Kapitel 1 Die Last auf meiner Seele
Die Sonne schien durch die Bäume in den Garten meiner Eltern und liess die Herbstblätter leuchten, die sie streifte.
Schon als kleines Mädchen, war mir der Herbst, die liebste Jahreszeit. Und das lag vor allem an den Farben, die entstanden wenn der Sommer vorbei gezogen war.
Ich stand unter der grossen Eiche, in die ich mit sechzehn, Aurora liebt Tim eingeritzt hatte. Ich musste lächeln, als ich an Tim dachte. Er war mein erster Freund und ich war verrückt nach ihm gewesen. Hier unter dieser Eiche bekam ich meinen ersten Kuss, nachdem sich Tim durch das Gebüsch hinein geschlichen hatte. Mitten in der Nacht, wohl bemerkt. Als ich versuchte ihn in mein Zimmer zu schmuggeln, kam uns Dad mit dem Baseballschläger entgegen. Er hatte gedacht, dass Einbrecher im Haus waren. Danach hatte Tim das Haus für lange Zeit, nur von aussen gesehen.
Vorsichtig strich ich über unsere Namen, die tief im Holz verewigt waren.
So viele wunderbare Erinnerungen verbanden mich mit diesem Ort. Und doch hatte ich ein ganzes Jahr gebraucht, um wieder herzukommen.
Der plötzlich aufgekommene Wind, liess die Bäume rascheln. Ich schloss die Augen, neigte meinen Kopf nach hinten und atmete tief ein. Spürte den Wind in meinem Gesicht. Als ich nach oben blickte, schwebte mir ein Blatt entgegen. Es tanzte in der Luft, als würde der Wind seine ganz eigene Musik spielen.
Ich sah zu wie es fiel, bis es sanft auf meiner rechten Handfläche landete, die ich ausgestreckt hatte.
„Aurora!“, rief Jason.
Ich drehte mich zum Haus, wo mein Bruder gerade den Garten betrat und seufzte, weil ich wusste, dass es nun so weit war.
Das Blatt in meiner Hand, strahlte grün und gelb. Ich liess es los und es fiel geräuschlos zu den anderen unter meinen Füssen.
„Was machst du hier draussen?“, fragte er, als er mich erreichte.
Ich versuchte zu lächeln. „Ich wollte nur meinen Baum besuchen“, antwortete ich möglichst gelassen, obwohl ich innerlich zu kämpfen hatte.
„Ich weiss das es schwer ist Schwesterherz. Du überspielst es nicht besonders gut…Na komm her“, sagte er und zog mich an sich.
Er hatte ja keine Ahnung wie schwer es wirklich war. Er hatte ihren Tod nicht gesehen, so wie ich. Ich sah meine Eltern sterben und konnte es nicht verhindern.
„Wir haben es lange genug heraus gezögert.“
„Du meinst, ich habe es lange genug heraus gezögert.“
Mein grosser Bruder küsste mich auf die Stirn und lächelte tröstend. „Die Käufer warten. Wir müssen unterschreiben.“
Ich nickte und wir gingen zurück zum Haus.
Der Verkauf meines Elternhauses hatte mich viel Überwindung gekostet, doch nun war es soweit. Ich nahm Abschied von meiner Kindheit.
