Peter Marnet
Der Kaiser ohne Namen
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Copyright 2011 Peter Marnet
Chapter TEIL 1
Chapter 1. Die Frau und der Junge mit dem Apfel
Die anderen Kinder hatten Ritter gespielt und ihn zum Räuber bestimmt. Ein Räuber war immer allein und hatte kein Schwert. Damit sie ihn nicht aufspüren konnten, hatte sich der Junge in dem fremden Baum versteckt. Sollten sie doch beim nächsten Mal einen zum Räuber bestimmen, den sie auch finden konnten!
Die Frau stand im Garten. Der Morgen hatte ihr freundlich begonnen. Mit ein paar Vogelstimmen hatte er das Fenster berührt. Der Baum hatte soviel Licht hereingereicht, dass es ihr zum Kosten genügte.
Sie war in den Garten gegangen, ohne gegessen zu haben. Auf der Treppe fiel es ihr ein, aber sie kehrte nicht um. Ihr Haus hatten sie neu bekommen, und sie freuten sich daran. Es waren nicht viele Beamte am Hof des Fürsten, und so waren es nicht mehr als vier Häuser. Sie standen mit dem Rücken und den Gärten zueinander. Obwohl sie gleich aussahen, taten sie, als seien sie nicht miteinander bekannt.
Vor ihrem Haus war eine schmale Straße mit glänzendem Pflaster und einem schmalen Gehsteig. Die Straße führte um die vier Häuser der höfischen Beamten herum, als wolle sie eine Grenze ziehen zu den Häusern auf der anderen Seite, die dort standen, ohne Atem und um ihren Stand fürchtend, weil sie von den hinteren, die nicht anders zur besseren Gegend gehören wollten, nach vorne gedrängt wurden.
Die Frau stellte sich den Garten als das Kleider ihres Hauses vor - die Blumen, die wandernden Schatten der Bäume, der lispelnde Brunnen, die feuchten Steine im weichen Gras. Darin unterschied es sich von den anderen.
Wie jeden Tag stand sie auf der Treppe zum Garten. Wartete als Besucherin, forderte nicht wie eine Herrin ihren Einlass. Wie jeden Tag schritt sie umher und sah zu den Bäumen hoch. Von manchen kannte sie nicht einmal die Früchte. Aber musste sie von allem wissen, worin sein Zweck bestand? Wenn es nur schön war und sich darin ergab, sollte es ihr genügen.
Sie stand im Garten und teilte mit den Blumen ihre Gedanken. Ein kurzarmiger Wind gesellte sich dazu, bis es sie fröstelte. Sie sah zum Himmel empor. Schatten hatten sich vor das Blau geschoben. Schon immer war sie wetterfühlig gewesen. Ein Stimmung hatte sich auf ihr Herz gelegt. Schwere Wolken würden das Licht verdrängen. Noch einmal würde sie herumgehen, aber eine graue Last drückte auf ihr Herz und die Farben des Gartens.
Wo der Baum stand, war eine Sandfläche, die glattgestrichen war. Jeden Morgen begann sie mit einem Wort. Demselben oder einem anderen. Dabei sie konnte nicht schreiben wie ein Mann. Aber sie fand Freude daran, etwas zu malen, das einem Worte glich. Vielleicht war es ein Wort und sie wusste es nicht. Sie malte das Zeichen, das sie sich ausgedacht hatte, in den Sand und wieder in ihre Erinnerung.
Als es gerade begonnen hatte, sich eine Bedeutung zu suchen, fiel vor ihren Augen ein roter Apfel auf den Rasen. Er tupfte zwei, drei Mal auf, wie ein Kinderball auf einem weichen Teppich. Sie sah den Apfel an, ohne sich zu rühren. Sie spürte, wie die Angst Blei in ihre Füße fließen ließ. Ein Apfel durfte ihr keine Angst machen! Sie hatte noch nie den Fall eines Apfels gesehen - das war es!
Die Schale glänzte. Ein kerngesunder Apfel war zu Ende gewachsen, und vom Baum auf ihren Rasen gefallen. Die Blätter des Baumes raschelten. Sie bewegten sich zur neuen Form. Im Unwohlsein verzog der Baum das Gesicht. Sie vernahm aus ihm ein ihr fremdes Geräusch, ein Ächtzen und dann einen leisen, deutlich gesprochen Fluch. Erst sah sie einen Jungenfuß. Dann eine zweiten. Dem folgte ein Junge nach, der aber in der Luft hing, weil der Baum einen Zipfel von ihm in seinem Maul festhielt. Der Bauch des Jungen war frei und weiß und nicht ganz sauber. Dann spuckt der Baum ihn aus. Wie der Apfel landet der Junge federnd auf ihrem Rasen. Als sie ihm fest in die Augen sah, nahm die Hand in seinem Rücken verstohlen den Apfel auf.
"Hast du mich beobachtet?", fragte sie.
Der Junge schüttelte stumm den Kopf. Er hatte ja von oben nichts sehen können. Wenn er sie gesehen hätte, dann wäre er dort geblieben, bis sie fort war. Aber das verstand sie nicht. Sie sah ihn nicht einmal streng an.
"Ich bin ein Räuber", sagte er, "aber nur im Spiel."
"Ich bin eine Fee", sagte sie, "aber nur in meinem Garten."
"Die anderen sind Ritter", erklärte er, weil sie ihm nicht glaubte. "Ich muss mich verstecken. Da bin ich eben geklettert, damit sie mich nicht finden."
Stumm sah die Frau den Jungen an. Er war sich sicher, dass die Frau eine Fremde war. Aber er wusste es nicht genau, weil er Erwachsene immer so schnell vergaß.
"Sind sie auch mal geklettert?", fragte der Junge. Das war ein Trick. Damit sie nicht an den Apfel dachte, den er versteckt in seinem Rücken hielt.
Sie bemerkte, wie sie einen roten Kopf bekam. Dem Jungen waren einige Strähnen in die Augen gefallen, die sie ihm am liebsten zur Seite gestrichen hätte. Seine Augen sahen tief in die ihren hinein.
"Schämen sie sich, weil sie nicht klettern können? ... Ich konnte auch mal nicht klettern, aber jetzt kann ich es!"
Sie spürte, daß ein Lächeln ihr auf das Gesicht wollte. Sie erlaubte es nicht, aber das Lächeln hatte eine eigene Kraft. So begann sie zu lächeln. Das Gefühl davon breitete sich auf ihrem Gesicht aus und drang kitzelig bis in die Haarspitzen vor.
"Ich gehe jetzt", sagte der Junge. Die Frau nickte, aber der Junge ging nicht.
"Haben sie keine Kinder?", fragte er.
Sie schüttelte wortlos den Kopf. Mit einem Mal war sie weit weg, und die Traurigkeit war näher als der Junge.
"Dann darf ich den Apfel mitnehmen? Er ist ja nun runtergefallen und weil sie keine Kinder haben ..."
"Ja", sagte sie, "nimm den Apfel, ich habe keine Kinder. Was soll ich mit einem Apfel? Da kann ich ihn dir gleich schenken."
Der Junge nahm behutsam den Apfel auf, als könne er ihn zerbrechen.
"Die meisten wollen als Kind einen Jungen", sagte er. "Ich bin ja einer, da weiß ich es."
"Ich habe es mir noch nicht überlegt", sagte die Frau und war nicht ehrlich. Der Junge hatte einen Mund, den sie nicht anzuschauen wagte.
"Aber vielleicht bekommen sie einen", sagte der Junge, "ich meine, wenn sie wollen ..."
"Doch", sagte sie, "ein Kind will ich schon - jedenfalls heimlich."
"Ach, sie bekommen bestimmt ein Kind. Ich bin ja auch da, und meine Eltern sagen, sie haben mich gar nicht gewollt. Ich bin einfach so gekommen ... dann gehe ich jetzt."
Sie sah ihm traurig nach. Er hatte den Apfel in den Mund geschoben, um die Hände frei zu haben. Dann kletterte er über den Zaun. Es war ein schmutziger Junge und ein sauberer Zaun. Aber sie störte sich nicht daran, sondern freute sich, dass er mit ihr gesprochen hatte.
'Die ist aber ein bisschen komisch', dachte der Junge, 'aber der Apfel ist toll!'
Chapter 2. Die Hochzeit des Füsten
Der Fürst saß im Halbdunkel und betrachtete das Gesicht seiner schlafenden Frau. Die Hochzeitsnacht hatte Reste von Stimmen und Musik in seinem Kopf zurückgelassen. Er saß da und fror ein wenig, weil es früh am Morgen und der Kamin kalt war. In den letzten Tagen hatte er ständig gefroren. Seine Haut war gelb und voller Kältepusteln.
Er war der Fürst von einem sehr unbedeutenden Fürstenhof. Er selber sagte, ein Fürstenhof, der so weit entfernt vom Kaiserhof liege, könne nicht bedeutend sein. Aber die Leute sagten, dass er unbedeutend sei, liege daran, dass er sehr klein sei. Wahrscheinlich wisse der Kaiser nicht einmal, dass es diesen kleinen Fürstenhof gebe. Sagten die Leute und waren für sich froh darüber.
Das Fürstentum bestand aus einer kleinen Stadt und drei Dörfer, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie hin- oder wegsehen sollten. Es gab sehr viel Wald drumherum und dahinter große Weiten öden Landes. Die dort Ansässigen sagten, dass dies Land nicht mehr zu seinem Fürstenhof gehörte. Aber es waren Herumziehende, die nur wenige Worte verstanden. Der Fürstenhof selbst lag in einer Senke und war erst zu sehen, wenn man davor stand.
Noch niemals zuvor hatten Hergereiste in den drei Dörfern nach dem Weg dorthin gefragt. 'Der alte Fürst heiratet', wussten die Leute mit einem Mal zu sagen. Sie waren traurig, dass der Fürst so arm war, dass er sie nicht einladen konnte, aber sie wünschten ihm trotzdem Glück. Das sagten sie den Reisenden, die von weither kamen.
'So unbedeutend kann unser Fürstentum nicht sein, wenn sie es kennen', sagten die Älteren. 'Sicher kommen sie, weil ihnen die Braut bekannt ist', sagten die Jüngeren.
Niemand hatte gedacht, dass der Fürst einmal heiraten würde. Und wirklich fiel ihnen erst bei seiner Heirat auf, dass der Fürst bis in seine späten Tage hinein vergessen hatte, einen Nachkommen zu zeugen.
Die Freunde des Fürsten waren alle zu seiner Hochzeit gekommen, hatten mit ihm gefeiert, sich am Wein und an alten Geschichten gewärmt und ihn hochleben lassen. Aber er konnte sich nicht so fühlen wie sonst. Was folgen würde, bedrückte ihn. Seine Freunde hatten ihre Witze über ihn und sein Schicksal gemacht. Nicht mehr als ein wenig wollten sie ihn damit quälen.
Kendir hatte sich eine Hand vor die Augen gehalten, als seien sie ihm verbunden, und tastete mit der anderen den Fürsten ab, mit Ausrufen des Entzückens. Die beiden anderen Freunde hatten die Szene mit lustvollem Stöhnen begleitet.
"Zieh dich aus, du Schöne!", kam es von Kendir. Er war dem Fürsten durch das wenige Haar gestrichen und hatte gerufen: "Was für volles Haar du hast! Ich werde mich damit zudecken."
Von hinten hatte Tenkho ihm in den Wams gefaßt und in die dünne Brust gekniffen: "Das ist Milch genug für ein Geschlecht von Helden und die Söhnen von Helden!"
Nell hatte ihm das Gesicht abgetastet: "Deine Haut ist wie das Ufer des Flusses. Die Nase wie eine Weide, der Schatten meiner Jugend!"Was hatten sie gelacht, aber dem Fürsten war es nicht leichter geworden.
Dann - wie es die Sitte verlangte - wurden ihm die Augen verbunden und seine Frau hereingeführt. Es war mit einem Mal still gewesen, als sie den Saal betrat. Seine Freunde waren verstummt. Er hörte noch ihren Atem neben sich und roch den Dunst des Weines.
Nun musste er sich zu seiner Braut vortasten. Er stieß gegen einen Tisch. Die Hand geriet ihm dabei in die Soße von einem Teller, die andere bekam einen kalten Knochen zu fassen. Die Gäste riefen ihm, wohin seine Schritte ihn führen sollte. Gegen alle vier Wände glaubte er, gerannt zu sein. Er trat auf Füße und Röcke. Betastete Frauenhaar und kam dem Feuer sehr nah. Es dauerte unendlich lang, bis er bei seiner Frau war, die mit zwei spitzen Fingern seine bekleckerte Hand aufnahm und ihn hinaus führte.
Da wusste er noch nicht, dass sie es war, aber die Gäste hatten geklatscht. Manche Gäste hatten ihr Lachen nicht unterdrücken können. Lachen und Klatschen liefen zusammen und hatten einen falschen Ton.
Schira hieß seine Braut, und fremd wie ihr Name war ihr Gesicht. Für andere Männer war sie sicherlich eine Schönheit. In ihrem schmalen Gesicht zeichneten sich Brauen und Wimpern mit feinen Tuschestriche ab. Ihre Lippen waren voll, und sie besaßen viel Weiches.
Wie es Sitte war, hatte er das Tuch nicht von den Augen nehmen dürfen, als er mit ihr allein war. Immer noch blind war er in ihrem Brautzimmer gestanden. Sie hatte ihn losgelassen. Hinter ihm war die Tür leise zugefallen. Sie sagte nichts, während er sich durch den Raum tastete. Es brauchte eine lange Zeit, bis er sie gefunden hatte. Seine Hände berührten zuerst ihr langes Haar. Er fühlte, daß seine Hände noch schmutzig waren von dem vorangegangenen Malheur. Langsam ertastete er sich ihr Gesicht. Sie war nur wenig kleiner als er. Weil es Sitte war, zog er sie aus. Sie ließ es geschehen wie eine Schande, für die sie sich gewappnet hatte. Viel lieber hätte er mit ihr geredet. Und noch viel lieber wäre er bei seinen Freunden geblieben.
Jetzt im frühen Halbdunkel lag das Gesicht, das sie zur Hochzeit getragen hatte wie eine Maske neben ihr. Das Morgenlicht hatte sich behutsam ihrem Schlaf und ihrem Haar genähert. Sie hielt die Hand geschlossen. Die Haut war weißes Papier, die Tuschestriche darauf Zeichen in ihrer fremden Sprache. Das Erschrecken ließ sein Herz klopfen. Er dachte zum ersten Mal in seinem Leben, daß er etwas völlig falsch gemacht hatte. Da hatte er nach langer Zeit endlich geheiratet und fühlte nichts als schuldschwere Fremdheit!
Die Bilder der Nacht begannen, das Bild der Schlafenden zu überdecken: Mit verbundenen Augen hatte er sich ausgezogen. Als er damit fertig war, stellte er fest, daß sie ihren Platz verlassen hatte. Wieder tastete er sich durch den Raum auf der Suche nach ihr. Schließlich stand sie vor ihm, ausgezogen und still, und ihre Haut fror. Was für ein Bild er abgab, konnte er sich denken - mit seinen schmutzigen Händen, die den Raum absuchten, ohne ein Kleidungsstück, umweht vom Atem des Weines.
Der Bauch war ihm schwer. Auf Blase und Darm drückten die Genüsse der letzten Stunden. Er hätte eigentlich ein Geschäft erledigen müssen und spürte dabei, dass sie ihn ansah. Er fror in ihrem Blick. Als er ihren gepressten Atem hörte, berührte er sie nicht, sondern hob die Hände und ließ sie fallen.
Jetzt am Morgen lächelte ihr Gesicht. In ihren Traum war das Glück ihres Herzens getreten. Er sah eine Frau, die er von dem, was sie geliebt, fortgerissen hatte. Es war nicht seine Schuld, aber mit seinem Namen würde sie ihren Verlust immer verbinden. Ihre Hand hatte sich geöffnet. Ihre Lippen sagten etwas, was er nicht hören durfte.
Im Nachbarzimmer schnarchten seine Freunde. Das Geräusch kratzte sich die Wände empor und ließ sich von dort erschöpft hinuntergleiten. Immer wieder hinauf die Anstrengung und hinab die Erschöpfung - und hinauf und wieder hinab. Wenn er bei seinen Freunde wäre, dann hätte er wie sie geschlafen. Um die Wette wären sie die Wände emporgeklettert.
Aber er lag wach und fand zwischen dem Schnarchen seiner Freunde und der unbekannten Stille von Schiras Atems keinen Schlaf.
Chapter 3. Der Schreiber wünscht sich eine Tochter
Der Fürstliche Schreiber stand vor dem kleinen Tor des Gartens und hantierte an seinen Schuhen. Das Leder war wie eine Schale hart, und an den Schnallen hatte er sich einmal die Fingernägel abgebrochen. Nach den Schuhen zog er auch die Strümpfe aus und ging zum Haus, nicht auf den Trittsteinen, sondern mit den nackten Sohlen im kitzelnden Weich des Grases.
Eigentlich mochte er den Garten nicht. Für einen solch kleinen Garten hätte sie nicht einen Gärtner einstellen müssen! Was sah sie in einem Garten, der herumstand wie zum Spaziergang eine Dame mit einer anderen, die nichts zu tun hatten, als darauf zu warten, dass das Wetter schön blieb?
In den letzten Tagen war seine Frau anders gewesen. Ihre Augen, die ihn anblickten, hielten nichts richtig fest. Die Bewegungen ihrer Hände waren unachtsam, als messe der Kopf ihnen ein falsches Maß. Er hatte sich gefragt, ob seine Arbeit, die so viel geworden war, eine Schuld an ihrem Zustand hatte. Aber es kam von ihr, aus ihr, stellte sich vor sie hin wie eine fremde Person zur Wache gegen die gewöhnlichen Dinge.
Heute hatte sie nicht auf ihn gewartet. Aber sie war in ihrem Garten gewesen, kurz bevor er gekommen war. Ihr Geruch lag noch in der Luft. Es war der Duft des Waldes. Geschlagenes Holz, dem der Regen die harzigen Tränen abzuwaschen begann.
Sie würde in ihrem Zimmer sein. Er sah die Treppe hoch. Seine Sachen lagen nicht unten, wo sie sonst immer lagen. Einen Ruf nach ihr gestattete er sich nicht. Er merkte, dass seine Füße die Feuchte des Rasens in das Haus getragen hatten. Stufe um Stufe ging er langsam die Treppe hoch. Mit jedem Tritt ermahnte sie ihn, schonungsvoll und leise zu sein.
Die Dinge sahen ihn streng für eine Ungehörigkeit an, von der er nichts wusste. Einzig der kleine Affe auf dem Bild, das der Fürst ihm zum Geschenk gemacht hatte, tat es ihnen nicht gleich. Er leckte im hohen Baum an einer Frucht, die seinem roten Hinterteil glich, und wollte ihn nicht bemerkt haben. Schläulich blickte der Affe aus und spürte wohl dabei die Blicke der neidenden Feinde.
Die Tür zu ihrem Zimmer war einen Spalt offen. Die Schaniere erschreckten sich vor dem eigenen Geräusch. Sie lag im Kleid auf dem Bett, das Gesicht zur Wand. Leise trat er von hinten an sie heran. Machte die Schritte mit den Zügen ihres Atems langsam. Berührte die Haare mit den Augen und besaß keine Hände.
"Der Hegad ist gestorben", sprach er leise. "Der Lehrer der Lehrer ist tot. Er war auch mein Lehrer am Kaiserhof. Wie viele hat er unterrichtet!? Nun ist er tot. Die Schreiber sprechen davon."
Er sprach nicht weiter, weil niemand seiner Stimme zuhörte, nicht einmal er selbst. Das Gesagte hatte er sich auf dem Weg vorgesprochen. Nun war es herausgefallen, als er nicht aufgepasst hatte.
"Ich werde ein Kind bekommen", sagte sie und sah weiter zur Wand. "Ich ahne es, ich weiß es - ein Kind."
"Ja", flüsterte er zurück, "ein Kind - ich habe es gewusst."
"Du konntest es nicht wissen", sagte sie ärgerlich. "Niemand vor mir konnte es wissen. Was redest du da?"
"Natürlich", sagte er, um ihr nicht die Freude zu verderben, "niemand konnte es wissen."
"Heute war ein Junge in meinem Garten. Er sprang aus dem Baum, so plötzlich. Er hatte sich versteckt, weil er im Spiel ein Räuber war."
"Es wird ein Mädchen", sprach er leise an die Wand. "Ich fühle, dass es ein Mädchen wird."
"Er war so schmutzig! Ob er keine Mutter hatte? Ich habe ihm einen Apfel gegeben."
"Wie du soll es sein", flüsterte er in ihr Ohr. "Ein kleines Wesen aus Weinen und Lachen, aus Tränen und Sonnenschein. Wie ein Regenbogen, mit dem der Himmel die Blumen berührt, die im Nebelgrund stehen."
Da hatte der Schlaf schon ihren Atem geglättet und ihm die schönen Worte ungehört zurückgegeben. Sie träumte von einem hohen Baum. Darunter stand sie als kleines Mädchen in einem weißen Kleid. Im Baum ganz oben saß ein Junge.
'Soll ich zu dir runterrutschen ?', rief er.
'Ja, aber worauf willst du rutschen?'
'Siehst du nicht den Regenbogen vor deinen Füßen?'
Er ließ sich los, und als er zu rutschen begann, da sah sie, dass er wirklich auf einem Regenbogen rutschte und vor ihren Füßen landete.
'Ich habe einen Apfel in deinem Baum versteckt. Ein Apfel bringt Glück.'
'Ja', sagte sie, 'nur wir wissen, wo das Glück versteckt ist.'
'Wie schön du bist', sagte der Junge. 'Ich will dir ein Stück von meinem Regenbogen schenken und dir daraus einen Umhang machen.'
Der Mann hatte die Decke über seine Frau gebreitet und sich an ihre Seite gesetzt. Er sah, dass ein tiefes Vergessen ihre Schultern bewegte. Leicht glitt ihr Atem immergleichen Täler und Höhen nach. Er wagte nicht, der Schlafenden über das Haar zu streichen. Scham wie von einer Treulosigkeit legte sich heiß auf seine Stirn.
In der vergangenen Nacht war seine Frau im Schlafen auf seine Seite hinübergerückt. Er hatte es geschehen lassen, war unter dem dünnen Rest eines Traumes herausgeglitten und lautlos aus dem Zimmer getreten.
Der Affe, der niemals schlief, hatte ihn angesehen und keinen Laut gemacht, nur seine menschengroßen Augen ihm zur Begleitung nachgesandt. Dann war er die Treppe hinuntergeschlichen, wo keine Stufe sich wecken ließ. Wie ein fremdes Tier, ein Schatten in einem Schatten. Draußen die Nacht hatte ihn aus Mondschlitzaugen angesehen.
So war er in der Tür gestanden und hatte zur Treppe zurückgeschaut, ob seine Frau ihm nicht nachgegangen war. Sie und sich vergessend, hatte er in das Weite hinausgeflüstert: "Ich wünsche mir ein Kind, ein Mädchen - ganz für mich!"
'Dein Wunsch soll dir in Erfüllung gehen, träumender, wacher Mann', hatte die Nacht ihn mit ferntönender, dabei seltsam knarzender Stimme angesprochen.
Schniefend hatte sie die Luft durch windengen Schlund eingesogen und gesagt: 'Hach, Röch. Kannst glauben, was ich dir weissage. Habe nur einen schrecklichen Schnupfen.'
Stumm hatte er genickt. Wie auch hätte er sie ansprechen sollen? Was hätte er erwidern sollen?
'Nur soviel sag' ich: Niemand darf von dir und mir wissen - deine Frau nicht und niemand.' So die Stimme der Nacht, waldtiefer Rabenchor hoch in schwer altem Geäst.
'Es sei dein und mein Kind', hatte die Nacht ihm gedeutet. 'Unser Kind sei es, wenn niemand davon weiß!'
"Ich verspreche mein Schweigen." Das war von ihm so in Hast und leise gesagt, dass er Angst gehabt hatte, sie habe es nicht gehört.
Nun saß er am Bett seiner Frau und dachte verwundert, dass die Nacht ihr Wort gehalten hatte. Schließlich, in der Langsamkeit des Abends kam das Glück über ihn.
Chapter 4. Oberer Medith erfüllt seine Pflicht
Er war Soldat des Fürsten, und als solcher würde er alles ausführen und keine Fragen stellen. Dass der Fürst ihn um diese späte Stunde zu seinen Privatgemächern bestellt hatte, würde ihn nicht wundern. Dass der Fürst ihn bei seinem Namen genannt hatte, darüber sollten sich seine Kameraden nicht den Kopf zerbrechen.
Rührungslos stand er vor der großen, mit Fabelwesen bemalten Tür, als handele es sich um eine ganz normale Torwache. Es war ein Drache darauf dargestellt. Die anderen Tiere kannte er nicht. Manche hatten Flossen wie Fische. Es war ein einziges Gefresse zwischen ihnen.
Der Soldat war der einzige auf dem Gang. Die Diener waren längst gegangen, und aus dem Zimmer drang kein Geräusch. Wenn ihn der Fürst vergessen hatte, dann war das nicht weiter schlimm. Er war von Wachen her gewöhnt, dass nichts geschah.
Da öffnete sich die Tür, leise und heimlich. Der Fürst sah für einen kurzen Augenblick auf den Gang und winkte den Soldaten mit der Hand herein. Als der Soldat eingetreten war, schloss er die Tür und stellte sich von außen davor.
Sollte der Soldat sich nur wundern, dass er nun allein im Zimmer stand! Der Fürst musste überlegen. Noch war er sich nicht schlüssig, ob er richtig handelte. Er hatte mit seiner späten Heirat einen schlimmen Fehler gemacht. Vielleicht vergrößerte er ihn, mit dem, was er vorhatte.
Der Soldat stand drinnen ebenso stramm, wie er draußen gestanden hatte. Seine Augen waren zur Decke gerichtet, wo ein Maler mit Tusche kleine Hände gemalt hatte, die Zweige und Blumenkränze
hielten und sich eine Leier zuwarfen. Die Kinder, denen diese Hände gehörten, hatte der Maler hinter Wolken, die aus Gips geformt waren, versteckt.
Dann betrachtete der Soldat das riesige Bett, welches in der Mitte des Raumes stand. So ein Bett hatte er noch nie gesehen. Es hatte die Größe eines kleinen Reisfeldhauses. Ein weißer Schleier war darüber geworfen worden, viel größer als jedes Stechmückennetz, das er in seinem Leben gesehen hatte. Einem solchen Bett konnte er nichts abgewinnen. Für dieses Bett schon wollte er ein Fürst nicht sein! Sein Wunsch war, den Schlaf im Stehen zu finden. Eigentlich war das der Traum eines jeden Soldaten.
'Habe ich wirklich eine Wahl?', dachte der Fürst, während er draußen über den Gang schritt. Ein Fürst musste einen Nachkommen haben. Das war der Zweck seiner Ehe mit Schira gewesen, sein Versprechen an ihren Vater. Einen Sohn zu haben, war auch der Zweck der Zeugung gewesen, die ihn zu einem Fürsten gemacht hatte. Ohne einen Sohn hätte er ein Verbrechen an seinem Vater und dessen Vätern begangen. Ein kleines Fürstentum brauchte einen Sohn dringender als ein großes!
Wenn er wartete, würden Gerüchte laut werden. Man würde genau hinsehen. Hatte man doch im Stillen erwartet, dass das Fürstentum zu Ende gehen würde. In der Überraschung der Heirat waren all diese Zweifel verstummt.
Jetzt war der Zeitpunkt günstig für das Vorhaben des Fürsten. Niemand würde argwöhnisch sein. Alle würden ihn geradeheraus beglückwünschen. Dann hatte er seine Ruhe, und auch Schira ihre. Eine Sohn sollte sie bekommen! Den würde sie lieben können und hatte etwas für sich!
Er kehrte zur Tür zurück. Blieb kurz davor stehen, gab sich dann einen Ruck und öffnete sie mit fürstlichem Schwung. Der Soldat verzog keinen Miene und nichts als Mut stand auf seinen Lippen geschrieben.
"Wie ist euer Name?", fragte der Fürst. Das Kommando für eine lockere Haltung gab er nicht.
"Oberer Medit bin ich, von der Torwache", meldete der Soldat. "Im Dienst bei euch im fünften Jahr." Er warf den Kopf zurück und nahm eine noch starrere Haltung an.
"Ich werde etwas sehr Ungewöhnliches von euch verlangen", sagte der Fürst. "Seid ihr verschwiegen?"
"Ich bin Soldat, Fürst. Ich würde töten und mich töten lassen, wenn ihr es befehlt. Reden ist nicht meine Art."
Der Soldat war so groß wie der Fürst, aber ganz anders als dieser von kräftiger Statur, die ihn jetzt im besten Mannesalter noch nicht dick erscheinen ließ.
"Es geht nicht um das Töten", entgegnete sanft der Fürst. "Seid ihr verheiratet oder steht euch der Sinn danach?"
"Ich bin nicht verheiratet und kann sagen, dass ich keine sagen kann, nach der mir für eine Heirat ist. Meint ihr es so?"
"So war es gemeint, Oberer Medit. Richtig verstanden habt ihr das! Wie ich gehört habe, habt ihr fünf Brüder."
"Jawohl, Fürst, es sind fünf. Aber ich bin der einzige, der Soldat geworden ist. Die anderen sind Bauern wie mein Vater."
"Fünf Söhne also hat euer Vater bekommen und keine Töchter, nein?"
Oberer Medit schüttelte den Kopf. "Fünf Brüder sind wir, alle im Alter von einem Jahr auseinander, und der Jüngste mit zweien dazwischen. Der Älteste bin ich und habe ihnen oft den Vater machen müssen."
"Nehmen wir an, ich würde euch befehlen, zu einer Frau zu gehen, ohne dass ihr wisst oder fragt, wer sie ist. Das würdet ihr tun?"
"Das würde ich tun. Mein Bestes würde ich geben, wenn euch das genügt?"
"Gut, Medit, ich glaube, ihr seid der richtige Mann. Seht her! Macht eure Haltung locker! Seht her, was ich habe: Es ist ein schwarzer Überzug, der keine Augen hat. Nur eure Hände sind darin frei. Wollt ihr freimachen und ihn überziehen?"
Oberer Medit stand wieder stramm, lockerte seine Glieder aber sofort wieder durch. Auf Zeichen des Fürsten zog er alle seine Kleidungsstücke nach und nach aus und legte sie sorgfältig übereinander. So stand er vor dem Fürsten, der ihn wirklich prächtig gewachsen fand. An den Hüften neigte er ein wenig zur Fülle. Alles andere war mehr als vorzeigbar, ja, musste des Fürsten Neid erregen.
Der Fürst hatte den schwarzen Überzug nach der eigenen Größe anfertigen lassen, und Medit hatte diese Größe. Der Stoff war schmiegsam und sanft. Von der Hüfte hinab war er weit geschnitten und ließ sich so leicht nach oben streifen. Man sah von Medit nichts als seine breiten Hände mit den Fingern, die ein wenig kurz geraten waren. Seine stramme Körperhaltung ließ sich trotz des Umhanges erahnen.
Der Fürst führte Medit zum Bett und befahl ihm, Haltung anzunehmen. Er unterwies ihn aufs Neue, sich nicht zu rühren und nichts zu sagen, was immer geschehen möge. Der einzige, der etwas sagen werde, sei er, der Fürst.
Dann ging er zu dem Gemach seiner Braut. "Schira", sagte er, "komm, er ist da. Wir sind soweit. Hast du dich fertigemacht?"
Sie trat hinter dem zweiteiligen Schirm hervor. Einen leichten Umhang hatte sie über die Schulter gezogen, den sie vorne mit den Händen geschlossen hielt. Auf dem weißen Stoff waren knospende Weidenkätzchen gezeichnet. Diesen Stoff hatte er für sie und diesen Tag ausgesucht. Fast war ihm, als ahme sie die Haltung seines Soldaten nach.
"Dann komm", sagte er. "Wir wollen ihn nicht warten lassen. Du darfst kein Wort sagen. Keinen Laut, nichts. Hast du gehört? Hast du eine Essenz benutzt? Nichts darf dich verraten ..." Er beschnupperte sie, konnte aber nichts feststellen. Dann nahm er sie bei der Hand und führte sie hinaus. Sie folgte ihm, ohne Laut und Schwere.
Niemand begegnete ihnen. Selbst wenn sie jemand gesehen hätte - was war dabei, wenn er die Fürstin in sein Gemach führte?
Er schloss die Türe hinter sich und schob den unteren, dann den oberen Riegel vor. Schira hatte keinen Blick für die Gestalt, die schwarz und soldatisch am Bett wartete. Sie ging von allein, schob die Vorhänge zur Seite und legte sich so auf das Bett, wie es sein musste. Schwarz zeichnete sich die Scham ab, schärfer noch als die Brauen.
Der Fürst führte die Hände von Medit. Er führte sie über den Rahmen des Bettes und zeigte ihnen alles - eben alles, worauf es ankam.
Dann setzte er sich neben seine Braut und nahm ihre Hand. Ein Blick ihrer glühenden Augen stieß einen Dolch in sein Herz. Aber er sah zur Decke und betrachtete die schweren Wolken aus Gips.
Chapter 5. Die Wahrsager
Wenn die Frau des Schreibers sich in ihrem Garten aufhielt, dann wurde ihr das Stehen schwer. Sie mied die Blumen, die einen schweren Duft aus den hängenden Blüten absonderten. Die Stelle war ihr die liebste, wo der Apfelbaum sich einen selbstgesprächigen Schatten gab.
Alle die Äpfel waren heruntergefallen, und der Gärtner hatte sie weggebracht. Leer stand der Baum, sich tröstend in ihrem Versprechen, dass das Fremde in ihrem Körper nichts vergessen machen konnte.
Ihr Gesicht hatte sich verändert. Die Augen waren hervorgetreten. Flüssigkeit hatte sich unter der Haut gesammelt und die Linien des Gesichtes aufgeweicht. Obwohl sie sich langsamer bewegte, wurde ihr oft der Atem kurz. Die Freude in ihr brauchte keinen Anlass, ebensowenig die Traurigkeit. Sie kamen ungerufen und blieben, als trenne sie nichts.
Ihr Körper roch jetzt anders. Er hatte den Geruch einer anderen Frau angenommen. Da wusste sie, dass es eine Tochter war, die sie bekommen würde. Sie versuchte, diesen fremden Geruch zu überdecken, aber er war stärker als ihre Duftmittel.
Ihre geliebten Haare hatten allen Glanz verloren. Manchmal vergaß sie einen Tag lang, sich zu kämmen. Die Hände waren angeschwollen. Sie mochte nicht darüber streichen. 'So', dachte sie, 'muss es sein, wenn ich alt geworden bin.' Es war ein Grauen, dem man den Tod wünschte.
Am Morgen war sie aufgewacht, hatte sich lange im Spiegel angesehen und auf ein Gefühl des Glücks gewartet. Sie hatte gewartet, dass ihr davon die Röte ins Gesicht stieg. Aber sie fand, dass sie nur immer blasser aussah.
'Ein Kind ist es', dachte sie. Sie malte ihr Zeichen dafür mit Spucke auf den Spiegel: KIND. Sah ihr Gesicht im Spiegel, auf dem sich Blasen und Tropfen von der Spucke gebildet hatten.
Der kleine Junge mit dem Apfel war nicht mehr in ihren Garten gewesen. Heute würde sie Besuch von einem Wahrsager bekommen. Sie hatte ihn nicht gewollt. Von ihrem Mann war er herbestellt worden. Was er sich davon versprach? An solche Dinge glaubte er nicht. Es war, als wollte er sie von etwas ablenken.
'Ein Hellseher', hatte er gesagt, 'ein Arzt der Zukunft, der das Gesicht betrachtet, die Hände, sogar die Fußsohlen, alles mögliche, und danach den Charakter des Kindes bestimmt und auch sein Geschlecht.'
Die Frau seines Vorstehers sei begeistert gewesen. Er komme aus einem fremden Land und habe ihr geweissagt, dass sie einen Sohn bekommen werde, einen Zehnpfünder. Geld habe er keines genommen, nur Weinbrandt, eine ganze Flasche, und zwei ihrer sehr teuren, geschliffenen Weingläser, weil es zwei Hellseher waren. Der eine habe gesagt, Geldnoten könne er in seinem Land nicht tauschen. Der andere habe geschwiegen, aber er sei der Kluge und Hellsehende gewesen. Das habe die Frau seines Vorstehers gesagt, so ihr Mann.
Dabei wusste sie, dass sie ein Mädchen bekommen würde. Da brauchte es keinen Hellseher. Das kostete nur Geld. Sie dachte an ihre Mutter, die sie nicht mehr gesehen hatte, seitdem ihr Mann hierher versetzt worden war. Nun musste sie sich für das Kind eine Amme nehmen. Die würde Geld kosten, der Gärtner war nicht zu halten. Ihr schöner Garten würde verfallen.
Die Nachbarn würden ihr nachsehen und über sie sprechen. 'Ja, ja', würden sie unüberhörbar tuscheln, 'die Frau ist sie, die, welche diesen wunderbaren Garten hatte: die Äpfel wie lackiert, die Bäume, das ahnen sie nicht, und ein Gärtner, ein eigener Gärtner. Eine Tochter hat sie bekommen, jawohl - und ist einmal eine solche Schönheit gewesen, dass man neidisch werden konnte.' So würden die Nachbarn reden, lauter und immer lauter.
"Dürfen wir hereinkommen?", rief in ihren Rücken eine Gestalt, die schon mitten im Garten stand.
Es waren beim Hinsehen zwei Gestalten, die zu einem tiefbauchenden und hochhagernden Wesen verschmolzen waren. Der Kleine war schwer beladen mit Bündeln, in denen es klirrte, dass man an das Schlimmste denken musste.
Er verbeugte sich ständig in alle Richtungen und rief flötend: "Bitte sehr, beachten sie, meinen Herrn und Meister, er weiß alles über sie. Bitte sehr, ihr Leben, ihre Zukunft, er kennt sie!"
Der andere, dieser sein Herr und Meister, war groß und dürr und besaß lange Zähne, die an den Rändern faul waren. Sein furchiges Kinn war ständig in Bewegung, weil er nicht aufhörte, damit zu kauen. Vor langer Zeit einmal war sein Mantel schwarz gewesen. Nun besaß er den Oberflächenglanz des Speckschiefers.
Beide sahen sie aus und rochen, als hätten sie die letzte Nacht im Freien verbracht und ihre Einnahmen ausgetrunken. Der Kleine fuchtelte mit den Armen, während der Große sie auf dem Rücken verschränkt hielt.
Die Frau stand auf und lächelte. Dann setzte sie sich wieder, weil die Kniee sich nicht durchdrücken ließen. Sie sah die beiden an und war nun doch froh über die Abwechslung und darüber, dass sie sich einen Spaß mit ihnen ausgedacht hatte.
"Bitte sehr", flötete der Kleine, "wir sind gekommen - bestellt gekommen - wegen der Zukunft zu sagen, die ferne."
"Ja, aber wissen sie denn nicht?", fragte die Frau auf der Bank in völligem Erstaunen. "Sie als Hellseher müssten es doch wissen ..."
Der Kleine drehte sich klirrend um und sah zu seinem Meister hoch. Dieser bewegte weiter malmend die Kiefer und hatte nicht zugehört. Der Kleine zog ihn am Rock, worauf der Große ein Nicken spendete.
"... ääh", sagte der Kleine, "solche Dinge, wenn sie nicht sind hell genug, spricht er dunkel aus."
"Der gerade geborene Sohn von der Frau", erklärte sie ihnen, von der Bank hochblickend, "die hier wohnte, ist gestorben. Und die Frau ... vor Gram ist sie aus dem Leben gegangen."
"Meine Schuld, welche ich trage", rief der Kleine und deutete auf den anderen. "ER hat es gewusst, aber gesprochen mir sehr dunkel davon. Nun ich weiß, er hat gewusst alles. Die Frau, die gnädige, werte Frau des Höflichen Schreibers ist -"
Er wartete das traurige Nicken ab, faltete die Hände und setzte fort, "- verstorben ist sie. Unser Beileid, unser Mitgefühl. Das ewige Leben, wir kennen ewiges Läben. Sie wollen wissen die Zukunft der Frau im ewigen Leben? ... Nein? ... Sie wollen Gutes tun der Frau aus diesem Haus, dass sie allein nicht ist in dieser schweren Stunde, für sich allein gelassen im ewigen Leben? ... Nein?"
Der Kleine suchte den Himmel nach einer Weisung ab, während der Große die Augen wie weiche Steine aus dem Gesicht heraushängen ließ. Die Frau auf der Bank war schläfrig geworden. Hatte sie nicht zu schnurren begonnen wie eine Katze, wie eine mittagsmüde Katze? Also gab der Kleine einer letzten Ansprache einen kräftigen Stoß.
"Sie wollen Zukunft für sich alleine gesehen? Wie fürchtet Schicksal von Menschen meinen Meister, weil er sieht hindurch sie wie ein Glas ... nein, ebenso nicht!" Er schüttelte traurig das letzte Klirren aus dem Sack heraus.
"Mein Meister und ich, werte Frau, wir haben Kinder zuhause, fünf frierende und hungrige Mäuler", er hielt eine Hand hoch, die Kinder zu zählen. "Die Mutter ist gestorben. Die Ernte ist verbrannt. Die Pferde sind davongelaufen. Es ist ein Schicksal! Die Tränen rührt es, wo Herzen sind. Geben sie uns eine kleine Gabe, dass die Kinder leben können... Oh, Meister, sie hat ein Herz nicht von Güte. Hart ist es, haarig wie eine Kokosnuss, nicht ein Tropfen Erbarmen darin. Die Frau, die ist gegangen vom Leben, sie war eine gute Frau ..."
Auseinandergebrochen unter der Erkenntis, dass sie zu spät gekommen waren, die Milde mildtätig zu finden, machte der Kleine eine Kehrtwendung. Er fasste den Meister am Mantelsaum wie an einem Zügel, woraufhin dieser den Hals drehte und sich abwandte. Beide gingen sie müden Wandererschrittes durch den Garten, hinausbegleitet vom Klang der Gläsern und der leeren Flaschen.
Chapter 6. Medith als Kindmutter
Der Sohn des Fürsten bekam den Namen Woi. Seine Mutter starb, kaum dass sie ihn geboren hatte.
Auch der Kaiser erfuhr, dass Fürst Alta einen Sohn bekommen hatte. Dabei ließ er sich nicht anmerken, dass er noch nie von einem Fürsten mit diesem Namen gehört hatte. Aber weil der Kaiser vergesslich geworden war - auch in den Augen der anderen - merkte er sich den Fürsten Alta, gerade weil die anderen diesen Namen gleich wieder vergessen hatten. In Abständen sprach der Kaiser nun von dem Fürsten Alta und sagte, dass man ihm DEN nicht vergessen sollte.
