gesehen hatte. Meinen Fuß zierte nun ein magisches Tattoo, welches das Königswappen abbildete. Ein Widderkopf, mit Krone, drei Sternen auf einer im Hintergrund fünfzüngigen Flamme.
Ich traf mich nach der Zeremonie draußen mit Sorsa, die grinsend ihr Handgelenk nach oben hielt. „So und jetzt erstmal raus hier, und ich hoffe einfach, dass sich meine Familie diese Wizardausbildung langfristig aus dem Kopf geschlagen hat.“ Wir tranken noch einen letzten Tee zusammen im Hof, in dem die Bäume mittlerweile blühten, bevor sie sich mit einem „Vielleicht sieht man sich ja mal wieder,“ von mir verabschiedete.
Als ich mich auf den Weg zum Tor machte, verließ Nyrociel gerade die Aula. Anscheinend war die Vergabe der Anumati beendet. Ich machte auf dem Absatz kehrt und lief geradewegs auf ihn zu. „Nyrociel. Haben Sie einen Moment?“ Er wandte sich zu mir um und zog die Augenbraue nach oben. „Glückwunsch, Dakyr. Sie sind nun im Besitz der Anumati.“ Er schaute mich abwartend an. „Danke. Es gibt da noch ein...nein zwei Dinge. Zum einen wollte ich wissen, ob sie mir eine Rückmeldung zu meiner Ausarbeitung geben würden, der über Alchemie. Und ich werde noch eine Weile in der Stadt bleiben und wollte fragen, ob Sie mich weiterhin in die Bibliothek mitnehmen würden? Nicht immer, nur so an ein, zwei Tagen in der Woche...?“ „Hmm. Du gönnst dir niemals Ruhe, oder? Deine Freunde gehen jetzt feiern, dass sie die Anumati haben und du stellst sicher, dass du weiterhin lernen kannst. Hast du mal darüber nachgedacht, dich den Magiern anzuschließen, die etwas mehr lernen als nur ein halbes Jahr? Selbst mit eigener Magiequelle kann man noch mehr lernen. Es gibt dafür tatsächlich in wenigen Fällen so etwas wie eine Förderung von der Königsfamilie. Bei Empfehlung. Zu deiner Arbeit: sie ist grade bei einem Alchemisten meines Vertrauens. Ich war beeindruckt, du kannst Dinge gut erklären. Das ist vielleicht etwas, wo du dich mehr hinter klemmen könntest. Dakyr, in dir steckt so viel Talent. Willst du dein Leben lang wirklich in diesem Kloster leben?“ Ich starrte ihn entgeistert an. Egal mit welcher Reaktion, mit dieser hatte ich nicht gerechnet. "Eh..ich..mag das Lernen ja aber. Das ist ein bisschen so wie feiern." Seufze. "Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, ich habe nicht schon mit dem Gedanken gespielt. Doch ich lerne ja...einfach nur für mich. Nicht wegen irgendwelcher Karriereziele oder politischen Ziele. Ich weiß nicht, ob ich da reinpassen würde. Und das Kloster...ist nun mal mein zu Hause...dort kann ich...ich sein." Ein verhaltenes Lächeln schlich sich auf mein Gesicht. "Ihr klingt ein bisschen wie mein Meister. Doch es ist auch egal…wer würde mich schon empfehlen..."
Nyrociel musterte mich lange – zu lange. Ich dachte schon er würde mir gar nicht mehr antworten. "Man wird danach nicht in den Militärdienst verpflichtet. Man muss kein Magier am Hofe werden oder oberster Magier werden. Man kann einfach wieder nach Hause, gefüllt mit Wissen oder man wird Lehrer und zeigt jungen Schülern die Möglichkeiten der Magie oder man geht auf Reisen und erlebt Abenteuer. Aber es wird immer deine Wahl bleiben. Und natürlich kannst du zunächst noch mit mir mit. Doch irgendwann wirst du eine Entscheidung treffen müssen.“ Erneut legt er eine kurze Pause ein. „Nun, ich werde dich nicht empfehlen. Man sollte derlei nicht leichtfertig aussprechen und ich brauche meine guten Worte noch für einen Nachfolger, den ich bald ausbilden werden muss - jemanden, der Politik und Recht mag. Aber ich habe gehört, dass unser Alchemist noch einen Schüler sucht. Jemand rief Nyrociels Namen. „Ich bin die nächsten paar Tage...“ er zögerte „auf Reise. Aber in vier Tagen sollte ich wieder da sein. Du weißt, wann ich zur Bibliothek gehe.“ Er nickte mir noch einmal kurz zu und ging dann zügigen Schrittes den anderen hinterher.