Heute bin ich 26 und lebe alleine, zurückgezogen und ausgeschlossen von der realen Welt. Meine Bücher waren das einzige, was mich dazu bewegte mit der Aussenwelt in Kontakt zu bleiben. Ausgenommen natürlich meine menschlichen Bedürfnisse, wie Nahrung. Doch da ich in der Stadt als seltsam verschrieben war, konnte ich meistens einem Gespräch entgehen, wenn ich hinfuhr um einzukaufen. Die Einsamkeit war der einzige Weg gewesen, um keinen Selbstmord zu begehen. Deswegen suchte ich mir einen Ort an dem ich so wenigen Menschen wie möglich begegnen muss. Diesen Ort fand ich in Alaska. Petersburg hatte etwas über 3000 Einwohner und war im Gegensatz zu Chicago winzig. Seit über vier Jahren war das mein zu Hause, nach dem Tod meiner Eltern zog ich her. Doch ich wohnte nicht wirklich unter innen. Um zu meinem Haus zu gelangen, musste man noch eine kleine Fahrt mit dem Boot in Kauf nehmen, die etwa 10 Minuten dauerte. Ich hatte dieses Leben selbst gewählt, niemand hatte es mir aufgezwungen und dennoch überkam mich manchmal die Sehnsucht nach meinem alten Leben, meiner Familie und meinen Freunden. Jason versuchte schon seit Jahren mich zurück nach Chicago zu holen. Doch so sehr ich meinen Bruder liebte und ihn vermisste so sehr genoss ich auch die Ruhe in meinem Kopf. Er verstand einfach nicht, dass mein Problem nicht mit ein paar Sitzungen bei einem Therapeuten gelöst werden kann. Es war ein Teil von mir, schon seit meiner Kindheit. Nur das sich es in dieser Zeit nicht so war genommen hatte, wie ich es jetzt tat. Irgendwie war es mir möglich gewesen es auszuschliessen, bis zu jenem Tag, an dem ich den Tod meiner Eltern vorhersah. Ab dann sah ich einen nach dem anderen sterben. Ich wünschte mir die Chance zurück, es einfach zu übersehen, aber es war nicht mehr möglich.
Alles was mir blieb, war zu flüchten. Da die Tage immer unerträglicher wurden. Die Wohnung zu verlassen, war wie das Betreten eines Minenfelds. Jeden verfluchten Tag, stellte ich mir die Frage: Warum ich? Warum hatte ausgerechnet ich dies verdient? Doch Gott antwortete nie. Niemand konnte mir diese Frage beantworten.
Ich hatte gelernt damit zu leben, oder zumindest versuchte ich es. Denn den Tod von anderen vor Augen zu haben, zu wissen dieser Mensch wird sterben und ich kann es nicht verhindern, war grausam. Weiss Gott, ich hatte es nicht nur einmal versucht, doch jedes Mal scheiterte ich dabei. Das Schicksal liess mich nicht nur bei meinen Eltern scheitern, sondern bei jedem anderen, den ich vor dem Tod bewahren wollte.
Wenn ich heute in die Stadt fuhr, probierte ich so wenigen Leuten wie möglich in die Augen zu blicken, um zu verhindern, dass ich ihr Todesdatum erfuhr und die Art auf welche sie sterben werden. Manchmal waren es schrecklich grausame Bilder, die mich noch Wochen danach verfolgten.
Ich wünschte mir es würde bei allen auf eine so friedliche Weise wie bei Ben Keller geschehen, dem ehemaligen Pfarrer der Stadt. Er starb vor einem halben Jahr im Schlaf.
Pfarrer Keller war einer der Wenigen, die mich nicht mieden, also kam ich meistens nicht Drumherum ein paar Worte mit ihm zu wechseln. So auch an dem Nachmittag vor seinem Ableben. Als ich mich von ihm verabschiedete lächelte ich, mit dem Wissen das es mein letztes für ihn sein würde, doch ich wusste er würde ohne Schmerzen gehen, sein Herz würde einfach aufhören zu schlagen.
Im Morgenmantel sass ich auf meiner Fensterbank, trank einen Kamillentee und sah hinaus auf die graue Morgendämmerung. Nichts ausser dem Geräusch eines in der Ferne liegenden Motorboots war zu hören. Ich genoss die Stille in meinem Haus.
Es war nicht selten, das ich schon so früh wach war, vor allem wenn ich an einem neuen Romans sass. Mein neustes Werk hiess „Das Familiengeheimnis“ und ich kam eigentlich ganz gut voran, bis auf die Tatsache, dass mein Computer gestern Abend einen Absturz hatte. Zum Glück speicherte ich immer alles auf einen externen Datenträger, um nicht mitten in meiner Arbeit alles zu verlieren.