Augen, Brauen und Wimpern des Fürstenkindes waren schwarz wie bei seiner Mutter. Auch die Zeichnung der Lippen hatte er von ihr, wobei das Gesicht aber breiter in seiner Anlage war. Wie dem Fürsten versichert wurde, war sein Körper, wenn nicht groß, so doch kräftig. Das Kind hatte funkelnde Augen. Die Leute sagten, es wären rechte Fürstenaugen. Sie freuten sich, dass es einen jungen Fürsten gab, und die Frauen wussten sich viel zu erzählen.
Soldat Medith erwies sich dem Kind als geduldiger und fähiger Ziehvater. 'Was soll ich die Aufgabe an jemanden anderen geben', hatte der Fürst gedacht, 'wo er sich doch als Vater schon bei seinen vier kleineren Brüdern bewiesen hat?' Also wies der Fürst ihm eine ältere Frau zu, die für die körperliche Pflege des Kindes bereitstand. Außerdem bekam Medith ein eigenes Zimmer mit einer angrenzenden Kammer für das Kind.
Im Ganzen verrichtete Medith gehorsam und wohl auch glücklich seinen neuen Dienst. Für Nachtwachen standen genug andere bereit, und es war nicht unüblich, dass die Erziehung eines Fürstensohnes in die Händen von einem altgedienten Soldaten gelegt wurde.
Die Kameraden schauten herein und sahen nach dem kleinen Sohn. Da Medith einer von ihnen geblieben war, sahen sie es nicht anders, als dass der Kleine auch ein Soldat und damit einer von ihnen war.
Woi schlief in einem Bett, das von Medith selbst gezimmert worden war. Es war nicht eines von diesen zugedeckten Betten, so groß wie das Haus eines armen Bauern. Darin hatte sich Medith durchgesetzt. In keiner anderen Frage überging er den Fürsten und mit keinem Blick verriet er, was sie verband.
Es war nicht Mediths Art, und es war nicht die Art eines Soldaten, den Jungen vor jedem Windhauch zu beschützen. So lernte der Junge schnell, wo es am meisten weh tat. Er konnte heulen vor Wut, dass ein jeder Angst bekam. Er schrie so laut vor Freude, dass Medith sich in Sorge fragte, ob er sich nicht wehgetan hatte.
Wenn er hochgeworfen wurde, fingen ihn die großen Hände sicher wieder auf. Wie ein kleiner Soldat ließ er nichts über, aß alles auf und kratzte solange den Teller aus, bis Medith sich die Ohren zuhielt und eines von seinen Gesichtern machte. Von Beginn an schlief er die Nächte durch.
Eines Morgens war Woi einfach aus dem Bett geklettert und hielt sich mit den Händchen am Rand fest, bis ihm die Knie wegknickten. Er fiel hin, war aber zu stolz auf seine Leistung, um den Schmerz zu bemerken.
"Du bist mir einer", flüsterte Medith in sein Ohr, "kommst auf deinen Vater und auf wen auch immer." Ein klein wenig waren seine Augen bei diesen Worten feucht geworden.
Dann hatte Woi versucht, Medith zu füttern. Der hatte einen schön großen Mund, der nach dem Löffel schnappte, sobald er ihn erhoben hatte. Das war einfach. Schwierig war es, den eigenen Mund zu finden. Blöd, dass man ihn nicht sah. Es klatschte so schön, wenn der Brei auf den Boden fiel.
Nach dem Mittagsschlaf machten sie einen Ausritt auf Mediths Schultern. Sie ritten zu den Soldaten am Tor. Alle wollten sie sehen, wie gut er schon reiten konnte. Und Woi konnte reiten! Selbst Galopp machte ihm nichts aus, wenn er nur mit beiden Händen fest in die Haare von Medith gegriffen hatte.
Er berührte ganz vorsichtig die glänzenden Spitzen der Speere. Mit einem Stein durfte er solange auf die Rüstung hauen, wie er wollte. Krach machte ihm am meisten Spaß. Die Helme waren alle zu groß für ihn, und die roten Federn durfte er leider nicht ausreissen. Aber er bekam eine weisse Feder, die er nicht mehr aus den Händen gab.
Schon etwas langsamer ging es mit seinem Pferd weiter. Es fand es nicht toll, wenn Woi ihm die Haare auszog oder mit der Feder piekste. Wenn dem Pferd das Wasser über die Stirne lief, dann war es müde.
Die richtigen Pferde waren riesig. Aus ihren Nasen kam Dampf, und ihre Gesichter konnte sich Woi gut merken. Sie hatten Schuhe wie die Soldaten, aber eine weiche Rüstung, an der er nicht klopfen durfte. Ihre Zähne waren riesig und gelb. Vor ihnen ging Medith immer ein Stück zurück.
Wenn sie schnaubten und wieherten, lachte Woi. Das gefiel ihm, und er hätte gerne Medith auch schnauben und wiehern gehört. Das konnten aber nur die richtigen Pferde mit dem langen Hals. Woi durfte auf einem Sattel sitzen, der auf dem Boden im Stall lag. Ganz allein hielt er sich fest. Er zeigte auf ein Pferd, aber das schüttelte den Kopf.
"Nein, nein", sagte auch Medith, "zum Reiten ist es viel zu früh. Üb du mal noch ein bißchen auf meinem Rücken. Geritten wird erst, wenn du laufen kannst."
Wie er aber den Jungen so allein auf dem Sattel sitzen sah, war er richtig stolz. 'Das erste Mal, dass ich ihn sitzen sehe', dachte er, 'sitzt er in einem Sattel. Wenn das nicht etwas heißen will!'
Dann nahm ihn Medith zum Aufsitzen hoch. Woi durfte dem Pferd einen Bund Hafer geben. Es schmeckte dem Pferd. Es nickte mit dem Kopf, dass Woi auch mal davon probieren sollte. Aber er mußte husten, öchöchich, und es kratzte. Medith schüttelte nur den Kopf über solch einen Unsinn. Er mochte bestimmt auch keinen Hafer essen. "In deinem Brei ist genug von dem Zeug drin", sagte er. Woi hob die Nase und versuchte zu schnauben. Medith wischte sich mit einem Tuch über die Haare. So ein Kind war eine feuchte Angelegenheit!
Sie ritten weiter zur Küche. Auf dem Weg trafen sie einen Gärtner, der Woi eine Blume schenkte, die ihm aber nicht schmeckte. Wois Pferd musste sich ausruhen, und er rollte sich im Gras immer eine Seite weiter, bis die Gärtner schrien, weil er an den Blumen zog. Sie mussten schnell wegreiten.
In der Küche verbeugte sich Medith mit Woi auf den Schultern. Alle klatschten, dass der Junge sich so gut festhalten konnte. Was auch ein Glück war, denn es war ein bisschen gewagt von Medith, ihm solche Kunststücke zu zeigen! Jede der Frauen durfte ihn einmal auf den Arm nehmen.
"Ist er nicht ein wenig feucht unten herum, Herr Soldat?" wurde Medith von einer gefragt. Er fühlte und wusste nicht so recht.
"Wir legen ihn einfach hierhin und machen ihn sauber", sagte die Magd, welche gefühlt hatte. So wurde Woi auf eine krumme Holzbank gelegt und gesäubert. Er betrachtete die schweren Balken an der Decke, von der die Köpfe wie wollige Bälle herabhingen. Zwischen den Mündern flogen die Hände wie Vögel umher, und vom Gehörten nahm er auf, dass sie nur das Beste von ihn dachten.
Jeden Tag kam Woi einmal in die Küche geritten und hielt Hof. Er durfte mit einem Holzlöffel gegen die Töpfe hauen, und wenn er lachte und schrie und vor Vergnügen mit den Händchen ruderte, dann machten sie alle mit ihm Musik. Die Teller drehten sich im Kreis, die Löffel schlugen sich die Köpfe ein, und Medith haute 'DUMM-DUMM' auf den großen Topf. Jede Flasche hatte einen anderen Ton, und die Hände konnten klatschen, dass es wirbelig wurde. Unübertroffen, das Pfeifen des Kochkessels, erst weit weg, dann immer lauter und größer, bis außer dem Pfeifen nichts mehr zu hören war - da konnten sie alle hauen, wie sie wollten.
Von einer Näherin bekam er eine Puppe, die Augen hatte, an denen er ziehen konnte. Wenn die Näherin sie hochhielt, dann konnte sie sprechen. Also nahm Woi sie mit. Er setzte sie auf seinen Rücken, damit sie wie er Reiten lernte. Sie bekam von seinem Brei zu essen, aber Medith nahm sie fort und sagte, dass sie seinen Brei nicht möge. Er verzog das Gesicht, und die Puppe verzog das Gesicht. Sie mochte wirklich seinen Brei nicht essen: Es war alles auf ihrem Gesicht geblieben!
Chapter 7. Selma
Die alte Frau war stehen geblieben. Sie war eine runde Person, die mit stämmigen Beinen langsame Schritte gemacht hatte. Dabei hatte sie zu den Bäumen gesehen, die kein Laub mehr trugen, und hinauf zum Himmel, an dem sich die Wolken wegen der Kälte eng aneinander schmiegten.
Sie bewegte ihre Lippen, die Augen, ein wenig die Hände. Was die Leute wohl dachten, wenn sie mit sich selber sprach? Ihr Mann war noch nicht lange tot - das sollten die Leute wissen! - drei Monate, weniger zwei Tage war es her, und nur seine Stimme war ihr geblieben. Es war eine gute und lange Zeit mit ihm gewesen, und sie wollte dankbar sein. Vier Kinder hatten sie großgezogen, das dritte Enkelkind war unterwegs.
'Mom Selma', sagte sie zu sich, 'halt dich aufrecht! Die Welt braucht dich, grad' wo es ihn nicht mehr gibt.'
Das war sicherlich so, und sie wollte es damit halten, solange sich ihre Beine noch in Bewegung halten konnten. Und sie wollte weniger Nüsse essen. Die aß sie nur, weil sie keinen zum Reden hatte. Knabberte vor sich hin, ohne es zu merken, und die Erinnerung kam und setzte sich auf ihre Schulter, als wie die Katze von einer alten Hexe, ganz nah am Ohr. Aber schließlich hatte sie soviel geknabbert, dass ihr der Magen schwer geworden war und das Herz noch schwerer, wenn sie einschlafen wollte.
Immer wenn sie eine Strecke ging, musste sie sich bald hier, bald dort niedersetzen. Dann kehrte der Atem zurück, der mit immer schnelleren Schritten vorausgeeilt war. So war es ihr recht, dass die neue Arbeitsstelle kaum zehn Minuten Weg entfernt sein würde.
Sie kannte das Haus. Die Nachbarin sagte, dass sie die Frau, die in dem Haus wohnte, niemals auf der Straße gesehen hatte, nicht allein und nicht mit ihrem Kind.
Die Frau war mit ihrem Mann von weit hergekommen. Er trug die Schuhe der fürstlichen Beamten und konnte lesen und schreiben. Das sagte die Nachbarin, weil er lange Rollen bei sich trug, die ganz leicht waren. Spät kam er nach Hause, und manchmal blieb er fort. Die Nachbarin hörte es bis zu ihrem Haus, wenn er auf dem Pflaster ausschritt.
Die Frau war allein, keine Mutter oder Schwiegermutter, da war ihr alles zuviel geworden. Es war wohl ihr erstes Kind.
Manches Mal hatte Selma die Frau gesehen, wie sie in ihrem Garten stand. Selma hatte gewartet, ob die Frau zur Straße hinsah. Aber sie hatte keinen Blick für die Menschen gehabt, die vorbeikamen. Es war eine schöne Frau, aber ein traurige Frau, dass Selma nicht mit ihr hätte tauschen wollen.
Nein, wie Selma so vor dem weißen Gartentor stand, vollgesogen das Unterkleid mit Schweiß, der ihr kalt auf dem Körper klebte, da wusste sie wieder nicht. Was würde die Frau denken, wenn sie Selma sah? 'Eine alte Frau', würde sie denken, 'vom langsamen Gehen ist sie außer Atem. Eine sonderbare Person vielleicht, die es mit ihrer Einsamkeit nicht aushält.' So würde die Frau denken!
'Selmchen', sagte da ihr Mann und hatte die Stimme, die ihm eigen war, seid er tot war, 'das ist doch das Richtige für dich. Mach es dir nicht so schwer. Das kannst du doch!'
Sie nickte. Immer hatte sie ihn für alles entscheiden lassen, und es war nie das schlechteste gewesen. 'Ja', sagte sie leise zu ihm, 'das hast du gut gemacht, immer richtig entschieden und vorher viel nachgedacht. Wirst auch jetzt wohl das Rechte für mich wissen.'
Einen wunderschönen Garten hatte die Frau, das wollte Selma anerkennen. Es war grün darin, trotzdem dass es Winter wurde. Die Bäume waren nicht groß, aber sie trugen ihr Laub noch, sahen nicht wie abgestorben aus. Der Garten - wie die Frau - kümmerte sich nicht, was draußen war. Von den Bäumen kannte Selma die meisten nicht. Sie waren fremd hier, und es war ein Wunder, dass sie zu Wuchs gekommen waren.
Die Frau stand begrüßend auf der Treppe. Da hatte sie gestanden und zugesehen, wie Selma sich in ihrem Garten umsah. Als Selma sagte, dass es ein sehr schöner Garten sei, da sagte sie nichts, weil sie ihren Blick auf den Steinen verloren hatte. Da wusste Selma, dass die Frau mit sich selber sprach, wenn sie allein war. 'Manchen Menschen braucht für das Traurige niemand zu sterben', dachte sie für sich.
Die Frau wandte sich um und ging Selma zum Haus voraus. Sie hatte einen leichten, fast schwebenden Gang über den Steinen, und Selma musste an eine durchscheinende Blume denken, eine Blume, die schön war und doch vom Händler am Abend verschenkt wurde.
Im kleinen Empfangsraum bot sie einen Platz an und tat, als wäre Selma zu Besuch und auch eine sehr feine Dame. Die Stühle waren schlank und fein, und Selma saß sehr vorsichtig auf dem ihren. Alles war vornehm und nicht für das Berühren bestimmt.
Die Dame trug ein hellgrünes Kleid. Auf dem weißen Kragen stieß das glänzende Haar in Wellen auf. Nichts in dem Haus ließ die Anwesentheit eines Kindes vermuten.
Die Frau sagte, dass sie eine Tagmutter für ihre kleine Tochter suche. Selma sprach lange über sich, wobei sie mehrmals vorsichtig ihr Gewicht auf dem Stuhl verlagerte. Sie sprach über ihre Kinder und Enkelkinder. Das Herz und die Füße wurden ihr warm. Sie berichtete vom Tod ihres Mannes, und nur ihre feingliedrige Sitzgelegenheit verhinderte, dass sie die Hände vor das Gesicht schlug.
Sie erzählte, wie sehr ihr Mann seine Kinder geliebt habe. Dass er ihnen Geschichten erzählt habe, Märchen und Fabeln. Fürchten habe sie sich müssen, so seien ihr die verzauberten Prinzessinnen in ihrer Gruselwelt an den Wänden erschienen. Er habe in seinem Erzählen kein Ende finden können und die Kinder zu spät den Schlaf. Selma schwieg in grausigem Rückerinnern.
'Selmchen', sagte ihr Mannes mit der anderen Stimme, 'ich bin nicht gestorben, in deinem Herzen lebe ich doch fort.' Ein Nebel von Tränen hatte sich vor Selmas Augen gelegt. Sie hielt die Lippen fest verschlossen. Kein Wort durfte sie ihren Mann sprechen lassen! Die Stille im Raum war undurchdringlich geworden. Selma schwankte auf ihrem Stühlchen, aber sie fiel nicht.
"Da wäre noch die Frage des Lohnes", sagte die Frau. "Eine richtige Amme können wir uns nicht erlauben."
Selma nickte schwach. 'Ja', sagte ihr Mann, 'ich hab es dir gesagt: Die Reichen, die tragen, wo andere ein Herz haben, ihr Gespartes.'
Von oben hörte sie ein Kindchen weinen. Ihre eigenen Jungens hatten immer wütig gebrüllt. Selbst das Mädchen hatte es ihnen nachgetan wie ein Schwalbennest. Dieses Kindchen da oben schien ihren Namen zu rufen. Es war, als rufe es SEELMAA. Die Frau nannte eine Summe. Selma nickte.
Es war ein süßes Kind. "Tuck, tuck", sagte Selma, und das Kindchen lächelte. "Sischi, Sischi", flüsterte Selma in sein Ohr, und das Kind lachte wie eine kleine Sonne. "Gna na", sagte es, und Selma nickte.
Chapter 8. Der Mann auf dem roten Stuhl
Wois Wagen hatte viele Räder. Der Wagen konnte viel schneller laufen als Woi, aber Medith konnte schneller als der Wagen laufen. Wenn Medith rief, hörte der Wagen nicht auf ihn. Dann lief er einfach weiter. Der Wagen freute sich, wenn Woi in ihm drin war. Wenn er sich freute, dann wippte er. Dann freuten sie sich zusammen und wippten zusammen.
Manchmal kam ein Mann. Er hatte Füße, die klapperten laut auf dem Boden, und Woi fand es schade, dass sein Wagen nicht auch solche Füsse hatte. Der Mann hatte eine leise Stimme, die er mit der Hand streichelte. Medith hatte eine Stimme, an der er ganz fest kratzte. Manchmal machte er Seife auf seine Stimme und schnitt die Seife mit einem Messer ab. Woi hätte gerne das Messer gehabt, aber Medith legte es oben auf den Schrank.
Der Mann mit den lauten Füßen fuhr ihn manchmal zu einem Mann, der in einem roten Stuhl saß. Der Stuhl war so hoch, dass Woi beim ersten Mal nicht bemerkt hatte, dass dieser Mann darin war, aber dann hatte er gesprochen. Es waren immer ganz viele Menschen bei ihm, und sie waren sehr still, wenn er etwas sagte.
Woi wollte zeigen, wie gut er schon aus dem Wagen klettern konnte, aber der Mann mit den lauten Füßen hielt ihn mit der Hand fest. Da lachte der Mann in dem roten Stuhl, aber Woi fand das nicht lustig und machte einen bösen Blick. Auch der Mann in dem Stuhl machte einen bösen Blick, und alle Menschen, die dabeistanden, lachten, so laut, dass sich Woi erschreckte.
Der Mann war überhaupt ein langweiliger Mann. Die Soldaten machten keine Späße, wenn dieser Mann mit ihnen sprach. Er klapperte nicht mit Töpfen und kannte keine Tierstimmen. Außerdem durfte Woi ihn nicht füttern. Und an den Haaren konnte er ihn nicht ziehen, weil der Mann zu weit weg war. Es waren lange, weiße Haare, die Woi bestimmt gut ausziehen konnte. Das Pferd würde sie mögen, da war sich Woi sicher. Sie sahen aus wie Hafer.
Woi wurde in eine Ecke des Raumes geschoben und deckte die Puppe dort mit der Gardine zu. Dann wurde er in eine andere Ecke des Raumes geschoben. Da stand eine kleine Vase, die Woi aber nicht fangen konnte, weil sie sehr schnell auf den Boden sprang.
Der Mann auf dem roten Stuhl schimpfte mit der Vase. Die lauten Füße waren ganz still. Selbst die Vase weinte nicht, obwohl sie sich weh getan hatte.
Der Mann hatte ein Gesicht wie ein alter Käse. So einen bekam Woi manchmal in der Küche zum Spielen. Meistens sprang ihm der Käse aus den Händen, und alle sprangen zur Seite und hielten sich die Hand vor den Mund. Bestimmt konnte sein Käse auch sprechen, wenn er auf den großen Stuhl saß! Dann würden die Menschen ganz still sein, obwohl es nur ein Käse war, der nicht einmal richtig spielen konnte.
In der anderen Ecke war eine rote Tür. Da war ein Kopf drauf, der auch rot war. Weil er sich in dem Wagen aufstellt hatte, durfte Woi ihn anfassen. Der Kopf hatte eine lange Stimme mit weißen Zähnen. Die Augen sahen Woi böse an, als er mit den Fingern an ihnen piekste.
Der Kopf hatte den Mund aufgerissen wie Medith, wenn er ganz laut niesen musste. Aber der Kopf nieste nicht. Er mochte Woi nicht, schaute immer nur böse drein, und alle schienen sich vor ihm zu fürchten, weil er nicht niesen konnte.
Nur der Mann in dem roten Stuhl war ein Freund von dem Kopf auf der roten Tür. Er zeigte auf ihn und sagte: "Drache, Woi, das ist ein DRACHE."
"Metith", sagte Woi und zeigte auf die Puppe, die keinen Namen hatte.
Der Mann in dem roten Stuhl redete sehr viel. Neben ihm saß ein Mann und hatte eine weiße Fahne in der Hand. Dieser Mann machte die weiße Fahne mit seinem Finger schmutzig. Einer seiner Finger war länger als die anderen, war vorne spitz und kratzte. Mit ihm malte der Mann die Fahne schwarz an. Wenn sie schwarz war, nahm er sich eine neue. Keiner außer Woi wollte bemerken, dass er alle Fahnen schmutzig machte.
Der Mann auf dem roten Stuhl zeigte auf den Mann mit dem schmutzigen Finger und sagte: "Schreiben, Woi. Das ist Schreiben. Das musst du auch einmal lernen."
"Muust, muust", sagte Woi und zeigte allen seinen Finger. Wenn jemand vor dem roten Stuhl stand, sagte er ein sehr langes Wort. Der Mann mit dem Haferhaar redete ein kurzes Wort, dann redeten die anderen immer längere Worte, soviele, wie sie finden konnten. Niemand sah, dass der Mann mit dem kratzenden Finger wieder eine Fahne schmutzig gemacht hatte.
Niemals redeten sie über Woi. Das spürte er ganz genau. Sie beachteten ihn überhaupt nicht! Wenn er ihnen wenigstens etwas hätte zeigen dürfen. Aber es war nichts da! Er zeigte dem Mann mit den lauten Füßen seine weiße Feder. Der Mann wollte sie ihm abnehmen, aber Woi schrie so laut und böse, dass er sich nicht traute. Seine Feder durfte er behalten.
Dann wurde Woi zur Seite geschoben. Ein Mann drückte an dem Kopf von der Tür ein Ding herunter, das aussah wie der Schuh von einem Pferd. Jetzt nieste der Kopf, und das ganz fürchterlich. 'Ouuuoii', nieste er. Der Mann, der hereinkam, erschreckte sich so sehr, dass er auf den Boden fiel. Als der Kopf wieder an seinen Platz geschoben wurde, nieste er noch einmal: 'Oouuuuii'. Aber Woi konnte er durch sein Niesen nicht erschrecken. Er hatte keine Angst, nicht vor dem Kopf von einem Pferd, nicht vor dem Kopf von einer Tür.
Woi zeigte allen, dass nicht einmal seine Puppe Angst vor dem Niesen hatte. Der Mann, der auf den Boden gefallen war, konnte wieder gehen, als ihm der Mann auf dem roten Stuhl einen sehr langen Löffel auf den Rücken gelegt hatte. Ob seine Puppe auch laufen konnte, wenn er ihr einen Löffel auf den Rücken legte?
Der Mann auf dem roten Stuhl hatte einen so langen Löffel, dass er Woi damit hätte füttern können. Er hatte bestimmt oft Hunger. Alle hatten sie Hunger, und am meisten Woi!
"Hat, hat", rief Woi immer. Sie mussten doch wissen, was er meinte, aber sie verstanden nicht die Sprache der kurzen Worte. Sie sagten Worte, die niemals aufhörten.
"Hathathattathathattat", rief Woi, so laut und so lang er konnte. Dann weinte er. Das mussten sie doch verstehen, dass er Hunger hatte! Nein, sie waren dümmer, viel dümmer als Medith!
Chapter 9. Selma und Li
'Li' hatten die Eltern das Kind geheißen. Für Selma war sie die 'kleine Prinzessin'.
Lange bevor sie laufen konnte, fielen ihre Haare dicht und schwarz. Auch die weiße Haut und die hohe Stirn hatte sie von ihrer Mutter. Zierlich war sie und blieb immer ein gutes Stück kleiner als die Kinder ihres Alters. Vom Vater besaß sie die Augen. Kein Funkeln war in ihnen, keine Glut, eher ein vielfach träumerisch getönter Widerglanz. Als gehöre das, was vor sie hintrat, zu einer schönen Geschichte, zu einem Lied, dass die kleine Li in die Ferne entführen wollte. Das war der Vater in ihr.
Sie lachte nicht, strahlte nicht vor Glück. Ihre Stimmungen erkannte Selma am weichen Mund, der einzig von ihrem Inneren preisgab. Es war, als gehe die Freude nur die kleine Li etwas an, sei somit unteilbar und für andere wertlos.
Sie ließ den Dinge, die sich ihr anboten, Zeit. Wenn das Feuer knisterte und knackte, zischte und flüsterte, dann lag sie da, wie erstarrt, hatte die Äuglein geschlossen, um den Lauten nah zu sein.
Sie liebte das Singen der Vögel. 'Da, da', riefen ihre Händchen. 'Hör nur, Selma, die Vögel sind wieder da.'
Und waren die Vögel auch nah genug, sie zu sehen, so lag Li doch mit geschlossenen Augen in ihrem Bettchen, als könne ein Blick sie alle verscheuchen. Waren die Vögel fröhlich, dann war ihre Stirn glatt, und die kleinen Augen schienen den Lauten zu folgen. Stritten die Vögel aber, zetterten und zankten, dann zitterte ihr der kleine Mund.
Nie hatte Selma ihre Prinzessin weinen sehen. Wenn es gegen die Scheiben regnete, ein Vogel nicht bleiben wollte, ein Lärmen sich zu ihr verirrt hatte, dann war sie traurig. Es war, als flössen ihr die Tränen nach innen, um sich in ihrem Herzen zu sammeln.
Dann wagte Selma nicht, sie anzurühren. 'Warum weint das Kind nicht?', fragte sich Selma. Kinder lachen doch schon wieder, wenn die Tränen noch auf ihren Backen sind! Im kleinen Haus von Lis Kinderseele war die Traurigkeit ein bevorzugt umsorgter Gast.
Die Mutter ließ Selma gewähren. Wenn sie herbeitrat, näherte sie sich dem Bettchen behutsam, als müsse sie Selmas Zorn fürchten. Das Kind war verwundert, jemanden anderen als Selma zu sehen. Die Mutter sagte kein Wort. Li lag still und schaute, als spreche die Mutter durch ihre Blicke zu ihm. 'Die Gedanken ihrer Mutter wird sie lesen', dachte Selma, wenn sie die beiden beobachtete.
Ruhig verbrachte die Prinzessin die Tage, schaute und schlief, und die Klugheit wuchs in ihren Augen heran.
Wenn sie etwas in die Hand bekam, war sie vergesslich damit, sah mehr auf ihre Hände, wie sie sich bogen und drehten, als auf die Gegenstände, die sie hielt. Sie schien keine Wünsche zu haben, kein Ding von außen zog sie den anderen vor.
Manchmal spielten die Hände mit sich, ohne etwas zu halten. Wenn Selma sie nachmachte und mit den Hände die Luft werkelte, dann lächelte Li, als sehe sie nach, dass Selma es nicht verstand.
'Ganz das rechte Kind für eine alte Frau', dachte Selma. 'Aber es fehlen ihr die Geschwister, dass sie lernt, sich zu streiten.'
Doch dann sagte sie sich: 'Was soll eine Prinzessin das Streiten lernen?', und hatte sich beruhigt.
Der Vater kam immer so spät, dass Selma das Kind schon gewickelt und zu Bett gebracht hatte. 'Es ist eingeschlafen', sagte sie ihm, und die Frau ermahnte ihn mit Blikken, leise zu sein. Dann schlich er sich nach oben, wo es völlig dunkel war, und die beiden Frauen saßen beieinander in ihren Gedanken.
Einmal, als die Frau aufsah, fragte Selma leise: "Was macht er oben?"
"Er spricht zu ihr", sagte die Frau ebenso leise zurück, und für einen Augenblick horchten sie wie zwei Frauen, die nichts unterschied.
"Aber das Kind schläft doch", sagte Selma. Doch die Frau hatte sich wieder in ihre Gedanken hineingeschwiegen.
Selma horchte nach, aber nur, wenn sie sich vom Schlaf berühren ließ, vernahm sie das Sprechen des Mannes. Sie war sich sicher, dass er dem Kind nichts erzählte. Er redete zu ihm, dass es keine Bedeutung hatte. Die Laute und Silben bildeten einen singenden Klang und machten sich lustig über den, der sie belauschte.
'Vielleicht ist das Schweigen der Frau auch eine solche Sprache', dachte Selma, 'für die Prinzessin zu verstehen, für niemanden sonst.'
Früh begann Li, in der Sprache des Vaters zu erzählen. Wenn Selma eine Lücke darin fand, versuchte sie, dem Kind ein oder zwei richtige Worte beizubringen. Aber Li erzählte weiter in ununterbrochenem Ernst, als sei sie es, die Selma die Sprache beibringen müsse.
Selma verstand kein einziges Wort. "Prinzesschen-klein", sagte sie zu ihr, "was erzählst du für schöne Geschichten?"
'Hör einfach nur zu!', befahlen die Lippen. Dann fuhr Li in ihrer Erzählung fort, wurde schnell und aufgeregt, die Augen jagten ihr hin und her, die kleinen Händchen malten Schrecken in die Luft. Den Lauten wurde es eng, sie stießen sich, stolperten, fielen übereinander. Erschöpft waren sie schließlich, die schöne Ordnung war dahin. Da erhob sich vom Boden ein einzelnes I. Es sah sich vorsichtig um, überlegte nicht lang, das treue E zu rufen, das O, welches sich wieder Zeit ließ, das stolze, in der Hüfte etwas steife A. Zusammen lasen sie ihre weiteren Mitstreiter vom Boden auf, setzten sich auf neue Wagen, fuhren aus alten Erzählungen heraus und sprachen sich neue Ziele vor.
Selmas fertige Worte waren nichts als ausgezäunte Hügel, dichtgestrüppter Wald und wohl verlassene Gehöfte, die übersehen am Rand des Weges standen, den Li ihrem Sprechen gesucht hatte.
Chapter 10. Botschaft vom Kaiser
Als die Tochter des Kaisers sechs Jahre alt geworden war, verlangte der Brauch von den Fürsten, dass sie dem Kind Glückwünsche und Geschenke zu überbringen hatten.
Es war dies ein bedeutender Tag, denn mit ihm war dem Kaiser eine Prinzessin erwachsen, an deren Zukunft jeder der Mächtigen im Lande wohl eine eigene Vorstellung knüpfte.
Die Sitte schrieb den Fürsten vor, dass sie dem Mädchen ein Geschmeide für das Haar, eine Kutsche zum Ausfahren, ein weißes, sanftes Ross, eine klangreine Laute und einen Schreiber zu stellen hatten.
Die ersten vier waren bedeutende Geschenke. Um sie war schon im fünften Lebensjahr des Kindes ein solcher Streit entbrannt, dass er durch einen Kaiserlichen Richtspruch gelöscht werden musste.
In der Erregung und der Bitterkeit des Streitens aber war das fünfte Geschenk vergessen worden - ein Schreiber war der kleinen Prinzessin unter allen Dingen und von keinem der einflussreichen Fürsten zugedacht worden!
Darauf bestimmte der Kaiser - mit strengem Blick hatte er für sich das Wort und von ihnen Schweigen erbeten - dass das Fürstentum Alta, welches er sich wohl im Gedächtnis aufbewahrt hatte, den Schreiber stellen durfte. Zu seiner geheimen Freude war das Erstaunen der Fürsten groß, darüber, dass es ein solches Fürstentum gab, und darüber, dass der Kaiser es im Gedächtnis bei sich trug. Widerstand von ihrer Seite war aussichtslos. Zuviel verband den Kaiser mit dem Fürstentum Alta. Wieder sagte er, dass man es ihm nicht vergessen solle.
So kam es, dass der Fürst den Besuch von einem ihm gut bekannten Kaiserlichen Boten erhielt.
Kendir war ein Freund von früher. Schnell hatte er sein Anliegen überbracht, und schon hatten sie von den Kameraden gesprochen, die sie gemeinsam kannten. Darauf hatte der Fürst von seinem Sohn zu sprechen begonnen. Es war leicht, von einem Sohn zu sprechen, der ganz nach dem Geschmack eines Mannes wie Kendir war. Dessen Blicke gaben auf ehrliche Weise den Stolz des Fürsten zurück.
Von der Hochzeit und der früh gestorbenen Frau des Fürsten hatte Kendir rücksichtsvoll nicht gesprochen. Dann hatten sie getrunken, und einander in den Sätzen abwechselnd, von vergangenen Tagen erzählt.
Nun saß der Fürst in seinem Spieleraum und wartete auf seinen Gast Kendir. Das Spiel, welches sie in der gestrigen Nacht abgebrochen hatten, stand unberührt auf dem Tisch. Es war wieder Abend geworden und die beste Zeit für ein Gespräch mit einem Freund.
Der Fürst betrachtete seine Hände im abnehmenden Licht, tauchte sie in das Dunkle unter den Tisch und beugte sich vornüber, die Ellebogen auf den Knien, um zu sinnen. Es waren nur wenige Figuren vom Spiel übrig geblieben, und so konnte er langsam seine Gedanken über die leeren Feldern des Brettes bewegen.
Er dachte an Woi. Unverkennbar besaß der Junge das Erbteil seines wirklichen Vaters. Er stellte sich als beherzt, ja furchtlos heraus. Jeder Tag machte den Fürsten sicherer in seinem Urteil. Nur wenn Woi ihm in die Augen sah, dann lag störend Fremdheit darin und etwas, das er nicht benennen konnte.
Für Woi und für Medith hatte der Fürst gesorgt, wie er für seine Frau nicht hatte sorgen können. Er hatte Schlechtes getan, aber Gutes darauf gepflanzt. Es war gewachsen und stand zur Blüte. Vor dem Gewissen hatte er seine Schuld beglichen. Der Junge war als sein legitimen Nachfolger anerkannt und würde ihm nachfolgen. Nur in einer einzigen Nacht war der Fürst nicht sein Vater gewesen! Längst war diese Nacht von all den Tagen aufgewogen worden, die ihr gefolgt waren.
Den tatsächlichen Vater mit all dessen Liebe hatte er Woi gelassen. Es wäre in seiner Macht gestanden, den Oberen Medith zu verbannen oder gar ihn töten zu lassen. Ja, brachte sich der Fürst durch seine Güte nicht selbst in Gefahr? Machte er sich nicht abhängig von der Treue und von der Verschwiegenheit eines Menschen, wenn auch eines Soldaten?
Gegen diese Besorgnis hatte er zum Besten des Jungen gehandelt. Wois Erziehung würde die eines Fürsten sein. Er würde Reiten lernen und Kämpfen. Angeln und Jagen. Das Wetter würde ihn härten, und in einsamen Nächten würde er jede Furcht verlieren.
Von Anbeginn an hatte Junge keine Angst gekannt, wenn er es recht sah. Manches Mal war der Fürst auf ihn wie auf einen eigenen Sohn stolz gewesen. Aus Woi würde ein Fürst werden, wie es wenige gab. Ihm würde dies kleine Fürstentum nicht genügen. Der Fürst sah ihn in einer glänzenden Rüstung einen Berg hochreiten, gefolgt von ebenso schnellen und wendigen Reitern.
'Wer weiß', dachte der Fürst, 'wieviele Fürsten, große Fürsten, in Wahrheit nicht die Söhne ihrer Fürstenväter waren. Sie mochten gespürt haben, dass ihre Existenz eine Maskerade ist, und sind zu Eroberern geworden in einer Welt, die sie eigentlich nicht als Fürsten hätten betreten dürfen.' In eigenen Herzen würde Woi immer einer von diesen Rechtlosen bleiben - da war es gut, dass er bei den Soldaten aufwuchs.
Der Fürst selbst war so weich wie sein Vater. Niemand hatte ihn anders gewollt. Seine Untertanen wollten ihr Leben leben, wie sie es gewohnt waren. Ein Fürst gehörte zum Gewohnten dazu. Er bedrängte sie nicht, opferte ihre Ruhe nicht irgendwelchen Abenteuer, die schlimm enden konnten. Er warf nicht von ihrer Ernte fort und hatte einen Sohn gezeugt, damit gesorgt war, dass das Leben der Kinder nicht anders verlief als das ihrer Eltern.
Eine lange Zeit des Friedens hatte sich schon von seinem Vater her fortgesetzt. Die Grenzen waren sicher geworden, weil niemand sie sich anders denken konnte. Die Söhne eiferten ihren Vätern nach, die Töchter wollten werden wie ihre Mütter.
Nachdenklich saß der Fürst in seinem Zimmer vor dem Brettspiel, das sie in der letzten Nacht begonnen hatten, betrachtete den Stand der Figuren und wartete auf seinen Freund Kendir.
"Nicht schummeln!" rief Kendir übermütig und sprang in das Zimmer. "So schlecht stand ich nun wirklich nicht auf dem Brett."
"Ich schummele nicht", sagte der Fürst und senkte den Blick.
"Nun, seid nicht gleich böse. Es war ein Spaß. Ich weiß, dass ihr ehrlich seid, wie man ehrlich nur sein kann", entschuldigte sich Kendir sogleich und legte ihm die Hand auf die Schulter.
Der Fürst zog eine erste Flasche unter dem Spieltisch hervor, und Kendir nickte. Er würde keinem Freund etwas abschlagen, schon gar keinen Wein! Sie wollten sich vertragen, und dieses blöde Spiel, das so schlecht für Kendir stand, vergessen.
"Wie steht es zu Hofe?", fragte ihn der Fürst, als sie den ersten Schluck genossen hatte.
"Der Wein dort ist nicht halb so gut wie eurer. Die Hofpolitik ist kaum mehr genießbar."
"Es ist alles, wie es immer war?" fragte der Fürst und lächelte aus Stolz über seinen Weinkeller.
"Niemand schenkt dem Kaiser einen Sohn - sollte sagen, die Kaiserin nicht, denn von den anderen weiß ich es nicht."
"- wisst es, sagt es nur nicht!", versuchte der Fürst seinen Freund zur Nachrede anzustiften.
"Der Kaiser hat sich wohl eine gewählt aus der Nachtstadt, höre ich. Es soll eine Blinde sein. Doch die Mädchen reden nicht! Werd' ich aus ihnen jemals schlau? Sagen nur, dass sie schön ist und für die Nacht keine Augen braucht."
Der Fürst schwieg, damit sein Freund sich auf weiteres besann, doch Kendir schnitt sich ab: "- und ihr denkt mir an den Schreiber, den ihr schicken sollt. Oft spricht der Kaiser von euch. Öfter, als es den anderen lieb ist."
"Ich werde daran denken", versprach der Fürst. Dabei tat er so, als sei die Ehre der Kaiserlichen Erwähnung selbstverständlich geworden.
"Die Tochter? Was ist sie für eine?", fragte er.
"Hat schon die Launen für ihre Schwester mit! Höre das, wenn ich so bei den Näherinnen bin", sagte Kendir und sah zu seinem Hosenschlitz herunter.
"Wegen dem Nähen sei ihr dort?", fragte der Fürst lachend.
"Wenn es wo spannt oder zwickt, lass ich eine nach dem Untermaß sehen", sagte Kendo, die Augen zur Unschuld erhoben. "Muss es gleich immer eine neue Naht sein, frage ich dich?"
Der Fürst lachte und schüttelte den Kopf. Drei waren seine Freunde gewesen, und alle von Kendirs Art! Wie schade war es, so fern von ihnen zu sein!
Da sah der Fürst wohl betrübt in sein Glas, worauf sich Kendir genötigt sah, ihm nachschütten. Hob das Glas und rief: "Kommt, Fürst, lasst uns auf euren Jungen trinken, den die Soldaten lieben, wie ich es gerne glauben will!"
Chapter 11. Fürst verschenkt Lis Vater
Vor dem Haus des Schreibers hatte ein Wagen gehalten. Ein Soldat stand davor und ein Alter, der die Zügel hielt. Angespannt waren zwei Pferde mit dem Schmuck des Fürsten. Umringt wurde der Wagen von all den Leuten, die schnell genug gekommen waren. Kleine Jungen hielten die Räder, und wer von ihnen keines zu fassen bekommen hatte, hielt an seiner Stelle den Zaun fest, als gehöre auch dieser zur Fürstlichen Abordnung.
"Ich bitte Sie, ihre kleine Tochter zu nehmen und aufzusteigen", rief der Soldat, als er die Frau in der Tür stehen sah. "Der Fürst verlangt, die Familie des Schreibers zu sehen."
"Bringen Sie das Kind herunter, Selma!", rief die Frau.
Selma nahm die kleine Prinzessin, die sich über der Stimme ihrer Mutter erschreckt hatte, und ging Treppe hinunter, so schnell es ihre Knie zuließen.
"Das Kind soll mit mir zum Fürsten", sagte die Frau. Sie sprach so laut, dass alle Leute hörten, was sie sagte.
"Aber das Kind wird sich verkühlen", warf Selma leise ein.
"Das Kind - dann geben Sie ihm etwas!", rief die Frau, dass es von draußen nach drinnen und wieder zurück schallte.
"Ich komme mit", entschied Selma so laut, dass die Leuten es auch von ihr vernehmen konnten.
"Dann bitte kommen sie!", drängte versöhnend die Frau.
Zu dritt bestiegen sie den Wagen. Da die Mutter wollte, dass Li aufrecht saß, hielt Selma das Kind fest und ebenso die Decke, die das Kind völlig bedeckte.
Nachdem der Soldat einmal um den Wagen herumgegangen war und ärgerlich gesehen hatte, dass ihm keine Sitzgelegenheit geblieben war, fügte er sich in sein Schicksal und ging zu Fuß hintendrein. Ihm folgte die Schar der Jungen und die mahnenden Zurufe der Älteren.
Die ganze kleine Stadt sah ihnen auf ihrem Weg zu, und die begleitenden Jungen erklärten jedem, dass der Soldat eigentlich nicht hatte laufen wollen. Dabei mache er das Laufen fein, riefen die Spötter aus, denen sie berichtet hatten.
So kamen sie schließlich zum Hof des Fürsten. Der Weg war recht weit gewesen und hatte durch einen Wald geführt, und die Jungen wussten nun, warum dem Soldat einen Sitzplatz gesucht hatte.
Der Fürst empfing in einem großen Raum, dessen Tür ein zorniger Drachenkopf zierte. Er selber war ein freundlicher Mann, der er auf einem solch hohen Stuhl saß, dass er mit den Füssen nicht auf den Boden kam.
Selma war sehr stolz, dass ihre kleine Prinzessin beim Fürsten empfangen wurde. Sie trug Li so, dass jeder das feine Gesicht des Kindes sehen konnte.
"Sieh dich um", flüsterte sie ihr leise zu, "in solchen Häusern wohnen die Fürsten und die richtigen Prinzessinen."
"Das ist aber ein süßes Kind", sagte der Fürst.
Dann ließ er den Vater des Kindes und den Onkel in den Saal rufen. Ein Diener führt die beiden vor den Fürsten, wo sie sich verbeugten.