Ich verbrachte die nächsten Wochen damit, einige Tage bei Mersadis auszuhelfen, wo es ging, denn während der Anumati-Ausbildung hatte ich kaum Zeit dazu gehabt. Zwei Tage hielt ich mir frei, um nach wie vor die Bibliothek zu besuchen, so wie ich es mit Nyrociel abgemacht hatte.
Und dann verbrachte ich Zeit damit, mir einfach mal die Stadt anzusehen, denn bis auf den Weg zur Akademie kannte ich dort… nun ja…nichts. Es war irgendwie seltsam nach so langer Zeit wieder in einer Stadt zu sein. Und Zon Faimon war anders als X‘Caret. Doch irgendwie hatte es auch etwas. Der Markt, die vielen Menschen. Mein Lieblingsort wurde alsbald ein kleines Teehaus in der Nähe des großen Turms. Es war richtig urig und gemütlich, mit Grünpflanzen und vielen Kissen. Ich saß gerne dort und las. Oder beobachtete Menschen. Manchmal sprach ich sie auch an, was teilweise stirnrunzelnd und mit Ablehnung, doch teilweise auch mit wirklich interessanten Gesprächen belohnt wurde. Und so entschloss ich mich, diese Sache mit dem auf Reise gehen doch zumindest mal zu versuchen. Ich könnte ja immer noch wieder zum Kloster zurückkehren, sollte das nichts für mich sein. Und irgendwie spukte auch immer noch der Gedanke an Nyrociels Angebot in meinem Kopf herum.
Ich verabschiedete mich am darauffolgenden Abend von Mersadis, wir kochten noch einmal gemeinsam und tranken etwas Whiskey, den ich aus dem Kloster mitgebracht hatte. Ich verfasste einen Brief an Ajuda, in dem ich ihm meine Entscheidung mitteilte, eine Weile auf Wissenssuche zu gehen. Ich versprach, mich von unterwegs nach einer Weile nochmal zu melden.
Am nächsten Tag zog ich mit meinem Gepäck in die Stadt. Ich hatte vor dort ein, zwei Tage in einer Gaststätte unterzukommen und einen Plan zu machen, wohin ich ziehen wollte. X’Caret fiel erstmal heraus. Doch ich hatte an der Akademie öfter von der Bibliothek in Laeglin gehört. Vielleicht war das ja eine Reise wert? In der darauffolgenden Woche war ich nochmal mit Nyrociel in der Bibliothek verabredet. Ich hatte beschlossen ihm von meinen Plänen zu erzählen und ihn zu fragen, ob es in Ordnung für ihn sei, wenn ich mir diese Reise als Deadline setze und ihm bei meiner Rückkehr meine Entscheidung mitteilen würde. Vielleicht hätte der Alchemist zu dem Zeitpunkt ja noch keinen anderen Schüler in die Lehre genommen.
So zog ich mit freudigen, erwartungsvollen Gedanken durch die Stadt und blieb auf dem Marktplatz hängen. Dort schien eine Art Hinrichtung geplant zu sein? Und war das dort vorne nicht Nyrociel Ellinar? ...
Yugin grunzte merklich. Geduldig hatte er sich bisher meine Lebensgeschichte angehört, doch irgendwann war selbst die Geduld des gutmütigen Schattenschleichers aufgebraucht, schätze ich. Die Stimmen, die vom Lager her zu uns herüberdrangen, waren in der Zwischenzeit lauter geworden. Die meisten Leute waren wohl mittlerweile beim Frühstück. „Na dann komm, Yugin.“ Ich warf ihm einen letzten Fleischhappen zu, während ich aufstand. Ich war noch mit Lirk zum Bier brauen verabredet. Wir hatten auch darüber gesprochen vielleicht einen eigenen Whiskey in die Wege zu leiten. Mal sehen was die kommenden Tage noch so bringen würden…
Tag der Veröffentlichung: 15.01.2024
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