Also stand heute noch ein Besuch in der Stadt an, um meinen Laptop bei Alan vorbei zubringen. Er besass einen kleinen Elektronikladen und kannte sich wirklich gut mit Computern aus. Es war nicht das erste Mal das er ausgestiegen war.
Doch da es noch viel zu früh war, wollte ich zuerst einen kleinen Spaziergang machen, auch wenn es relativ kühl war, also ging ich in mein Schlafzimmer und zog mich an.
Der Nebel hing so tief über dem Wasser, das man das andere Ufer kaum sah.
Ich schloss die Tür und vergrub meine Hände in den warmen Jackentaschen. Der kühle Morgenwind streichelte über mein Gesicht.
Ich liebte die Stille der Einsamkeit, auch wenn sie mich manchmal erdrückte. Dann fühle ich mich leer, als wäre ich an einem dunklen Ort, zu dem kein Licht durchdringen kann. Doch nur die Einsamkeit, konnte mich davor bewahren den Verstand zu verlieren. Mich selbst zu verlieren.
Ich folgte dem kleinen Weg, der hinter meinem Haus in den Wald führte. Ich lief ihn jeden Tag, um überhaupt das Haus zu verlassen.
Die Bäume waren riesig und hingen über mir wie eine schützende Hand. Überall war noch der Nebel, der sich nicht aufzulösen schien. Trotzdem lief ich weiter bergauf. Es machte mir keine Mühe, auch wenn es immer steiler wurde. Ein halbe Stunde lief ich, bis ich endlich die kleine Lichtung erreichte, von der aus ich Petersburg sah. Ich blickte hinunter auf das Meer, das unter all dem Nebel immer noch gut zu sehen war. Dunkel, ruhig, fast bewegungslos, als wäre es die Ruhe vor dem Sturm. Hier oben windete es stärker. Und obwohl ich kurze, schwarze Haare hatte, spürte ich, wie sie sich hin und her bewegten.
Ich atmete noch einmal tief ein und wollte mich gerade aufmachen wieder nach unten zu gehen, als ich plötzlich etwas Merkwürdiges fühlte.
Ich drehte mich um und blieb wie erstarrt stehen.
„Wer sind Sie?“, fragte ich den grossen Mann, der mir gegenüberstand, etwas unhöflich. „Und was machen Sie hier oben?“
Er lächelte leicht. „Ich bin Tristan Black. Und mit wem habe ich das Vergnügen?“ Er streckte mir seine Hand entgegen und wartete das ich sie nahm.
Ich zögerte, aber wollt nicht noch unhöflicher sein, als ich es schon war und nahm seine Hand. „Aurora Bennett.“
„Freut mich Sie kennenzulernen Miss Bennett.“
„Sie dürfen mich Aurora nennen.“
„Wir sind wohl Nachbarn, es gibt nicht viele Personen, die hier draussen leben. Mr. Collister sagte mir schon, das sie fast die einzige hier wären.“
Er strahlte etwas Ungewöhnliches aus. Eine Ruhe umgab den, ganz in schwarz gekleideten Mann. Der auf den zweiten Blick unglaublich attraktiv war. Blonde kurze Haare, ein sanftes aber doch sehr männliches Gesicht und Augen so dunkel, das man sich darin verlieren könnte. Auf der linken Seite über seiner Oberlippe, war eine kleine Narbe, die mich dazu verleitete seinen Mund anzustarren. Es schockierte mich beinahe, wie sehr sein Aussehen mich verwirrte.
Erst als er noch breiter lächelte, bemerkte ich, dass ich immer noch seine Hand hielt.
Schnell zog ich sie weg. „Verzeihung. Ich bin mir nicht gewohnt hier draussen auf Menschen zu treffen.“
„Ich wollte nur die Gegend erkunden“, sagte er, während er an meine Seite trat und hinter auf das Meer sah. „Eine unglaubliche Aussicht…so etwas Schönes…und doch bleibt es den meisten Menschen verborgen.“ Er sah mich an und seine Augen schienen, als würden sie mich kennen.