"Die Tochter des Kaisers ist nun sechs Jahre alt", sagte der Fürst. "Damit ist sie eine Prinzessin geworden, und es ist Sitte, dass die Fürsten, die dem Kaiser bedeutend sind, ihr ein Geschenk zu diesem Tag machen."
Der Fürst wandte sich an Lis Vater und sagte ernst: "Sie, mein Guter, sind ausersehen, der Tochter des Kaisers ein Schreiber zu sein. Sie werden den Boten, meinen Freund Kendir, zum Kaiserhof begleiten."
Lis Vater verbeugte sich und war im Gesicht ganz weiß geworden. Nach einer weiteren Verbeugung trat er mit verpressten Lippen zurück.
"Sie werden das Haus in der Stadt behalten", verkündete der Fürst, "und ich bestimme, dass die Familie der Fürsorge seines Bruders unterstellt wird, der zukünftig die Stelle meines Ersten Schreibers einnehmen wird."
Der andere Mann, der an der Seite von Lis Vater gestanden hatte, verbeugte sich tief, und trat mit einem sehr geröteten Gesicht fort.
Selma verstand nur soviel, dass sie die kleine Prinzessin behalten durfte, und da war sie froh und glücklich, dass der Fürst so entschieden hatte.
"Ich habe auch einen kleinen Sohn", sagte der Fürst. "Er ist wohl so groß wie euer Sohn."
"Dies ist ein Mädchen", sagte Selma.
"Nun", sagte der Fürst, "das ist nicht schlimm. Auch wenn es ein Mädchen ist, so will ich doch sagen ..." Er machte eine Pause und sagte dann zu seinen Dienern: "So holt mir doch den Woi, dass er sich das Mädchen ansehen kann."
Zwei von ihnen eilten, und währenddessen erzählte der Fürst von den fünf Geschenken, und dass man eines davon völlig vergessen hatte. Da habe der Kaiser sich erinnert - der Kaiser habe eine besondere Weise sich zu erinnern - und habe entschieden, dass es die Ehre des Fürsten Alta sein solle, seiner Tochter einen Schreiber zu schenken.
"Wo bleiben die Diener mit meinem Sohn?", rief der Fürst in den Saal, und Selma wunderte sich, dass er nicht wusste, wieviel Zeit es mit einem Kind brauchte.
Der Fürst erzählte voller Stolz, dass er seinen Sohn einem alten Soldaten zur Obhut gegeben habe und nicht einer der Frauen. Fürsten müssten sich herausbilden, erklärte er und versank in einem Schweigen.
In seiner langsamen Art zu Sprechen erinnerte der Fürst Selma an ihren eigenen Mann. Zwar war der Fürst jünger, aber in dem aufrechten Sitzen und langen Hinausschauen, wenn die Worte schon auf ihren Weg eingeschlagen hatten, waren sie sich ähnlich.
Die beiden Diener fuhren den kleinen Sohn des Fürsten in einem Wagen herein, wie ihn Selma noch niemals für ein Kind gesehen hatte. Sie war sicher, dass er dem Ursprung nach ein Wagen von Soldaten gewesen war, in dem diese statt Kriegsgerät nun den Sohn des Fürsten spazieren fuhren. Dieser hielt fest den Rand des Wagens gepackt, weil es ihn ordentlich auf den schweren Rädern schüttelte.
Der Fürst gab Selma zu verstehen, dass sie ruhig mit ihrem Kind näher treten sollte. Dann wies er die Diener an, den Jungen aus dem Wagen zu heben.
So legte Selma ihre Li vorsichtig auf den Boden, als auch die Diener den Sohn des Fürsten aus dem Wagen gehoben und hingestellt hatte. Sie fand es dabei unwürdig, dass die Kinder wie zum Schildkrötenrennen aufgestellt wurde.
Der Junge konnte bereits laufen und kam mit kleinen Schritten auf Li zu. Der Fürst folgte ihm mit Blicken voller Stolz.
Woi stand schwankend über Li, die am Boden lag und zu ihm hochsah. Dann überreichte er ein gerolltes Band, das sie mit dem kleinen Händchen griff. Alle lachten und freuten sich.
Es war ein weißes und sehr schönes Band. Li betrachtete es sich sehr genau und lächelte, weil sie sich darüber freute. Sie legte sich auf den Rücken und hielt das Band in das Licht. Woi betrachtete Li, und als er fand, dass sie sich genug gefreut hatte, nahm er ihr das Band wieder ab.
Li begann zu weinen, und Selma hätte es ihr am liebsten gleichgetan. Der Fürst lachte sehr herzlich und klatschte in die Hände. Darauf klatschten auch die Diener und jeder, der im Raum war, außer Selma.
"Mir scheint", sagte der Fürst, "er mag das Mädchen leiden. Wir wollen sehen, dass sie einmal mit meinem Sohn spielt - ich meine, wenn sie laufen kann."
Am Abend fand Selma der kleinen Li ein anderes weißes Band. Es war noch ein wenig schöner und sauberer als das Band des Fürstenjungen, aber Li nahm es nicht einmal in die Hand.
Chapter 12. Medith erzählt seine Geschichte
Oberer Medith war kein Freund vieler Worte. Bei seinen vielen Wachgängen war ihm die Sprache entbehrlich geworden. Auch lief seine Zeit anders ab: Wohl hatte sie einen Anfang und ein Ende, aber für die Dauer dazwischen war ihm das Gefühl abhanden gekommen. So saß er manchmal eine gute Stunde in sich hinein schweigend da und sah dem Kind zu.
Woi verstand, was er verstehen musste. Medith zeigte ihm die wichtigen Dinge und gab ihnen Namen, die sich Woi gut merkte.
Wenn Medith sagte: "Das ist ein Huf", dann vergaß Woi nicht, was ein Huf war. Er sagte: "Pferd, Reiten, Sattel, Hafer, Stall", zählte alles, was er kannte, auf und sagte dann: "Huf". Worauf Medith nickte.
Es gab nichts, was im menschlichen Gebrauch war, von dem Woi nicht bald den Namen wusste. Die Unterschiede zwischen verschiedenen Messern waren ihm namentlich geläufig, die Bäume hatte er zu unterscheiden gelernt, bald wusste er den Namen von jeder Person, von jedem Pferd und jedem Zimmer. Medith war kein Kenner der Kindersprache, aber er fand, dass Woi schon eine Menge Dinge sagen konnte.
"Spricht der Junge nicht?", fragte der Fürst ihn eines Tages.
"Doch, er spricht", antwortete Medith ihm. "Gestern hat er einen Grind geangelt und ihn gleich benennen können. Wissen sie, die sind selten bei den Fischen! Er kann jetzt sogar 'Tranchiermesser' sagen." Das stimmte nicht ganz, weil Woi immer 'Tanimesser' sagte, aber Medith würde ihm das Aussprechen schon morgen beibringen.
"... die Worte dazwischen, kann er die auch?" fragte der Fürst. "Ich meine, kann er sagen: ein 'glückliches' Tranchiermesser?"
"Soll ich ihm das beibringen?" fragte Medith.
"Unbedingt! Wenn er ein Fürst ist, muss er doch reden können. Da reicht es nicht, den Namen von etwas zu wissen. Das verstehen sie doch? Also erzählen sie ihm irgendetwas, eine Geschichte, meinetwegen ein Märchen oder solche Dinge."
Medith nickte, obwohl er eigentlich nicht verstand, was der Fürst meinte, und kein einziges Märchen kannte. Vielleicht konnte er die anderen Soldaten nach Geschichten fragen. Sicherlich wusste die Frau, die sich um Wois Wäsche kümmerte, irgendwelche Märchen. Denn ein Fürst sollte der Junge werden, das wollte Medith mit ganzem Herzen!
"Also, Woi, hör gut zu", sagte er, als der Fürst gegangen war. "Ich erzähle dir jetzt eine Geschichte."
"Geschichte", wiederholte Woi und wartete darauf, dass Medith ihm einen Gegenstand zu dem neuen Wort zeigen würde.
"Geschichte", sagte Medith, "das ist, wenn ich dir etwas erzähle - hörst du? - das ist dann eine Geschichte. Ist doch klar oder?"
Woi nickte und sagte eifrig: "Erzähle Geschichte."
Medith war erleichtert, dass der Junge ihn so gut verstand. Lange überlegte er an einer Geschichte für den Jungen. Derweil übte Woi wieder Laufen. Er wollte gleichzeitig mit beiden Beinen einen Schritt machen.
"Hopsen", sagte Medith, "das ist Hopsen."
"Pferd?", fragte Woi.
"Galopp", erklärte Mendit. "Das Pferd macht Galopp. Der Hase hopst."
"Ich?" fragte Woi.
"Du läßt es besser bleiben, oder bist du ein Hase?"
"Ich Woi."
"Genau", sagte Medith, "und da sag einer, du kannst nicht sprechen."
"Pferd Galopp. Hase Hopsen. Ich Woi."
"Ganz toll, Junge!" sagte Medith. "Aber mit der Geschichte, Woi ... mir fällt nichts ein. Komm an meine Hand, wir gehen uns die neuen Hunde ansehen. Ein ganzer Wurf, fünf purzelige Hundchen. Denen kannst du zeigen, wie das mit dem Laufen geht."
Woi hielt sich an Mediths Hand fest. Jeden Schritt, den er machte, musste er sich erst vorstellen. Diese Doppelschritte, erst den im Kopf und dann den mit den Beinen, strengten ihn sehr an. Medith musste ein kluger Mann sein, wenn er so gut das Gehen gelernt hatte.
Bei einem Mann, der nicht größer als Woi war, hielten sie an. Der Mann hatte keine Beine. Darum waren seine Arme so lang, dass er sie in der Erde stecken musste. Ach, da waren die Beine! Sie waren unter ihm versteckt gewesen. Mit den Beinen zusammen war er so groß wie Medith.
Den Gärtner kannte Medith. "Lassen sie sich nur nicht stören von uns", sagte Medith. Der Gärtner wollte sich aber sowieso die Beine vertreten.
"Kennen Sie ein Märchen für den Jungen?", fragte Medith. "Ich weiß keines - weiß kein einziges, denke ich."
Natürlich kannte der Angesprochene ein Märchen. Wie es sich für einen Gärtner gehörte, kam eine Blume darin vor. Ja, die wollte Medith für seinen Jungen von ihm hören! Er setzte sich ins Gras und nahm Woi auf seinen Schoß.
"Hör gut zu, Junge", sagte er. "Der Mann erzählt dir jetzt eine Geschichte." Woi lehnte den Kopf an Mediths Brust und deckte sich mit dessen Armen zu. So ließ es sich gut aushalten.
"Also", sagte der Mann, "die Geschichte fängt so an, wie alle Geschichten anfangen: 'Es war einmal' - so fangen sie an und diese auch."
"Es war einmal ...", sagte Medith. "Gut."
"Ens war eilal ...", wiederholte Woi und nickte wie Medith mit dem Kopf.
"Ja", lachte der Gärtner, "ens war eilal ein Mädchen. Das war sehr arm, aber es war ein gutes Kind und ... "
"Ens war eilal", sagte Woi ernst.
"Es war einmal", berichtigte Medith ihn und sagte zu dem Gärtner: "Wissen sie, wenn er Fürst ist, muss er das richtig können."
"Da hat er ja noch ein bißchen Zeit zum Üben", sagte der Mann und setzte sein Märchen fort: "Dem Mädchen starb eines Tages der Vater. An dessen Bett saß das arme Mädchen. Da sagte ihm der Vater zu guter Letzt: 'Ich höre eine feine Stimme. Geh hinaus auf die Wiese. Die Stimme verlangt nach dir.' Als das Mädchen zu der Wiese kam, hörte es diese feine Stimme, die wie eine kleine Glocke war. Aber es war keine Glocke, sondern eine Blume, die das Mädchen anrief: 'Mädchen', rief sie. 'Hörst du mich, Mädchen?', rief die Blume mit ihrer Stimme. 'Komm her zu mir und hör dir an, was ich dir zu sagen habe.' Die Blume war die schönste, die das Mädchen jemals gesehen hatte -", da unterbrach sich der Gärtner und fragte Medith leise: "Soldat, schläft der Junge?"
"Woi!", rief Medith leise. "Er erzählt doch das Märchen. Willst du es nicht hören?"
Aber Woi schlief bereits so fest, dass er ihn auf den Armen nach Hause tragen konnte, ohne dass er wach wurde. Medith legte ihn in sein Bettchen und deckte ihn zu.
"Weißt du, wir Soldaten ...", sagte er leise zu ihm, "für uns sind solche Geschichten nichts. Wir werden nur müde davon!"
Chapter 13. Selma erzählt '1001 Nacht'
Dass der Vater nicht mehr kam, wollte die kleine Li nicht bemerken. In ihrem kleinen Kopf verschwammen die Dinge und die Menschen. Wie hätte es da ein Verlieren geben können? Zu selten war der Vater bei ihr gewesen und hatte immer nur am Schlafbett gesessen.
Sie lernte das Laufen spät. 'Wie soll sie es früher lernen, wo doch ihrer Amme die Füße so schwer sind, das sie es ihr nicht zeigen kann!', sagte sich Selma.
Als Li endlich sicher auf ihren Beinchen stand, da hatte sie lange angefangen zu sprechen. Jetzt fand sie es lustig, eine 'Schegichte' zu erzählen. Das sei das Wort für eine Geschichte von Li, erklärte sie.
"Oh, Prinzessin", sagte Selma, "was sind das für Worte? So wird dich keiner verstehen!"
"Aber du verstehst das Wort doch, Oma Selma!", kam die Antwort. "Dann bist du eine, und ich bin eine. Zwei sind wir, die es verstehen. So ist das."
Am Abend durfte Selma nicht nach Hause gehen, bevor sie nicht selbst eine Geschichte erzählt hatte. Nie durfte es diesselbe sein. Da war Li sehr streng. "Wenn du willst, dass ich richtig laufen lerne, dann will ich immer eine neue Geschichte hören, jeden Tag. Dann verspreche ich dir das Laufen."
Wollte Selma einmal wissen, was die kleine Li behalten hatte, dann ließ sie sich ihre Geschichte zurückerzählen. Sagte, dass sie die neue Geschichte nur gegen die alte herausgeben dürfe, das habe sie versprechen müssen.
Dann erzählte Li die Geschichte, die sie - halb im Schlafe, wie Selma gedacht hatte - gehört hatte. Beim Zuhören war es Selma, als sei von ihrer Geschichte kein einziges Wort abhanden gekommen, so gut hatte das Kind sich das Erzählte merken können.
Nachdem Selma den Vorrat ihres verstorbenen Mannes an Geschichten, Fabeln, Märchen und was es sonst noch gab, erschöpft hatte, ging sie zu ihren Nachbarinnen, um neue zu holen, und so war Li im Laufe der Abende erdenklich jede Geschichte, die den Müttern und Großmüttern bekannt war, zugetragen worden.
Als Selma eines Abends endgültig keine mehr wusste, setzte sie sich an das Bett, streichelte dem Kind den Kopf, legte die Händchen unter die Decke und zog sie hoch, bis nur noch die leuchtenden Augen unter der hohen Stirn zu sehen waren.
"Heute, Prinzessin", sagte sie feierlich, "erzähle ich dir noch EINE Geschichte. Es ist die letzte, die ich oder irgend jemand, den ich kenne, weiß. Aber es ist eine ganz besondere. Ich könnte sagen, es ist eine Art Prinzessin der Geschichten. Sie ist die berühmteste und längste von ihnen allen. In ihr sind alle Geschichten zuhause - ja, glaub es, alle Geschichten, die du kennst, sind darin zuhause!"
"Diese Geschichte will ich hören", sagte Li leise, fern von Selma und nah, ganz nah, der Geschichte.
"Es war einmal eine kleine Prinzessin", begann Selma. "Sie war unserer Li sehr ähnlich, einen Mund, der niemals Ruhe gab, zwei Augen, die nicht einschlafen konnten, und Beine, die nicht laufen wollten.
Aber die Prinzessin war in einem fernen Land zuhause. 'Arabien' ist der Name des Landes, von dem sie eine Prinzessin war. Dort ist es heiß, weil immer die Sonne scheint, auch nachts, nicht so hell wie am Tag, aber sie scheint. Diese Prinzessin hatte natürlich eine Amme, die ihr jeden Abend, und Abend für Abend neue Geschichten erzählen musste.
Gleichen sich nicht in allen Ländern die Geschichten, ob dort nun in der Nacht die Sonne scheint wie in Arabien, oder die Nacht dunkel ist wie bei uns, und der Mond durch das Fenster hereinschaut? Macht es einen Unterschied, ob eine Geschichte heute erzählt wird oder vor langer, langer Zeit? Das ist wichtig, denn die Prinzessin, musst du wissen, lebte vor wirklich langer Zeit. Und so kam es, dass diese Prinzessin wohl alle Geschichten kannte, die auch du kennst ... vielleicht noch ein paar mehr. Warum ein paar mehr? Ja, liebe Prinzessin Li, ihre Amme war natürlich eine richtige Märchenamme, und ich bin nur die Oma Selma und erzähle, damit du mir bald einschläfst. Bist du nicht schon ein wenig müde? Nun, dann werde ich also weitererzählen.
Diese Prinzessin war wie alle Prinzessinnen schön, aber sie war auch klug, und da war sie zu ihrer langvorherigen Zeit und im ganzen und großen Arabien die einzige Prinzessin, die auch klug war. Unter all den Rittern Arabiens durfte sie sich den schönsten aussuchen. Und - weil sie heimlich darauf gesehen hatte - war er auch der klügsten von den Rittern.
So waren sie sehr glücklich. Eines Tages aber rief der Kaiser alle Ritter zum Kampf gegen einen mächtigen Feind. Er sammelte ein großes Heer zusammen und ritt in die Schlacht, mit ihm alle Ritter in seinem Gefolge.
Unsere Prinzessin aber blieb in ihrer Burg zurück, und zu Gast kamen ihr die immer gleichen und immer leeren Tage. An einem besonders langen Tag wurde ihre Burg von Räubern überfallen. Diese Räuber wussten, dass alle Ritter in eine Schlacht gezogen waren und hatten gedacht, dass die Burg eine leichte Beute sein würde.
Erst sammelten die Räuber alles Gold ein, die Edelsteine, die schönen Kleider, die Teppiche und Bücher. Dann wollten sie die Menschen umbringen, die in der Burg wohnten, auch die Prinzessin, aber vorher wollten sie noch etwas essen und trinken. Dazu sollte ihnen die Prinzessin eine Geschichte erzählen, denn auch die Räuber hatten gehört, dass sie nicht nur schön, sondern auch klug war.
So kam es, dass unsere Prinzessin ihre erste Geschichte erzählte. Sie handelte von einem König, der für seine Tochter einen Mann suchte. Und wie unsere Prinzessin die Geschichte erzählte - da hatte sie ein bißchen geschummelt - heiratete ein reicher und tapferer Räuber die Königstochter, und sie wurden sehr glücklich.
Also das gefiel den Räubern natürlich sehr! Es wäre viel zu schade gewesen, die Prinzessin umzubringen! Sie wollten noch mehr Geschichte hören, und schließlich alle, die sie kannte. Und so erzählte die Prinzessin Abend für Abend den Räubern eine Geschichte, die sie immer ein wenig so erzählte, dass sie den Räubern gut gefiel.
Niemand merkte, wie die Zeit verging. In Arabien gibt es keinen Frühling, weil die Sonne alles Grün verbrennt, und keinen Winter, weil es viel zu heiß ist, um zu schneien. Nicht einmal die Prinzessin merkte, wie die Zeit verging. Sie erzählte und erzählte, und es verging die Zeit.
Eines Tages - sie wusste wahrlich nun keine Geschichte mehr - sah sie in der Ferne eine Staubwolke. Sie hörte vertraute Rufe, das Klirren der Rüstungen. Die Ritter waren siegreich von der Schlacht zurückgekommen. Die Räuber aber waren von den Geschichten der Prinzessin fett geworden, denn sie hatten bloß zugehört, gegessen und getrunken, weiter nichts und dies ohne Ende. Keiner von ihnen passte mehr in seine Rüstung, ihre Schwerter lagen schwer in ihren Händen. So konnten sie schnell von den Rittern überwältigt werden.
Und die Prinzessin wurde weithin berühmt für ihren Mut und ihre Klugheit. Sie hatte wohl tausend Geschichten erzählt, um ihr Leben zu retten.
Schlaf nun, kleine Prinzessin, schlaf! Dann kommt sie in dieser Nacht zu dir, die Prinzessin aus Arabien, um eine von den tausend Geschichte zu erzählen. Sag ihr nicht, dass du sie alle kennst. Vielleicht ist eine dabei, die dir Oma Selma nicht erzählt hat."
Die Augen suchten noch ein wenig in Selmas Gesicht, ob nicht ein bisschen von der Geschichte übrig geblieben war. Dann schlossen sich die Lider langsam, und Li merkte nicht einmal, wie Selma ihr über das Haar strich.
Chapter 14. Woi reitet
"Weißt du alles?" fragte Woi.
"Nur das, was wichtig ist. Auch davon nicht alles", antwortete Medith und sah nicht von seiner Beschäftigung hoch.
"Was ist wichtig?"
"Dass der Mensch essen kann, ist wichtig. Dazu muss er sich auf die Jagd verstehen. Wenn er nichts fängt, muss sich im Wald etwas Essbares suchen ... und abends muss er ein Feuer machen und eine Schlafstatt herrichten, ja."
"Kannst du das alles? Es ist doch wichtig, sagst du!"
Medith überlegte. "Warte mal. Ja, ich glaube ...", sagte er langsam. Dann nickte er entschieden: "Ein Soldat muss das alles können. Kämpfen kann er ja, aber er muss sich auch ernähren können, wenn er im Wald ist oder wo ... Wenn ein Soldat völlig allein wäre, der käme zurecht, denke ich."
"Das musst du mir alles zeigen. Weil ich Soldat werden will."
"Ja, ja", grummte Medith. "Das mach ich, ganz bestimmt." Dann rieb er weiter seinen Stiefel glänzend.
"Heute noch!" sagte Woi.
Medith sah auf. Was wollte der Junge? Ach ja, er wollte Soldat werden. "Heute?" fragte Medith und kratzte sich am Kopf.
"Ja", sagte Woi ganz ernst. "Du hast gesagt, du kannst mir alles zeigen. Ich will nur sehen, ob das wahr ist."
"Also, du bist mir ein ganz Schlauer! Frag deinen Vater, was der dazu sagt!"
"Gut", sagte Woi. "Ich gehe meinen Vater fragen. Pack du schon mal die Sachen ein, die du zum Zeigen brauchst." Er funkelte so mit seinen schwarzen Augen, dass Medith sich nicht traute, den Stiefel wieder in die Hand zu nehmen.
Es dauerte nicht lang und Woi war wieder da.
"Nun, was hat dein Vater gesagt?" fragte Medith. Er hatte seinen Bogen geholt, den Köcher mit ein paar Pfeilen, den Kochtopf ... damit Woi sah, dass er von ihm aus, wenn es sein musste, heute noch Soldat werden konnte.
"Mein Vater hat gedacht, ich wäre schon Soldat. Aber ich habe gesagt: 'Nein, der Medith muss es mir noch zeigen.' Dann sei es aber Zeit, hat er gesagt, weil ich ja schon fast sechs Jahre alt bin."
"Gut, wenn dein Vater es will, werde ich aus dir einen richtigen Soldaten machen", sagte Medith. Er legte für Woi ein paar warme Sachen und eine Decke zurecht und packte für sich alles ein, was er für eine Nacht im Wald benötigte.
Als er gehen wollte, hielt ihn Woi fest. "Ich habe keinen Bogen und keinen - wie heißt der?"
"Ein Köcher ist das. Du kriegst einen. Haben wir einfach vergessen in den letzten vier Jahren."
Woi nickte. Endlich zeigte Medith die richtige Einstellung. Von ihm aus konnte es losgehen!
Das Pferd, das Woi bekam, war halb so groß war wie das von Medith. Es machte trippelige Schritte und war mindestens so aufgeregt wie Woi.
"Ich reite mit ohne Sattel", sagte Woi.
"Du reitest mit mit Sattel", entschied Medith.
Das kleine Pferd bekam einen weißen Sattel. Eigentlich war es ein Pferd für Damen. Das durfte Woi auf keinen Fall wissen, weil ihm das Pferd gleich merkwürdig vorgekommen war. Es hatte einen geflochtenen Zopf mit grünen und roten Holzperlen und auf den Sattel war eine Blume gemalt.
Am Tor tat es Woi dem Oberen Medith nach und grüßte die Soldaten mit einer Hand zur Schläfe. Die Soldaten grüßten auch ihn militärisch korrekt zurück.
"Ich werde heute Soldat!" rief Woi ihnen zu. Die Soldaten standen stramm. Als Woi ihnen zuwinkte, zogen die Soldaten ihre Schwerter und ließen sie im Sonnenlicht aufblitzen.
Die Reiter lenkten ihre Pferde in Richtung Wald. Noch war der Nachmittag hell. Ein paar Wolken mochten sich nicht für eine Richtung entscheiden. Es roch wie in dem Keller, in dem die vielen Fässern waren. Der Boden federte die Tritte der Hufe leiser, und das Licht hing in dünn geschnittenen Scheiben von den Baumkronen herab.
Das kleine Pferd von Woi hatte genug! Es war noch nie in einem Wald gewesen und sah sich schon die Nacht über an einen Baum gebunden. Weil es immer langsamer ging, zog Woi an seinem Zopf. Nun hatte es wirklich genug! Es versuchte, eine Kehrtwendung zu machen. Aber nun hatte Woi genug! Das Pferd musste feststellen, dass dieser Reiter ein zügelloser Bursche war. Gut, es würde ihm gehorchen, aber mehr als Gehorsam durfte er nicht verlangen! Freundschaft, ausgeschlossen! Vertrautheit, undenkbar! Konnte dieser Rohling denn nicht unterscheiden zwischen einem Ausführpferd und einem Ackergaul!?
"Wenn ich einen Hasen schieße, essen wir den dann heute abend?", fragte Woi. Medith grunzte auf seinem Pferd.
"Dann brauche ich jetzt eine Bogen für meinen Hasen!"
Medith knurrte etwas von einem, der nicht mal Soldat war und schon rumkommandierte. Woi knurrte etwas von einem, der wartete, bis die Hasen alle fort waren. Er war abgestiegen und hatte sein Pferd an einen Baum gebunden.
Medith suchte für Wois Bogen einen biegsamen Stock aus. Woi fand ihn zu klein. Medith meinte, er sei genau richtig. Mit aller Kraft bogen sie den Stock von seinen Enden her krumm. Dann spannte Medith die Sehne auf, mit einem Handschuh, weil sie sehr scharf war. Es war eine Sehne, wie sie Medith an seinem eigenen Bogen hatte.
Vorsichtig nahm Woi den Bogen auf. Medith hatte recht gehabt: Er war genau richtig in der Größe! Leider hatten die Hände viel Platz in dem Handschuh, den er von Medith bekommen hatte. Er steckte vier Pfeile in den Köcher und schlich zu der Lichtung, die er Medith gezeigt hatte.
Er hielt den Bogen quer vor seinen Körper gefasst. Der Boden war weich und für einen Jäger zum Anschleichen genau richtig. Hinter sich hörte er ein Knacksen. Es war Medith, der mitgekommen war.
"Schscht!", machte Woi und sah ihn streng an. Medith verdrehte die Augen. Es tat ihm wohl leid, dass er nicht auf den Zweig geachtet hatte. Er hätte ruhig schon mal Feuer machen können. Woi deutete auf eine Stelle, wo helles Gras zwischen den Bäumen stand.
Dort sahen sie einen Hasen mit glänzenden Augen und aufgestellten Drehohren sein Abendgras zupfen. Woi legte sich einen Pfeil auf die Hand und spannte langsam den Bogen. Er zielte und ließ los, als er keine Kraft mehr hatte. ZUNG machte die Sehne, und der Hase schoß davon, noch ehe der Pfeil seinen hohen Bogen vollendet hatte.
"DER war aber schnell!" stellte Woi fest.
"Ja, sehr schnell, dieser Hase", bestätigte Medith.
"KONNTE man den treffen?"
"Nein, der war zu schnell. Das war ein ganz besonders schneller Hase."
Woi sah ihn mißtrauisch an. "Es war sowieso daneben", sagte er, und sein Magen knurrte laut.
Sie gingen zurück zu den Pferden. Medith zog zwei Stücke Fleisch aus der Satteltasche.
"Du hast wohl gedacht, ich treffe nicht", sagte Woi.
"Nein, nein. Ich dachte nur ... an so einem Hasen ist nicht viel dran, wenn man ihm das Fell abgezogen hat."
Er machte ein schönes Feuer mit dem Holz, das Woi gesammelt hatte. Jeder hielt seinen Spieß in das Feuer. Das Fleisch schmeckte Woi sehr gut. Medith hatte es auf ein Messer gesteckt. Es war innen ganz blutig, aber das machte ihnen nichts. Woi hatte viel Hunger und leckte, als er fertig war, vorsichtig das Messer ab.
Anschließend legten sie sich in ihre Decken. Medith schlief sofort ein. Woi lag noch wach und hörte die Tiere im Wald. Es war erstaunlich, wieviele Tiere es gab. Er hörte Vögel mit dunklen Stimmen, die jetzt wach wurden und ihr Jagdrevier einteilten. Ganz nah hörte er das Knacken von Zweigen. Ein Reh war von den anderen geschickt worden, um sich die beiden Jäger ansehen.
Der Mond rollte sich langsam über die Krone eines dichten Baumes. Wie in einem Schattenspiel traten die Bäume einer nach dem anderen auf die Bühne.
Woi breitete die Arme aus und hielt die Augen weit geöffnet. Er stellte sich vor, dass er als ein Raubvogel über den Bäumen schwebte. Unter ihm kreisten die Kronen der Bäume. Laut blies der Wind in sein Gesicht. Langsam ließ er sich auf einen Baum herabfallen. Seine Krallen bekamen einen breiten Ast zu fassen, der ihn federnd aufnahm. Unter ihm leuchtete der Mond die Lichtung aus.
Im schwarzen Blattwerk würde der Nachtjäger nun auf den schnellen Hasen warten.
Chapter 15. Li wartet auf den Onkel
Von der Mutter erfuhr Li nicht, was mit ihrem Vater geschehen war. Erst hätte sie es nicht verstanden, weil sie zu klein war, dann hatte die Mutter es immer weiter vor sich hergeschoben und schließlich allen Mut verloren, dem Kind eine Erklärung zu geben.
Es gab Momente, da dachte die Frau an ihren Mann. Sie stellte sich vor, wie er auf dem Weg war und nach ihr rief. Wenn das Haus still war und ihr gegen die Einsicht scheinen wollte, als warte auch Li auf ihren Vater, dann nahm sie etwas, um ein Geräusch zu machen, und rief das Kind zu sich, dass es etwas tat.
Der Onkel hatte die kleine Li in sein Herz geschlossen. Er kam oft, fast jeden Tag. Selma verbrachte die Nacht nun öfter in ihrem Haus. Sie war eine alte Frau und sagte, dass es ihr nur recht wäre. Das Kind sei groß. Was brauche es eine Nachtamme?
Der Onkel hatte ein Pult im Haus und eine kleine Ecke mit einem Schrank. Von Anbeginn an hatte Li ihn 'Vater' genannt. Er hatte dem Wort seine Bedeutung gegeben. Besaß er nicht mehr Recht an diesem Wort, als einer, der nichts als ein Schatten war?
Oft ging Li ihm auf seinem Weg dorthin entgegen, wo eine kleine Brücke war. Unter ihr stand für sich allein eine schmale Bank. Von den vielen Menschen, die über die Brücke gingen, hatten wenige einen Blick herunter für den Fluss.
Er besaß einen ruhigen Lauf. Wenn man gerade dachte, er bewege sich nicht fort, zeigte sich ein feiner Strudel, wie ein Grübchen in seinem Gesicht, als lächele er und freue sich, die Menschen getäuscht zu haben.
Manchmal setzte sich ein Junge mit einer Angel auf die Bank. Es war ihm nicht recht, dass ein Mädchen dort saß. Li machte sich schmal und wartete, dass der Junge wieder ging. Er gab ihr einen bösen Blick, aber er fing nie etwas, wenn sie dabei war, und schließlich kam er nicht mehr an seine Stelle.
Von diesem Tag an war Li wieder allein. Der Fluss lächelte über den Jungen, der gedacht hatte, er bekomme auch nur einen Fisch von ihm, wenn er diesem Mädchen Angst machte.
Oft saß Li so still, als halte sie eine Angel in den Fluss. Dabei war es nur ein Blick, der nichts als ein paar Gedanken fangen würde, die still unter der spiegelnden Oberfläche lagen, um mit den wirbeligen Grübchen emporzusteigen.
Der Fluss sah das Mädchen gern bei sich sitzen und wartete geduldig mit ihr auf den Onkel. Wenn die Beamten mit ihren hohen Schuhen die Brücke betraten, dann erst sah Li auf.
"Kind", rief der Onkel sie von oben an. Er hätte sie erschrecken können, so versunken saß sie an ihrem Platz. Aber ihm war immer, als sei ihre Seele aus feinstem Glas. So wollte er nicht, dass sie von einem Kratzer Schaden nahm.
Schnell drehte sie sich um. Nie sprang sie auf und rannte, wie er es bei anderen Kindern gesehen hatte. Ihm war es recht so, weil er sich nicht trauen würde, sie zu umarmen. Alles, was er für Li empfand, die ganze Liebe und Fürsorge, legte er in seine Stimme und in seine Worte.
"Ich habe gewartet", rief sie, weil er sie bedrückt anschaute.
"Geträumt hast du! Nicht gewartet! Das sah ich wohl", rief er hinunter und stieg seinen Worten vorsichtig nach.
"Gut, ein wenig geträumt und wirklich nicht aufgepasst", gab sie zu.
Als er den Platz neben ihr eingenommen hatte, machte er sich schmal, ganz so, wie Li es bei dem fremden Jungen getan hatte. Dann erzählte er ihr von seinem Tag, und sie stellte Fragen dabei, die ihn oft vergessen ließen, was er hatte sagen wollte.
"Warum gibt es das Schreiben?", fragte sie.
"Wir halten das Wichtige fest, eben so, wie es gesagt wurde", erklärte er. Dann musste er davon sprechen, was die Gesetze sind, von Büchern und Urteilen, von seiner und der anderen Arbeit. Längst hörte sie nicht mehr zu, da sprach er fort und fort.
"Gibt es ein Wort für Libelle, das man schreibt?", fragte sie und zeigte auf eine, die das Ufer absuchte, immer wieder stockend, als habe sie sich den Weg schlecht gemerkt.
Als er das Zeichen vor sie in den Sand gemalt hatte, fragte sie, was an einer Libelle wichtig sei.
"Den Dichtern sind auch die schönen Dinge wichtig", erklärte er ihr. "Sie nehmen das Schöne fest in ihre Worte auf, geht nicht alles hinein, dann malen sie es, was ihnen ebensogut ist." Er war ein wenig stolz, wie er es gesagt hatte.
"Dann will ich Schreiben und Malen lernen", sagte sie leise, ebenso zum Fluss wie zu ihm, "damit ich die schönen Dinge für immer festhalten kann."
"Wie stellst du dir das vor?", fragte er und meinte, dass sie ein Mädchen war. Hatte man je gehört, dass die Mädchen solches lernten? Nicht einmal die Fürsten und hohen Diener hatten das Schreiben und Malen gelernt!
"Glaubst du nicht, dass ich es kann, Vater?", fragte sie ernst.
Jedes Mal ließ ihn ihre Anrede einen feinen, aber tiefen Stich spüren. "Doch, meine Li, du könntest es bestimmt", sagte er, weil sie ihn forschend ansah.
"Was ist es dann, wenn es nicht das Können ist?"
"Nichts", sagte er. "Ich war in anderen Gedanken."
"Ist der Fluss nicht schön genug, wenn ich ein Dichter werden will?", fragte sie nach und sah trotzig drein.
Er wollte gerade antworten, als ihn eine Stimme von oben anrief: "Eine hübsche Tochter hast du da, Schreiber!"
Es war der Einweiser von den Gärtnern, der auf dem Heimweg war. Ein lauter Mensch war er und tat, als sei er mit jedem seit langem Freund.
"Ich werde um ihre Hand anhalten, wenn sie groß ist!", rief der Einweiser so laut, dass die Menschen auf der Brücke stehen blieben und auch heruntersahen.
Lis Onkel machte eine freundliche Miene, um sich nichts mit dem Mann zu verderben.
"Sie ist eine Blume", rief der Vorwitzige über die Brüstung. "Sag ihr, dass ich der Einweiser der Gärtner bin. Was kann eine Blume sich einen besseren Mann wünschen!?"
Die Menschen um ihn herum lachten. Wie immer wollte er nur, dass sie über ihn lachten und ihn einen Spaßvogel nannte. Nun war es genug, und er machte sich wieder auf seinen Weg.
Dem Onkel tat es für Li leid. Er hätte sich gewünscht, dass er mutiger gewesen wäre. Aber so war es immer in seinem Leben gewesen: Er bekam eine schöne Stelle, weil sie von seinem Bruder übrig geblieben war, und eine Tochter, weil sich die Mutter nicht traute, ihr vom traurigen Schicksal des Vaters zu erzählen.
"Ich wünschte, ich könnte dir deinen Wunsch erfüllen", sagte er leise zu Li, um sie auf andere Gedanken zu bringen.
So saßen sie noch eine Weile nebeneinander, und was er gesagt hatte, verwandelte sich im Schweigen zu einem Versprechen.
Chapter 16. Woi als Richter
Mit Medith konnte Woi über alles reden. Nur die Frage nach seiner Mutter wollte er Woi nicht beantworten.
"Geh zu deinem Vater", beschied er ihn. "Er wird dir alles sagen, was du wissen musst."
"Aber, Medith, ich will es nicht von ihm wissen. Ich will es von dir wissen. Du würdest mich nicht anlügen, das weiß ich."
Medith schüttelte den Kopf und wandte das Gesicht ab. Dann ging er einfach weg, ohne etwas zu sagen. Das hatte er noch nie getan, seit Woi ihn kannte. Wahrscheinlich würde Medith irgendwohin reiten. Aber Woi war kein kleiner Junge mehr und würde ihm nicht nachlaufen.
Warum sollte Woi den Vater nicht einmal besuchen, um ihm bei dessen Geschäften zusehen? Oft hatte der Fürst ihn dazu eingeladen, aber Woi hatte immer etwas anderes vorgehabt.
In der letzten Zeit hatten sie mit den Zimmerleuten ein Blockhaus für die Jagd gebaut. Er hatte kräftig mitgeholfen. Die Schießscharte war seine Idee gewesen, und alle hatten ihn dafür gelobt.
Sein Vater würde im Großen Zimmer sein und sich anhören, was ihm die Leute vortrugen. Ohne Eile ging Woi den Gang zu dem Trakt entlang und stellte verwundert fest, dass er wohl zum ersten Mal in diesem Teil der Gebäudes war.
Alle, die auf eine Audienz beim Fürsten warteten, blickten ihm neugierig nach. Einige flüsterten in seinem Rükken. Er blickte sich um, aber keiner wollte sich verraten. Nur ein alter Mann sah ihn an, während die anderen wegschauten. Woi ging auf den alten Mann zu und sah ihm direkt in die Augen. So groß war er immerhin schon, und so klein war der alte Mann.
"Was gibt es an mir zu sehen?" fragte ihn Woi zornig. Der alte Mann schien auf ein weiteres Wort zu warten, aber Woi sagte nichts, sondern sah ihm nur fest in die Augen.
"Ich schaue mir den Sohn des Fürsten an", sagte der alte Mann. "Ich versuche die Zukunft des Landes in seinen Augen zu lesen."
"Und was seht ihr?" fragte Woi und wich dem Blick des Alten nicht aus. In seinem Rücken hörte er wieder leises Lachen.
"Ich sehe, dass ihr eurem Vater nicht ähnlich seid. Ihr sei ein zorniger Mensch und fürchtet den Kampf nicht. Ich glaube sogar, ihr sucht ihn. Hab ich recht?"
"Sagen wir mal so", sagte Woi und sah dorthin, wo er den Lacher vermutete. "Ich bin jetzt neun Jahre alt und ich mag es nicht, wenn einer über mich lacht."
"Ihr müsst euch die Feinde woanders suchen, Fürstensohn", sagte der alte Mann und legte ihm die knochige Hand auf den Arm. "Nicht bei uns findet ihr sie. In eurem Leben aber wird kein Mangel daran sein, dessen seid gewiß." Alle hatten diese Worte gehört, und nun lachte keiner mehr.
Woi ließ den Mann stehen und betrat das Zimmer. Sein Vater saß in dem hohen Stuhl, und außer dem Schreiber war niemand bei ihm. 'Warum lässt er die Menschen nicht vor?', fragte sich Woi.
Nichts am Gesicht des Fürsten verriet, dass er Woi hatte kommen sehen. War er müde? Oder krank? War er in Gedanken? Ein ebensolch unlesbares Gesicht machte der Schreiber.
"Medith sagt", begann Woi, "ich soll bei euch nach meiner Mutter fragen?"
Keiner der beiden Männer hatte zugehört. Der Fürst seufzte tief, als hätte er eine sehr schlechte Nachricht bekommen und denke darüber nach. Der Schreiber schien der besorgte Überbringer gewesen zu sein.
Woi betrachtete den Stuhl neben seinen Vater. Seit er sechs Jahre alt war, stand dieser Stuhl dort. Bisher hatte noch nie jemand darin gesessen, weil der Fürstensohn nicht aufzutreiben war, oder eins der Pferde bald fohlen würde, oder die Soldaten versprochen hatten, mit ihm auf Nachtwache zu gehen.
"Kann ich dich sprechen?", fragte Woi laut und machte die Schritte, die nötig waren, um direkt vor dem Stuhl des Fürsten zu stehen. "Ich will etwas über meine Mutter fragen."
"Ich habe mir gedacht, dass es das ist", sagte der Fürst und sah seinen Schreiber an.
"Es ist schade, dass ich sie nicht gekannt habe", fuhr Woi fort. "Ich weiß nicht einmal, ob sie mir ähnlich war - nicht einmal das!"
"Ich spreche nicht gern von ihr", sagte der Fürst, "nicht wahr, dass kann man verstehen ..."
"Ja, das ist sehr verständlich", sagte der Schreiber. "Es ist schwer, über etwas Trauriges zu sprechen."
"Aber sie ist doch meine Mutter und eure Frau gewesen", sprach Woi den Fürsten an. "Ist es nicht schön, über sie zu sprechen? Denkt ihr nicht oft an sie?"
"Es macht mich traurig", sagte der Fürst.
"Ich kann das verstehen", sagte der Schreiber. Er legte eine Hand auf die Lehne des Fürstenstuhles und nahm sie wieder fort.
"Ich will nur das Schöne wissen", bot Woi an, "nur das, was euch nicht traurig macht."
"Es ist lange her", sagte der Fürst. "Da bleibt wenig im Gedächtnis."
"Aber das Schöne muss doch bleiben!", so Woi.
"Bei jedem Menschen anders ...", darauf der Fürst.
"Bei mir bleibt das Schöne", behauptete Woi. "Ich erinnere mich - glaube ich - sogar an meine Geburt."
"Er erinnert sich an seine Geburt", sagte der Fürst zum Schreiber und schüttelte verwundert den Kopf.
"Ungewöhnlich", sagte der Schreiber, "ungewöhnlich, wenn ich das sagen darf." Ausdrücklich nickte der Fürst, um es zu erlauben.
"Ich finde es ungewöhnlich, wenn einer sich an nichts mehr erinnert", warf Woi ein.
"Du bist noch ein Junge, gewachsen zwar, aber ein Junge eben", sagte der Fürst.
"Er ist verständig", sagte der Schreiber, "aber eben ein Junge. Ja, das ist er."
"Es muss doch etwas geben, an was ihr euch erinnert", sagte Woi, "Warum habt ihr sie zum Beispiel geheiratet?"
"Nicht alle Menschen heiraten", sagte der Schreiber.
"Nein, nicht alle ...", sagte der Fürst.
"Der alte Mann draußen sagt, er sehe die Zukunft des Landes in meinen Augen - er sagt, ich sei nicht wie mein Vater!"
"Hat er das gesagt?", fragte der Fürst.
"Darum muss ich wissen, wie meine Mutter war! Wenn ich nichts von euch habe, dann eben von ihr!"
"Du bist Woi, niemand sonst", sagte der Vater mit matter Stimme.
"Ist sie also richtig tot?"
"Natürlich, das ist sie!"
"Schaut sie uns vielleicht zu?"
"Nein, sie schaut nicht zu, nicht wirklich ...", sagte der Vater.
"Also wie dann?", fragte Woi und war sehr erstaunt.
"Wenn sie lebt, dann blickt sie dich in meinen Augen an."
Woi sah erstaunt in die wässrigen Augen seines Vaters. Lange forschend blickte er hinein und sagte schließlich: "Ich weiß schon, ihr wollt sagen, sie ist tot."
"Du stellst viele Fragen", sagte der Vater und hob die fürstliche Hand zur müden Schläfe.
"Der Junge ist sehr wissbegierig", sagte der Schreiber.
"Hmm, hmm", brummte der Vater.
"Wenn man ihn für seine Wissbegier etwas lernen ließe ...", sagte der Schreiber.
"Ja, hmm", sagte der Vater.
"Ich will nur eine Antwort darauf, wie meine Mutter war!", sagte Woi und hätte es am liebsten laut ausgerufen.
"Wenn man ihn das Schreiben lehren würde - wo er doch klug ist und viele Fragen stellt ...", so wieder der Schreiber.
"Er stellt kluge Fragen, ja, das tut er", sagte der Fürst. "Wir müssen darüber nachdenken, wie wir seine Wissbegier befriedigen können."
"Ich will nicht Schreiben lernen!", rief Woi. "Niemand lernt Schreiben. Warum soll ich der einzige sein, der Schreiben kann!"
Der Schreiber wollte einwenden, dass er selber des Schreibens kundig sei, dann aber bedachte er sich und führte langsam den Finger zur Lippe, dass es der Fürst sah.
"Schreiber, was habt ihr auf dem Herzen?", verlangte der Fürst zu wissen.
"Wenn er nicht alleine lernen will", sagte der Schreiber, als denke er im Sprechen nach. "... ich habe da ein kleines Mädchen zuhause. Li heißt sie und würde gerne, sehr gerne Schreiben lernen."
"Dann soll sie es an meiner Stelle lernen", gab sich Woi großzügig.
"Auch sie will nicht alleine lernen", sagte der Schreiber schläulich. "Bedenkt, sie ist nur ein Mädchen ..."
"Ich soll mit einem MÄDCHEN lernen!", entfuhr es Woi im Überdenken des Vorschlages. "Das würde Medith niemals erlauben!"
"Medith wäre stolz auf dich", gab sich der Fürst sicher. "Zu allen Dingen, die er dir beigebracht hat, würdest du auch noch Schreiben lernen."
"Er kann doch selbst nicht schreiben!", rief Woi und schüttelte über ihren Unverstand den Kopf.
"Eben deshalb wäre er stolz auf dich", sagte der Schreiber.
"Sie ist ein Mädchen?", fragte Woi, um sicher zu sein.
"Einen ganzen Kopf ist sie kleiner als ihr!", dazu der Schreiber.
"Was kann sie denn?", fragte Woi und sah verächtlich den Schreiber an.
Der Schreiber überlegte: "Reiten kann sie nicht, Bogen schießen nicht, im Wald würde sie sich fürchten, sogar das Laufen hat sie spät gelernt, wenn ich mich erinnere."
"Kann sie eine Schießscharte bauen?"
Der Schreiber schüttelte traurig den Kopf. Auch der Fürst sah voller Mitleid für das Mädchen drein.
Woi überlegte. "Wieviel vom Schreiben soll ich denn lernen?"
"Soviel in deinen Kopf hineingeht!", schlug der Vater vor.
"Nicht in meinen - soviel in den Kopf des Mädchens hineingeht!", hielt Woi dagegen.
"Das wäre ein Vorschlag", sagte der Schreiber.
"Er ist bloß faul", sagte der Fürst trocken.
"Ich verspreche, alles von der Schreiberei zu lernen, was in den Kopf von diesem Mädchen hineingeht - aber nicht mehr!", wiederholte Woi energisch.
"Es ist ein Versprechen", sagte der Fürst feierlich.
"Ja, ein Versprechen", sagte der Schreiber.
"Aber warum lächelt er so?", rief Woi und zeigte auf den Mund des Schreibers.
"Ich lächele nicht", sagte streng der Vater, "und ich bin der Fürst, nicht er!"
"Gut", sagte Woi, "also versprochen!"
Chapter 17. Li darf Schreiben lernen
"Li, kleine Li, süße, kleine Lieblingsli, wo hast du dich versteckt? Ich habe etwas für dich. Willst du es nicht? Dann nehme ich es wieder mit!"
Weil der Fürst ihm die Erlaubnis dafür gegeben hatte, war der Onkel früher gekommen. Eine gute Zeit früher, so früh, dass er sich sicher war, Li im Haus anzutreffen und nicht unter der Brücke, wo alle Menschen ihnen bei ihrer Freude zusehen konnten.
Er brauchte nicht lange zu warten, dann sah er Li mit verwuselten Haaren und verrutschten Sachen die Treppe hinuntersteigen, Stufe nach Stufe, eine nach der anderen. Angestrengt sah sie auf ihre Füße, als sei sie ihrer Tritte noch nicht sicher.
"Wo hast du dich versteckt?", rief er, weshalb sie ihn verwundert ansah und auf der untersten Stufe stehen blieb.
"Ich freue mich! Soll man nicht sehen, dass ich mich freue!?", rief er noch einmal, fast trotzig.
Li machte einen letzten, sorgfältigen Schritt und stand nun vor ihm, mehr neugierig als befremdet.
Der Onkel machte eine feierliche Verbeugung. "Welche Hand wählst du?"
Li überlegte. "Ist es die da?"
"Du sollst eine aussuchen, nicht raten."
"Dann nehme ich die andere!"
Er streckte ihr die Hand entgegen, in der er ein weißes, rundes Gefäß mit einem Korken in der Mitte hielt.
Li versuchte gleich, den Korken zu lösen.
"Nicht, Li, lass es zu, du machst dich schmutzig", sagte er und nahm es ihr wieder fort.
Li verzog enttäuscht die Lippen.
Wieder verbeugt sich der Onkel: "Welche Hand?"
"Aah ... diesmal die andere."
In dieser Hand hielt er ihr einen Pinsel entgegen.
"Vater, ist das für mich?", rief sie. "Tusche und einen Pinsel! Für mich? Dann ist es doch wahr, dass du mir das Schreiben beibringst ... warte, da steht etwas drauf!"
"Also, laß mal sehen", sagte der Onkel und nahm den Pinsel umständlich entgegen. "Da steht drauf: 'Für Li, welche klein ist'. Dann folgt das Zeichen für 'Bild', dem folgt das Zeichen für 'Wort', siehst du!?"
Li hielt den Pinsel ganz dicht vor ihre zusammengekniffenen Augen und nickte zögernd. "Das ist aber schwer", sagt sie schließlich.
"Ja, das ist es wohl", sagte der Onkel und streichelte ihr den Kopf, einmal und noch einmal. Heute erlaubte er sich, seine Li zu berühren. Sie war so in ihren Gedanken über der Schrift auf ihrem Pinsel, dass sie nicht einmal aufsah.
"Ich habe noch etwas für dich", sagte er leise.
"Noch etwas?", fragte Li ungläubig.
"Ja, denn die eigentliche Überraschung ist eine andere!"
Unsicher sah sie, ob es außer den zwei Händen noch eine dritte gab.
"Ich bin seit heute der Schreiblehrer von Woi, dem Sohn des Fürsten", verkündete er stolz.
"Ja, das ist schön", sagte Li traurig.
"Aber dieser Woi hat gesagt, er wolle nicht schreiben lernen. Es sei ihm zu langweilig und außerdem zu schwer. So etwa hat er es gesagt."
"Ich würde gerne", sagte Li, im Stillen wieder hoffend.
"Das habe ich mir gedacht und ihm erzählt, wie gerne du Malen und Schreiben lernen würdest. Woi hat überlegt. 'Gut', hat er gesagt, 'Li heißt sie und ist ein Mädchen? Sie soll kommen. Alles, was diese Li lernt, das will auch ich lernen, aber nicht mehr. Sie ist ja ein Mädchen, und alle Mädchen sind dumm.' Dann war es versprochen, und er ist fortgerannt."
"Vater", sagte Li ernst, "ich will so klug werden wie die Prinzessin von Arabien. Morgen fange ich damit an. Und der Woi ist ziemlich dumm, finde ich!"
Der Vater lachte und schüttelte den Kopf. "Vergiss nicht, der Woi wird mal ein mächtiger Fürst sein. Viele, viele Menschen gehorchen seinem Vater. Er herrscht über diese Stadt und das ganze Land, groß wie Arabien, bestimmt! Nur der Kaiser ist mächtiger als der Vater von Woi."
Li hatte ihm nicht mehr zugehört. "Also, Vater, malen kann ich ja schon - das hat mir die Selma gezeigt - aber wie lernt man denn Schreiben?"
"Da wird sich der Woi aber wundern, dass du malen kannst, denn danach ist das Schreiben nicht mehr schwer. Pass auf, du malst etwas, und ich zeige dir, wie man es schreibt."
"Vater, ich hole schnell eine Sache. Den Pinsel und die Tusche heb ich für den Unterricht mit Woi auf."
Ganz schnell lief Li die Treppe hinauf, ohne auf ihre Füße zu sehen, und wäre beinahe gestürzt. Wenig später trug sie von oben vorsichtig ein Tablett herunter und stellte es auf den Boden, streute aus einem Säckchen weißen Sand auf die dunkle Unterlage, strich ihn glatt und fragte: "Was willst du, das ich male?"
"Nun, wenn ich es aussuchen darf, dann male mir ein Haus."
Li setzte sich auf den Boden, nahm einen feinen Stab und zeichnete ganz langsam die Linien, wobei die Spitze ihrer kleinen Zunge jede Bewegung nachvollzog.
"Soll ich auch einen Garten malen. Ich kann auch Blumen und eine Sonne -"
Der Onkel nickte und sah ihr zu. Ihm gefiel, was sie malte. Da war er nun Schreiblehrer am Fürstenhof, und Li hatte sich das Malen selbst beibringen müssen. Aber es war nicht anders gewesen bei ihm. Als kleiner Junge hatte es ihm niemand gezeigt.
"Li, ich soll dir doch Schreiben beibringen?", unterbrach er ihr kleines Werk.
Zustimmend nickte Li und reichte ihm ihr kleines Holzstäbchen.
"Sieh mal, ich habe dir ein Wort gemalt, ein richtiges Wort. Was könnte es bedeuten?" Es war das Zeichen für Dach, ein umgekehrtes V.
Li betrachtete das Zeichen. "Es sieht aus, wie ein Vogel am Himmel."
"Tatsächlich, wo du jetzt stehst, heißt es 'Vogel'. Aber, wo ich stehe, bedeutet es etwas anderes."
Li stellte sich vor ihn hin und bewegte die Zungenspitze. "Es sieht aus wie ein Berg. Nein, ein Berg hat bestimmt ein viel größeres Zeichen. Es sieht aus wie das Dach von einem kleinen Haus."
"Ja, es heißt tatsächlich 'Haus'. Du siehst, das Schreiben ist gar nicht so schwer."
Li überlegte. "Hätte auch der Woi das Zeichen für 'Haus' lesen können?" Der Vater sagte nichts. "Und das Zeichen für 'Vogel'?" Die Antwort des Vaters war ein deutliches Schweigen.
Darauf nickte Li stolz und war sehr zufrieden mit sich.
Chapter 18. Woi auf dem Baumkarren
Woi schlich sich sehr leise an. Niemand, nicht einmal Medith hörte ihn auf dem Flur. Er stellte sich vor, dass seine Füsse Ballen wie eine Katze hatten. Die Pantoffeln, die ihm Medith geschenkt hatte, besaßen eine weiche Ledersohle besaßen. Aber Woi trug sie nur ganz selten, eben nur, wenn er sich anschleichen wollte.
Als er vor Mediths Zimmer war, hörte er eine leise Stimme. Erst dachte er, die Stimme komme von draußen, aber dann war er sich sicher, dass sie aus Mediths Zimmer kam. Also duckte er sich hinter die Truhe, ganz so wie Medith es ihm für die Deckung gezeigt hatte. Sie hatten es oft gespielt, doch nun war es fast im Ernst.
Es war jemand in Mediths Zimmer, aber es war nicht Medith. Die Stimme war leise, ja, sie flüsterte. Was gab es Geheimes zu flüstern für diese Stimme? Es gluckste aus ihr, als sei etwas Lustiges geschehen. Jetzt hörte er auch Mediths Stimme. Erst keuchte er eine Weile, dann folgte ein Hecheln, als gehe es mit seiner Luft zu Ende.
Schnell lief Woi um die Ecke und zog einen Diener, den er kannte, zur Tür von Mediths Zimmer. Auch der Diener horchte und war sehr erstaunt über die Stimmen. Doch dann kicherte er und gluckste.
"Oh, Sohn des Fürsten", sagte er leise zu Woi, "ich würde dir gerne helfen, aber ich glaube, wir können nichts für deinen Medith tun." Dann verschwand er kichernd und glucksend dorthin, wo Woi ihn hergeholt hatte.
Nun hielt Woi nichts mehr! Niemand sollte von ihm sagen könne, dass er Medith nicht geholfen hatte. Behutsam drückte er die Klinke herunter und betrat mit leisesten Ballenfüssen das Zimmer.
'Pnorisch' machte die Tür, als sie aufstand. Da sah Woi schon, dass Medith in höchster Gefahr war: Auf ihm saß eine Frau. Von ihr waren die verdächtigen Geräusche gekommen. Medith lag auf dem Bett und war ganz rot im Gesicht, weil die Frau mit den Händen seinen Hals gefasst hielt, so feste, dass Medith nur keuchen konnte. Es wunderte Woi sehr, dass eine Frau - nichts anderes als eine Magd war sie - solche eine Kraft hatte, dass sie Medith erwürgen konnte.
Aber Woi bedachte sich nicht lange. Schnell lief er zu der Frau hin und zog an ihrer Hand, damit sie Mediths Hals losließ. Sie kämpften, bis er schließlich von ihrem aufgelösten Haar das meiste zu fassen bekommen hatte.
"Ich kann jetzt nicht aufstehen", rief die Frau. "Es geht wirklich nicht. Lass das los!"
"Also was ist denn ...", brummte Medith.
Woi war sehr erstaunt, dass Medith ihm nicht half, gegen die Frau zu kämpfen. Er ließ das Haar los und sogar die Hand.
"Geh jetzt, Junge!", sagte Medith, und es klang sogar ein wenig ärgerlich. "Du hörst doch, es geht jetzt wirklich nicht. Warte draußen. Ich bin gleich bei dir."
"Ich bin doch eine Magd", sagte die Frau, als Woi große, fragende Augen machte. "Da habe ihm etwas Leckeres gekocht. Und er hat mich eingeladen, so war das."
"Aber er kann doch selber kochen", sagte Woi. "Das ist gelogen, was sie sagen. Er ist doch ein Soldat und kann alles selber machen."
Nun glucksten die beiden wieder, und Woi kam sich sehr dumm vor.
"Willst du denn auch Soldat werden?", fragte die Magd, weil sie mitleidig mit Woi war.
Er nickte und hätte am liebsten geweint.
"Dann ist es doch manchmal recht einsam als Soldat", sagte die Frau.
"Ich bin am liebsten allein", sagte Woi trotzig und schluckte etwas in seinem Hals herunter. Die Frau sah Medith an, und sie taten wieder so, als gäbe es Woi nicht.
Er verstand, dass Medith keine Hilfe von ihm brauchte und ging, so leise wie er gekommen, hinaus. 'Pnorisch' machte die Tür, als sie zuging. Der Diener fragte, ob Medith noch immer in dieser schrecklichen Situation sei, aber er beachtete ihn nicht.
Woi setzte sich dorthin in den Hof, wo zwei dicke Gäule vor einem schweren Fuhrwerk standen, von dem viele Baumstämmen heruntergerollt wurden. Erst schickten ihn die Diener fort, aber dann beachteten sie ihn nicht mehr, so sehr mussten sie auf ihre gefährliche Arbeit achten.
Auf dem Karren blieb nichts als eine Decke zurück. Die Männer waren alle damit beschäftigt, die Stämme über den Hof zu den Ställen zu rollen. Einer der Gäule sah Woi mit großen, sehr traurigen Augen an. In dem einen Auge saß eine dicke Träne, auf dem anderen eine Fliege.
Ohne dass ihm andere als Pferdeaugen dabei zusahen, kletterte er auf eines der Räder und dann hinauf, wo er unter die Decke kroch. Sie roch und stach in der Nase, aber Woi war ein Soldat, und es störte ihn nicht.
Im Dunkeln lief die Zeit anders ab. Er wusste nicht, ob sie schnell oder langsam lief. Dazu stellte er sich vor, dass er auf einer Nachtwache war und die Zeit vergessen hatte, wie Medith es ihm einmal erzählt hatte.
Gerade, als Woi nicht mehr an die Zeit dachte, hörte er Stimmen. Die Diener gingen zur Mahlzeit, und der Mann kam allein zurück. Gern hätte er am Hof etwas gegessen, aber sie hatten ihn nicht eingeladen. So schimpfte er leise auf den Geiz der Höfischen und schlug mit Wucht die Lade des Fuhrwerks hoch. Nicht einmal Wasser hatten die Diener den Pferden gegeben. So schimpfte er für sich und für seine Tiere.
'Haija' und 'Huija' rief er die Pferde und gab ihnen einen lauten Schlag mit dem Zügel. Der Wagen ruckte los, und Woi ließ sich hin- und herrollen, als wäre er ein Baumstamm. Die Wachen, an die er in seinem Übermut nicht gedacht hatte, sahen nicht nach, was im Wagen war, sondern riefen den Baumkarren brummig durch.
Woi versuchte, aufzupassen und sich blind zu merken, wo sie entlangfuhren. Aber er wurde darüber so müde, dass er fast einschlief. Mit einem Mal war esstill, und der Karren fuhr nicht mehr.
Als Woi die Decke zurückschlug, hörte er den Mann sagen: "Ja, wer bist denn du hier?"
Sie waren tief in den Wald gekommen. Es war so dunkel wie unter seiner Decke. Wie hatte der Mann ihn nur sehen können? Woi jedenfalls sah nichts und sagte auch nichts.
"Na, was für einer!", sagte der Mann, aber es klang eigentlich recht freundlich. "Nun muss ich dich wohl bringen, wo du herkommst ..."
Woi schüttelte den Kopf.
"Ja, du willst doch in den Wald nicht wollen etwa??"
Woi nickte dreimal zaghaft.
"Im Wald, so einer wie du, bei den Räubern?"
Woi nickte zweimal, aber er ließ den Mann sprechen.
"Und die Tiere, wo die Räuber sich sogar müssen fürchten - hast du an die gedacht?"
Woi nickte so wenig, dass der Mann denken konnte, es war gar kein Nicken gewesen.
"Ich habe nicht gedacht ...", sagte er leise. Und meinte, dass er nicht vorgestellt hatte, wie schwarz es im Wald war. Er hätte bestimmt keine Angst gehabt, wenn er wenigstens ein bisschen gesehen hätte, was um ihn herum war.
"Angst hast du keine, aber willst doch zurück", stellte der Mann fest.
"Sie wissen nicht, dass ich fort bin", sagt Woi und war froh, dass der Mann für ihn gesagt hatte, dass er zurück wollte.
"Dann steig mal auf", sagte der Mann. "Hier, sollst die Zügel halten. Das willst du doch oder?"
Woi zeigte ihm, dass er es konnte und rief ganz laut die Pferde 'Haija' und 'Huija' bei ihrem Namen. Auch die Pferde konnten im Wald besser sehen als er. Der Mann nannte ihn 'Söhnchen' und lachte dabei laut. Sie verstanden sich gut, und Woi durfte die ganze Zeit die Pferde lenken. Eigentlich hatte er nun keine Angst mehr vor dem Wald, aber es war zu spät, um den Mann zu fragen, ob er nicht doch bleiben durfte.
Als sie von Ferne die Wachen sahen, winkte ihnen Woi mit der freien Hand zu. Nun hielten sie den Wagen an und sahen sehr erstaunt drein.
"Den bringe ich euch zurück", sagte der Mann und fügte übermütig hinzu: "Nehmt ihr ihn, sonst nehm' ich ihn wieder mit."
"Gebt dem Mann etwas zu essen", sagte Woi, "und denkt daran, dass seine Pferde durstig sind."
Erst wollte der Mann über diesen vorlauten Jungen schmunzeln, als er aber sah, dass die Soldaten Woi gehorchten, da war er sehr erstaunt.
Woi gab ihm seine Zügel zurück. "Mein Vater ist der Fürst", erklärte er ihm, "aber eigentlich ist mein Vater der Obere Medith, und da will ich jetzt hingehen."
Der Mann sagte nichts und betrachtete ihn beinahe ängstlich. Es tat Woi leid, dass der Mann nicht mehr lustig zu ihm war, aber er wusste nicht, was er hätte sagen sollen. Als er ging, konnte er in seinem Rücken spüren, dass der Mann ihm nachsah, bis er um die Ecke gebogen war.
In der Tür stand schon Medith und hatte auf ihn gewartet. Die Magd war fort, und Medith sah aus, als hätte er sich große Sorgen gemacht.
Woi musste ihm alles erzählen. Immer wieder unterbrach ihn Medith und sagte: "- also, Junge, wirklich!"
Als Woi mit dem Erzählen fertig war, fragte er: "Soll ich dem Mädchen, das morgen wegen dem Lernen kommt, erzählen, wie es im Wald ist? Oder meinst du, sie fürchtet sich zu sehr?",
Medith meinte, wenn sogar er als Oberer sich in dem Abenteuer fürchten müsse, dann sei es für ein Mädchen noch mehr zum Fürchten, und Woi solle ihr lieber nichts davon erzählen.
Chapter 19. Lis erster Tag
"Li, kleine Prinzessin, was machst du für Sachen!" Selma schnappte sie die kleine Person und steckte sie einfach unter ihren Umhang. Li sollte sauber am Hof des Fürsten ankommen. Jetzt sah nur noch der kleine Kopf heraus und redete ohne Unterlass.
"Ich bin keine Prinzessin. Eine Prinzessin ist die Tochter von einem Fürsten. Ich bin die Li, die Li von meinem Vater. Und der ist kein Fürst, bloß der Lehrer von einem Sohn von einem Fürsten. Und wenn ich dir sage, dass ich für den Woi Malen und Lesen lerne, dann glaubst du es nicht. Und doch, es stimmt! Der Woi ist der Sohn von dem Fürsten. Und er hat keine Lust zu lernen. Außerdem ist ihm alles zu schwer, weil er ein bisschen dumm ist. Aber das sollst du nicht sagen, weil er sehr mächtig ist - natürlich nicht jetzt, erst wenn sein Vater tot ist. Nicht so feste, ich krieg ja gar keine Luft!"
"Du kriegst keine Luft, weil du soviel redest. Und weil du in meinem Umhang bist, siehst du nicht schmutzig aus wie ein Tannenzapfen. Was für Sachen, einfach auf die Straße zu laufen!"
"Ich will erzählen, aber du hörst einfach nicht zu. Und wenn ich gleich weine, dann tut es dir leid. Also, ich strampele, wenn du mir nicht zuhörst! Mein Vater hat gesagt, malen könne ich ja schon, aber lesen noch nicht so toll, und schreiben nur, weil ich gut malen könne. Das Zeichen für 'Vogel' ist so ..." Direkt in die Luft vor Selmas energische Schritte malte ihre kleine Hand das umgekehrte 'V', erst schnell, dann für Selma noch einmal langsam.
"Guck hin, Selma, ich mache das nicht noch einmal! Und wenn du dich auf den Kopf stellst und es liest, dann ist es ein Haus. Ziemlich schwer, nicht wahr!?"
Selma nickte. Die zappelige Prinzessin wurde ihr langsam schwer. Von weitem sahen sie den Hof des Fürsten. Hier war Selma einmal vor langer Zeit gewesen und hatte für ihre Familie die Erlaubnis erhalten, sich anzusiedeln.
Li war enttäuscht. "Ich dachte, es ist ein Schloss, dessen Spitze in den Wolken verschwindet, dass ich, wenn ich ganz oben bin, auf die Wolken runter gucken kann. Kannst du mir sagen, Oma Selma, ob die Wolken von oben so weiß wie von unten sind."
So redete sie in einem fort, bis ihr Selma den Mund zuhielt, weil sie zu den Wachen gekommen waren, die Lis größer werdende Augen sahen und sich einen Spaß machen wollten. Es waren zwei mächtige Kerls mit riesigen nackten Bäuchen.
"Was habt ihr da unter dem Arm, gute Frau? Ist es etwas, das man essen kann?", fragte der eine.
Der andere klatschte sich mit der flachen Hand auf den Bauch und rief tönend: "Hunger, ich habe solchen Hunger. Nichts gegessen seit Tagen, oh, ich sterbe vor Hunger. Gebt mir etwas zu essen, gute Frau!"
"Selma, nun sag ihnen doch, dass ich nicht zu essen bin", flüsterte Li.
"Ohhoh, Kollege, es ist etwas zu essen und sprechen kann es auch. Wie ich mich freue, diese Braten mag ich am liebsten, wenn sie sprechen können!"
"Die Li bin ich und muss zu dem Woi, dem Sohn des Fürsten, damit er etwas lernt. Ihr dürft mich nicht essen, dann bleibt er für immer dumm. Selma, stell mich jetzt bitte hin! Ich mache mich nicht schmutzig."
"Wie bin ich traurig, Kollege. Unseren sprechenden Braten dürfen wir nicht essen. Das ist jammerschade! Müssen wir weiter hungrig sein. Oh dieser Hunger, solch ein Hunger!" Sie ließen die Schultern hängen und sahen mit traurigen Augen auf ihre Bäuche herunter.
Ein Mann auf hohen Schuhen, wie ihr Vater sie bei dem Heimweg trug, war herbeigeeilt. Er hieß Selma bei dem Tor warten und befahl Li, ihm zu folgen.
Li ging an seiner Seite durch einen großen Garten. Manche der Hecken waren zu Tiergestalten geschnitten. Da standen Bär, Schaf, Reh und Fuchs friedlich nebeneinander und betrachteten interesselos das rege Treiben, das um sie herum vor sich ging.
Zahllose Menschen waren beschäftigt, den Garten herzurichten. Die Rinde der Bäume wurde gebürstet und abgesprüht. Das Blattwerk der kleinen, wie zu Zwergengestalten gewachsenen Bäumchen wurde mit Tüchern in Form geschlagen. Mit Netzen fischten Männer geduldig jede Unreinheit vom Teich, an dessen Rand sich die größeren Bäume versammelt waren, um ihr Spiegelbild zu betrachten.
Die Wege wurden gekehrt, jede feinste Unreinheit entfernt, mit der Nase geprüft und in verschiedenen Körben eingesammelt. Auf dem seidig glänzenden Rasen wurden frische Blumen zu farbigen Mustern verstreut. Ein kleiner Vogel, der hier einen Platz für sich sah, wurde mit strengem Händeklätschen verjagt. Prüfend richtete ein Mann den Blick zum Himmel, als müsse er dort einige Wolken aufschütteln und umschichten.
Li musste sich beeilen, um den Anschluss an ihren Führer nicht zu verlieren. Es ging durch viele Räume. Die Menschen, denen sie begegneten, wuschen, kochten, zählten und putzten. Sie schimpften laut, kamen unter Tischen hervorgekrochen, verschwanden über Leitern in Bodenlöchern, ja, manche hingen mit dem Bauch an der Decke.
Dann weiter kamen schöne, große Zimmer, in denen die Wände mit allen Landschaften bemalt waren. Li kam es vor, als laufe sie eilig um die ganze Welt. Wie gerne wäre sie geblieben, aber ohne Aufenthalt flog sie an Tälern, Bergen und Seen vorbei. Weißlicher Nebel wich der Sonne. Der helle Tag verblutete eilig in die Mondnacht hinein.
Ihr drehte sich der Kopf, als sie merkte, dass sie in einem Zimmer stand. Aus Türen von drei Seiten kamen Frauen herbeigerannt. Sie rannten im Kreis um Li herum, warfen die Hände über den Kopf, verrenkten die nackten Hälse und machten einen großen Lärm. 'Wie ein Topf voll Spatzen', würde Selma sagen.
Lis Führer machte eine Handbewegung, worauf die Frauen sich auf Li stürzten, ihre Kleidern herunterzerrten, in ihren Haaren wühlten, in ihre Backen kniffen und versuchten, ihr die Finger zu brechen.
Wieder machte der Mann ein Zeichen. Sie wurde mit Wasser bespritzt, erstickte fast in Seife und wurde mit ihrem letzten bißchen Leben in einen großen Wasserkübel hineingetaucht und wieder herausgezogen. Während ihr die Seife noch die Augen zerbiss, wurde ihr beim Abtrocken schon die Haut vom Körper gerieben.
Viele der Sachen, die ihr die Frauen überzogen, anhefteten, umbanden und auflegten, hatte Li noch nie gesehen. Der untere Teil des steifen Kleides schwang bei jedem Schritt weit aus. Der obere Teil machte jede mitschwingende Bewegung des Körpers unmöglich. In ihrem Haar steckte eine Blume aus blauer Seide. Ihre Hände verbanden die Frauen mit einem feinen weißen Band.
Auf ein weiteres Zeichen des Mannes hoben zwei Frauen Li an und trugen sie zu einer Tür, die sich langsam von selbst öffnete. In dem Raum dahinter wurde sie abgestellt und wagte nicht, sich zu bewegen. Das Zimmer selbst war durch einen Wandschirm geteilt, auf dem ein Schwarm Wildgänse in strenger Ordnung der Sonne nachflog. Li war sich nicht sicher, ob sie hinter dem Schirm kurz einen Schopf gesehen zu haben.
Als es lange still gewesen war, sagt eine Jungenstimme: "Ich bin Woi, ich wohne hier."
Li war zu aufgeregt, um etwas zu sagen. Sie konnte sich vorstellen, dass Woi Mädchen mit einer sehr piepsigen Stimme nicht mochte.
Nach einer weiteren langen Pause fragt die Jungenstimme: "Und wer bist du?"
"Ich bin die Li. Ich wohne in der Stadt."
"Wenn ich träume, bin ich nicht Woi", sagte die Jungenstimme.
"Wenn Li träumt, ist sie eine Prinzessin von Arabien."
"Wenn Woi träumt, ist er ein Jäger."
"Wenn Li träumt, ist sie eine Nachtigall."
"Wenn Woi träumt, ist er ein Bär, der Fische fängt, mit dem Bauch im Wasser."
"Wenn Li träumt, ist sie eine Blume im Wind."
"... da weiß ich nichts mehr, aber wenn du willst, kannst du morgen wiederkommen. Heute haben wir keinen Unterricht, weil ich dich erst kennenlernen musste."
Chapter 20. Woi trinkt Tinte
Von nun an kam Li jeden Tag an den Hof. Ihr Empfang gestaltete sich von Mal zu Mal weniger aufwendig. Nach einigen Malen durfte sie ihre Kleider anbehalten, kam ohne Verkleidung durch die vielen Schranken, als sei sie etwas, dass dem Hofe zugehörig war, von Nutzen eher als zu seinem Schmucke bestimmt.
Was Li lernte, musste auch Woi lernen. Er hatte sein Wort gegeben und hielt es, so gut es ging. Aber er lernte aus Pflicht und ungern, während Li an den Lippen des Lehrer hing und an seinen Aufgaben mit Freude arbeitete. Bevor dieser ihr nicht deutlich seine Anerkennung bekundet hatte, war auch sie mit sich nicht zufrieden.
Woi beäugte die beiden misstrauisch, als würden sie in fremdem, ja feindlichen Auftrag handeln, und seien nichts als Teil einer Verschwörung gegen ihn. Wie gern hätte er Li für harmlos gehalten, wie gern hätte er sie gemocht, aber es war unübersehbar, dass sie sich jeden Tag erneut und ohne Bedenken der Gegenseite zum Dienst anbot!
Wer gedacht hatte, Woi würde sich von Lis Begeisterung anstecken lassen, sah sich schnell und dauerhaft getäuscht. In Wois breiten Händen mit den kurzen Fingern blieb der dünne, überlange Holzpinsel ein Eindringling.
Keinen Körperteil konnte Woi still halten. Ehe er zu schreiben begann, stellte er die Füsse quer, verbog den Oberkörper wie zum Misswuchs, hielt mit der freien Hand die Tischkante umklammert und vollführte mit Zunge und Augen gegenläufig Verdrehungen. Er hatte noch keine Linie gezogen, da war schon ein dicker Tropfen Schweiß auf dem Papier gelandet, lange vor dem ersten Klecks der Tusche.
Li hatte Mitleid mit ihm und wollte ihm zeigen, wie schwer auch ihr das Schreiben fiel. Aber er hatte nur Augen für seinen Pinsel, dem mitten im Zug des Wortes die Tusche ausging. Als er den Pinsel wieder eingetaucht hatte, fing er mitten im geschriebenen Wort von vorne an und machte eine furchtbare Schmiererei, ohne es zu merken. Mit ungetrübtem Stolz las er anschließend erst sich, dann der Li vor, was er zu Schrift hatte werden lassen.
Wenn er zufrieden war, übte Woi das Klecksen. Dafür tauchte er den Pinsel ein und sagte: 'ting', wenn es kleckste. Immer war es anders, dicke Tropfen folgten auf schnelle, dünne auf mutlose, tong---tong--tong oder ting-ting-ting--tong. An diesem Spiel hätte er Gefallen finden können, wenn nicht die Drohung tausender von Zeichen hinter diesem Gerät gestanden hätte.
An jedem Morgen, bevor der Lehrer kam, brachte Woi einen Streich für Li mit. Manchmal erzählte er ihr von seiner Räuberbande im Wald, der es nicht gefalle, dass er Lesen und Schreiben lerne. Wenn er nur vom Lernen lassen könne und ihnen verspreche, alles zu vergessen, was er gelernt habe, wollten ihn die Räuber zu ihrem Hauptmann bestimmen.
Li sagte nichts, aber dachte bei sich, dass es wohl sehr empfindliche Räuber waren, wenn sie sich an so wenig Gelerntem bereits störten.
Meistens verstand Li schnell, wenn Woi einen Spass mit ihr machte. So glaubte sie nicht, dass das Papier ausgegangen war, weil es eine sehr schlechte Ernte in diesem Jahr gewesen war. Wenn er ihr erzählte, dass er später als Fürst eine ganz andere Schrift erfinden werde und dass ihrer beiden Lernmühen umsonst waren, dann glaubte sie ihm ebensowenig.
An einem anderen Morgen erzählte er ihr, dass bei seinen Räubern das Schreiben nun strittig sei. Er habe es ihnen zu ihrem Gefallen auf einem rohen Baumstamm vorgeführt, und sie hätten angefragt, ob sie nicht zusammen mit ihm im Wald ihre Lektionen nehmen könnten. Unstrittig sei bei ihnen aber - trotz Wois Gegenrede -, dass ein Mädchen nicht in den Wald gehöre. Nicht davon abbringen habe er sie können. Li müsse die Räuber in ihrer Eigenart verstehen, und da er sozusagen ihr Anführer sei - und hatte ein für die Sache von Li betrübtes Gesicht gemacht. Mit jedem seiner Späße hatte er Li mehr zum Lachen gebracht.
Einmal war er schon vor ihr im Lernzimmer gewesen, saß auf weißen Blättern mit überkreuzten Beinen, vor ihm ein riesiger Klecks, und sah Li an, als sei es endgültig aus mit allem und mit ihm. Er trug ein weißes Kleid, wie sonst nicht, und aus seinem Gesicht war jede Farbe gewichen. Bläulich-schwarz waren seine Lippen anzusehen, und die Augen blickten starr und fern.
"Ich werde nun den Rest der Tusche trinken", sagte er und hob das kleine Fässchen hoch. "Es ist die Art zu sterben, eines Gelernten würdig."
Dies Wort hatte er von gestrigen Lesen behalten, und als Li ihm sagen wollte, dass der 'Gelernte' ein 'Gelehrter' sei, führte er die Tusche zum Mund, und sie schrie vor Entsetzen auf. Bevor sie aufspringen konnte, hatte Woi die ganze Tusche mit einem Zug ausgetrunken. Dann schloss er die Augen und erwartete den Tod. So saß er da, preisgegeben der einsetzenden Starre.
Li rannte los und draußen direkt ihrem Onkel in die Arme. "Vater, Vater", rief sie, "der Woi hat die Tinte getrunken und stirbt!"
Immer noch saß Woi mit überkreuzten Beinen und bleichem Gesicht auf dem Papier und wartete. Streng sah ihn der Lehrer an, öffnete ein Augenlid und betrachtete die Pupille, bis sie zu zucken begann. Dann nahm er ihm das Tintenfass aus der Hand und streifte mit dem Finger einen Tropfen auf, um zu Lis Entsetzen zu kosten.
"Ich habe es gedacht", sagte er zu Li. "Der Woi hat dich nur erschrecken wollen. Nichts anderes als der Saft von schwarzen Beeren ist diese Tusche, die er getrunken hat. Eine Gemeinheit ist das!"
Woi murmelte: "Das ist nur, weil sie auch gemein ist. Es ist gemein von ihr, dass ich soviel lernen muss! Eine Streberin ist sie!"
An diesem Morgen lernte Li besonders viel, und der Lehrer hielt sich an ihr, nicht wie sonst an Wois Tempo. Aber schon am nächsten Morgen ging es wieder langsam und gegen Wois Widerstand voran.
Während Woi arbeitete, machte Li für sich eigene Übungen. Bald stellte sie fest, dass die Worte auf verschiedene Weise zu zeichnen waren. Ein Vogel konnte leicht sein, fast durchsichtig, oder ihm waren seine Flügel schwer. Ein Haus war ein Zelt, einladend und nirgendwo zuhause, oder wie eine kleine Burg, die sich fest in den Boden unter ihr gekrallt hatte. Die Blume durfte traurig wie ein Mensch sein, die Blätter eitel spreizen wie ein Schmetterling, oder sich gedankenlos dem Treiben des Windes hingeben.
Sie erfand Zeichen für Worte, die sie nicht kannte, malte mit geschlossenen Augen ausgedachte Zeichen und suchte für sie Worte aus. Währenddessen ließ Woi es weiter klecksen oder balancierte einen Tropfen Tusche auf der Spitze seines Pinsels, der sich zwischen Halten und Fallen nicht entscheiden durfte.
"Habe ich für heute genug gelernt?", fragte Woi und besah sich zufrieden die vielen Blätter an, die unverkennbar seine Handschrift trugen.
"Ja, ich denke, wir werden morgen weiter machen", entschied Lis Vater.
"Mal sehen, ob das geht", sagte Woi dunkel. "... es ist nämlich - ich werde meinem Vater sagen, dass ich auch Nicht lesen und Nicht schreiben können will wie er."
"Nun, kleine Li, schau nicht so traurig", sagte der Onkel, als Woi sie verlassen hatte. "Morgen geht es weiter. Dem Woi ist es nicht erlaubt, so dumm zu sterben, wie er gerne möchte."
Woi ging jeden Morgen mit gesenktem Kopf und zielloser Wutlaune über den Platz zum Trakt des Lernens. Die Diener, die ihn sahen, wussten um sein Schicksal und fürchteten seinen Blick, der Farben und Frohsinn versengte. Wo sie vorher gescherzt hatten, flüsterten sie nun, wo sie zusammengestanden hatten, trat Woi nichts als ein leerer Platz in den Weg.
Wenn er den Lerntrakt betrat, nahm er die Tür, schwang sie ein-, zweimal und schleuderte sie mit aller Kraft in den Rahmen. Nun wusste jeder, welche Stunde es war. Die Mägde schauten auf und nahmen den Besen in die Hand, die Köchinnen begaben sich rasch an ihrer Vorbereitungen für das Mittagsmahl, und die Näherinnen setzten den Tee für die kleine Pause auf.
Li sagte immer: "Ich glaube, ich habe Woi gehört."
Und der Vater erwiderte immer: "Welch feine Ohren du hast, mein Kind!"
Heute lächelten sie sich nicht an, als Woi in den Raum trat. Erstaunt sah er erst den Lehrer, dann Li an, was für Gesichter sie machten. Schließlich blickte er an sich herunter und begann zu überlegen, ob er etwas anders gemacht hatte als sonst.
"Du hast Besuch", sagte der Lehrer.
"Schön", sagte Woi und senkte den Blick. Ihn interessierten die schönen Dinge nicht, die er anstelle des Lernens hätte machen können. Am besten war, einfach wegzuhören und sich nichts anmerken zu lassen.
"Das Lernen fällt für dich aus", sagte der Lehrer.
"Ach", sagte Woi und war so überrascht, dass er vergaß, sich zu freuen.
"Medith lässt bestellen, du sollst zu ihm auf den Hof kommen."
Noch ganz benommen von der Neuigkeit, wankte Woi aus dem Raum und drückte die Tür vorsichtig aus dem Rahmen. Auf dem Hof schaute Woi sich ungläubig um. Er hatte noch nicht wahrgenommen, dass der Tag eigentlich schön war. Alle Menschen sahen ihn fröhlich an. Sogar das Schwein, das zur Küche getrieben wurde, grunzte zufrieden.
Medith stand an einem Wagen neben einem Mann, der ein wenig größer, ein wenig breiter war als er und eine tiefe Stimme, die weit zu hören war.
"Das ist Treufuß", sagte Medith. "Er ist ein richtiger General. Das ist Woi, der Sohn des Fürsten Alta."
"Ist er mein Besuch?", fragte Woi.