Ruckartig sah ich weg, viel zu lange hatte ich ihm in die Augen gesehen. Das riskierte ich normalerweise nur bei meinem Bruder und seiner Familie.
„Geht es dir gut?“, fragte er und legte mir seine Hand auf die Schulter.
Und wieder tat ich es ohne das ich auch nur eine Sekunde überlegte, als wäre ich ferngesteuert, ich sah ihm in die Augen.
„Ist alles in Ordnung?“
„Ja…mir…geht’s gut“, murmelte ich. „Ich sollte wieder runter…Ich muss noch in die Stadt, ein paar Besorgungen machen.“
„Wir könnten gemeinsam gehen“, schlug er vor. „Ich muss mich sowieso noch mit Essen und anderen Dingen eindecken. Falls du nichts dagegen hast begleite ich dich.“
„Ähm…nein…ähm…nein, du kannst gerne mitkommen.“
Was tat ich da? Hatte ich gerade zugestimmt? Wo blieb meine sonst so unhöfliche Art?
„Na dann, gehen wir“, sagte er lächelnd.
Tristan, mein neuer Nachbar, war ein ausgesprochen interessierter Mensch, den wir waren keine zwei Meter gelaufen, als er anfing Fragen zu stellen.
„Warum wohnst du hier draussen, ganz alleine?“
„Warum tust du es?“, fragte ich, während ich einem Stein auswich.
„Ich schreibe an meinem Buch“, sagte er.
Überrascht blieb ich stehen und drehte mich um. „Du bist Schriftsteller?“, fragte ich völlig verblüfft.
„Ja, das bin ich. Warum siehst du mich so entgeistert an?“
„Nun ja…ich bin es auch.“
Er lachte. „Was für ein Zufall.“
Ich lief weiter. „Ja…das ist es wohl.“
„Hast du gerade ein Projekt?“, fragte er weiter neugierig.
„Ja. Ich schreibe vorwiegend Krimiromane.“
„Mein Bereich ist wohl eher Fantasy“, erzählte er mir, obwohl ich nicht danach gefragt hatte, auch wenn es mich innerlich wundernahm, da ich seinen Namen noch nie gehört hatte. „Eigentlich bin ich aus New York, doch ich brauchte etwas Abstand von der Grossstadt.“
„Und wie kommst du ausgerechnet auf Peterburg?“
„Ich habe einen Pfeil geworfen.“
„Einen Pfeil?“
„Ja und es traf diesen Ort“, antwortete er locker.
Wir waren so schnell untern angekommen, das ich das Gefühl hatte, nur fünf Minuten gelaufen zu sein.
„Ich hole bloss meinen Geldbeutel“, sagte Tristan und verwand um die Ecke meines Hauses.
Ich ging ihm nach und sah zu wie er nur ein paar Meter, in dem Monate lang, leer stehenden Haus von Ed Collister ging. Ed war auch mein Vermieter. Er war nett, aber auch etwas verschroben. Aber das selbe dachte er wohl auch von mir.
Ich holte meinen Laptop und tat ihn in eine Tasche.
Draussen wartete mein neuer, beängstigend attraktiver Nachbar auf mich. Er hatte eine Kappe aufgesetzt.
„Mein Boot ist gleich da vorne“, sagte ich und zeigte auf den Steg.
Ich lief voran, während er mir folgte.
„Ich mache das Seil los“, sagte er.
Er steckte mir seine Hand entgegen. Ich sah ihn fragend an, bis ich begriff, dass er mir ins Boot helfen wollte. Also nahm ich es an. Es war etwas komisch, da ich es nicht mehr gewohnt war, wie eine Frau behandelt zu werden.
Von wem den auch? Ausser meinem Bruder, war hier draussen noch nie jemand gewesen. Meine letzte Beziehung war Jahre her. Es war für mich unmöglich eine Beziehung zu führen.
Tristan machte die Seile los und stieg ebenfalls ins Boot.
Ich fuhr los.
Fortsetzung folgt....
Texte: Alle Rechte an der Geschichte liegen bei mir.
Tag der Veröffentlichung: 22.11.2010
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