Der fremde Mann lachte: "Was würdest du mit mir schon anfangen können!? Nein, dein Besuch ist im Wagen."
Woi sah hinein. Drinnen war es dunkel, und er sah eigentlich niemanden. Dann entdeckte er den Jungen. Er kauerte in einer Ecke und war in Wois Alter, aber viel ängstlicher.
Woi schaute wieder hervor und fragte: "Ist er der Besuch, wegen dem ich nicht lernen muss?" Er wollte es lieber sicher wissen.
"Ja, das ist dein Besuch", bestätigte Medith. Auch der Mann, der ein General war, nickte und zeigte auf den Wagen.
"Hat er einen Namen, auf den er hört?", fragte Woi und hielt eine Hand in den Wagen.
Der General und Medith zögerten. Sie sahen sich an, als gebe es etwas, dass Woi nicht wissen durfte.
"Ist nicht wichtig", sagte Woi schnell. "Was braucht er einen Namen? Er ist der einzige Besuch, den ich habe, da kann ich ihn gut unterscheiden!"
Im Inneren des Wagens berührte jemand seine Hand. Woi fasste zu, schnell und fest, wie Medith es ihm für das Fischen mit der Hand gezeigt hatte.
"Ich habe ihn", sagte Woi.
Der andere Junge versuchte zu kämpfen, aber er war nicht kräftig, und Woi brauchte nicht einmal seine ganze Kraft.
"Da ist er", sagte Woi, als er ihn herausgezogen hatte.
Der Junge blieb stumm und sagte nichts. Er sah Woi nicht an, sondern blickte zum Wagen zurück, als habe er dort etwas vergessen. Wie Woi gedacht hatte, war er nicht kräftig. Er war blass, und alles an ihm war schmal und in die Länge gezogen.
"Ich habe General Treufuß erzählt, dass du Schreiben und Lesen lernst. Es hat ihn sehr interessiert", sagte Medith und löste den Arm des Jungen aus Wois Griff.
'Das ist ein Trick', durchfuhr es Woi. 'Ich muss mir schnell etwas ausdenken.'
"Der Fürst ist sicherlich sehr stolz, dass sein Junge so etwas lernt", sagte der General.
"Wir haben einen Wald", sagte Woi. "Ich könnte ihm etwas zeigen."
"Hm, ja", sagte Treufuß, "warum nicht ..."
Der Junge sagte nichts, aber Woi war schon losgerannt, um zwei Pferde zu holen.
"Wollt ihr ohne uns reiten?", fragte Treufuß.
"Er kennt sich aus", sagte Medith und klopfte Woi auf die Schulter. "Es kann eigentlich nichts passieren. Wir sind oft im Wald."
Damit der Junge nicht etwas Falsches sagte, schob Woi ihn zu einem Pferd und half ihm aufsteigen. Wenn er es recht sah, war der Junge im Reiten nicht geübt, aber jedenfalls saß er auf, und es konnte losgehen.
Woi winkte Medith und seinem General zu, nahm die Zügel der beiden Pferde und führte sie langsam aus dem Hof heraus auf die Straße. Dort saß er auf und wählte einen einsamen Weg, der sie im Bogen um die Stadt in den Wald führte.
"Ein schöner Tag", sagte Woi, als er sich umblickte.
Der junge Mann sagte nichts, aber ihm schien der Ritt zu gefallen. Die Geräusche, welche die Stadt machte, rieselten aus den dicken Bäuchen der Wolken heraus. Die Sonne blieb ebenso unsichtbar, und doch lagen überall ihre Strahlen herum, als sei sie ihnen, auf einem Heuwagen sitzend, vorausgefahren und habe sie verstreut.
"Dort ist mein Wald", sagte Woi und zeigte auf die ersten Bäume. "Ich sage 'mein Wald', weil - du wirst schon sehen!"
"Woi ist ein schöner Name", sagte der Junge.
"Wie heißt denn du?", fragte Woi ohne großes Interesse. Der Junge zeigte einen leeren Blick, als habe er die Frage nicht verstanden. Vielleicht wollte er sich auch nur wieder interessant machen.
"Hast du denn keinen Namen?", fragte Woi noch einmal.
"Doch, ich habe einen Namen", sagte er, als Woi ihn böse für sein Schweigen ansah. "Aber Treufuß verrät ihn mir nicht. Er sagt, es ist besser, wenn ich ihn nicht weiß."
"Ich freue mich jedenfalls, dass du zu Besuch gekommen bist", sagte Woi und beschloss, sich den Tag nicht durch irgendwelche Rätsel verderben zu lassen.
Es machte Spaß, zu zweit in den Wald zu reiten. Irgendwie war es etwas Besonderes. Woi fand zwar, dass sein Besuch kein richtiger Junge war, aber jedenfalls war er auch kein Mädchen wie die Li.
"Ich habe nämlich eine Bande im Wald", sagte er. "Ich bin ihr Anführer - du wirst sehen."
Sie ritten durch die ersten hohen Bäume, die noch viel Licht durchließen. Dann wählte Woi den Weg, der sie in das Innere des Waldes führte, den 'Waldkeller', wie er ihn nannte. Hier mussten sie absteigen und die Pferde führen.
"Ich wäre froh, wenn ich einen General zum Vater hätte", sagte Woi. "Mein Vater ist leider nur ein Fürst."
"Er ist nicht mein Vater!"
"Aber was macht er dann?", fragte Woi erstaunt.
"Nun, er passt auf mich auf."
"Dann bist du aber sehr wichtig, wenn ein GENERAL auf dich aufpasst. Auf mich passt nur ein SOLDAT auf", sagte Woi.
"Ich weiß nicht einmal meinen Namen. Wie kann ich da wissen, ob ich wichtig bin?"
Woi schüttelte unwillig den Kopf und zeigte ihm, wie er den Zügel halten musste. Aber weil der Junge sehr ungeschickt war, nahm Woi den Zügel selbst in die Hand.
"Was sollen wir spielen?", fragte er, als sie anhielten, weil der Weg nicht mehr weiterging.
Der Junge schaute drein, als wisse er nicht, wovon Woi sprach. Er war entweder noch traurig oder hatte bereits Angst. Jedenfalls kauerte er auf seinem Pferd, wie er in seinem Wagen gesessen hatte.
"... ich verstehe nicht", kam es zögernd heraus.
"Wir denken uns Sachen aus, stellen uns was vor!"
"Ich kann nicht spielen", sagte der Junge. "Treufuß sagt, dass er mir nicht alles beibringen kann."
"Wenn wir uns nichts ausdenken, kommen meine Räuber nicht", erklärte Woi drohend.
"Aber warum denn nicht?", fragte der junge Mann. "Du kennst sich doch, sag ihnen einfach, dass ich das Spielen nicht gelernt habe."
"Nein, das werden sie nicht verstehen. Sie - also, es muss ihnen Spaß machen, sonst mögen sie nicht kommen."
"Dann will ich das Spielen lernen!", rief der Junge.
"Keiner kann das Spielen LERNEN. Genausowenig kann ich lernen, ihr Anführer zu sein. Ich bin es eben, und weil ich es bin, da nehmen sie mich - also jedenfalls, so ist es!"
"Ich habe es mir gedacht", sagte der junge Mann betrübt.
"Was hast du dir gedacht?"
"Treufuß weiß, dass ich diese Dinge nicht lernen kann. Und um mich nicht noch trauriger zu machen, erfindet er diese Verbote."
"Also, das ist alles Unfug!", rief Woi seinen Räubern im Wald zu. "Ich glaube, er hat nur Angst."
"Ich hätte gerne Angst", sagte der junge Mann, "aber ich bin immer nur traurig und etwas anders, von dem ich den Namen nicht weiß."
'Von diesem Besuch bekomme ich bestimmt Kopfschmerzen', dachte Woi, 'nicht anders als von dem Lernen.'
"Meinst du, deine Räuber haben schon einmal so jemanden wie mich gefangen?", fragte der junge Mann.
"Es sind Räuber", entgegnete Woi empört. "Sie nehmen den Leuten die Sachen fort, die sie haben, und töten sie möglichst schnell - da wird nicht lange geredet!"
"Dann wissen sie nicht einmal, WEN sie fangen? Und töten die Menschen, ohne sie zu kennen?"
"Immer noch besser, als sich vollreden zu lassen", knurrte Woi, "Räuber denken eben so!"
"Aber du bist doch ihr Anführer! Darüber musst du doch mit ihnen gesprochen haben!"
"Wir sprechen darüber, WIE wir die Leute töten: Ob wir sie mit dem Knüppel erschlagen oder an einem Baum aufhängen oder ihnen mit einem Dolch die Kehle durchschneiden. Manchmal lassen wir sie auch zum Ausprobieren in unsere Fallen stürzen - solche Sachen halt!"
"Ich glaube, dass Sterben ist nicht schlimm", sagte der junge Mann plötzlich. Als er noch eine Weile überlegt hatte, rief er: "Das können wir spielen: Sterben!"
"Wenn einer tot ist, ist er tot! Du willst einfach nicht verstehen, was Spielen ist", sagte Woi empört.
"Ich denke manchmal, das Sterben beginnt schon viel früher als der Tod. Sofort, wenn man geboren wird!" Mit seiner hohen Stimme füllte der junge Mann den ganzen 'Waldkeller' aus. Wenn er wenigstens leise gesprochen hätte!
"Jetzt hast du die Räuber endgültig mit deinem Unsinn vertrieben!", stellte Woi bitter fest. Er hielt sich den Kopf, weil er solche Schmerzen wie nach einem ganz schlimmen Lerntag darin hatte.
Die Räuber beobachteten versteckt den Heimritt ihres Anführers. Hier ein Schatten, der Zeichen machte, dort ein Flüstern, das sich hinter einem Gebüsch niedergeduckt hatte, über allem die argwöhnische Stille der Tiere - mehr war von ihrer Anwesenheit nicht zu bemerken. Aber Woi winkte ihnen nur müde mit der Hand zu, weil es heute mit dem Spielen nichts sein würde.
Erwartungsvoll kamen ihnen General Treufuß und Medith entgegengeritten. Sie waren in Sorge gewesen und hatten sich für ihren Leichtsinn Vorwürfe gemacht.
"Da seid ihr ja!", rief General Treufuß erleichtert.
"Wie war es denn, Woi? Hat es euch Spaß gemacht?", fragte Medith sogleich.
"Ich glaube, ich werde morgen wieder lernen gehen", sagte Woi knapp. "Ich habe die ganze Zeit an mein Versprechen denken müssen."
"Ja, so ein Besuch ...", sagte Medith, der wusste, dass sich hinter Wois unbewegtem Gesicht die schlechteste Laune verbarg.
"Mir hat es gefallen", sagte der junge Mann. "Ich finde Woi kann sehr gut erklären."
Und so war es noch ein schöner Tag geworden. Am Abend hatte Medith sich die Pfeife angezündet und Wois Erzählung zugehört. Immer wieder hatte er dabei den Kopf geschüttelt und ganz wie ein Räuber in seine Pfeife geknurrt. So zum Verwundern war Medith das Ganze vorgekommen, dass Woi ihm alles zum zweiten Mal erzählen musste, und genau in der Weise, wie der Junge seine Worte gebraucht hatte.
"Wenn du die Li bist, mein Kind, dann habe ich gefunden, wen ich suche."
"Ja, die bin ich", sagte Li artig. "Aber hat wirklich jemand gesagt, dass sie mich, die Li vom Lehrer, suchen sollen."
"Deinen Namen haben sie mir genannt und gesagt, dass du den Wolken nachschaust."
"Ich schreibe Gedichte", sagte Li. "Darum schaue ich den Wolken nach."
"Das wissen sie nicht, aber ich habe es mir gedacht. Die Wolken sind des Himmels Schrift - dem, der sie lesen kann."
Li war stehen geblieben und sah genauer hin, wer sie angesprochen hatte. Es war eine große Frau, sicherlich zweimal sechs Treppenstufen hoch. Sie roch, wie alte, trockene Bücher riechen, wenn man sie nach langer Zeit öffnet, und war sehr gekleidet.
"Du sollst mir den Turm zeigen. Dort werde ich mit meiner Krähe wohnen", sagte die große Frau.
Das Gesicht der Frau erinnerte Li an einen der Vögel auf der Fürstlichen Bildwand. Seinen Namen wusste sie nicht, aber er hatte einen langen gebogenen Schnabel, auf dem Kopf nur einige lustige Haarbüschel und unter dem Kinn einen tiefhängenden Hautsack, der - wenn es den Vogel wirklich gab - bestimmt nicht schön anzufassen war.
"Kannst du mich hinführen?", fragte die Frau.
"Der Turm ist nicht weit, nur sehen können wir ihn nicht", sagte Li. "Ich weiß nicht, ob er ihnen gefällt."
"Ein Turm ist ein Turm, wenn die Treppen rund sind, und der Himmel von oben seine Nase hineinsteckt", sagte die Frau.
Als die beiden nebeneinander über den Hof gingen, sahen die Mägde sich fragend an. Die Frau hatten sie schon einmal gesehen, da war sich jede sicher, in der Wirklichkeit oder - auch möglich - im Traum, aber das Mädchen - wer war dieses Mädchen an ihrer Seite?
"Ich heiße Bea", sagte die sonderbare Frau. "Ich kann in die Zukunft der Menschen sehen. Wenn du willst, kannst du mir ein wenig zur Hand gehen. Ich bin gekommen, dem Fürsten die Zukunft zu sehen."
"Kann jeder das Hellsehen lernen?", fragte Li.
"Als ich so klein war wie du, da konnte ich es viel besser als heute. Je älter ich geworden bin, desto weniger zeigt die Zukunft ihr Gesicht. Bald werde ich nur noch sehen, was jeder sieht."
Der Kopf der Frau war nicht rund wie eine Kugel, sondern beulig wie ein Kissen, das lange nicht aufgeschlagen worden war. Vom Gesicht der Frau hing die Haut herunter, als habe sie früher einen anderen, einen größeren Kopf besessen.
"Weißt du, Li, die Zukunft, wenn sie redet - und sie redet nicht immer - hat eine sehr leise Stimme. Da muss der Hellseher gut zuhören können. Das Beste ist, du schließst die Augen fest zu ... so etwa. Und warten musst du können, ebenso wie lauschen."
Krächzend hatte sie gesprochen. Mit geschlossenen Augen stand sie vor Li und den Mägden und sog die Luft schnaubend und stoßweise durch ihre Nase ein, als müsse sie die Zukunft erschnuppern. Hinter den faltigen Augenlidern rollten die Augenbälle, als sähen sie bereits die Bilder von der Zukunft.
"Geehräm", sagte Bera und sah Li wieder an.
"Was heißt das: 'Geehrem'? Ist das etwas über mich?" Li sah ganz aufgeregt zu der Frau hoch, als verberge sich in dem jetzt prallen Kinnsack weiteres über ihr Schicksal.
"Das bedeutet nichts. Die Zukunft sagt oft solche Worte. Viel Unsinn ist dabei. Manches verstehe ich nicht, weil sie so eine gewisse Art zu sprechen hat ..."
Li sah mit geweiteten Augen, dass der Kinnsack erschlaffte. Jetzt hielt das seltsame Vogelwesen den Schnabel wieder auf den Boden vor Li gerichtet. "Komm mit, Kind. Ich sage dir deine Zukunft. Das können wir nicht im Hof. Wir gehen zum Turm und sehen, ob wir die Zukunft dort treffen."
"Ich bin doch noch ein Mädchen", wandte Li ängstlich ein. "Da hat die Zukunft bestimmt noch keine Zeit für mich!"
"Weißt du, mein Kind, dass Bea nicht jedem die Zukunft sagt. Viele geben ihr ganzes Geld, sie zu hören. Es ist nicht wie Rechen und Zählen, das jeder lernen kann."
Was würde wohl ihr Vater, der Lehrer, sagen, wenn er hören könnte, wie verächtlich Bea von den Dinge der Klugheit sprach?
"Kannst du die Strahlen der Sonne ZÄHLEN", fuhr Bea fort, "die Arme des Windes, die Wellen des Meeres? Nein, dieses Wissen erreicht niemand durch Zählen und Nachrechnen. Siehst du das Gras dort? Regentropfen glänzen auf den Halmen. Wie willst du sie zählen, ehe sie den Würmern im Boden die Nase kühlen, eh?"
Li schwieg und überlegte, ob die Würmer Nasen haben wie die Menschen. Aber Bera dachte wohl, dass auch diese Wissen nicht wichtig war.
Derweil witterte Bea mit gebläht schnuppernden Nasenflügeln vor den Pferdeställen. Sie würde krank werden, die Kälte lag wie ein Schal um ihren Hals. Rauh und kratzig war ihr der Rachen, und sie bekam kaum Luft durch die Nase.
Schlecht würde sie heute schlafen, schlecht und schnarchend. Und die Diener würden sagen, dass die 'Krähe' - wie sie Bea nannten, wenn sie sich heimlich genug wähnten - die ganze Nacht von der Zukunft gekrächzt habe, so durchdringend erstickend und ohne Ende verendend, dass sich der Schlaf vor Angst davongeschlichen habe. In Gedanken verwünschte sie ihre Erkältung und dieses gemeine Pack, dass sich einen Spaß aus ihrem Elend machte.
Sie gingen den Turm in seinem Inneren hoch. Langsam kamen sie voran, weil Bea tief gebeugt gehen musste und immer wieder außer Atem kam. 'Es ist gut, dass der Turm nicht hoch ist', dachte Li.
"Gefällt ihnen der Turm, Frau Bea?", fragte sie, weil sie sich nicht vorstellen konnte, dass jemand darin wohnen wollte.
"Grad recht, grad recht", keuchte Bea. "Dort die Tür - mein Zimmer - eine hohe Stufe - Bea - nenn mich 'Bea' -Kind, eine Hand -"
Li öffnete die Tür und half ihr über die Stufe. Wenig Licht fiel in das Zimmer, und das war gut so. Wenn Li nach ihrer Nase ging, dann war es ein Zimmer mit alten Sachen und viel ungelüftetem Zeug darin.
"Li, ich glaube, ich kann die Zukunft heute nicht sehen. Es tut mir leid." Bea hatte das Turmfenster geöffnet und hielt mit geröteten Augen Ausschau nach ihrer Krähe. Sie musste sich bücken, sonst wäre sie mit dem Kopf gegen die Decke gestoßen.
Bea überlegte, sagte dabei: "Geehräm ..." und: "Kromhemm ..." Entschlusslos zitterte ein kleiner Tropfen Feuchte an ihrer Nasenspitze.
"Gut", sagte Bea, und der Nasentropfen fiel, "machen wir es so: Ich stelle dir ein Rätsel ..."
"Ein Rätsel will ich gerne von ihnen hören ... Bea", sagte Li. Sie sah zu der Frau hoch und ihrer erneut feucht gelaufenen Nasenspitze. So schrecklich erkältet war Bea, und traurig hing die Haut von ihrem Gesicht herab!
"Also, hör gut zu, mein Rätsel geht so:
Wer weint aus tausend Augen
greift mit hundert Fingern in dein Haar
und zeigt in zehn Jahren
nicht einmal dasselbe Gesicht?"
Bea nickte Li ermutigend zu und legte ihr die Hand auf den Kopf. Wie weich das Haar der Kinder war, wie ehrlich ihre Augen, wie rein ihr kleines Herz! 'Gleich fange ich an zu weinen', dachte sie. 'Es ist mir zum Heulen, immer wenn ich krank werde, ist mir erst zum Heulen.'
"Es ist ein schönes Rätsel, das schönste, das ich kenne!", rief Li aus. Das war es wirklich, und sie hatte die Antwort gleich gewusst!
"Der Himmel", rief sie, "es ist der Himmel! Er weint, wenn es regnet, zerzaust mir mit dem Wind die Haare und hat soviele Gesichter, wie es Tage gibt!"
Chapter 21. Katze und Bär auf der Lauer
Es war heiß draußen. Aller Schatten hatte sich hoch in die Baumkronen zurückgezogen.
Dort, wo der Mann stand, brannte die Sonne auf seinen Kopf, gradewegs auf die glänzende Stelle, an der ihm die Haare ausgefallen waren. Immer wieder fühlte er mit der Hand und rieb den Schweiß fort. Unruhig sah er sich um, als fühle er sich beobachtet. Aber jedes Mal, wenn er hochsah, stach die Sonne in seine Augen.
Schließlich sah er sich nach einem anderen Ort um. Erst blickte er zum Hof, in Richtung des Gartens, ging dann aber doch zu den Torbögen der Schlaftrakte. Dort in den Schatten konnte er sich stellen und selber hinaussehen.
Die Mauer, an die er sich lehnte, war kalt. Jemand, der ihn beobachtete, würde denken, er sei vor der Hitze geflohen und warte nun, dass auch der Schatten sich wieder hervorwage, nachdem die Sonne ihre ärgste Glut im Boden versenkt hatte.
Er ging den Gang entlang, weil er das Stehen nicht ertragen konnte. Die Hast seiner Schritte suchte er zu bezwingen. Fast war er gelaufen. Er musste ruhig bleiben. Schon war er am Ende des Ganges angelangt. Er blickte sich um. Niemand war ihm gefolgt.
Es war die Stunde jetzt, auf die er gewartet hatte. Beklommen trat er in die Öffnung der Tür. Hier würde er zufällig stehen. Dort würde sie als Dienerin vorbeigehen. Es war weit genug auseinander. Niemand konnte ihn sehen und sah zur gleichen Zeit sie. Verdeckt vom Halbdunkel der Wölbung stand er und wartete. Wahn, so wahn, das Pochen in seinem Kopf, weh, so weh, das Pochen in seinem Herzen!
Und da wägend war sie! Sie setzte die Füße übereinander, nicht voreinander. Da sie langsam ging, beschrieb jeder Schritt zögernd so einen kleinen Bogen. Unendliche Sehnsüchte drückte sie darin aus.
Im ertastenden Kreis ging sie um den großen Baum herum, den er in Gedanken zum Baum ihrer beider Glück gemacht hatte. Dort, nur dort begegneten sich kurz ihre Blicke, stolperte ihrer über den seinen, der sie bedrängte, jetzt, nur jetzt bückte sie sich, nahm ein rotes herzförmiges Blatt auf und legte es auf den weißen Sand unter ihrem Baum. Hielt einen kurzen Moment inne, wischte sodann mit einer traurigen, sehnsuchtsvollen Bewegung auf dem Sand das Geschriebene fort. Sie konnte sein Gedicht nicht lesen und doch verstand sie all seine Bedeutung! Hatte es fortgewischt, weil es niemandem als ihr und dem Unsichtbaren gehören sollte.
Es war mehr, als er erwarten durfte! Sie hatte ihm einen Wink des Verstehens gegeben. Sie hatte den fremden Zeichen die Bedeutung des Lebens gegeben. Und er würde erneut zu dem Baum gehen. Wieder und wieder Worte schreiben. Und wieder und wieder. Mit Zittern erfüllte ihn die Gewissheit, dass sie das Fortgewischte mit sich in den Abend trug.
"Was meinst du, Waschbär", fragte oben im Baum ein leise Stimme, "sollen wir jetzt runterkletter?"
"Ich bin kein Waschbär, ich bin ein ganz normaler Kletterbär!", brummte eine deutlich tiefere Stimme. "Wenn du eine Wildkatze bist, dann musst du dich im Wald auskennen."
"Ich bin eine halbe Menschenkatze, kaum jemals in einem Wald wie diesem gewesen", flüsterte es zurück.
"Schscht", flüsterte der Kletterbär, "da kommt er und wird wieder was schreiben. Wir können jetzt nicht runter."
"Ich kann ihn nicht erkennen?", flüstert die Wildkatze ganz leise und schnurrte. "Was tut er?"
"Er schreibt ihr ein Gedicht in den Sand. Ich habe ihn ausgespäht. Warte, nun kommt er näher. Jetzt kannst du ihn sehen!"
"Das ist ja ... mein Vater!". Die Wildkatze vergaß völlig, wer sie war.
"Tschsch, still! Willst du uns veraten?!" Der Kletterbär legte der Katze schnell seine Tatze auf die Schnauze. "Du hast versprochen, mir alles nachzutun", flüsterte er und setzte zornig nach: "Ich halte meine Versprechen ja auch!"
Der Mann unter dem Baum sah sich zögernd um. Hier war niemand. Nichts als Bäume, vielleicht ein paar Tiere, die sich im Schatten versteckt hielten. Er malte seine Zeichen. Wie sind doch die Menschen unglücklich, ihre Träume gefangen, ihre Sehnsucht heimlich wie ein Spion! Wie wäre es doch schön, wenn sie Vögel wären! Er sah sich um und ging seufzend davon.
"Brumm, brumm", sagte der ganz normale Kletterbär, "für eine Wildkatze kannst du aber schlecht klettern."
"Ich werde mit solchen ungezogenen Bären nicht mehr klettern. Es war das letzte Mal und nicht nett, meinen Vater auszuspionieren!"
"Tritt nicht da drauf - er hat doch etwas geschrieben!"
"Ich will es nicht lesen - das ist ungehörig!"
"Dann lese ich es eben", sagte der Kletterbär und brummte. "Lass mal sehen ... Vogel und Vogel, also zwei Vögel ... ein Mund und ein Haus, das ist eine Schenke ... dann das Zeichen für Wind und für Krankheit ... Ich würde es so lesen: Zwei Vögel landen auf dem Dach von einer Schenke, weil der Wind sie krank gemacht hat ... Was meinst du, Katze?"
"Es geht dich nichts an, und du hast es falsch rum gelesen. Es fängt immer oben an. Also, ich sage es: Das Haus ist zu klein geworden für dieses - für unser Märchen aus Schmerz ... der Wind trägt es zu fremden Menschen ... dort sieht man uns wie zwei Zugvögel am Himmel. Oh, Woi, das ist ein schönes Gedicht, finde ich!"
"Brrr, grrr, typisch Hauskatze!"
"Überhaupt - warum darf mein Vater kein Gedicht schreiben? Was denkst du dir dabei, ihn zu belauschen?"
"Ich glaube, sie ist seine Frau", sagte Woi geheimnisvoll.
"Aber meine Mutter ist doch seine Frau!", sagte Li mit leiser Stimme. "Er schreibt fremden Frauen keine Gedichte!"
"Ich weißt bestimmt, dass sie sich kennen?"
Li wusste vor Schrecken nichts zu sagen.
"Eben!", triumphierte Woi. "Wenn er ihr ein Gedicht schreibt, dann ist SIE seine Frau, und WENN sie seine Frau ist, dann ist sie DEINE Mutter! Da schaust du, nicht wahr!?"
"Aber ich habe doch eine Mutter!"
"Sie IST nicht deine Mutter!"
"Aber was ist sie dann?"
"Vielleicht ist sie eine AMME!"
"Aber ich habe doch eine Amme - die Selma!"
"Wenn sie nicht deine Mutter und nicht deine Amme ist, dann weiß ich auch nicht!", brummte Woi und war beleidigt, weil Li nichts von ihm annehmen wollte.
Die Frau hatte entschieden eine Ähnlichkeit mit Li, fand Woi. Wie sie über den Gang ging, da war es sehr deutlich. Ein momentwinziges Zögern vor jedem Auftreten, das hatte er auch bei Li bemerkt. Die Frau sah sich nach niemandem um und ging immer im gleichen Schritt. Auch Li ging wie ein Geist auf endlosen Wegen. Es war nicht zu entscheiden, ob sie sich beeilte oder trödelte. Das waren Mutter und Tochter, da war er sich sicher!
Sie ging zum Trakt des Fürsten. Was hatte sie dort zu suchen? Um ihr zu folgen, würde er so tun, als gehe er auf einen Besuch zu seinem Vater. Es war ein sonderbares Geheimnis, dem er auf die Spur gekommen war. Lis Mutter lebte unerkannt am Hof des Fürsten, das stand fest! Aber warum durfte davon niemand wissen? Wer war sie in Wirklichkeit? Was hatte sie bei seinem Vater zu suchen? Das alles war in höchstem Maße geheimnisvoll.
Sie hatte ihn entdeckt! Er hatte nicht bemerkt, dass sie sich umgedreht hatte, weil er in Gedanken über sie gewesen war, und sah erschreckt, dass sie ihm entgegenkam.
"Bist du nicht der Sohn des Fürsten?", fragte sie.
Auch aus der Nähe bemerkte Woi eine größte Ähnlichkeit. Es war einfach nur, dass sie eine Frau und Li ein Mädchen war - nichts sonst trennte sie im Äußeren.
"Ich bin ihnen gefolgt", sagte Woi mutig.
"Ja, ich habe es bemerkt."
"Ich war unvorsichtig, nicht wahr!?"
"Du warst sehr geschickt, aber eine Frau hat ein Gefühl dafür."
"Einfach so - ohne sich umzuschauen?"
Die Frau legte den Kopf schief, wie Li es tat, wenn sie ihn bei einem seiner Streich durchschaut hatte. Aber sie sagte nichts. Und da war sie Li erneut ähnlich.
"Ich habe sie am Baum beobachtet", sagte Woi stolz. "DAS haben sie nicht bemerkt!"
"Nein", sagte die Frau erschrocken und sah sich um. "Komm, schnell in mein Zimmer."
"Sie haben ein Zimmer hier?", fragte Woi, aber ehe er noch weiter denken konnte, hatte die Frau ihn hineingezogen. Dort stand er und hatte vergessen, dass er etwas denken wollte.
"Was hast du gesehen?", fragte die Frau eindringlich.
"Ich war auf dem Baum, hoch oben ..."
"Du hast mich gesehen und jemand anderen?", fragte die Frau vorsichtig.
"Den Lehrer, ja!"
Die Frau legte ihm erschrocken die Hand auf den Mund, zog sie ebenso schnell wieder fort.
"Ich kann auch lesen", sagte Woi stolz.
"Auf dem Baum hast du gelesen?"
"Unter dem Baum war es, im Sand, und sie wissen genau, was ich gelesen habe."
"Ich kann nicht lesen", sagte die Frau.
Sie hatte recht, es war gar nicht möglich, dass sie Lesen konnte! Wer hätte es ihr beibringen sollen? "Dann wissen sie nicht, was er ihnen geschrieben hat?", fragte Woi und sah sie mit großen Augen an.
"Ich weiß es, und ich weiß es nicht, beides in einem", antwortete die Frau gelassen, aber dunkel.
"Das geht nicht!", sagte Woi fest. "Sie können mir nichts vormachen, nur weil ich ein Junge bin."
"Du vergisst, ich bin eine Frau", sagte sie. "Da ist vieles möglich. Ich habe dich in meinem Rücken bemerkt, als du mir gefolgt bist. Das kann nur eine Frau."
"Ich kann ihnen sagen, was drin steht", bot Woi an.
Die Frau sagte nichts, aber sie schien es hören zu wollen.
"Also ..." begann Woi", "es steht ungefähr so drin, dass zwei Vögel auf einer Schenke landen, weil der Wind sie krank macht."
"Das steht wirklich in diesem Gedicht?", fragte die Frau. "Du hast es so gelesen, wie es geschrieben ist?"
"Also, ehrlich gesagt", gestand Woi ein, "die Li meint, dass etwas von Sehnsucht darin steht, die man von hinten sehen muss, aber ich kann nicht mehr sagen, wie sie es gelesen hat."
"Die Li ...?", fragte die Frau leise.
"Ihr seht euch ähnlich", sagte Woi.
"Findest du wirklich?"
"Ich bin euch gefolgt, da habe ich gesehen, dass ihr auf diesselbe Weise geht, irgendwie so geisthaft."
Die Frau lachte. "Es ist schön, wenn man sich ähnlich ist."
"Ich weiß nicht, ob es schön ist. Mit mir ist keiner ähnlich."
"Möchtest du denn mit jemand ähnlich sein?"
"Vielleicht mit Medith, aber das ist der einzige, sonst mit keinem."
"Nicht mit deinem Vater? Du bist doch der Sohn des Fürsten - da willst du deinem Vater nicht gleichen!?"
"Nein, will ich nicht. Ich bin froh, dass er verschieden von mir ist."
"Willst du etwas Gebackenes?"
"Süßigkeiten sind für Kinder", antwortete Woi.
"Auch Jungen - junge Männer essen sie."
"Ich weiß Dinge ... aber die sage ich nicht."
"Du bist verschwiegen, das ist gut."
"Ich sage nichts, wenn ich es aber genau weiß. Das ist der Preis dafür!"
"Ja, also keine Süßigkeit ..."
"Warum sagt ihr es nicht?"
"Versteckst du nicht auch manchmal Dinge ...?"
"Aber wenn sie jemand findet? Dann ist es kein Versteck mehr!"
"Da hast du recht."
"Ist es schlimm, wenn ich es jemandem gesagt habe."
"Du hast darüber zu jemandem gesprochen, um Gottes Willen!" Die Frau nahm sich eine Süßigkeit und aß sie hastig.
"Das war nur ein einziges Mal", versuchte Woi zu beruhigen und nahm sich auch eine Süßigkeit. "Ich weiß schon, zu wem ich es sage."
Die Frau hatte sich auf das Bett gesetzt. Woi setzte sich auf einen kleinen Stuhl und schob die Süßigkeiten über den Tisch zu ihr.
"Mögt ihr keine Mutter sein?", fragte er vorsichtig.
"Hättest du gerne eine Mutter?", fragte die Frau zurück, als hätte sich nicht zugehört.
"Ich habe eine Mutter", sagte Woi, "aber die ist tot!"
"Ich weiß, und das tut mir leid."
"- aber ihr seid doch nicht tot!"
"Ich kann doch nicht deine Mutter sein!"
"Und was ist mit der Li?"
"... die Li, ist das deine Freundin?"
"Ich bin ja ein Junge, und nur Mädchen haben eine Freundin!"
"Aber du magst sie doch?"
"Manchmal tut sie mir leid, weil sie zwei Mütter hat!"
"Zwei Mütter hat sie?"
"Ja, eine falsche, wo sie wohnt, und eine richtige, die sich vor ihr versteckt!", sagte Woi und sah der Frau tief in die Augen.
"Das ist aber sehr verwickelt", sagte die Frau. "Und wie hast du es herausgefunden?"
"Ich kann gut beobachten", sagte Woi stolz, "und außerdem war ich doch auf dem Baum ... und das Gedicht ... da habe ich es gewusst, dass ihr die wirkliche Mutter von der Li seid und habe es ihr gleich gesagt."
"Ich? Ihre Mutter? Aber die bin ich doch nicht!"
"Ich kann nur verschwiegen sein, wenn ich alles weiß", drohte Woi.
Das fand die Frau sehr komisch. "Ich bin doch nicht so alt, dass ich ihre Mutter sein könnte, oder denkst du das etwa?"
Als Woi sie ansah und langsam den Kopf schüttelte, lachte sie und hielt sich die Hand vor den Mund wie ein Mädchen.
"Dann war es dumm, was ich gesagt habe", gab Woi zu und schob den Teller mit den Süßigkeiten zu ihr hinüber.
"Sollen wir uns etwas versprechen", schlug die Frau vor.
"Meinetwegen", sagte Woi.
"Wir schwören, dass wir zu niemandem etwas sagen!"
"Einen wirklichen Schwur?" Woi überlegte, aber schließlich bot er seine Hand darauf an.
"Wir nehmen ein Gebäck", sagte die Frau, "hier so eins - sieht aus wie ein Herz - und teilen es in zwei Teile, und nun schwören wir ernst und feierlich, niemandem niemals etwas zu sagen."
"Ich schwöre", sagte Woi feierlich.
"Ich auch", sagte die Frau ernst.
Draußen hatte Li unendlich lange auf ihn gewartet. Es war schwer, sich in der Mittagszeit am Hof zu verstecken. Jedermann war mit nichts als Kauen beschäftigt. Die Augen über den malmenden Mündern wanderten ihr nach, als stehe sie immer am falschen Ort.
Schließlich stellte sie sich neben eine Dienerin, die ein Kleid in der Hand hielt. Li fragte, ob sie mit ihr warten dürfe. Ja, das dürfe sie, sagte die Dienerin. Dann sagte sie nichts mehr, aber das war Li auch recht, weil das Warten neben einer Dienerin ein sehr gutes Versteck war.
Nach dieser sehr langen Zeit war Woi gekommen. Er schien nicht nach ihr gesucht zu haben, obwohl er versprochen hatte, sofort zu ihr zu gehen.
"Warst du bei ihr?", fragte Li aufgeregt und hielt ihn fest.
"Nicht hier", flüsterte Woi. Aber da ging die Dienerin fort, und sie waren allein.
"Was hat sie gesagt?", drängte ihn Li. "Sag schon!"
"Ich war bei ihr", antwortete Woi mit der Würde des Forschers, der von einer langen Reise zurückgekehrt ist.
"Das weiß ich! Aber was hat sie GESAGT?"
"Ich darf nicht darüber sprechen", sagte Woi ernst und feierlich.
"Warum nicht?"
"Ich darf nichts sagen - ein Schwur bindet mich, das musst du verstehen!"
"Aber warum ...?"
"Sie ist noch sehr jung."
"Was ist mit ihr geschehen?"
"Du weisst schon zuviel", entschied Woi.
"Mehr darf ich nicht wissen?", sagte Li, enttäuscht, aber tapfer.
"Ausgeschlossen! Und zu keinem ein Wort!"
"Aber ich weiß doch nichts!", protestierte Li.
"Du weißt, dass ICH die Wahrheit kenne", gab ihr Woi zu bedenken.
"Aber sonst weiß ich nichts", sagte Li traurig zu sich selbst.
Als sie nebeneinander hergingen, versuchte Woi, sie zu trösten. Dazu sagte er ihr, dass er erleichtert sei, soweit dies möglich sei, bestand aber im Nachtrag sofort darauf, dass Li die ganze Angelegenheit vergessen müsse. Nicht einmal daran denken dürfe sie. Am besten sei, sie lebe weiter, als sei nichts geschehen, als sei alles nur ein Trugbild gewesen. Ob sie das könne, fragte er, nichts sagen, auch nicht ein Gesicht machen, sie wisse schon ...
Er ließ sie erst gehen, als sie ihm so fest in die Augen geblickt, dass es in etwa einem Schwur gleichkam.
Chapter 22. Medith ist fort
Was den Unterricht anging, durften Woi und Li mehr und mehr jeder für sich arbeiten.
Während Li an diesem Tag ein Gedicht abschrieb, dass sie sich ausgesucht hatte, klopfte Woi mit dem umgekehrten Ende des Pinsels auf den Tisch und dachte an etwas anderes. Immer wieder sah ihn Li von der Seite an, weil er nicht bemerken wollte, dass sein Klopfen sie störte.
Aber Woi sah nichts und klopfte weiter. Er hatte sich nicht einmal ein Gedicht ausgesucht. Immer schneller klopfte Woi mit dem Pinselende auf den Tisch, und der Strich zwischen seinen Augen wurden tiefer und tiefer.
"Medith hat mich gefragt, ob ich mir vorstellen kann, dass er eines Tages nicht mehr da ist." Woi blätterte in den Gedichten und tat so, als lese er darin.
"Magst du eines von ihnen?", fragte Li, ohne Hoffnung, dass er bemerken würde, was er in der Hand hielt.
"Der Fürst hat heute gesagt, dass Medith eines Tages fort sein wird", sagte Woi, ohne aufzublicken. "Auch er hat davon gesprochen ..."
Li sagte nichts. Kein Tag des Lernens war bisher vergangen, ohne dass Woi ihr etwas von Medith erzählt hatte. Ein wenig von seiner Zuneigung hatte sich auf sie übertragen.
"Und alle schauen mich so an", sagte Woi und fächerte die Gedichte wie ein Kartenspiel auf.
Li kannte Medith nicht. Möglich, dass sie ihm einmal auf ihrem Weg zum Unterricht begegnet war. Sie stellte ihn sich wie einen der Männer vor, deren Tagwerk das Behauen der Steine war. Wenn sie am Abend erschöpft auf ihren Steinen saßen, dann waren sie so voller Staub, dass sie in ihrer Bewegungslosigkeit eher Steinen als Menschen glichen.
"Ich glaube, er ist schon fort", sagte er und legte die Gedichte ab.
Woi sprach sich den eigenen Schrecken vor, als lese er vor, was ein Fremder aufgeschrieben hatte. Wenn Li an etwas Schreckliches dachte, dann füllte sich die ganze Welt damit aus - so war ihr dabei.
"Die Magd aus der Küche ist seine Frau. Ich weiß, dass er selber kochen kann. Was braucht er sie, wenn sie nicht seine Frau ist."
Wois Traurigkeit verschlang die Dinge, war gedankenlos, kostete nicht, vertilgte nur.
"Komm", sagte er zu Li, "ich zeige dir, dass ich recht habe."
Er wischte alle Stifte und alles Papier auf dem Tisch zusammen, und überließ Li die Entscheidung, ob sie aufräumen oder ihm nachgehen sollte. Er ging und sah sich nicht nach ihr um.
Auf ihrem Weg beobachtete Li, dass ihm - wie er gesagt hatte - viele verstohlene Blicke nachgeworfen wurden. Die Näherinnen gar, die ein weißes Tuch glätteten, verbargen sich dahinter und gaben nicht acht, dass es ihnen verknitterte. Die Stimmen der Einweiser waren laut, aber sie hatten keine Hall, als sie ihn sahen, und verstreuten sich wie die Stifte, die Woi vom Tisch gefegt hatte. Die Soldaten sahen dem Kommen Wois mit großen dummen Augen entgegen.
Li folgte Woi zu einem Teil des Hofes, den sie nicht kannte. Eine Kette kleiner Häuser stand tief im Schatten einer schweren Mauer. Oben saß ein Soldat, der - sie wusste nicht wie - hinaufgelangt war, und spuckte die Schalen von Kernen in seine Hand. Der kleine Platz davor war sauber gefegt und verlassen.
"Hier wohne ich", sagte Woi und zeigte auf das letzte der kleinen Häuser, hinter dem die Mauer abbrach, als sei es unnütz, sie dort fortzusetzen, wo keine Soldaten mehr wohnten. Es war ein Haus, dunkel und flach wie die anderen, das zu Woi passte, und auch wieder nicht, weil er ein Fürstensohn war.
"Er ist nicht mehr da - ich weiß es!", sagte Woi, als sie vor der Tür standen. "Wir Soldaten sind Zugvögel, hat er gesagt, und ich soll nicht traurig sein."
"Wir sehen nach", schlug Li vor. "Vielleicht ist alles eine Täuschung."
Als sie durch die Tür in das Dunkle des Inneren traten, bemerkte Li eher als Woi den Fürsten, der reglos still in einem derben Sessel saß. Nur seine Füsse in den vergoldeten Hausschuhen und ein Streifen der nackten Haut darüber waren von ihm zu sehen.
"Du hast recht", sagte der Fürst und ließ eine Hand über die Schultern des Sessels herunterwandern. "Medith ist fort. Du bist jetzt groß und brauchst ihn nicht mehr. Es war eine Zeit für das Heranwachsen, nun ist es eine Zeit, dass du zu einem Fürsten wirst."
Woi ging in die Mitte des Raumes. Nichts hatte Medith zurückgelassen, nicht einmal ein Gefühl. Es war nichts mehr da. Jedenfalls nicht, wenn der Fürst in dem Stuhl saß, der Medith und seiner Pfeife gehört hatte, sowie dem langen, schwerduftenden Schweigen, das daraus emporstiegen war.
"Er hat eine Frau. Du kennst sie. Es ist die Magd", sagte der Fürst. "Sie haben einen Sohn bekommen, einen eigenen ..." Er betrachtete die Wirkung seiner Worte auf Woi. Weil die Worte auch auf ihn eine Wirkung hatten, lag in ihnen eine Bitterkeit.
"Hat Medith etwas gesagt?", fragte Woi leise.
"Es gibt es eine höhere Vernunft", sagte der Vater, ohne auf die Frage seines Sohnes einzugehen. Hatten sich die goldenen Pantoffelkäfer am Boden bewegt?
"... aber er spricht ja nicht viel", sagte Woi zu sich und zu Li. Nun hatte sie ihn nicht einmal gekannt! Er hatte es immer aufgeschoben, bis es zu spät war.
"Wenn der Kaiser einen Fürsten mit der Tochter eines anderen verheiratet sehen will, dann ist das höhere Vernunft." Der Fürst schwieg. Das Gesagte stand unbeachtet im Raum, ging zu dem Jungen, zu dem Mädchen, kehrte um und legte sich zurück auf den Schoß des Fürsten, wo seine kalten Hände im Nachdenken darüber strichen.
"Ich habe Medith fortgeschickt, weil es sein musste", rechtfertigte sich der Fürst. "Dir geht es nicht anders als der Li: Auch ihren Vater musste ich fortschicken, weil die Vernunft und der Kaiser es verlangten."
Mit großen Augen sah Li den Rücken des Sessels an. Sie hatte gehört, was der Fürst gesagt hatte, aber zum Verstehen war es noch ein Weg. Woi sah immer noch unwillig drein, weil der Vater seine Frage nicht hatte beantworten wollen.
"Also ist sie doch meine richtige Mutter!", flüsterte Li leise und zornig in Wois Richtung.
"Von was redet sie?", fragte der Fürst und betrachtete seine Pantoffeln, die kleinen Küchlein aus Gold.
"Er hat gesagt, dass meine Mutter nicht meine Mutter ist", sagte Li leise und zeigte auf Woi.
"Aber Woi weiß doch nichts ...", sagte der Fürst. "Ihre Mutter ist ihre Mutter gewiss, nur der Vater ist fort." Das Seufzen des Fürsten ging im tiefen Stöhnen des schweren Stuhles auf. "Hat denn niemand ihr etwas gesagt?"
"Ich habe ihr gleich gesagt, dass was nicht stimmt", meldete sich Woi voller Stolz. "Wir haben es selbst herausgefunden, nur dass es andersherum war."
"Junge, siehst du denn nicht, dass sie leidet!", sagte der Fürst. Dann rieb er sich die müden Augen.
Kurz sah Woi zu Li, für die alles sehr verwirrend sein musste, dann dachte er wieder an Medith. Er fand, dass alles sehr gleichgültig geworden war, aber er wollte sich Mühe geben, ihm nicht den richtigen Sohn zu neiden. Wenn Medith ein Zugvogel war, dann wollte Woi es ihm gleichtun, und es leicht nehmen. Das erwartete Medith von ihm, und Woi wollte ihn nicht enttäuschen.
"Was macht einen Vater aus? ... oder eine Mutter?", fragte der Fürst und sah den Jungen und das Mädchen an. Eine Hand kroch über die Lehne des Stuhles und ermattete.
"Nun jedenfalls habt ihr euch viel zu sagen", sagte der Fürst und erhob sich. Langsam ging er zur Tür, sah hinaus auf den kleinen, leeren Platz und sprach: "Aah, soviel Dramatik - das Leben geht weiter - und alles an seinem Platz." Mit diesen weisen Worten bückte er sich unter den Türrahmen und verschwand.
Li machte sich auf den Weg zu Bea. Der Turm stand an eine Mauer gelehnt, als wäre er, der früher im Freien gestanden hatte, wieder in die Gesellschaft gerückt und böte sich ihr zum Gespräch an. Er war kaum wesentlich höher als die umgebenden Gebäude, aber seine Steine hatten eine andere Farbe. Die Raben saßen auf dem Sims der Fenster und wachten. Sie seien sehr kluge Tiere, sagte Bea von ihnen, auch wenn sie etwas zur Traurigkeit neigten und es ihnen an Zuversicht mangele.
Ein jeder, der es einrichten konnte, kam zum Turm, um sich die Zukunft voraussagen zu lassen. Nur der Li verriet Bea, dass ihr wegen des Schnupfens das Hellsehen eigentlich nicht möglich sei. Die Augen wären nicht klar. Alles erscheine verschwommen. Außerdem täten ihr die Schläfen weh. Aber da die Zukunft nur selten Unterschiede aufweise und sich aus dem Gesagten und Gehörten zur Genüge zusammensetzten lasse, sei es nicht schlimm, wenn die Hellseherin einen Schnupfen habe.
Li hörte, wie Bea in ihrem Zimmer mit den Raben sprach. Sie benutzte ihre kehligen Laute, sprach aber im Unterschied zu ihnen mit einem deutlichen Schnupfen.
"Bea, ich bin es", rief Li. "Bist du beschäftigt, oder kann ich hereinkommen?"
"Ach, die hübsche Li kommt auf einen Besuch! So komm doch herein, Kind, ich habe nichts zu tun. Darüber sprach ich gerade mit den Raben. Wusstest du, dass es kein Wort für 'Nichtstun' in ihrer Sprache gibt? Übrigens auch keines für 'Schnupfen'!"
Li wusste nicht, wo sie sich hinsetzen sollte. Es war ein schreckliches Durcheinander. Bea sagte, sie werfe die Sachen auf den Boden, und wie sie gerade fielen, da könne sie sehen, ob es ein guter oder ein schlechter Tag zum Hellsehen sei.
"Du kannst dich hinsetzen, wo du willst", sprach Bea ihr Mut zu, aber als sie ihr erforschend in das Gesicht gesehen hatte, fügte sie hinzu: "Kind, was schaust du heute so traurig drein?"
Li nahm ein nächstliegendes Kissen, setzte sich auf den kleinen Sims in der Mauer des Turmes und legte die äußere Schale der Traurigkeit ab. "Woi will mit dem Lernen aufhören", sagte sie. "Diesmal, glaube ich, ist es ihm ernst."
"Ja, ja", sagte Bea, "dein Woi und das Lernen haben keine gemeinsame Zukunft. Soweit sehe ich hell."
Li nickte traurig. Die Unkenntnis hatte nichts Beunruhigendes für Woi. Von seinem Versprechen, zu lernen, was auch Li lernte, sprach er nicht mehr.
"Ich glaube", sagte Bea, "meine Raben würden mehr bei deinem Vater lernen als der Woi ... Weißt du, dass die Raben oft über die Dummheit der Menschen reden. Sie nennen es 'Chukch', was soviel wie 'Flügel-aber-nicht-Fliegen' bedeutet."
Bea sah aus dem Fenster hinaus. Nicht einmal die Raben wussten etwas zu sagen, was Li hätte aufheitern können. Sie hatten traurig ihre Köpfe gesenkt, als wollten sie sagen: 'Nein, nein, wie traurig uns Raben, die Li macht! So traurig wie des Winters weiße Laken, unter denen der Frühling schläft!'
"Willst du nicht Hellseherin werden?" fragte Bea. "Du hast doch nie Schnupfen. Das ist bei Sehern wichtig. Und das andere kann ich dir beibringen!"
Li schüttelte den Kopf. Sie sah die Unordnung um sich herum. Die aufgerissenen Teebeutel am Boden. Die angetrockneten Reste auf den Tellern der Raben. Auf den Steinboden geworfene Kissen. Niemals würde sie daraus die Zukunft lesen können!
Bea nahm eines der Kissen und betrachtete es lesend. "Ich sehe, dass etwas anderes deine Seele bedrückt."
"Es ist nichts ...", sagte Li und verlor ihren Blick in den Teebeuteln.
Bea begann, die Kissen einzusammeln. Sie häufte ein Nest auf, um sich wie eine Vogelmutter hineinzusetzen. Sie würde die Augen schließen und ihre Haare flechten. Dabei würde sie erzählen, als schlafe sie schon halb.
Es war schön und tröstlich, wenn Bea vor sich hinsprach. Sie konnte das gut. Ihre Worte klangen geheimnisvoll. Die Bilder kamen von weit her. Dann duftete es nach fremden Ländern in ihrem Turmzimmer.
Durch das Fenster sah Li die Raben, die zu den Wolken aufgeschwebt waren und schwarze Schriftzeichen malten, mal schnell, mal langsam, wie der Wind es ihnen gestattete. Aber Li konnte nur an das Traurige denken, wovon sie nicht sprechen wollte.
"Ich sehe den Raben zu und erzähle dir, was mir die Winde über dich und dein Schicksal erzählen", schlug Bea vor.
"Ich habe kein Schicksal oder jedenfalls - es ist alles wie sonst auch!" sagte Li und sah nicht auf.
"Am Morgen, als es noch nicht so schlimm mit meinem Schnupfen war, habe ich ein wenig gelünkert", sagte Bea schelmisch. "Willst du nicht wissen, was ich sah?"
"Aber erfinden darfst du nichts, das musst du versprechen!", verlangte Li ernst.
"Vertrau mir, Li. Ich will Hell und Trübe nicht vermischen, sprechen nur vom Gesehenen. Wo ist das braune Kissen? Eben war es doch hier ... da ist es! Jetzt habe ich sie alle zusammen für mein Weitschaunest!" Vorsichtig und immer wieder neu ansetzend, begann sie, die verfilzte Bürste durch ihr widerständiges Haar zu ziehen.
"Als sie am Morgen kamen, um meine Raben auszuführen", begann sie, zerrend sich quälend, "sprachen die Winde so: 'Wir entführen dir deine Raben, heute sie und bald, sehr bald deine Li. Als Freund bleibt Bea nur der Schnupfen', so sprachen die Winde, zausig und ungesellig."
"Sie entführen mich?", fragte Li leise und tastend.
"Ja, nichts anderes sagten - sangen die Winde und weiter dazu: 'Einen weiten Weg kamen wir, weit auch die Reise, von der du ihr sprechen sollst. Ein gelehrter Mann ruft sie zu sich. Gleich nah, gleich fern ist er ihr."
"Das ist mein Vater am Kaiserhof! Der Lehrer ist nur ein Onkel, und niemand hat es mir gesagt!"
"... dachte erst, dass die Winde mich wieder prüfen wollten, ob ich ihnen noch zuhöre. Aber nun, da du es sagst, seh ich, wie schauend die Kunde war!"
"Alles ist richtig! Mein wirklicher Vater ist Lehrer am Kaiserhof und -"
"- und weiter die Winde mit vieltiefen Stimmen: 'Die Kaisertochter ist groß, ihrem Lehrer entwachsen. Die Pflicht ist erfüllt, welche die Liebe stumm und darbend zurückließ. Da steht es nah, und ist ihm gestattet, dass er nach seinem Kinde nun verlangt.' So die Winde, und davon, was ich verstand."
"Ist das wahr? Fragt er nach mir? Ist keine Täuschung möglich?"
"Nein, das schien mir deutlich ... nein, wirklich, da wehte von den Winden kein Zweifel herein. 'Er ruft sein Kind, kann aber selbst nicht kommen.' - 'Ja, warum denn nicht, Winde?', so ich - haauatschi! - darauf sie: 'Weil es ihm verboten ist, nicht möglich, ihn etwas fesselt. Seine Sehnsucht nur verriet er den eiligsten Boten, uns Winden. Seine Träume nur übergab er zu gemächlicher Reise den Wolken. Aber zu kommen sein Schicksal verwehrt ihm!' Ich wies sie zurecht: 'Was für ein Satzbau, ihr lieben Winde - Huauatschi! - ihr solltet sehen, wie die Sterne ihre Worte fügen. Bei denen gibt es keine Huddelei und kein - huuatschiii!"
"Siehst du denn, dass ich es schaffe, zu ihm zu gelangen?" Li war so aufgeregt, dass sie beinahe eines von Beas Tüchern aufgenommen hätte. "Sagen sie es, die Winde?"
Bea machte ein gurgelndes Geräusch, als laufe Wasser in einem Abfluß hinein. Wegen ihrem Schnupfen geriet ihr der gurgelnde Ablauf so echt, dass Li erschreckt auf ihre Füsse sah, ob nicht der Boden unter ihr in einer Senke verschwand.
"Die Winde, mein Kind, fingen erst an, mit mir zu sprechen. Mit ein wenig Geduld wollen wir uns anhören, wie es weitergeht."
"Ja, bitte, lass sie ausreden, Bea. Ich bin ganz still!" Und das war sie wirklich. Schwer genug war es den Winden, durch den Schnupfen zu Bea vorzudringen, da wollte sie nicht mit Einwänden und Zufragen ein Hindernis sein.
Bea putzte sich geräuschvoll die Nase. Heute war es besonders schlimm mit ihr. Vorsichtig begann sie, die letzte Strähne zu entflechten. Ein Rabe landete auf dem Fenstersims. Als er sah, dass Bea das Sehen wieder aufgenommen hatte, flog er das Gefieder schüttelnd wieder auf.
"Dies kleine Mädchen", fuhr Bea fort, "geht auf eine weite Reise ... zum Hof des Kaisers gelangt sie, um ihren Vater zu finden ... es ist nicht leicht, ihren Vater zu entdecken ... er versteckt sich, wird verdeckt oder verkannt oder etwas ... sie sucht, sie fragt, sie muss warten, aber im Ende" - eine Taubheit stieg in Beas Nase auf, die Schlaf bedeuten würde - "und schließlich, wenn es nach den Winden geht und wenn die Sterne nichts anderes sagen, findet sie ... im Fremden den Aufrechten - in der Fremde den Rechten - fremd den Richtigen - also findet jedenfalls, was sie suchen sollte, das ist bestimmt ..."
Der Erschöpfung hatte sich an das Ende von Beas Geschichte gehängt. So war sie in einen kehlig sprechenden Schlaf geglitten, und was an Lauten aus ihrem Nest fiel, das konnten nur die Raben zu Worten fügen.
Chapter 23. Der Fürst ächzt in seinem Bett
Das Ächzen des Bettes hatte den Fürsten früh, sehr früh geweckt. Die Kopfschmerzen verhinderten, dass er wieder in den Schlaf fand. Es musste noch früh sein. Im Zimmer nebenan hatten die Diener noch nicht mit den Vorbereitungen für den Tag begonnen.
Weil er nicht ausgeschlafen war, schmerzte der Kopf, pochte mal da, zog und drückte mal hier. Wenn er sich drehte, dann waren die Schmerzen diesselben, wenn auch an anderer Stelle. Pochen, Ziehen, Stechen, immer länger werdendes, schneidendes Stechen. Er fasste sich langsam an den Kopf. Von außen schien er unverletzt.
Der Kaiser hatte beschlossen, zwei der kleinen Fürstentümer zusammenzulegen. Dort war eine Tochter - schon in dem Alter, dass ihr ein Mann gesucht werden musste - hier war der Fürst, dem die Frau vor langer Zeit gestorben war. Streit war einmal gewesen, schon lange her, irgendwann. Wäre vergessen worden, wenn der Kaiser nicht beschlossen hätte, ihn endgültig beizulegen.
Bisher war das Vergessen dem Fürst ein Freund gewesen. Die Kaiserlichen Anliegen waren in die Ferne fortgewandert, verschwommen im Nebel der Lebenszeit. Er hatte sich vorgestellt, dass er ihnen nachsah. Ein kleiner Punkt am Horizont, ein Ticken im Nebel der Zeit, verloren aus den Augen und aus dem Gedächnis.
Aber der Kaiser hatte entschieden. Es war ihm unvorstellbar, dass dem Fürsten das Politische fremd geworden war, dass er lieber im Schatten saß und bei sich zufrieden dachte, der Kaiser habe ihn völlig vergessen. Nun trauerte er dem Vergessen nach, der alte, der ferne Fürst. Wenn jemand dem Kaiser vom Befinden seines Treuen berichtet hätte, vielleicht hätte er anders entschieden ...
Hatte der Fürst nicht sein Möglichstes getan, dem Willen des Kaisers genehm zu sein? Hatte er nicht dem benachbarten Fürstentum über einem langen Streit die Hand zum Frieden gereicht? Hatte sich nicht angeboten, die Tochter zur Frau zu nehmen?
Allein, dies alles war ihnen nicht genug! Sie legten den Beschluss des Kaisers auf die engste Weise aus. Die Sicherheit einer Nachfolge forderten sie, damit ihre Fürstin seiner ersten Frau Schira gleichgestellt darin sei und ein Abkömmling, wenn er denn käme, seinem Woi ebenbürtig war. Darauf bestanden sie. Das sei Bedingung. Und redeten in einem fort von sich, niemals vom Kaiser.
'Gut ... gut, es soll sein', hatte er schließlich eingewilligt und dabei gedacht, dass er sich mit der Frau wohl würde einigen können, wenn er sie nur in anderer Weise verwöhnte. Wenn ihr nach einer verstrichenen Zeit der Sinn nach gewissen Dingen stand, wollte er nicht genau hinsehen, wenn sie sich Freiheiten nahm. Sollte sie sich doch den Mann für ihren Abkömmling aussuchen! Wenig lag dem Fürsten an einer engen Ausdeutung des Begriffes 'Männerehre'.
Früher, ja früher, war alles anders gewesen! Aber 'früher' war lange her, lange bevor er Schira zur Frau genommen hatte. Die Bauchdecke spannte sich bei dem Gedanken daran. Ihm wurde warm, als er an seine Freunde dachte und an die Bordelle, in denen sie verkehrt hatten. Der Duft, der alles ausgefüllt hatte, die schweren Augen, getränkt mit süßen Getränke, die weiche Haut der Stimmen, all das ...
Einer nach dem anderen hatten sie mit den Damen ihr Vergnügen gehabt. Zu dritt, später zu viert waren sie gewesen.Der Rangniedrigste, so war ausgemacht, hatte anzufangen. Er sah ihn vor sich, wie er sein knielanges Hemd in der Art eines Bühnenvorhanges emporraffte, um seine Manneskraft auftreten zu lassen - einer Schauspielerpuppe gleich, die ungeduldig hinter der Bühne gezappelt hatte. Mit ihrem hochroten Kopf nickte sie, nach allen Seite und zu jedem von ihnen.
Ein herrlicher Auftritt, als er reihum ging, und die anderen seine steife Lanze wie einen Schwertgriff anfassten, als seien sie Ritter, die Treue und Tapferkeit für den Kampf zu schwören hatten. Ernsteste Gesichter hatten sie gemacht. Nur der Mund der Schauspielerpuppe hatte sich wie in Vorfreude zu einem speichelfeuchten Grinsen verzogen.
Es war ein Johlen und Hochstimmen, wenn der Fürst für sein Vergnügen an die Reihe kam. Er hatte sich verbeugt und jedem die Hand geschüttelt, unter Gelächter und Schulterklopfen. Schon damals hatte er eiligst in die Schlacht gehen müssen. Ablenkung war seiner Waffe seit je nicht bekommen. Wenn er irgendwann innehalten musste, dann gaben ihm die Mädchen zu trinken und schickten ihn mit einem klatschenden Schlag auf den Hintern in eine neue Runde.
Waren sie am Ende allesamt erschöpft, so schoben die Mädchen die leergepumpten Leiber zusammen. Das durfte keine Leichtes gewesen sein, denn sie waren vom guten Leben recht massig und zur Erschöpfung träge geworden. Wer nicht zu schieben war, der wurde gerollt. Wenn sie wie die Walrösser auf dem Bauch lagen und mit ihren Rücken eine einzige fleischig weiche Matte bildeten, dann sprangen die Mädchen mit nackten Füßen auf ihnen herum. Sie sangen und lachten, klatschten und tanzten zum eigentlichen Höhepunkt. Teil einer von massigem Fleisch umhüllten Trommel zu sein. Das Gefühl, mit den Freunden ins Nichts zu gleiten. Das Leben, ein voller Bauch, und schließlich der Schlaf, der ihre Köpfe einsammelte und sie wie alte Flaschen in einem kühlen Keller zur dunklen Lagerung ablegte.
"Das geht nicht", sagte eine sehr leise Stimme in seinem Ohr, "weil er doch schläft ..."
"Ssst, ssst, Vater, schläftst du noch?", rief Woi. "Kann ich dich schon etwas fragen, oder willst du noch schlafen?"
Das Bett schwankte lautlos, um dann in eins gesammelt, zu ächzen und zu stöhnen. "Au!", klagte es. "Au, mein Kopf, weh, wo bin ich? ... was ist passiert?"
"Nichts ist passiert. Du bist gerade aufgewacht, das ist passiert. Ich habe den Diener gefragt, ob ich dich etwas fragen darf. Darf ich? ... Du hast gesagt, dass ich eine neue Mutter bekomme. Ich wollte nur fragen, wann sie kommt."
"Eine neue Mutter, wie? Ach, das meinst du! Kann sein, aber auch nicht ... Der Kaiser hat angeordnet, dass wir größer werden und kein Streit mehr sein soll, obwohl ich mich nicht an welchen erinnern kann."
"Und du? Was sagst du?"
"Mich fragt keiner, mein Junge. Wenn der Kaiser einen Wunsch hat, dann hat er einen Wunsch. So ist das."
"Und was ist nun? Kriege ich eine neue Mutter oder nicht? Du kannst es mir sagen, ich bin ja schon fast ein richtiger Mann. Das hast du gesagt - weißt du es nicht mehr!?"
Das Bett stöhnte erneut unter Schmerzen auf, aber Woi ließ sich von einem Diener nicht aus dem Zimmer zerren.
"Ich habe mich so auf meine neue Mutter gefreut. Ich habe mir vorgestellt, sie ist eine richtig nette Mutter, die mir ganz andere Sachen beibringt. Dann muss ich nicht mehr den ganzen Tag lernen, weil sie sagt: 'Der Woi, der hat jetzt genug gelernt. Der Junge will ja kein Schreiber werden, sondern ein Fürst, und das bringe ich ihm jetzt bei.' Das macht viel Spaß. Hast du ihr denn von mir erzählt?"
"Nein, Fürst Woi, dazu kam es leider nicht."
"Du warst ihr zu alt, stimmt es?"
"Es ist nicht einfach mit einer Heirat von Fürsten. Viele Dinge müssen bedacht werden ..."
"Wie alt ist denn sie?"
"Nicht so jung wie du und nicht so alt wie ich ... Eigentlich habe ich nur von ihr gehört, wenn ich ehrlich bin. Erst zur Hochzeit wird sie mich, und ich werde sie sehen. Das meiste bestimmen die anderen, und lange bevor wir uns sehe, ist alles fertig."
"Ich will überhaupt nicht heiraten", sagte Woi. "Was habe ich davon, wenn es nur für die anderen ist!"
"Aauhh, mein Kopf, solche Schmerzen. Sag dem Diener, er soll den Arzt rufen, ich kann nicht regieren ... Geh selbst, schnell, eine Arzt muss her für meinen Kopf!"
Chapter 24. Lis Gedicht
Li hörte, wie die Tür in ihrem Rücken aufging. Noch führte sie das Wort 'Wind' zu Ende, dann sah sie sich um. Und erschrak sogleich. Eine fremde Gestalt stand im Unterrichtsraum, das Gesicht verborgen hinter einer Maske. Li blickte auf hochgestülpte, dunkelrote Lippen, aus denen eine endlose Reihe von glänzenden Zähne hervorwuchs, sicherlich doppelt soviele, wie ein Mensch haben konnte.
Hinter dem gewaltigen Mund erklang, tiefgestellt und flüsterheiser, die Stimme von Woi: "Ich bin der Fürst des Erschreckens. Ich bin der Fürst des Grausens. Wer in meine Hände fällt, der wird gefressen von mir und vertilgt mit all seinem Geschriebenen!"
"Ich habe mich WIRKLICH erschreckt!", rief Li. "Musst du dich so anschleichen?"
Ohne seine Maske herunterzunehmen, begann Woi sogleich loszureden: "Sie sagen, ich bin erst ein richtiger Fürstensohn, wenn ich eine Maske habe. Ich war nicht einmal ein Fürstensohn bisher? Was war ich dann denn überhaupt? Ist auch egal, jetzt bin ich ein Fürstensohn und habe eine Maske und - stell dir vor! - ein Wappen, ganz für mich! Willst du es sehen?"
Stolz hielt er Li einen Tuschepinsel hin, den sie vorsichtig entgegennahm. Der Griff war nicht aus Holz gemacht, vielleicht aus einem Stein, den sie nicht kannte, biegsam und doch nicht zerbrechlich. Zierlich waren drei Worte darauf gemalt. Eigentlich geschnitzt, eine sehr feine Schnitzarbeit, die dann bemalt worden.
"Also das erste verstehe ich ja", sagte Woi. "Das heißt 'Bär', das bin ich. Das zweite Zeichen heißt 'Tor', stimmt doch? Und das dritte Zeichen - bedeutet es, dass ich jetzt alt genug bin?"
"Es steht für Baum, für einen großen Baum, aber auch für eine Familie und einen Mann, der sehr alt geworden ist. Erkennst du den langen Bart und den krummen Rücken? Die Rundung am oberen Rand ist der kahle Kopf."
"Wie klug du bist. Und kannst wunderschön die Zeichen erklären. Ich sehe, dass dir mein Stift gefällt. Was gibst du mir, wenn ich ihn dir leihe?"
Wois dünne Stimme wollte nicht zu dem Riesenmund passen, mit seinen vielen Zähnen, die angestrengt lachten. Unsicher balancierte der Hals die schwere Last.
"Als Belohnung bekommst du ein Gedicht von mir", sagte Li. "Aber du musst mich allein lassen. Nur dann fallen mir die Gedichte ein."
Die Stimme hinter der Maske klang, als habe sie mehr erwartet. "Ein Gedicht will ich nicht? Das erinnert mich an den Lehrer. Ich will etwas, woran ich Freude habe."
"Ich bin ein armes Mädchen nur, hab' nichts, mein Herr, als pochend ein Herz", deklamierte Li.
"UUH", rief Woi und schüttelte sich. "Was du wieder redest! Du kannst ihn trotzdem haben. Hier ist er, aber sei vorsichtig!"
Li nahm den Tuschepinsel vorsichtig entgegen. Lange betrachtete sie seinen Griff und begann schließlich aus dem Fenster zu sehen, als wolle sie ihr Gedicht von den Wolken abschreiben.
"Mein Vater wird eine andere Frau bekommen", sagte Woi, ohne sich um Lis fernschweifenden Blick zu kümmern. "Er hat sie noch nie gesehen, weil andere sie für ihn ausgesucht haben. Ich hoffe, wenigstens mir gefällt sie!"
Heute hatten es die Wolken eilig. Dünn wie Papier waren sie und auseinandergeblasen. Ließen sich von Vögeln erschrecken, die in die kreisenden Winde aufgestiegen waren.
"Ich habe meinem Vater gesagt, dass ich nicht heiraten werde", sagte Woi. "Ich hoffe, du weißt das, Li. Mach' dir also keine Hoffnungen. Selbst wenn mich andere zwingen, werde ich dich nicht heiraten." Dann grinste er frech, weil er Li aus ihren Wolken geholt hatte.
"Wer sagt denn, dass ich heiraten werden!?", entgegnete sie empört. "Bevor ich jemals heirate, will ich erst meinen Vater finden. Das meine ich im ganzen Ernst - nicht so wie du!"
"Du findest deinen Vater nicht - viel zu weit weg ist der!", hielt ihr Woi entgegen.
"Was weißt du!", sagte Li zornig. "Bea hat es mir gesagt, als sie in meine Zukunft gesehen hat!"
"Du bist eine Träumerin", sagte Woi. "Mit deinen Wolken und ihrem Hellsehen kommst du nicht weit."
"Und du bist einer ohne Träume", entgegnete ihm Li. "Was nützen dir deine Füsse, wenn sie nur aufeinanderschauen?"
"Ich bin mit meinen Füßen eher bei deinem Vater als du mit deinen Träumen - jedenfalls, wie ich es meine"
Woi hätte ihr am liebsten den Stift abgenommen. Wieder sah sie nur zu den Wolken, die völlig durcheinander waren.
"Du könntest mich malen", schlug Woi vor. "Dir fällt ja doch kein Gedicht ein! Ich stelle mich hierhin, damit du mich malen kannst. Sag mir nur, wie ich mich stellen soll! Ist es so recht? Du bist die erste, die ein Bild von mir malt, wenn ich meine Maske aufhabe und überhaupt."
Das gefiel Li. Der Papierbogen war leer, und Woi hatte recht, dass ihr nichts einfallen würde, solange er ständig mit ihr redete. Sie wies Woi in eine hintere Ecke des Zimmers. Seine Maske musste er in der Hand halten. Den Kopf sollte er hochhalten, ganz nach hinten, damit er nicht mehr reden oder ihr beim Malen zuschauen konnte.
Woi nahm die Haltung an, die Li ihm aufgetragen hatte, und verharrte steif in seiner Ecke. Nur seine Augen rollten beständig, und seine Hände konnten keine Ruhe geben.
Li malte solch ein Bild, wie sie es täglich bei ihrem Weg durch den Hof zu sehen bekam. Es war ein wenig anders, weil die Farben zerflossen, aber sonst war es gleich. Sie malte ein dichtes Band von Wolken. Oben ließ sie drei Berge mit ihre Köpfen hervorschauen. Jeder der Berge sah in eine andere Richtung. Der erste schaute auf seine gratige Nasenspitze. Der zweite schlief noch und träumte auf dem breiten Kinn, und der dritte sah erstaunt, dass er nicht mehr alleine war. Die Wolken bedeckten ihre Körper, dass nur die Zehen der Berge hervorlugten, von weichem Moos und Schatten umrandet. Dort auf den dicksten der Zehen stellte sie Woi hin, winzig und aufrecht, wie ein beharrlicher Riss im großen Fußnagel des schlafenden Berges. Mit dem Haar eines Pinsels malte sie ihn, wie er hinaufsah zu den Wolken und nichts sah als deren schief hängende Bäuche.
"Darf ich wieder? Bist du soweit?", fragte Woi schließlich, weil er aus rollenden Augen sah, dass Li sich zurückgelehnt hatte und unsicher zu ihm hinsah.
"Bin ich das?", fragte Woi und zeigte auf den Berg, der schlief. Li führte seine Hand mit dem Stift, bis er sich fand. Ein wenig war sie mutlos geworden über ihrem Spaß.
Mit gewittrigem Blick nahm Woi sich die Maske vor das Gesicht. Langsam näherte sich Li das Dämonengesicht, kam näher und nah. Seine Bosheit und Grausamkeit. Sein Zorn, der keine Seele hatte und sich selber fraß.
"Ich habe keine Angst vor dir", sagte Li und tupfte mit dem Finger an der Holzstirn.
"Ich habe noch etwas bekommen", sagte Woi, "aber darüber spreche ich nicht!"
"Was ist es denn?" Li war doch ein wenig neugierig.
"Es ist ein Dolch", sagte Woi, "aber zeigen kann ich ihn dir nicht!"
"Warum denn nicht?"
"Weil du ein Mädchen bist. Ganz einfach, weil du Mädchen bist, und ein Dolch ist eben etwas ... was nur Jungen haben!"
Chapter 25. Ihscha und Woi
Woi hatte Langweile. Wegen dieser Hochzeit, von der sein Vater nicht einmal die Frau kannte, waren viele fremde Menschen an den Hof gekommen, Alle waren sehr geschäftig und trieben sich zu noch eiligeren Schritten an.
So hatte er niemanden, nicht einmal Li, weil die ein Gedicht schrieb, was nun schon einen halben Tag lange dauerte. In der ganzen Zeit hatte sie dagesessen und die Wolken betrachtet. Wenn es ein Gedicht über Wolken war, dann hätte sie schon längst damit fertig sein müssen, fand Woi.
Er beschloss, einem Mann zu folgen, den er nicht kannte. Der Mann trug einen Umhang, der voller Staub war und eine Tasche, die mit jedem seiner sehr langen Schritte ein Geräusch von sich gab. Es klang, als trage er einen Husten in seiner Tasche umher.
Woi versuchte, wie die Tasche zu husten und diesselben langen Schritte wie der Mann zu machen. Der Mann sah sich um. Wie er Woi ansah, hatte er außer großen und leeren Augen nichts in seinem Gesicht, keine Nase erhob sich, die Brauen waren nackt, und der Mund war eingeschnitten.
"Kannst du mir den Weg zu euren Vasenmalern zeigen?", fragte er. Da erst hatte Woi seinen Mund entdeckt!
"Ich habe nichts zu tun. Da kann ich euch auch hinbegleiten", sagte Woi und ging voraus.
Der Mann hatte bestimmt eine Art Tier in der Tasche. Es war jetzt still, weil es Wois Stimme gehört hatte. Woi nahm sich vor, Tierstimmen zu üben. Wenn er später als Fürst auf die Jagd ging, würden seine Diener sicherlich staunen, wenn er sich mit dem Hirsch unterhalten konnte!
"Mit wem auf meinem Weg habe ich die Ehre?" fragte der Mann und ließ seinen Mund wieder verschwinden.
"Och", sagte Woi, "ich bin nur den Sohn des Fürsten. Deshalb habe ich auch nichts zu tun."
Auf dem Weg erfuhr er, dass der Mann zur Abordnung des anderen Fürstenhauses gehörte. Auf Wois Frage, was er mache, antwortete er, dass er warte, dass sich etwas bewege. Er dürfe aber nicht sagen, was es sei.
Ob er sicher sei, dass es sich bewege, fragte Woi.
Das wisse er noch nicht, sagte der Mann, eben das Herausfinden sei seine Aufgabe.
Woi sagte, dass auch er viele Dinge wisse, über die er nicht sprechen dürfe.
"Den Dankesgruß sage ich dir", sagte der Bewegungsherausfinder, als sie am Ziel waren. "Wie wäre ich also irrend ohne dein Geleit."
"Och, macht nichts." sagte Woi und wurde rot, weil ihm so schöne Worte nicht einfallen wollten.
Er beschloß, sich nicht länger aufhalten zu lassen. Ins Zimmer von seinem Vater versuchten Diener und Leute, ein Bett zu bringen, das viel zu groß war. Er stellte zufrieden fest, dass es niemals durch die Tür passen würde. Ein Mann schrie herum, als könne er es dadurch kleiner machen. Sein Kopf schwoll wie ein roter Ballon an, aber die Tür wurde um nichts größer. Das Bett steckte im Türrahmen fest, und es ging weder vor noch zurück. 'Vielleicht wird die Hochzeit ja doch lustig werden', dachte Woi.
Als er so stand und dem schreienden Mann zusah, bemerkte er eine Frau, die aus einer Tür in den Garten gehen. Von ihrem Duft blieb einiges im Gang zurück. Sie war also keine Dienerin, denn die rochen alle gleich, nämlich nach Küche, je nachdem, was es zu Essen gab. Solch einen Duft wie diesen kannte er nicht.
Er beobachtete zwei Diener, die sich in eine Ecke gedrückt hatten, und der Frau nachsahen. Sie flüsterten miteinander und machten sich klein, als sie Woi bemerkten.
Als er der Frau in den Garten folgte, stellte er fest, dass sie und er ganz allein im Garten waren. Nicht einen Gärtner konnte Woi entdecken. Für einen Augenblick zögerte er. Da aber das Zögern ein Zeichen war, dass es spannend oder lustig wurde, gab er sich einen Ruck und ging ihr nach.
"Woi darbietet dir seinen Gruß, du Fremde", begann Woi und dachte, dass er die Sprache des Bewegungsherausfinders gut getroffen hatte.
Die Frau sagte nichts, sprach nicht einmal einen Gruß zurück. Es war Woi, als verschwimme ihre Gestalt ein wenig in den Umrissen.
"Ich bin der Sohn des Fürsten. Ich heiße dich also willkommen", sagte er und rieb seine Augen.
Sie lächelte und sagte weiterhin nichts. Der Duft, den Woi bemerkt hatte, floss aus ihren Haaren. Lange schwarze Haare, die sie bestimmt oft kämmte.
'Puuh', dachte Woi, 'das wird anstrengend, wenn ich diese Frau zum Sprechen bringen will.' Er machte eine völlig unnötige Verbeugung, als würde er irgendeine Tür für sie öffnen. "Ich kenne dich nicht. Du bist keine Dienerin", sagte er. "Kann ich dir den Weg zeigen? Ich kenne mich aus."
Ihre Augen waren von unterschiedlicher Farbe. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht, ohne die Lippen zu berühren. Das Lächeln lag eingeschlossen in ihren klug wartenden Augen. Der Wind bewegt ihr das Kleid und wehte Duft aus ihrem Haar.
"Ich sage dir meinen Namen, wenn du mir deinen sagst", schlug Woi vor.
Eine Stumme war sie, ohne Bewegung. Als Teil des Gartens, bot sie Berührung an wie eine Blume, ein Blütenzweig.
"Was ist das, wonach du riechst?", fragte Woi.
Nichts als eine Locke, die sich auf der Stirn zeigen durfte. Dorthin gehörig, nicht zum gussfließenden Haar.
"Wo kommst du her?"
Ihr Schweigen hat schöne Augen. Wie leicht waren dagegen Tierstimmen nachzuahmen! Dieses wortlose Sprechen dagegen würde Woi durch kein Üben so hinbekommen.
"Gehörst du zu denen, die wegen meinem Vater und seiner Hochzeit hier sind?" Wieviele Fragen hatte er gestellt, ohne eine Antwort von ihr zu bekommen! Und doch kam er sich nicht eigentlich wie ein Idiot vor!
"Ich heiße Ihscha." Ein Lächeln fiel von ihren Lippen in die Sträucher des Bambus.
Auch Woi lächelte. Er machte seine Augen groß und stumm, so gut es ging. Jetzt war sie dran.
"In meinem Reich bin ich eine Fürstin", sagte Ihscha.
Woi schwieg entschlossen und mutig, aber so ein Dauerlächeln konnte anstrengend sein: Die Augen brannten, und an den Backen hielt sich ein Zittern fest.
"Du vergisst doch nicht zu atmen?" Ihscha sah sorgend in Woi hinein, wo die Luft zu Ende ging.
Offenbar hatte er seine Wirkung erzielt. Nur das Atmen hatte er vergessen. Deswegen war alles so anstrengend gewesen!
"Wie alt bist du denn?" Sie sprach vom Alter wie von einem fremden Land.
"Ich bin alt genug", sagte Woi. "So alt bin ich, dass man mir alles sagen kann. Ich kenne viele Geheimnisse. Aber ich darf nicht darüber sprechen. Eben wir ein richtiger Mann." Er verschränkte die Arme wie einer der Fürsten aus den Büchern seines Vaters.
Ihre Augen holten sich das Licht aus einem anderen Teil des Gartens.
"Was ist das für ein Reich, wo du eine Fürstin bist?", fragte er und berührte ganz leicht ihren Arm, damit sie ihn ansah.
Sie waren am See angekommen. "Sieh mal, Woi, oben glänzt er wie ein Spiegel. Darunter, im Dunkel, liegt mein Reich. Dort gibt es kein fremdes Licht. Tag und Nacht entstehen aus unserem Gefühl."
"Och, mir würde das nichts ausmachen. Manchmal stehe ich nachts auf, wenn keiner etwas merkt. Hast du auch Diener, die auf dich aufpassen?"
"Die Lieder sind unsere Diener. Sie bewirten die Wünsche, das sind unsere Gäste. Und die Träume schicken wir aus, um zu spionieren."
Ihscha nahm einen Stein auf. So geschickt warf sie ihn auf das Wasser, dass er mehrmals aufsprang. Kein schlechter Wurf für eine Fee - oder was sie war.
"Du bist doch wirklich?", fragte Woi. "Oder wirst du dich wegzaubern?"
Ihscha zeichnete mit der Hand die Kreise nach, die auf dem glatten Wasser verschwanden. Wenn das ihre Antwort war, dann tat es ihm leid, dass er gefragt hatte.
"Ich will dir etwas schenken", sagte er. Es kam mutig heraus und schrecklich laut über das Wasser zurück.
Sie nahm die Hände vom stillen Wasser und zeichnete Kreise in der Luft, ganz nah vor Wois Augen.
"Komm her, ganz nah mit deinem Ohr" flüsterte er. "Weil es etwas Besonderes ist, noch näher." Da war sie schon ganz nah an ihn herangerückt. und Woi war noch nichts eingefallen. "Höre gut zu, ich sage es nur einmal und ganz leise. Es ist ... ich schenke dir ... ein Gedicht - aber es ist noch nicht fertig!" Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange, so erleichtert war er, dass ihm das Geschenk noch eingefallen war.
Den Kreisen nach versank ihr Blick in der Mitte des Sees. Der wusste mehr von der Traurigkeit dieser Frau, als ein Fürstensohn ahnen konnte.
"Wonach riechst du?", fragte Woi.
Ihschas Blick kehrte in ihre Augen zurück. "Magst du es?" Dann wieder traurig und fern: "Es hat viele Namen, soviele, das keiner richtig ist."
"Hmm, ja", sagte Woi und dachte, dass sich ihre Worte ebensowenig festhalten ließen wie die Wasserkreise.
Sie legte ihm die Hand auf den Kopf: "Du denkst an das Gedicht, Woi, nicht wahr!?"
"Ein paar Wolken noch", sagte Woi, "dann ist es fertig!"
Chapter 26. Ihscha prüft den Fürsten
Noch war kein Diener im Zimmer des Fürsten gewesen. Auch der Morgen hatte keinen Spalt gefunden hereinzusehen. Alles Licht war vom gestrigen Tag übriggeblieben und zeichnete mit schwindender Kraft die Gestalt des Fürsten nach, der in einem langen Nachthemd auf dem kleinen Holzschemel saß.
Auf dem Steinboden waren ihm die nackten Füße kalt geworden. Vom gestrigen Abend standen noch Speisen auf dem Tisch. Hatte er von ihnen gekostet? Er versuchte, sich zu erinnern, aber Betäubung hatte die Zunge überzogen wie die faltige Haut die Soßen. Der salzige Geruch, den seine Achseln verströmten, war das einzige, was er riechen konnte.
Da hörte er die beiden kommen: den Mann, der immerfort hustete, und die Frau, die ihren Duft wie ein Säckchen umhertrug, die Gedanken der Männer einzusammeln, als seien es Geldstücke. Sie gehörten zum Gefolge des Nachbarhofes, dessen Fürst als abergläubisch bekannt war und jedem, der ein Wundermittel anbot, sein Ohr schenkte.
Der Mann und die Frau waren gekommen, herauszufinden, ob Fürst Alta zur Ehe und auch zu ihrem Vollzug taugte. Vor den Kaiser sollten sie ihr Urteil bringen, aber der Fürst wusste genau, dass sie es vor den anderen Fürsten bringen würden, nur vor ihn, der sich für seine Tochter und für seine Pläne rückversichern wollte.
Die Frau war dem Fürsten zuwider. Sie war wie eine von den Käuflichen, die einem hochgestellten Reisenden für die Nacht aufgedrängt wurde, auch wenn er wieder und wieder sagte, dass er erschöpft von der Reise sei. Oft kamen sie erst in der tiefsten Stunde des Schlafes, spannten ihre giftigen Netze auf, entzogen den Wünschen den Boden der Heimlichkeit und tranken sie leer.
"Ich habe niemanden gerufen", sagte der Fürst ohne Stimme.
Der Mann hustete und spuckte seinen Auswurf in einen silbernen Napf, den er in der Hand hielt. Die Frau hatte die gleißenden Augen der Bogenschützin, die den alten Hirsch vor sich sah, der ihr nicht mehr entkommen konnte.
Langsam zog sie dem Fürsten das Nachtkleid über den Kopf und legt es beiseite. Der Schemel fiel und schlug auf den Stein. Ihr Duft war nicht billig. Sie nahm seine Hand und hielt sie wie einen toten Vogel.
"Ich heiße Ihscha", sagt sie. "Aber das ist nicht wichtig. Ihr seid der Fürst. Ich soll finden und ihnen sagen, ob ihr einer Frau einen Sohn zeugen könnt. Mir ist das nicht wichtig und euch vielleicht auch nicht. Aber ihnen, die mich schicken, ist es wichtig - sie lassen mich mit dem Leben für mein Urteil bürgen!"
'Töte, Bogenschützin, töte, sonst wirst du getötet', dachte der Fürst.
"Wir haben eine Muschel mitgebracht", sagte sie. Der Mann öffnete die Tasche und holte etwas heraus, das er vor den Augen des Fürsten zu verbergen suchte.
"Ich werde sie ansetzen", fuhr sie fort. "Wo das ist, könnt ihr euch denken. Es wird nicht wehtun, vielleicht ein wenig kratzig sein im Anfang, aber dann wird euch wohl. Die Farbe der Muschel, wenn ich sie abnehme, wird mir verraten, ob ihr einen Sohn zeugen könnt."
"... wird euch verraten", sagte der Fürst ihr widerstandlos nach, "... wird euch verraten."
Er spürte, wie sie die Muschel ansetzte. Erst war es kratzig, wie sie gesagt hatte, dann begann Taubheit sich auszubreiten.
Gemeinsam warteten sie. Ihscha hatte die Augen geschlossen und bewegte die Lippen, als führe sie ein Gespräch. Der Mann fühlte an seinem Hals nach einem Husten. Der Fürst betrachtete lange sein von allen Kennmalen gereinigtes Gesicht. Selbst die Ohren waren eingewachsen, die Stirn zur selben Rundung geformt wie Nase und Wangen, das Kinn im breiten Hals verschwunden.
Ein Diener blieb draußen vor der Tür stehen, um zu lauschen. Da löste sich die Muschel und fiel zu Boden. Sie hörten, dass der Diener fortlief.
"Sie hat sich gelöst", sagte Ihscha, als die Stille zurückgekehrt war. "Wenn sie wollen, können wir es noch einmal probieren."
Ihscha nahm die Muschel auf und öffnete sie. Lange sah sie hinein, hielt sie mal in dieses Licht, mal in jenes. Einmal, noch einmal roch sie daran.
"Ist es nicht deutlich genug?", fragte der Fürst ärgerlich.
"Die Zukunft ist deutlich", sagte Ihscha leise. "Was ich lese, ist die Vergangenheit."
"Die Vergangenheit geht euch nichts an?", brauste der Fürst auf.
Ihscha hob abwehrend die Hände. "Gemach, gemach, Fürst. Ich will euch nicht schaden, nur meinen Auftrag erfüllen. Die Vergangenheit, euer Sohn ..." Sie sprach es nicht aus, sondern drückte dem Fürsten mit einem langen wissenden Blick die Muschel in die Hand.
Der Fürst gab den beiden bittend zu verstehen, dass sie gehen sollten. Er war erschöpft, furchtbar erschöpft. Sollte die Frau ihr Wissen haben, aber er duldete nicht, dass sie es vor ihm wie vor ihrem Mitverschwörer ausbreitete!
Solange er die Schritte im Gang hörte, hielt er die Augen geschlossen. Ihm war dies alles zuwider: Sollten sie doch ihren Hokuspokus bei jemand anderem ausprobieren!
Als er hörte, dass eine weitere schwere Tür zufiel, sah der Fürst suchend nach seinem Nachtkleid. Sie hatten wohl vergessen, es ihm zu lassen. Er betrachtete die Muschel in seiner Hand. Sie war geschlossen und vielleicht schon tot.
Er wusste nicht, wohin er sie legen sollte. Ihm war zumute, sie aus dem Fenster zu werfen. Aber er wäre nicht weit genug mit seinem Wurf gekommen, und sie wäre auf dem Hof zerplatzt. Würden nicht alle die Muschel sehen und nach ihrer Bedeutung fragen? Ehe nicht alle wussten, was an ihrem Fürsten festgestellt worden war, würde niemand sie anrühren und entfernen.
Wo konnte er die Muschel verbergen? Er sah zu dem Bett hin. Nein, es kam ebensowenig in Frage wie einer der Schränke! Wenn es zu riechen begann, würden die Diener nachschauen. Es gab keinen Ort, wo die Diener nicht nachschauen würden. In seinem großen Hof hätte er nichts vor ihnen verstecken können. Es stand traurig um ihn.
Nackt wie er war, in den Händen die Muschel, setzte er sich auf das Bett und sah an sich herunter. Er hielt die Muschel an sein grauschlaffes Glied, aber sie war gestorben oder appettitlos geworden. Konnte er ihr das übel nehmen? War ihm nicht ebenso zumute?
'Ich könnte sie bei mir tragen', dachte er. Aber die Diener würden sich nicht nehmen lassen, ihn zu kleiden. Wie würde sie schauen, wenn er eine solche Muschel unter seinem Wams trüge!?
Da hatte er den Einfall, was er mit der Muschel tun konnte. Das Wasser war der richtige Ort für dies Ding! Es gab eine Stelle, die er in seiner Erinnerung liebte. Dort würde er die Muschel lassen können: bei den ausgehöhlten Weiden, unter den, sich auf dem Wasserspiegel abstützenden, altersschweren Armen, am schwarztrüben Ufer des Flusses, wo das Licht zwischen Himmel und Erde sich nicht entscheiden konnte.
Chapter 27. Woi schenkt Ihscha ein Gedicht
Woi ging die Wände entlang, an denen die Maler ihre Rollbilder befestigt hatten. Die Berge und Wiesen waren fertig. Einer der Maler malte, wie der Fluss hinter der Stadt verschwand. Ein anderer Maler hatte die Reisenden gemalt, die Tiere und Bauern, die Frauen an den Wasserstellen.
Der dritte Maler war etwas besonderes. Er trug kein Malerkostüm und war auch nicht bekleckert wie die anderen. Mit sehr feinem Pinsel malte er eine Vorzeichnung des Fürsten. Betont langsam zog er die Striche, damit die Farbe dicht und glänzend blieb.
Einmal war der Fürst zu sehen, wie er den Bauern etwas über deren Kühe sagte. Ein anderes Mal kämpfte er mit seinen drei Freunden den Berg hinauf. Und ein letztes Mal zog er mit seiner neuen Frau in die Stadt ein. Dabei war der Fürst so groß wie das Tor, und die Wachen waren nicht größer als das Schwert, welches er trug.
"Was macht mein Vater?", fragte Woi und zeigte auf seinen Vater und den Bauern mit der Kuh.
"Wie bitte?", fragte der besondere Maler.
"Fragt er den Bauern, wie das Tier heißt? Ich bin nämlich sicher, dass er es gar nicht weiß!" Woi lachte, aber die Maler schauten sehr ängstlich drein.
"Auf dem Bild stimmt nichts", hielt Woi ihnen vor. "Sehen sie, mein Vater hat nie gekämpft, in seinem ganzen Leben nicht!" Woi sah sich um und begann zu flüstern: "Und die drei Freunde - sind allesamt erfunden. Ja, die hat er sich einfach ausgedacht!"
Der besondere Maler sagte nichts. Nicht einmal: 'Wie bitte?!'
Die beiden bekleckerten Maler hatten sich an den Händen gefasst und waren zurückgetreten. Sie standen so still, als hätte der besondere Maler auch sie nur gemalt.
"Mein Vater ist nicht so groß, wie sie ihn malen." Woi trat dicht an den Maler heran. "Ich muss ihnen leider sagen, dass mein Vater klein ist und schnarcht und fast jede Nacht aus dem Bett fällt. Fragen sie die Diener, die können es ihnen sagen!"
Der besondere Maler hatte einen ausgedünnten Bart mit feinen langen Härchen, die aussahen, als würde er von ihnen für seinen Pinsel nehmen.
Gerade als die Maler langweilig wurden, kam Ihscha. Sie wirkte erschöpft, als habe sie schwer gearbeitet.
"Was hast du gemacht?" fragte er.
"Ein Geheimnis hat sich bei mir ausgeweint" sagte sie und zog ihn von den drei Malern fort, die mit dem gleichen Grübelmuster auf der Stirn beobachteten, dass sie sich mit dem Fürstensohn gemein machte.
"Geheimnisse weinen nicht", sagte Woi. "Nicht mal Tiere können weinen."
"Komm!" sagte Ihscha und fasste ihn an der Hand.
Er ging mit ihr und sah sich nach den Malern nicht mehr um. Sie kamen an dem Bett vorbei. Es war immer noch zu groß für die Tür, aber stand jetzt auf dem Kopf. Der Mann, der so geschrien hatte, lehnte müde an einem seiner Beine. Es roch nach Schweiß und frischem Lack.
"Komm!" sagte Ihscha und zog ihn weiter.
Erst als sie im künstlichen Garten angelangt waren, hörte sie auf, ihn zu drängen. Es war wie immer zu warm. Die lackierten Blättern waren von fadiger Feuchte überzogen. Viele der Blüten waren so groß wie Wois Hand. Seltsame Gebilde waren darunter. Manche waren so fest, als wären sie geschnitzt. Ihm war unwohl an diesem Ort.
Hinter Ihscha stand eine Pflanze, die grüne Blätter hatte mit einem silbernen Rand wie ein Eiskranz. Die Blüten glichen Bündeln von kleinen Lichter.
"Ich habe dich gesucht" sagte Woi.
Statt eine Antwort zu geben, schlüpfte Ihscha aus ihren Schuhen und betrachtete ihre nackten Füße.
"Ich finde, du bist nicht viel größer als ich", sagte Woi.
"Nein", sagte sie, "vielleicht ein wenig."
"Sollen wir uns Rücken gegen Rücken stellen. Dann können wir sehen. Vielleicht sind wir gleich groß."
"Gut", sagte sie. "Wir drehen uns um, legen jeder eine Hand auf den Kopf und schieben sie aufeinander zu. Wenn sich unsere Hände berühren, sind wir gleich groß. Dann wissen wir es genau!"
Sie drehte sich um. Er hatte nicht gedacht, wie lang ihr Haar war. Vorsichtig stellte er sich gegen ihren Rücken auf. Er musste sich eng an sie stellen, sonst wäre es nicht gegangen. Dabei spürte ihren Po an seinem. Weil er seine Hand vergessen hatte, lag ihre zuerst auf seinem Kopf.
"Du hattest recht, Woi", sagte sie, "siehst du, wir sind gleich groß."
Ihm war sehr schwitzig geworden. Er kam sich vor wie in einer sehr engen Blüte. Ihr dagegen schien die Hitze nichts auszumachen.
"Deine Augen glänzen", sagte sie. "Wenn die Augen eines Bären glänzen, dann heißt es achtgeben für das Reh."
"Nein", sagte Woi, "die glänzen nur so, und außerdem habe ich ein Gedicht für dich."
Als er es hervorgezogen hatte, war es ein wenig zerdrückt. Vorsichtig rollte Ihscha das Gedicht auseinander und glättete es. Fast war Woi stolz darauf, wie behutsam sie mit seinem Papier umging.
"Lies es mir vor", sagte sie, nachdem sie das Blatt lange betrachtet hatte. "Ich kann nicht lesen."
Daran hatte Woi nicht gedacht! Er war nur froh, dass Li ihm ihr Gedicht einige Male vorgelesen hatte, denn mit dem ersten Lesen von Gedichten stand es bei Woi schlecht. Also begann er langsam und suchte zwischen den Zeichen nach seiner Erinnerung:
'Hier bin ich',
sagt der junge Bär.
'Ich bin die Macht',
spricht das Tor.
'Und ich die Zeit',
knurrt der alte Baum.
"Das bin ich, der junge Bär", erklärte ihr Woi, "und das andere ist, weil ich jetzt ein Wappen habe!"
Wem träumt, wem schweigt ihr, Fluss, Nacht und Baum?
Schloss nicht ein Käuzchen
schrie der Blumen Herz?
Wem hält der schwarze Mond den Sternenschirm?
Stand nicht der Vater
rief am Windeweg?
'Hmm', dachte Woi, 'ein bißchen dick das.'
Aber er war entschlossen, jeden Zweifel niederzutreten: "Du glaubst nicht, dass ich das Gedicht geschrieben habe? Stimmt's!? Also gut, ich schwöre einen großen Fürstenschwur, dass dieses Gedicht mit der Tinte meines Pinsels geschrieben wurde. Das schwöre ich! So was fällt mir eben ein, wenn ich nachts nicht schlafen kann. Mir ist selbst ein bißchen komisch dabei - gebe ich ja zu."
Ihscha lächelte. Woi stellte fest, dass sie die einzige war, die Gedanken weglächeln konnte. Was er sagen wollte, hatte er vergessen.
"Wer dies geschrieben hat, Woi", sagte Ihscha, "dessen Herz ist eine Insel, von der grauen See umtobt. So heißt es in einem Lied. Wer dies geschrieben hat, der sollte mehr schreiben als nur dies, Woi."
Durch ein feierliches Fürstennicken gab Woi zu verstehen, dass er ihren Rat in Erwägung ziehen werde. Doch dann rückten ihre Augen soweit in die seinen vor, dass ihm das Lügen zuviel wurde.
"Das Gedicht, das ich dir gegeben habe, ist von der Li, nicht von mir", gestand Woi. "Ich kann so etwas nicht. Ich wollte nur mein Versprechen halten."
"Habe ich also nichts von dir bekommen ..." stellte sie leise fest.
"Nein", sagte Woi, fühlte sich aber trotzdem sehr erleichtert. Nun konnte ihm ihr Lächeln nichts anhaben. Er blickte fest zurück, bis sie die Augen niederschlug.
"Habe ich noch einen Wunsch ...?", fragte sie.
"Ich gebe zu, das Gedicht zählt wirklich nicht. Du hast einen Wunsch frei." Woi verbeugte sich mit durchgestrecktem Rücken, was dem Versprechen eines Fürsten gleichkam.
"Nicht wahr, du bist jetzt ein Mann! Ich wünsche mir von dir die ersten Tränen, die du weinst. Sie sollen mir gehören." Sie sah besorgt drein, als sei ihr der Wunsch von großer Wichtigkeit.
"Ich weine nie", sagte Woi. "Und wenn ich ein Mann bin, dann überhaupt schon nicht."
"In deinem Traum werde ich zu dir kommen. Du wirst sehen, ich bekomme deine Tränen."
Sie legte ihm die Hand sanft auf die Lippen: "Sag nichts mehr. Du gibst mir die Tränen, und ich mache dich glücklich, wo du mich traurig machst. Du darfst aber niemandem davon erzählen!"
Durch eine zweite rückensteife Verbeugung gab Woi zu verstehen, dass sie sich auf ihn verlassen konnte. Außerdem kam er sich sehr erwachsen vor.
Als sie sich bückte, um ihre Schuhe anzustreifen, betrachtete Woi ihre Haare, die wirklich sehr lang und sehr schön waren. Beim Aufstehen berührte Ihscha mit dem Arm die Eiskranzpflanze, deren Bündellichter wie wild über ihr auseinanderstoben.
Chapter 28. Hochzeitsvorbereitung
Am Nachmittag hatte der Fürst einen kurzen Schlaf gehalten und war in seinem Traum ein junger Mann gewesen, der nichts als einen Schurz trug. Mit feuchter Nase hatte ein Hund zu schnuppern versucht. Dem Hund boxte er kräftig auf die Nase und verscheuchte ihn winselnd. Die kräftigen Muskeln des Fürsten hatten schön in der Sonne geglänzt.
So jung er gewesen war, so alt und fettschwartig hässlich war leider die Braut. Es war ihm nicht gelungen, sie mit all seinen schönen Muskeln hochzuheben. An den Fingern wuchsen ihr lange, gelbe Nägel, als sei sie schon eine Weile tot. Als erstes hatte sie ihm seinen Bogen abgenommen. Dann schimpfte sie so laut über seine Nacktheit, dass sich die Sonne verdunkelte. In seinem Traum war er losgerannt und hatte sich in einen See gestürzt, mit einem Riesensprung. Er schwamm, und es war trotzdem sehr ruhig gewesen und voller Licht. Es gelang ihm sogar, sich im Schwimmen auf den Rücken zu drehen. Dann war er aufgewacht, weil er aus dem Bett gefallen war.
Ein Diener war hereingestürzt gekommen, und die Maler waren hinter ihm durch die offene Tür hereingetreten. Zwei von ihnen, gleichgültig und gehorsam wie Soldaten, trugen das Bild herein. Der blasse Hauptmaler wies sie umher, weil er mit keinem Ort für das Vorführen des Bildes zufrieden sein konnte. Schließlich kamen sie direkt vor dem Bett zu stehen.
Der Fürst hatte begonnen, das Gemalte zu betrachten. Wie in seinem Traum war er auf dem Bild um vieles jünger als in Wirklichkeit.
"Aber sehe ich wirklich so jung aus?" fragte er den Hauptmaler.
Nachdem dieser den Fürsten im Bett gründlich mit dem Fürsten auf dem Bild verglichen hatte, sagte er: "Doch das sind sie! Wir malen nur, wie wir es sehen. Wir sind berühmte Maler und kommen von weit her."
Der Fürst war sehr zufrieden mit ihnen. Vielleicht sollte er sich selbst einmal so sehen. Wenn er sich jung fühlte, dann sahen ihn auch die anderen jung. Dies war eine schöne und eine kluge Sicht.
Es waren ehrliche Gesellen, und sie hatten das alles sehr schön gestaltet. "Was mache ich da?" fragte der Fürst.
Der Maler antwortete: "Ein Bauer hat sie gebeten, sein Kind zu heilen. Sie weisen ihren Beamten an, was er zu tun hat. Dort ist die Kuh des Bauern. Sehen sie das Tier? Es ist eine Kuh. Die Frau des Bauern ist dort und trägt Wasser. Das kranke Kind ist wieder gesund. Sehen sie es in dem Fenster?!"
Der Fürst erkannte im Fenster ein Gesicht, das ihn glücklich ansah. Er wäre gerne Arzt geworden. Aber als Fürst hatte er sich nichts aussuchen können.
"Ich wäre gerne Arzt geworden." sagte er, worauf sich der Maler verbeugte.
"Ach", sagte der Fürst und zeigte, "und dort kämpfe ich mit meinen drei Freunden. Ja, meine drei Freunde, wie gern ich euch wiedersehe! ... Wo sind denn die Feinde? Es sind keine da!"
Der Maler blickte sich nach seinen beiden Soldaten um, aber diese legten nur ihre Köpfe schräg und sahen jeder zu einer anderen Seite auf den Boden.
"Der gnädige Herr Fürst ist wegen seiner Tapferkeit doch so bekannt", erklärte der Maler schließlich, "... sozusagen, sie haben sich nicht getraut zu kämpfen ... sind hinter dem Berg ... sozusagen gleicherwegs geflohen. Das war ja auch sehr klug von ihnen, nicht wahr."
Der Fürst nickte. Ja, denen wäre es schlecht ergangen im Kampf gegen seine drei Freunde und ihn, ganz sicherlich schlecht ergangen! Er machte eine tiefe Verbeugung. Der Maler und die beiden Soldaten betrachteten erleichtert ihren Berg.
"Und dort vor der Stadt, was mache ich da?"
"Der allergnädigste Herr Fürst zieht mit seiner Braut in die Stadt ein. Sehen sie die Menschen, wie sie sich freuen!"
Der Fürst mochte den Maler und sein Bild, aber eine Frage blieb: "Wo ist denn die Braut? Ich sehe keine Braut. Ist sie auch geflohen, wie die Feinde? Haha, Hahaha, ha!"
Alle drei lachten. Das war ein trefflicher Scherz! Der Fürst lachte sehr laut. Die drei Maler hörten erst mit dem Lachen auf, als auch der Fürst nicht mehr lachte.
"Nein, nein, Herr Fürst, sehr gut, nein, sehr lustig", sagte der Maler, wischte sich eine Träne von Wange ab und ein wenig Schweiß von der Stirn, "die Braut - wir haben die Stelle freilassen müssen - sehen sie, hier kommt sie hin. Ein Blick würde genügen ... unverzüglich gehen wir ans Werk, wenn wir sie erst gesehen haben ... Dann wird alles ganz ausgezeichnet wundervoll, nicht wahr!" Die Köpfe der Soldaten nickten, und der Hauptmaler schwitzte über seinen verwirbelten Augenbrauen.
Es war dem Fürsten nicht Ernst gewesen mit seiner Bemerkung! Wie konnten sie nur annehmen, dass er ihnen einen Vorwurf machen wollte! Er entließ sie gnädig und gab dem Diener Anweisung, sich um ihr körperliches Wohl zu kümmern. Sie waren gute Menschen und kundige Handwerker. Vortrefflich würde das Bild werden. Und sie hatten bereits eine sehr gute Arbeit geleistet.
Draußen hörte er einen Hofdiener mit schnellen Schritten heraneilen, der so schnell in das Zimmer hineinlief, dass der Fürst Angst hatte, er könne in das Bild hineinrennen, das die Nebenmaler hinaustrugen.
"Mein Herr, mein Herr", rief er und war völlig außer Atem, "da sind zwei Gesandte. Da sind sie! Gleich hinter mir her sind sie gekommen, ohne dass ich sie anmelden kann!"
Der Fürst sagte ihm, dass er ihm keinen Vorwurf mache und ging, im Nachtkleid, wie er war, den eiligen Herren Gesandten entgegen.
"Kommen sie, meine Herren", sprach der Fürst sie an, "wir sind hier mitten in den Vorbereitungen. Es gibt soviel zu tun. Ich muss nach allem sehen. Nicht das Kleinste soll vergessen sein."
Die zwei Herren trugen schwarze Mäntel. Wie sie stellte sich der Fürst seine Feinde auf dem Bild vor, bevor sie geflohen waren. Er würde den Malern auftragen, nach dem Aussehen der beiden Gesandten seine Feinde zu malen. Trotzdem sie in der Flucht begriffen waren, mussten sie furchterregend aussehen - ihre Schwerter, die ihnen aus den Händen geschlagen waren, die zersplitterten Spitzen der Speere. Ihre Mäntel würden wehen, weil sie es so eilig hatte. Er musste sich daran erinnern, noch einmal mit den Malern darüber zu sprechen.
Der Fürst geleitete seinen Besuch in den anderen Teil des Zimmers. Dort unter dem großen Fenster stand ein eiserner Tisch, und sie konnten sich zu einem Gespräch niedersetzen. Der Gesandte stellte sich und seinen Sohn Friede vor, welcher - wenn es der Fürst erlaube - dabei sein wolle, um den Dienst des Gesandten zu lernen.
Der Vater trug eine schwere Goldkette mit dem Wappen der Familie seiner zukünftigen Braut. Ein Glotzaugenfisch lag auf drei Wellen und hatte ein Maul, das den Fürsten an eine Muschel erinnerte.
"Wir kommen im Namen des Fürsten", sagte der Gesandte und sah ihn mit seinen und den Augen des Sohnes an. "Ich sehe, sie haben schon mit den Vorbereitungen begonnen, was uns anzeigt, dass wir gerade recht gekommen sind."
Der Fürst sagte nichts. Er sah den Sohn an, der sofort zu seinem Vater blickte. Der Gesandte legte seine Hand auf den Tisch. Nichts lag auf dem Tisch als dieser breite, selbstgewiss behaarte Vaterhandrücken.
"Unsere Vorbereitungen sind so weit NICHT gediehen, lässt ihnen unser Herr ausrichten. Er spricht von Stufen und von der untersten, sie verstehen!?"
Vier Augen sahen den Fürsten ausdruckslos an. Dieser schüttelte den Kopf, als habe er nicht verstanden. Der Gesandte überlegte, ob er noch deutlicher werden durfte, aber der Fürst kam ihm zuvor, indem er ihnen, ohne aufzublicken, mit einer müden Handbewegung bedeutete, dass sie entlassen waren.
Die zwei Gesandten waren lange fort, als der Fürst wieder hochsah. Er saß träumend an dem Tisch, gegenüber nun seine drei Freunde. Keiner von ihnen wusste, wer beginnen sollte. Sie sahen einander aus vielen Erinnerungen heraus an. Ein wenig traurig waren sie alle, aber ihre Freundschaft war von größerem Wert.
Er hatte sie eingeladen, und sie waren gekommen. Da gab es keinen Grund, traurig zu sein! Sie würden sich soviel erzählen können.
Vier Gläser funkelnder roter Wein standen vor ihnen. Damit erhob sich Kendir und sagte: "Wir trinken auf dein Wohl, Fürst. Wir trinken auf deine Gesundheit und das Glück deiner jungen Frau."
Der Fürst bedankte sich reihum. Er ging zu jedem von ihnen und schloss ihn in die Arme. Besonders Kendir, dem er für seine schöne Rede dankte. Sie hoben die Gläser und sahen sich in die Augen. Der Tag neigt sich dem Ende zu, war seiner selbst überdrüssig geworden, gerade die rechte Zeit, gut gereifte Flaschen und alte Geschichten zu entkorken.
Tenkho erzählt, wie sie zu zweit auf einem Pferd geritten waren, weil eines gelahmt hatte und den Wölfen überlassen werden musste. Von Tenkho kannte niemand die Herkunft. Er hatte sich zu ihnen gesellt, weil sie einen gemeinsamen Weg hatten und war geblieben.
Nell lächelt glücklich. Er war der Tapferste von ihnen und sagt nicht viel. Seine Gesichtshaut war ledern, seine Augen schmal und listig. Er war viel draußen und kannte die Natur. Überall fand er seinen Weg. Er war es, der jagte, damit sie zu essen hatten.
Kendir lachte und rief: "Wir wollten vor eurer jungen Frau davon nicht sprechen. Aber da ich sie nicht sehe, sei es schnell gesagt ..." Er machte eine Pause und hieb mit der flachen Hand auf den Tisch: "Wisst ihr noch, wie lang es ihn bei den Damen hielt. Als Letzter kam der Fürst an die Reihe und hatte nie genug. Da waren wir schon betrunken, da wechselte er zum dritten Mal das Pferd."
Die Freunde kamen und schlugen ihm auf die Schulter. Ganz wie früher erzählten und lachten und tranken sie bis in den frühen Morgen. Er dankte ihnen, dass sie die Zeit gefunden hatten, seiner Einladung zu folgen, und war schon anständig betrunken, als er ins Bett fiel.
Chapter 29. Woi träumt von Ihscha
Im Trakt der Küchen sang jemand ein Lied. Der Koch hatte wieder getrunken. Auf schwankender Wanderung begleitete ihn das Licht seiner Kerze. Er wie der Mond fanden keinen Schlaf, weil sie dasselbe Heimweh hatten.
Auf dem Feld hatte ein Tier einen Fang gemacht. Zwei Schreie versanken in der Stille. Ein Vogel rief. Ein zweiter antwortete von dort, wo sich die Bäume als schwarze Schatten gegen die helle Nacht abzeichneten.
Ein Soldat ging über den Hof zum Tor und drehte das stumpfe Ende seines Spießes auf dem Pflaster. Er mochte den Vollmond nicht. Eine Wache in dunkler Nacht war ihm lieber. Wenn das Licht wie heute schien, wurde das Dunkle fast schwarz. Fing einer es richtig an, dann konnte er sich unsichtbar machen.
Wieder hörte er dieses Geräusch. Nun war es ganz nah. Seide, die über nackte Haut strich. Geschmeide. Getanzte Schritte. Ein Duft, flüchtig und schwer. Es musste eine Frau sein! Aber er sah nur den hell beschienen Hof. An seiner Seite im völligen Dunkel musste sie vorbeigeglitten sein.
Sein Kamerad kam von der Runde um die äußere Mauer und schritt im Kies auf ihn zu. Er hatte den Kopf gesenkt und schlürfte mit Füssen und Blicken gleichermaßen unachtsam.
"Hier ist eine Frau vorbeigekommen, gerade eben", sagte der Soldat. "Hast du sie gesehen?"
"Nein, ich habe niemanden gesehen" antwortete sein Kamerad. "Wie sah sie denn aus?"
"Ich habe sie nicht gesehen", kam die Antwort. "Ich habe sie gehört und gerochen. Ich bin sicher, es war eine Frau. Sie muss hier vorbeigegangen sein."
Sein Kamerad sah ihn nachdenklich an: "Willst du wirklich, dass ich Meldung mache?"
Der Soldat drehte den Spieß in seiner Hand. "Ich weiß nicht recht."
"Willst du, dass ich Meldung mache über einen Kameraden, der unsichtbare Frauen riechen kann?"
"Ach, Idiot, laß gut sein ..."
Die Eingangstür bewegte sich, dass eine schlanke Person hindurchschlüpfen konnte. Sie blieb einen Spalt offen, weil der Mond einen Fuß dazwischen gesetzt hatte, um auch in den Gang zu treten.
Das zottelige Licht einer schwankend gehaltenen Kerze überraschte den Scheuen und suchte ihn mit öligen Fingern zu fassen. Der Koch kam aus der Tür seiner Küche. Sein Gesicht war aufgedunsen, wie verformt.
"Ich riechdich, ich hördich, kenn dich wohl, was von für einer Sorte du bist. DuNutte kommher. Bist du eine von die Schwestern, die man bitten muss? Was denkst du, dass du besser bist als unsereinem? Nix als eine Nutte bist du, nix als für 3 Scheissgroschen eine zu haben!"
Sein Gesicht schwankte zwei Schritte in die Dunkelheit hinein. "Hier, kommher, der Koch zeigt dir sein Männchen! Kommst du mit, trinken wir was? ... ich riech dich ... bist eine vonne Seidendamen, he?!"
Die Licht der Kerze verlosch, und der Mond suchte eiligst zu entkommen. "Was ist'n mit mein'm Licht los ... ist ja niemand da ... nee, keiner dort ... da nix ... was ist'n, wo versteckt die sich? ... Nee, mein lieber Koch, bist besoffen und wie ein Faß voll ... gehst du besser auf dein Zimmer und dann die kleinen Äuglein zu ... Zu so einem wie ich bin kommen die so fein sind nur in seim Traum!"
Auf seinem Weg, der ihn den Gang entlangführte, von einer Seite zur anderen kreuzend, sang er ein trauriges Lied, bei dem sich gefühlvoll ein Dauerhicksen untergehakt hielt.
In den Gang war die Stille zurückgekehrt. Die grünen Augen einer Katze schlichen die Wand entlang. Vorhänge wurden von einem nachtwachen Luftzug bewegt. Ein Duft schwebte durch den Raum. Wurde zum Bild. Der Duft von Rosen, die in der Hand zerrieben wurden. In den kleiner werdenden Sicheln der Katzenaugen lag das Grün noch eine Weile wach.
Hatte Woi sich bewegt? Er war unruhig geworden, schlief aber fest. Etwas war in seinen Traum hineingeweht. Schatten formten Ihschas Gesicht. Leuchtsamen, die von einem Eiskranz aufflogen. Ein Lächeln ohne Lippen. 'Fee, dein schwarzes Haar ...' Blinder Blick des Träumenden. 'Versprechen, das ich dir gab ...'
Aus der Stille erforschte ein Atem den Raum, dem Zögern entglitten. In schwarzen Augen ertrank der Mond, auf weißer Haut sein Todgedicht. Mitgebrachte Schatten suchten sich zum Schauen ihren Platz.
"Dein Traum ruft meinen Namen, Geliebter", flüsterte Ihscha. "Satt an sich selbst wird kein Verlangen. Was im Schlaf geschieht, ist nichts, als was der Schlaf dir gibt."
"Ihscha, bist du es wirklich?", flüsterte Woi, und seine Hand suchte einen Weg aus dem Traum heraus.
"Die Wachen sind sich uneins, ob ich wirklich bin - der Koch war zu betrunken."
"Was redest du? Von Wachen und von welchen Leuten? Ich verstehe nicht!" Unruhig wälzte sich Woi. Der Zweifel hatte ein Gitter auf seine Stirn gesetzt.
"Still, sei ruhig, trau nur mir und dir."
Bruch aus einer alten Weise glättete Woi die Stirn. War fort, eh die Erinnerung sie festhalten konnte.
"Versprachst du mir am Tage nicht deine ersten Tränen? Nun bin ich da, sie mir zu holen!"
"Ja, ich gab mein Wort, schenk sie dir und was du willst!"
"Keine Frau wirst du lieben wie mich? Sag es!"
"Niemals eine wie dich!"
"Keiner Stunde wirst du einen anderen Namen geben als meinen?"
"Keine Stunde, die dich vergisst!"
"In allen Küssen wirst du nach mir verlangen? Aus den schönsten Augen sieht nur Ihscha dich an?"
"Alles nur Bild von deinem Bild!"
"So nah dem Himmel darf nie mehr ein Verlangen sein!?
"Das kann nicht sein, und ich versprech' es dir!"
"Wie ertrüge das Herz je wieder eine solche Liebe!?"
"Es sei dem Tod geweiht, wenn es dir untreu wird!"
"Dann, zum Lohn, sei mein Geliebter, und hör die alte Weise aus keinem als meinem Mund. Höre, so höre die Weise der Jungen: 'Fern, wie fern ist der Steg - Taub, wie taub ist der Sturm!' Löse das Band und den Gurt. Unterm Seidenblütenregen findest du so weich ein Kleid wie keins. Höre, so höre die Weise der Alten: 'Schwarz, wie schwarz ist das Meer - Weiß, wie weiß ist der Tod!' Nimm den Weg, die glühende Spur auf meiner Haut wie Schnee. Geh ihnen nach, den Stimmen, den flüsternden, zu geheimem Ort. Leg auf den einzigen Pfeil. Spann den Bogen des Rückens. Zitter und halt. Zerreiß im Ziel. Sirrend die Seele im endlosen Flug der Tränen. Nimm mein für dein Herz. Dem Vergessen, der brechenden Welle, will Ihscha gestehen, dass sie sich Kostbares nahm, Unschätzbares, den Schlüssel zum Altar und zum Atem deiner Väter. Ewig sei ihre Schuld und niemals vergessen."
Woi atmete schwer, als kämpfe er darum, sprechen zu können. Auf seinem Bauch lag angewinkelt der rechte Arm, der linke ausgehebelt unter seinem Rücken. Der Schlaf häufte Gewichte auf seine Brust, sprach Verworrenes aus, gab Versunkenes preis und zog ihm mit Ihschas Hand und Duft das Laken über die Schulter.
Achtlos wurde Seide zum Kleid, und jeder der Schatten verleugnete sich vor der Gier. Der Boden war kalt und zählt der Frau die Schritte nach, dass keiner ihm übrig blieb.
Dem Soldat, der beim Küchentrakt stand, war es erneut, als gleite eine Frau geräuschlos an ihm vorbei. Ein süßlicher, blumiger Duft streifte ihn und verschwand im Haus.
Chapter 30. Der Fürst bei Mama Ho
"Kommt und begrüßt sie, lieber Hofmarschall!", rief der Fürst. "Habt teil an meiner Freude, meine drei Freunde endlich bei mir zu sehen! Schaut sie euch an! Dieser da ist Tenkho, und grimmig schaut er aus. Kendir ist ein Meister der Fechtkunst, und Nell kenn ich nicht minder tapfer. Seht sie euch an!"
Der Hofmarschall krümmte sich wie ein Fragezeichen. Aus sicherer Entfernung beobachteten die Diener, ob der Hofmarschall sich vor dem Hirnbild des Fürsten zum Gehorsam anschickte.
"Ja, wo sind denn die Maler? Ich will eine Antwort! Wo sind die Maler?", rief der Fürst erzürnt.
"Oh, Fürst, die Maler sind ... Sie waren am Anfang so zuversichtlich ... Es fehlte ja nicht viel ... ließe sich da nicht warte? ... Wäre es nach uns gegangen, sie wären geblieben!"
"Was stammelst du für Zeug? Sag ihnen, den Herren Malern, wenn nicht alles morgen prächtig fertig ist, dann sollen sie keinen Lohn bekommen, nicht einmal Proviant für ihre Reise! Pack dir die Maler, sag ihnen, dass sie meine Freunde zu malen haben! Ich will sie auf dem Bild sehen. An meiner Seite sollen sie gegen die Feinde im fliehenden Mantel kämpfen."
Seine drei Freunde waren hungrig und durstig von der Reise. Nicht sich, noch die Pferde hatten sie geschont. Bei allem Staub auf ihren Gewändern, sah man doch gleich ihre edle Haltung und hohe Geburt.
"Hei, Diener", rief der Fürst, "so kommt her und zeigt meinen Freunden ihre Zimmer. Ja, was guckt ihr so blöd? Die besten Zimmer! Was gibt es zu gaffen? Dass mir keiner unfreundlich wird, ein böses Wort und ich schicke euch auf die Felder. Was!? Ihr wollt ihnen die Sachen nicht abnehmen!? Nicht so faul! Kommt her, ihr anderen! Was steht ihr da? Helft und fasst zu!"
Ja, musste er ihnen denn alles zeigen!? Da, den Sack dort auch! Ja, der gehört Tenkho. Vorsicht damit, die Sachen für die Jagd! Nein, das Schwert lässt Nell nicht aus der Hand. Aber das dort auf das Zimmer, es gehörte Kendir! Zornig war der Fürst mit den Dienern, trat ihnen in die Hacken, dass sie sich schneller bewegten.
"Geht euch nichts an, was drin ist!", rief der Fürst, als sie die Sachen genommen hatten und glotzend standen und hineinsahen. "Tragt sie nur hoch! Und das mir keiner aus Neugier die Nase hineinsteckt!"
Er kniff den drei Freunden ein Äuglein: "Ihr müsst sie verstehen. Was haben sie schon vorbereiten können? Nicht einmal ich hatte euch erwartet! Kendir, Nell, Tenkho, treibt sie an die Faulen, dass sie das Springen lernen! Ich lasse draußen frische Perde satteln. Soll alles wie früher sein! Wir reiten in die Stadt. Zur Hochzeit haben wir euch geladen. Sie gehört der Braut mit allem Recht, aber heute die Nacht gehört den Mädchen, den leichten, den federleichten!"
Endlich scheuchte auch der Hofmarschall die Diener, die immer noch standen und die Augen aufsperrten. Wenn es des Fürsten Wille war, seine drei Freunde zu bewirten, dann hatten sie ihr Bestmöglichstes zu geben und sich dienend, nicht fragend zu kümmern.
"Was ist mit dem Mahl? Ist es auch für vier zu richten?" fragte der Hofmarschall.
"Ja, was wohl? Der Dumme fragt, ob wir zu Tische gehen!" rief der Fürst. "Da hörst du die Antwort, Hofmarschall: Spät wird's werden. Mit dem frühen Morgen sitzt wohl ein vierter Gast am Tisch!"
Vier der besten Pferde hatte er schnell ausgewählt. Ihre Reiter ließen sich nicht lange in die Sättel bitten. Einen Gruß noch den Wachen, die ihnen verdutzt hinterhersahen. Hatten wohl gedacht, die drei Freunde würden sich nach langem Ritt in fauler Art zu Ruhe legen!
Sie ritten wie früher dicht auf dicht, einem Gespann gleichend, hintereinander her. Waren jene dort nicht die Maler, die erschreckt zur Seite traten?
Der Fürst rief nach hinten: "Das waren die Maler, Nell! Sollen wir nicht anhalten, dass sie euch malen können?"
"Soll ich die Damen für ein paar Maler warten lassen. HAHA!" rief Nell.
"Schon rollt der Schnaps im Faß heran! HAHO!" kam es von Kednir.
"Die Musik läßt alle Kleider fallen! HOHA!" stimmte Tenkho ein.
"HOHO! Die Nacht liegt vor uns wie eine Jungfrau. HOHO!" rief der Fürst und trieb sein Pferd zur Eile an.
Die Maler sahen ihnen noch eine Weile nach, bevor sie ihren Weg fortsetzten. Der Hauptmaler schüttelte den Kopf. Die beiden Nebenmaler rieben sich den Staub aus den Augen.
Gemächlich ritten der Fürst und seine drei Freunde in die Stadt ein. Die Menschen schauten sich nach den drei scheuenden Pferden um. Ein Betrunkener fasste sich an den Kopf, verlor den Halt an einer Laterne und torkelt eine Hauswand entlang in eine Tür, wo er sich niedersetzte, bis er zetternd vertrieben wurde.
In dem Teil der Stadt, der den Tag bereits billig fortgegeben hatte, in einer Straße, die in ein blindes Ende führte, saß Mama Ho, alterslos und zweihundertzehnpfundig, wie es sich für eine Schutzpatronin gehörte.
Machte sie ihren Mädchen etwa das Leben schwer!? Gab es nicht genug zu essen und zu trinken!? Dann wollte sie auch keine Klagen hören!! Froh konnten die Mädchen sein, dass es nicht mehr so zuging wie früher!! Wer da nicht parierte ...! Da lachten sie nur und sagten: 'Mama Ho, bist ja nicht fett geworden, weil es dir schlecht erging!' Ja, was wussten denn die Mädchen! Wenn ihr eure Mama Ho nicht hättet, die sie alle kennt: die Schrägen und die Schurken, die Schwierigen und die Schleicher. Die kennt sie alle, und wer sich nicht anständig aufgeführt hat im Haus, der kommt ihr nicht wieder rein. Ein anständiges Haus war das, jedenfalls, was das Gastliche anging. Es war ein gut geführtes Haus und war bekannt dafür!
Mama Ho hatte gute Augen. Wie sie auf ihrem Stuhl festsaß, hätte ein Ankommender denken könne, sie halte die Augen seit langem geschlossen. Aber sie sah alles! Und den Reiter, der die Straße herunterkam, mit vier Pferden, die mächtig Lärm machten mit ihren Hufen, den sah und kannte sie gewiß! War das nicht ...? Ein bißchen mager um den Hals, die Beine nicht mehr die jüngsten, aber die Augen, wie die noch blitzen! ... Das war doch ohne jede Frage und mit keinem Zweifel ... und da rief sie schon: "Mädchen, kommt alle her! Mein Fürst, er ist da! Wolltet mir nicht glauben, dass es ihn wirklich gibt - kommt nur, sehr ihn euch an!"
Da hatte sie ihn schon vom Pferd gehoben und hielt ihn gedrückt, dass nichts mehr von ihm zu sehen war.
"Darf ich vorstellen!", rief ihr Lieblingsfürst, als sie ihn in das Haus getragen und auf den Tisch gestellt hatte, damit auch alle Mädchen ihn sehen konnten, "meine drei Freunde! Mama Ho kennt sie gut: Nell, den Keinwortigen, Kednir, der euch die schöne Lo immer entführen wollte, und Tenkho, der mit dem Schwert auf euren Drachen einhieb, wenn er betrunken genug war."
Streng sah Mama Ho ihre Mädchen an. Dann schenkte sie ihrem Fürsten einen Blick - keines der Mädchen hätte jemals gedacht, dass sie solche bei sich versteckte - einen trübschweren Liebesblick und rief: "Können alle reinkommen, deine Freunde, wenn sie bezahlen. Werd' schon was finden für jeden von ihnen!"
"Ja, so ist sie", krächzte ihr Fürst und sah sich lustig um, "die Mama Ho! Zuerst die Hand auf und dann den lippenweichen, brüsteschaukelnden, arschkreisenden Fürstenritt."
Mama Ho war gerührt. Das passierte ihr nicht oft. Es sollte auch nicht wieder vorkommen. Aber sie war echt und ehrlich gerührt. Zu sehen war von außen natürlich nichts. Und das war auch gut so, wegen der Mädchen.
"So, Kinder", rief sie, "ihr kümmert euch um die drei Gäste! Ein Besuch, wie wir ihn nicht alle Tage haben!"
Und dann fingen die Mädchen an. Ein bißchen übertrieben haben sie es schon. Aber es sollte ja alles echt sein. Ihr kleiner Fürst wollte doch tatsächlich ... Was haben die Mädchen gekreischt! Aber hingekriegt hat die Mama Ho es doch noch, das mit dem Fürstenritt, auch wenn sie ihren Fürsten beinah erdrückt hätte. Und hat ihn selbst wieder auf seine Beinen stellen müssen. Aber bezahlt hat er echt und ehrlich für vier. Das war eben, was sie den Mädchen immer sagte, so was gab's nur früher. War wirklich schade drum!
Chapter 31. Woi und die Gesandten
Woi suchte, seinen Stolz zu verbergen. Doch in seinen Augen spiegelte sich der Glanz des Dolches wider. Behutsam legte er ihn vorsichtig auf seine flache Hand, um ihn zu betrachten. Sein Griff war aus schwarzem Holz gearbeitet, nicht verziert, sondern mit fein gerundeten Kerben versehen, damit die Hand ihn sicher fassen konnte. Auch die Scheide war ohne Verzierung gearbeitet. Die Klinge war schmal, leicht gebogen, aber dennoch von ungeheurer Steifheit. Das war ein Dolch, der nur ein einziges Mal geführt werden musste!
Die zwei Herren trugen lange schwarze Mäntel und begegneten ihm voller Achtung. Sie waren von gleicher Größe und ähnelten sie sich in kleinen Dingen der Gesichtszüge so sehr, dass Woi gleich dachte, Vater und Sohn vor sich zu haben.
In einem Abstand von gut drei Schritten blieben sie vor Woi stehen, sahen ihn an und warteten, dass er etwas sagen würde. Der Sohn tat dem Vater alles mit winziger Verzögerung nach, als sitze er in einem Ruderboot hinter ihm und müsse den Takt des Vordermannes halten.
Woi sagte nichts. Im Spiegel hatte er geübt, wie ein Fürst zu blicken. Er stellte sich vor, ein Kaiser zu sein, dann war es mit dem fürstlichen Blick leichter.
Der Gesandte hatte ihn genau beobachtet. Er sah - und es war sein Auftrag, dies abzuschätzen - dass Warten nicht die Sache dieses Jungen war. Er würde sich die Macht nehmen, ohne zu zögern. Wie ein Tier auf der Jagd würde er die Beute packen und nicht mehr loslassen. Das war es, was der Gesandte wissen musste, nichts sonst. Er sah noch etwas: Der Junge schien zu wissen, was sie von ihm wollten. Es erschreckte ihn nicht.
"Diesen Dolch habe ich von meinem Vater bekommen", sagte Woi.
Der Gesandte betrachtete ihn mit ehrlicher Bewunderung. "Es ist ein wirklich schöner Dolch", sagte er. "Ihr könnt stolz auf ihn sein."
"Ihr wollt zu mir?" Woi blickte fürstlich, aber fragend.
"Wenn ihr euch Zeit für uns nehmt, ein wenig Zeit nur, einen kleinen Ausritt vielleicht, dann, so lässt euch unser Herr ausrichten, stände er in eurer Schuld." Der Gesandte hatte mit seinen Worten gewartet, damit sich sein Sohn zur Übung eine eigene Wortwahl vordenken konnte.
Woi nickte und schob den Dolch unter sein Hemd. "Ja, so wollen wir es machen. Kommt also mit."
Er rief den Dienern zu, dass er die Herren auf ihren Weg bringen werde. Vielleicht komme ihnen der Vater entgegen. Er ließ 'Prinz' von einem Stalljungen heranführen, und bemerkte zufrieden, dass sie den Wert seines neuen Pferdes wohl richtig einschätzten.
Sie folgten Woi in gemächlichen Schritt mit ihren eigenen Pferden, ritten über eine Wiese, die hoch im Gras stand, kreuzten den Weg zum Hof noch einmal, und begleiteten einen kleinen Bach, bis er unter einem spitzen Felsen verschwand. Schließlich ritt Woi ihnen voraus auf eine Anhöhe zu, die von hohen Sträuchern umstanden war. Von dort ließ sich die Umgebung gut überblicken.
Der Platz, den Woi ausgesucht hatte, war günstig, weil er nicht einsichtig war. Eine weitere Prüfung des Ortes ergab, dass sie alleine waren. Hier konnten sie ungestört sitzen und reden.
Der Gesandte nahm seinem Sohn den Umhang ab. Damit wollte er ihm bedeuten, dass es mit der Gesandtschaft nun ernst wurde und der Lernende sich zurückzuziehen hatte. Weil der Sohn nicht verstand, flüsterte der Vater eine knappe Übersetzung in sein Ohr.
Eilig, um die Zeit des Verzuges aufzuholen, begab sich der Sohn zu den Sträuchern und hielt, angestrengt weghörend, Ausschau.
Auf den Umhang, den der Vater ausbreitete, war ein silberschuppiger Drache gestickt. Er war dreifach gekrümmt und riss ein lappiges Maul ohne Zähne auf.
Schweigend saßen sich Woi und der Gesandte gegenüber und sahen jeder für sich auf den Boden vor den Füßen des anderen. Eine Krähe ließ sich auf einem Ast nieder und verdrehte lauschend den Kopf.
Als Jüngerer wollte Woi das Gespräch nicht beginnen. Der Alte wartete, weil genug Zeit war, um die Gedanken einzusammeln und auszulegen.
"Wusstet ihr, dass auf meinem Wappen ein Bär ist?" fragte Woi, als ihm das Warten zu lang geworden war.
"Ein Bär ist ein wildes Tier", stellte der Gesandte nachdenklich fest. "Ein Drache ist mächtig und alt. Ein Bär ist stark, aber noch sehr jung. Vielleicht besitzen beide etwas, was dem anderen fehlt."
"Ssst" rief der Sohn ihnen zu. "Da kommt der Fürst. Er reitet allein, führt drei Pferde ... und redet, als säßen Reiter darauf."
Der Vater erhob sich, um sich das Schauspiel zu betrachten. Woi konnte sich vorstellen, was sie sahen, und blieb sitzen.
"Kommt her und seht nur!", rief der Gesandte ihm leise zu.
"Das sind seine drei Freunde", erklärte ihnen Woi aus der Entfernung. "Sie weichen seit ein paar Tagen nicht mehr von seiner Seite."
"Es sind keine Reiter", flüsterte der Sohn zurück, "nur Pferde, die gesattelt sind."
"Habe ich gesagt, dass es sie wirklich gibt? In seinem Kopf sind sie! Aber die Pferde müssen natürlich echt sein, sonst würde keiner merken, dass er ...", knurrte Woi.
Langsam und nachdenklich kam der Gesandte zurück, setzte sich an seinen Platz und nahm sein Schweigen wieder auf.
"Ein guter Ort, dieser hier, ein gut gewählter Ort!", bemerkte der Jüngere in Wois Richtung, aber der Vater gab ihm durch einen Blick zu verstehen, dass seine Gesandschaft nicht gestört wurde. Dann setzte er sein Schweigen fort.
"Prinz, sei ruhig!", rief Woi seinem Pferd zu. "Es wird gleich weitergehen!"
"Geradeheraus sei es gesagt", beeilte sich der Gesandte zu sagen, "wir kamen, um die Hochzeit eures Vaters mit der Tochter, der jungen Tochter unseres Herren, seinem einzigen Kind, abzusagen. Ihr versteht, was ich sagen will?"
Woi nickte. Dies war allen, sogar den Dienern bekannt! Was redeten sie also herum? Die Drachen waren wahrscheinlich etwas umständlicher als die Bären.
Wieder schweigend betrachtete der Gesandte ihn und stellte in Gedanken einen Vergleich mit seinem Sohn an. Friede war im selben Alter wie Woi. Bei Friede aber wusste jeder, woran er war. Ihm war beigebracht worden, zu seinem Wort zu stehen, seine Pflicht mit ehrlicher Freude zu erfüllen. Friede wollte wie sein Vater werden. Sein größter Wunsch war gewesen, Seite an Seite mit seinem Vater eine Reise zu unternehmen. Dieser Wunsch war in Erfüllung gegangen. Nun würde sich Friede einen neuen Wunsch suchen.
Wois gute Stimmung war weg. Die beiden Gesandten fingen an, ihn zu ärgern. Der Vatergesandte sah ihn immer so an. Es war nicht zu übersehen, dass Wois Vater nicht mehr ganz richtig im Kopf war. Aber hieß das etwa, dass auch Woi ein bißchen komisch war!?
Der Gesandte dachte immer noch. Woi handelte nach seinen eigenen Regeln. Und Mangel an Respekt, wenn nicht gar Ruchlosigkeit, waren die Voraussetzung für ihr Vorhaben. Auch wenn ihm Wois Haltung zuwider war und er seinen Sohn Friede liebte, so war er doch nur Gesandter und musste feststellen, dass die Sache günstig stand.
"Gut", sagte er entschlossen, "kommen wir zur Sache!"
"Toll", sagte Woi, "da weiß ich wenigstens, wofür ich hier sitze."
"Wir kamen", begann der Gesandte, ohne Woi anzusehen, "um die Hochzeit der Tochter unseres Hauses, einer jungen, schönen und nicht weniger klugen Dame mit eurem Vater abzusagen."
Woi nickte. Das war nichts anderes eine völlige Wiederholung des bereits Gesagten.
"Müssen wir nun darüber reden, warum wir einer Verbindung mit eurem Vater ablehnend gegenüberstehen?"
Woi schüttelte den Kopf. Nein, war nicht nötig. Der Anblick des Vaters sprach für sich.
"Wiewohl eine Verbindung unserer beider Fürstenhäuser auf das Höchste wünschenswert wäre. Ich erwähne nur die vorhandene Nachbarschaft, politische Interessen ... Es liegt auf der Hand für uns. Auch der Kaiser hat uns ermutigt, sogar gedrängt -"
"- weiß ich", unterbrach ihn Woi, "denen am Hof sind wir einfach zu klein!"
Der Gesandte krauste die Stirn über solche Forschheit, aber er setzte fort: "Wenn ihr dem Gedanken nahetreten könntet, eine Verbindung einzugehen. Der Altersunterschied wäre gering. Braucht eine Beziehung nicht mancherlei Dinge, um zu gedeihen? Reife und Ungestüm, Bedacht und Frische, gingen diese nicht gut zusammen? Ihr wisst, was ich sagen will?"
Woi dachte nicht daran, etwas zu wissen. Wirklich schön war die Natur heute! 'Prinz' hatte sich beruhigt, zupfte Blätter vom Baum und ärgerte damit die Krähe.
"Ein Problem wäre da noch ...",ließ der Gesandte sich wieder vernehmen. "Der Fürst unseres Haus ist alt. Es sieht nicht aus, als wäre ihm ein langes Leben vergönnt. So ist sein Kind also bald, sicherlich bald, Fürstin unseres Hauses."
Darauf begann er zu flüstern: "In eurem Fall liegt die Sache ein wenig anders. Euer Vater hat keine Erkrankung, die ihn eigentlich schwächt. Der Fürst kann steinalt werden. Hat der Körper nicht eine andere Zeit als der Geist? Starb nicht mancher Sohn lange vor dem Vater? Wie weit ist der Weg vom Erbversprechen zum Erbe? Ihr versteht: Wir hätten alles zum Festen eingebracht und wissen nicht, wann sich euer Teil einlösen wird!"
Mit keiner Regung verriet sich Woi. "Schsch, ist gut, Prinz", rief er seinem Pferd zu, das mit den Hufen ungeduldig wurde, "ich bin gleich bei dir!"
Woi stand auf. Weil der Alte sitzen blieb, reichte er ihm die Hände und zog ihn hoch. Unschlüssig und forschend stand der Gesandte ihm gegenüber und wartete auf eine Antwort. "Wir würden gerne unserem Herrn etwas sagen können." sagte er ernst, fast nachbohrend.
Woi sah ihn an. Lange sah er ihn an. Erst als der Sohn sich neben den Vater gestellt hatte, begann er zu sprechen: "Sagt eurem Herrn, wir hätten einen Ausritt gemacht. Wir wären irgendwo abgesessen und hätten uns dies schöne Land ringsherum angesehen. Dann sei Prinz ungeduldig geworden und habe mit den Hufen gescharrt. Prinz will sich immer bewegen. Es ist nicht gut, wenn er irgendwo abgestellt wird, und schon gar nicht, wenn es für lang ist. So sagt es eurem Herrn von mir!"
Der Gesandte wollte etwas sagen, aber Woi gebot ihm zu schweigen: "Merkt es euch so, wie ich es gesagt habe."
Sie bestiegen ihre Pferde. "Wartet! Da ist noch etwas!", rief Woi ihnen nach. "Zu seiner Tochter sprecht von meinem Dolch. Sagt ihr, ich habe sonst nichts, was ich schenken kann, wie sie wohl weiß. Aber immerhin dieser soll zu einer Heirat ihr gehören. Und denkt, dass ein Dolch nicht ein Dolch, sondern vieles verspricht."
Darauf winkte ihnen Woi loszureiten, sprang selbst auf seinen ungeduldigen Prinz und ließ ihn davongaloppieren. Er sah sich nicht um. Sein Herz pochte wild, weil er mit seinem Dolch auch an Ihscha denken musste.
Chapter 32. Ihscha und Li im Sumpf
"Darf ich ein Stück mit dir gehen, Ihscha?" fragte Li. Lange Zeit war sie der Frau nachgegangen, ohne dass sie bemerkt worden wäre.
"Du kennst meinen Namen?" Ihscha war erschrocken, doch als sie sah, dass ein Mädchen sie angesprochen hatte, wurde sie ruhig.
"Ich habe das Gedicht geschrieben, dass Woi dir gegeben hat. So hat er mir von dir erzählt", machte sich Li bekannt.
"Ich hoffe, er hat nichts gesagt, wofür ich mich schämen müsste?"
"Er hat über seine neue Ehrlichkeit gesprochen, über sonst nichts."
Ihscha lächelte traurig, als habe Li etwas Falsches gesagt.
"Du verlässt uns doch nicht?", fragte Li.
"Nein, das tue ich nicht", sagte Ihscha. "Am Tage soll mich niemand sehen, aber du hast mich gefunden."
"Die einsamen Stellen liebe ich auch."
"Also darfst du mich ein Stück begleiten. Komm, nimm meinen Umhang. Ich habe zwei davon. Na, siehst du, er passt dir! Wie eine junge Dame siehst du aus. Und schaust so ernst wie unter einem Schicksal."
Als sie miteinander über den äußeren Gartenweg gingen, sah manch einer ihnen verwundert nach. Ihschas Gestalt sahen sie oft in diesem Teil des Gartens. Hatten sie aber schon ihre Schwester gesehen? Ach, die kleine Li war das! Wie sie gewachsen warund wie ernst sie ausschaute!
"Gehen wir zu dem Teich", schlug Ihscha vor. "Dahinter sind die Sümpfe. Dort kenne ich eine Stelle, die ich dir zeigen will."
Li folgte gerne, weil sie den Garten nicht mochte. Die Bäume wirkten erdacht, nicht gewachsen. Die Blumen schwangen nicht mit dem Wind, ihre Farben blieben immer winterkalt. Nur der Teich war schön. Die kleine Kapelle betrachtete verliebt ihr kräuselndes Bild, als sei es auf einen Himmelgrund gemalt.
"Wusstest du, dass die Fische hier einen Kreis schwimmen?", fragte Ihscha. "Es ist eine Abwehr gegen Geister und die Wesen, die von den Sümpfen herüberkommen."
Li sah den Fischen zu, die weiß und rot langsam dahinglitten. Es waren gutgenährte, träge Gesellen, die sich nicht beeilten. Mit Erstaunen sah Li, dass sie diesselbe runde Bahn nicht verließen.
"Die Gärtner fertigen feine Drahtgestelle, die unsichtbar angebracht werden", erklärte Ihscha. "Wie auch immer die Fische wollen: Sie schwimmen in einem Kreis."
"Willst du wirklich in den Sumpf mit mir gehen?", fragte Li, ängstlich geworden wegen solcher Vorkehrungen.
"Sei unbesorgt: Du wirst sehen, dort sind Pflanzen und Blumen, die mir zeigen, wo fester Grund ist. Bleibe dicht hinter mir, dann bist du sicher."
Über eine schwankend knarrende Brücke betraten sie den Sumpf. Ein Wind umstreifte den Garten an seinen Grenzen, zog eine kreisrunde Bahn, tat es den Fischen gleich. Unter einer niedrigen Sonne, die ihr warmes Rot in den Abend auslaufen ließ, lag drohend der Sumpf.
Einsame Bäume zeichneten sich vor dem durchglühten Himmel ab, schwarze, fremdwüchsige Gestalten. Während dieser von einem Fuß auf den anderen trat, gefiel ein anderer sich in Gliederstarre, wieder einer sammelte mit hängenden Armen das Fliegzeug des Sumpfes auf.
"Sieh mal dort, Ihscha!" Li zeigte auf einen Baum, der seine Zweige wie einen runden Hut trug. "So sieht tatsächlich das Zeichen für 'Baum' aus. Wie dieser da, wie das Zeichen für 'Pilz' und 'Gift', aber größer."
"Ich wollte, ich könnte auch schreiben", sagte Ihscha.
"Entschuldige, ich vergaß" sagte Li leise. "Auch ich habe nur schreiben gelernt, weil ich in Wois Versprechen vorkam."
Ganz in der Nähe hörten sie einen Vogel, dessen Rufen in Singen überging, um dann in einem holzschweren Flötenlaut zu verklingen.
"Das war sie", flüsterte Ihscha. "Gleich hörst du das Männchen. Es sind Balzkäuzchen. Sie rufen sich, bis die Sterne herauskommen. Da ist er!"
Li hörte ein Geräusch, als kämpfe ein Husten gegen festsitzenden Schleim im Hals. Mehr ein alter Wachhund, der die Kälte in den Knochen hat, als ein balzender Vogel, der sein Weibchen ruft.
"Glaub mir, das war das Männchen", Ihscha lächelte, als sie das enttäuschte Gesicht von Li sah. "Schau auf deinen Schritte, dies ist der gefährliche Teil. Dort kräuselt sich das Wasser leicht, und gegenüber ist kein Hauch. Dazwischen verläuft unser Weg, der den Morast vom Flusslauf trennt."
"Hier würde ich niemals zurückfinden", gestand Li und fasste Ihschas Hand.
"Sei unbesorgt", sagte Ihscha und beschrieb einen weiten Bogen wie eine Herrscherin. Die schweratmige Sonne und der schwüle Atem des Sumpfes hatten ihre weiße Haut jung gemacht. Nur ihre Augen verrieten, dass sie eine unglückliche Herrscherin war. Sie deutete auf zwei Bäume, die sich zu einem Pavillon zusammengestellt hatten. "Dorthin wollen wir gehen, zu einem Platz, den ich dir zeigen will."
Die Bäume standen mit den Wurzeln im Wasser und sprachen über ihr Spiegelbild gebeugt jeder zu sich selbst. Zwischen ihren Stämmen war eine Erhöhung eingerichtet mit weichem Moos zum Sitzen und Betrachten der schwimmenden Blumen, die sich bis auf Armlänge heranwagten.
"Sind sie nicht schön?", sagte Ihscha und schirmte ihre Augen gegen die Sonne ab. "Niemand kann die Nymphenblume verpflanzen oder züchten, die Rose der Sümpfe und wilden Seen."
Auf dem Einband eines Buches hatte Li einmal eine solch schwimmende Blume gesehen. Als sie darin blättern wollte, hatte der Onkel es ihr abgenommen und gesagt, es sei kein Buch über Blumen, wie sie denke.
"Sie werden die Blumen der Sünde genannt", erklärte Ihscha. "Nachts blühen sie auf. Silbrig schimmern ihre Blüten im Mondlicht. Ein Spiel der Farben, verwirrend und wunderschön, als leuchte aus ihnen die Tiefe des Wassers."
Der Sumpf hatte begonnen, in allen Farben und Lauten zu sprechen. Die Bäume hatten die Plätze gewechselt. Auf dem Wasser glitten zwei Seerosen und das Mondlicht langsam aufeinander zu. Raspelnd hielt eine Schar von Wildgänsen in ihren montonen Rythmus und flog als unscharfes Dreieck einem Stern nach.
"Du bleibst nicht lange", sagte Li leise, dem enteilenden Flug nachsehend. "Du wirst fortziehen wie die Wildgänse, wenn deine Zeit gekommen ist."
Ihscha drohte ihr mit dem Finger. "Weißt du, wofür eine Wildgans steht - ach, lassen wir das!"
"Ich möchte mit dir reisen wie eine Wildgans. Die fliegen ja nicht allein."
"Eine Wildgans bedeutet, dass man ein leichtes Mädchen ist, jede Nacht an einem anderen Ort."
"Das macht mir nichts ..."
Ihscha zeigte auf den Teich. "Ich bin wie eine von diesen Blumen dort. Für die Nacht machen sie sich schön. Hörst du das Sirren in der Luft? Sie singen und locken mit ihren Farben und Tanz jene, die in der Nacht keinen Schlaf finden ... Willst du keinen Mann und keine Kinder und dich nie im Schwatze mit den Nachbarinnen finden?"
"Nein", antwortete Li fest, "ich will in die Kaiserstadt, das will ich bestimmt!"
Ihscha sagte lange Zeit nichts. Die Geräusche der Umgebung wurden leiser. Der herbe Geruch von Nelken und harzigen Träumen setzte sich gegen die süßlichen Düfte des Abends durch. Ein Frosch begann eine Erzählung über einen Bauchredner.
"Dorthin kann ich dir den Weg nicht zeigen", sagte Ihscha nach langem Schweigen. "Eine andere herrscht dort, Tesla, die Fürstin der Nachtstadt -"
"- gibt es eine Nachtstadt?", unterbrach Li.
"Die Nachtstadt ist eine schwimmende Stadt, die vor dem Kaiserhof auf den stillen Ausläufern des Flusses liegt. Stell dir vor: Die Häuser der Mädchen schwimmen auf dem Wasser wie leuchtende Seerosen, jede in einer anderen Farbe, damit der Fährmann sie auseinanderhalten kann!"
"Das würde ich gerne sehen", sagte Li.
"Du bist ein Mädchen, das Lesen und Schreiben kann, nicht eine von uns. Besser für dich ist es, du lernst die Nachtstadt in einem von deinen Bücher kennen!"
"Ich finde einen Weg, dann eben einen anderen!"
Ihscha wandte sich zur Rückkehr. In ihren Schritten zeigte sich eine Trauer, die sie nicht teilen wollte. Die Schultern wollten nicht verraten, wie sehr das Herz schmerzte. Es war Li, als verliere Ihscha mit jedem Schritt eine schimmernde Träne, wie eine Perlenschnur auf dem unsichtbaren Weg zwischen stehendem und fließenden Wasser, auf dem sie als Lis Führerin ging.
"Hörst du es schnuppern, Ihscha?", fragte Li, um Ihscha aufzuheitern. "Es schnuppert an meinen Füßen und sieht aus wie ein durchsichtiger kleiner Hund. Ein Geisterhündchen ist mir zugelaufen! Jetzt leckt es an meinen Füßen. Na, lass das, Geisterhündchen! Das kitzelt mich."
Ihscha sagte nichts, aber sie hakte sich unter, und so gingen sie, als seien sie Freundinnen geworden, den Rest des Weges nebeneinander.
Chapter 33. Woi bei Ihscha mit dem Dolch
Wieder hatte Woi ununterbrochen und vergeblich nach Ihscha gesucht. Der schöne Dolch war nur die Hälfte wert, wenn sie ihn nicht gesehen und berührt hatte! Aber sie war nicht da, hatte sich feenhaft verschwinden lassen, um durch Entzug ihren Wert zu erhöhen oder einfach seiner Torheit zuzusehen und sich daran zu erfreuen.
Am Abend war Woi in seinem Zimmer angelangt und saß er auf seinem Bett. Als er den Dolch aus der Scheide zog, überkam ihn wieder dasselbe wunderbare Gefühl, ihn besitzen zu dürfen, und Mut floss ihm zu.
War Ihscha nicht immer bevorzugt in der Nacht zu ihm gekommen? Hatte er sie beim letzten Mal nicht gegen ihren Willen gefunden und zum Gespräch gebracht? Er war sich sicher, erst wenn ihre Zeit gekommen war, würde Ihscha ihn aufsuchen und sich zeigen. Eine Fee würde sich nicht zwingen lassen.
Woi überlegte: Wenn er nun bei ihrem Kommen im Schlaf lag, so wie ein steinerner Ritter auf seinem Grab, den Dolch in seinen Händen haltend, dann konnte sie leise herantreten und würde wohl wissen, was es mit dem kostbaren Stück auf sich hatte und würde Wois Stolz noch in seinem fernen Traum bemerken. Unbemerkt vom Schlafenden, mit feinen Fingern durfte sie darüberstreichen, was er als Besitz im festen Griffe seiner Hand hielt.
Nein, nichts da! Wie hätte er schlafend sicher sein können, dass Ihscha wirklich zu ihm getreten war und dem Dolch ihre Bewunderung und Berührung zuteil geworden war?
Als Woi in Gedanken über das Bett strich, hatte er die Lösung gefunden: Wenn Ihscha in sein Zimmer geschlichen kam, würde sie nicht Woi in seinem Bett vorfinden, sondern prächtig hervortretend und ohne Scham stattlich seinen Dolch, allein Wois wunderbar gearbeiteten Dolch, nichts sonst!
Dies beschlossen, war es dennoch nicht einfach, ein Bett glattzustreichen. Woi war ungeübt und musste von einer Seite zur anderen gehen, um das Laken glatt zu ziehen. Schließlich war alles zu seiner Zufriedenheit gerichtet. Nur der Dolch lag unversorgt in der Mitte. Also nahm Woi ein kleines Kissen, versah es in der Mitte mit einer eingepufften Kerbe und legte den Schaft des Dolches in einer aufstehenden Lage darauf.
Es war Abend geworden, und Woi zweifelte nicht mehr: Mit der Nacht würde auch Ihscha kommen. Bis dahin konnte er sich auf dem Gang versteckt halten. Wo das Schnitzbild des Großen Drache angebracht war, gab es einen Zwischenraum zur Wand, der ihm früher als Versteck gedient hatte.
Von dort konnte Woi unbemerkt die Tür seines Zimmers beobachten. Gewissermaßen sahen seine Augen als Schlundzäpfchen aus dem Rachen des Drachen heraus. Wenn Ihscha kam, würde er sie unweigerlich bemerken.
Zwischen der feuchten Wand und dem alten Holz war das Reich einer Spinne, die mit Beinen die Größe eines Talers hatte. Nachdem sie ihn bewegungslos beobachtet hatte, nahm sie ihre Arbeit wieder auf. Mit ihren acht Beinen zupfte und knüpfte sie ein unsichtbares Netz.
Im Rücken des Großen Drachen ließ es sich aushalten und abwarten, wie die Dunkelheit gemächlich die Gänge leerte und die Türen schloss. Irgendwoher hörte Woi eine rauhe Stimme, die in einer fremden Sprache ein wohl trauriges Lied sang.
Die Stimme kam näher und begann mit dem Drachen zu sprechen: "Nu, mein kleines Feuermäulchen, warst hoffentlich nicht naschen am Koch sein Trösterchen. Ist nicht gut für 'nen Drachen, wenn er trinkt vom Feuerwässerchen von Vatern. Da rollen die Augen davon, als wenn sie lose wären, und die Zunge fängt zu reden an und hört nicht auf, als bis der Drache runterfällt."
Der Koch griff unter die Bauchdecke des Drachen und suchte nach einer dort verborgenen Blechkanne, in die er seine abendliche Ration vom besten Tischweinbrand abgefüllt hatte.
"Hi, hi, bist'n Guter, passt auf für mich. Wenn einer kommt und an deinem Bauch was fummelt, sagst du mit tiefer Stimme: 'Geh mir von meine Geweide weg, das Feuer ist warm noch in mein'm Bauch! Wehe, wenn wer seine Glut entfacht, dem sollte lieber sein, er wär' in ein'n Kochtopf gefallen, als dass er zum Rösten in mein Feuermaul gekommen ist!' ... Ich trink' auf das Wohl von mein'm Freund ... Fuuh, aah, mmmh, da hab'n sie 'ne gute Wahl getroffen, Herr von Koch, und recht das Maß so gefüllt, wie's soll!"
Die Stimme entfernte sich, erhob sich noch einmal schimpfend, nachdem der Krug zu Boden gefallen war. Dann war es still und eng.
Immer wenn Woi müde zu werden drohte, begann er von neuem, die Kacheln zu zählen. Er kam immer auf eine andere Zahl, aber es hielt ihn wach.
Als er zum vierten Mal gezählt hatte, öffnete sich die Tür. Unhörbar und durchscheinend schwebte Ihscha über den Gang, stand eine Zeit vor der Tür seines Zimmers und horchte hinein. Doch sie betrat es nicht, sondern wandte sich stattdessen dem Drachen zu.
Als Woi glaubte, sie habe ihn entdeckt, zog sie sich ihr Kleid über den Körper und hatte darunter nichts, aber auch gar nichts an. Mit dem gewichtslosen Stoff, der ihr kaum die Hände füllte, ging sie auf den Drachen zu, ohne die sich weitenden Schlundzäpfchen bemerken zu wollen. Sorgsam legte sie ihr Kleid über das Maul und den Rachen des Drachen.
Was war zu machen? Für Woi war es im Magen des Drachen mit einem Mal finster geworden. Vor Staunen hatte er nicht gehorcht, ob Ihscha die Tür seines Zimmer geöffnet hatte oder nicht, und war gezwungen zu warten. Aber weil es etwas besonderes mit dem Kleid war, überkam ihn eine die Fee in ihrem Vordringen schützende Müdigkeit, welche so überwältigend war, dass sich der Traum noch in Wois geöffnete Augen Einlass verschaffte.
Zum ersten Bild ließ er Ihscha erneut erscheinen, wie sie sich des Kleides entledigte und das feurige Drachenmaul verhängte. War das noch Spott oder schon Traum? Im zweiten Bild erst waren sie Geschwister, standen als nackte Ihscha und nackter Woi Seite an Seite gefasst und sahen zu, wie der Dolch sich, riesenhaft aufstehend, grell in den nächtlichen Himmel erhob. Als Woi dem Traum folgte - was blieb ihm anderes übrig! - verwandelte sich der Dolch in eine Libelle, die in erregten Farben schillerte und immer größer wurde, bis sie Mond und Sterne und alles aus der Nacht verdrängt hatte und den Himmel mit zerberstender Buntheit ausfüllte. Ihscha und Woi fassten sich fester an den Händen im sie bedrängenden Schauen. 'Er wird uns vernichten', sagte sie. 'Sieh nur, wie gewaltig er ist', sagte er. Als er zu zitternder Weichheit angeschwollen war, zerplatzt der Dolch und verwandelte sich zum Schwarm klein und kleinerer Libellen, zu einer Kette von ineinander schwimmenden Monde und wurde zu einem kraftlos ausschlagenden Sternenschweif.
Schließlich war alles schwarz und warm, roch nach Holz und Schnaps und nicht mehr nach Traum. Ihscha hatte ihr Kleid vom Drachenmaul abgenommen und ließ es über ihre Nacktheit fallen. Wieder weiteten sich die Drachenzäpfchen. Wieder suchte das Schlucken eines Jünglings vergeblich Halt in einem Drachenschlund.
Weil er glaubte, sie aus dem Maul des Drachen heraus nur erschrecken zu können, blieb er still und kauernd Spion. Als ihm einfiel, dass eine Fee, die eines Drachen Maul als Kleidablage benutzte, sich von seinem sprechenden Schlund nicht ängstigen würde, war Ihscha bereits verschwunden.
Im Ungewissen über den Verbleib der talergroßen Spinne schälte sich Woi aus seinem Versteck heraus. Die Tür zu seinem Zimmer fand er angelehnt vor. Das Bett war zerwühlt, wo er es glattgestrichen hatte, das Kissen zerdrückt, und der Dolch, wo er gelegen hatte, war fort und von Ihscha entwendet!
Chapter 34. Der Fürst und die kleine Kapelle
"Die Freundschaft stelle ich mir als eine Brücke vor, die uns trägt, sichtbar und unsichtbar zugleich, weil sie kein Ende hat", hatte Kendhir zum Abschied gesagt. So schön war das gesagt, so einfach seine Weisheit wie die Körner aus des Bauern Hand!
Die Abreise der Freunde lag hinter dem Fürsten. Sein Kopf glich einem Magen, der genug von schwerem Essen hatte und sich nun an der Enthaltsamkeit sättigen wollte.
Wenn die Hand, die ihm jeder seiner Freunde auf ihre Treue gegeben hatte, eine Hand war und alles kein Traum, dann wollte der Fürst sich rein und klaglos einfügen. War er dagegen ein Bauer, dem solches geträumt hatte, dann war auch das nicht mehr als ein Tropfen, der als Regen auf den Spiegel des Sees aufschlug, und es war ebenso gut damit.
Dem Fürsten war seine Umgebung auf seltsame Weise unvertraut geworden. Er dachte kichernd, dass niemand ahnen konnte, wie er die Dinge jetzt sah. Wie groß die Halle war und wie leer! Wenn jemand darin sprach, kamen die Worte zurück und stießen mit den nachkommenden zusammen. Sprach jemand zur Decke, dann hielten sich die leichten Worte dort noch fest, während die gewichtigen Worte sich schon auf dem Boden in randlosen Lachen gesammelt hatten.
Der Fürst war auf die Tür zugegangen und stehen geblieben, um an ihr emporzusehen. Sie hatte die Größe von drei Menschen übereinander. Waren die Menschen früher so groß gewesen? Wenn er an seinen Vater dachte, dann sah er einen ebensolchen Riesen vor sich. Der Vater hattte alle Türen mit seinem Körper ausgefüllt, und für seine Stimme war kein Raum groß genug gewesen.
Die Tür zum Garten hatte sich ihm von selbst geöffnet. Der Fürst dachte an den geheimen Ort, wo ihn niemand stören würde. Wielange das alles her war! Die Brücke, deren Pfeiler sich vor seinen Kinderaugen im Wassergrund aufzulösen schienen, die Kapelle, die auf dem Teich zu schwimmen schien: Ob sie noch da waren?
Wie oft war er als kleiner Junge allein über die schmale Brücke gelaufen und hatten hinunter ins Wasser geschaut und sich gefürchtet. Aber auf den Brettern hatten seine Holzschuhe geklappert wie zu einem Klöppelspiel, und schon war die Angst vergessen.
Wenn dunkle Wolken aufzogen, dann leuchtete das Weiß der Kapelle besonders schön. Auf der Teichfläche hatte er beobachtet, wie fest es regnete. Die Fische kamen mit ihren Mündern und probierten vom Regen.
Als der Mann, der die Gartenwege mit einem Holzkamm glattstrich, den Fürsten auf sich zukommen sah, machte er seine Arbeit besonders gewissenhaft.
Der Fürst blieb ohne Strenge vor ihm stehen. "Was machst du da?" fragte er. Ein alter Mann - nicht ein Fürst - war stehengeblieben, um ein Schwätzchen zu halten.
"Mir ist aufgetragen, die Wege des Gartens zu kämmen. Also komme ich jeden Morgen und kämme."
"Dann bist du also ein Gärtner", stellte der Fürst fest.
"Ja, das bin ich. Schon mein Vater war Gärtner an eurem Hof. Mein Großvater war sehr stolz darauf. Nun bin auch ich Gärtner geworden."
"Magst du es, Gärtner zu sein?"
Der Gärtner sah den Fürsten ratlos an. So etwas hatte ihn nicht einmal sein Vater gefragt. Der Großvater hatte ihn wohl einmal gefragt, ob er auch Gärtner werden wolle, aber da war er noch ein kleines Kind gewesen und hatte wohl mit dem Kopf genickt. Der Großvater hatte immer Nüsse für ihn gehabt.
"Hättest du nicht lieber etwas anderes gemacht als dein Vater?"
"Ich wäre gern auf Reisen gegangen. Vielleicht wäre ich sogar über das Meer gefahren. Das war mein größter Wunsch."
"Gefällt es dir hier nicht? Sag es ruhig. Ich bin mir selbst nicht sicher, ob es mir gefällt."
" ... also, wenn ich es sagen darf ... ich finde, die Bäume sehen alle gleich aus. Die Blumen werden abgeschniten, bevor sie aufgeblüht sind. Fürst, seht ihr irgendwo ein Lebewesen, einen Vogel, einen Käfer? Einmal haben wir Gärtner sogar den Nebel mit großen Fächern vertrieben. Sagt euch das nicht alles, mein Herr?"
"Was du sagtst, will mir einleuchten. Ich werde darüber nachdenken."
"Aber, Herr, sagt nicht, dass es von mir kommt. Ich bin ein unbedeutender Gärtner hier, habe Frau und Kinder, und bin froh, dass ich ein Gärtner sein darf, grad' so, wie mein Vater es war."
Der Fürst versprach es ihm und ging weiter den gekämmten Weg entlang, der unter seinen Füßen knirschte. Schließlich zog er die Schuhe aus, um über das Gras zu laufen.
Nicht weit wickelte ein Mann ein weißes Tuch um einen Baum, bis hoch unter dessen erste Äste. Der Fürst nahm ein das Ende des weißen Tuches vom Boden auf und zog es hinter sich her. Leicht rollte es sich aus, denn es folgte ihm gerne. Leuchtend wand es sich auf dem grünen Rasen. Der Fürst stellte sich einen Bach vor, der durch das grüne Land floss, dahin und dorthin, als sei es ihm freigestellt, sich einen Weg zu suchen. Als das Band ihm nicht mehr folgen konnte, stellte der Fürst seine Schuhe darauf ab.
Er wollte zum Teich gehen. Von weitem sah er seine Kapelle und auch, dass sie vergessen worden war. Ein Band von glänzenden Steinen umgab jetzt den Teich wie eine Grenze. Ein Mann nahm einzelne Steine auf und rieb sie glatt. Er hielt sie ins Licht, ob sie auch richtig glänzen.
"Was ist der Name eures Tuns?" fragte ihn der Fürst.
Der Mann hatte die Frage gehört, schien sie aber nicht zu verstehen. Matt war der Blick seiner Augen, ganz anders als die Steine, die er rieb, bis sie glänzten.
"Ich bin der Schann. So nennen mich die Leute hier", sagte er schließlich.
"Das ist euer Name?" Der Mann nickte. "Aber was tut ihr hier?"
"Das mache ich immer schon, das mit den Steinen."
"Ja, aber WARUM macht ihr das mit den Steinen. Warum?"
"Aber das müsst doch ihr wissen, nicht ich, seid doch selbst der Fürst!"
"Ich weiß so wenig von den Steinen wie die Steine von mir."
" ... eeh, wie?"
"Ich meine: Wofür reibst du die Steine, bis sie glänzen."
"Ich mache es, wie ich es immer mache. Glänzender werden sie nicht, da kann ich reiben, wie ich will!"
Der Fürst erkannte, dass der Mann nur mit seinem Tun beschäftigt war und keinen Gedanken übrig hatte für den Sinn seines Tuns. Und er sah, dass er ihn böse machen würde mit weiteren Fragen.
"Ich mache es doch recht?", fragte der Mann, unsicher geworden.
"Ja, ja, natürlich ... und ich will nicht weiter stören", sagte der Fürst.
Der Mann bückte sich wieder zu den Steine. Sie klackten und tickten gegeneinander. Es klang, als spreche er mit den Steinen, als teile er ihnen mit, was der Fürst ihn gerade gefragt hatte. Und weder er noch die Steine wussten etwas damit anzufangen.
Vorsichtig hatte der Fürst die Brücke über den Teich betreten. Sie schwankte bedenklich. Das Geländer schien ihm sehr niedrig. Dabei hatte er als kleiner Junge kaum darüber sehen können. Leuchtend weiß war die Kapelle in seiner Erinnerung, und nun fand er sie im trübsten Grau. Der Fürst wunderte sich sehr, dass es an seinem Hof Menschen gab, die Bäume einkleideten, die Steine auf Glanz rieben, die Gehwege kämmten, aber niemanden, der auch nur einmal nach seiner Kapelle und ihrem Weiß gesehen hatte.
Mit einem Mal hatte es zu regnen begonnen. Der Fürst ging die letzten klingenden Hölzer zu seinem Platz, wo er früher gesessen hatte. Dort saß jetzt ein Frosch, der ihn lange ansah, bevor er sich erschreckte und fortsprang.
Der Regen wurde stärker. Diesselben Fische tauchten auf und ließen sich die Regentropfen in die Mäuler plitschen. Es war so wie früher. Als hätte er die ganze Zeit an dieser Stelle zu dem Regen gesessen und auf sein Ende gewartet. Die Fische schienen nicht bemerken zu wollen, dass aus dem Jungen ein alter Mann geworden war.
Als der Regen aufgehört hatte, war es völlig still. Vom Dach tropfte es, und die Fische lagen bewegungslos im Wasser als wie in Gelee. Der alte Mann saß auf seiner Bank, und es mochte einem Betrachter erscheinen, als sei er traurig und weine. Aber es war nur der Regen, der von seinen Haaren herunterlief.
"Ein schönes Mädchen bist du geworden, Li. Wenn du nur ein wenig mehr aus dir machen würdest", sagte die Mutter.
Sie war ins Lis Zimmer gekommen, wie sie es sonst nicht tat.
"Ich habe keine anderen Kleider", antwortete Li trotzig "Und es ist mir auch nicht wichtig, wie ich nach außen bin."
"Es sollte dir wichtig sein. Was die jungen Männer von dir sehen ..."
"Ach, lass mich in Ruh von denen!", unterbrach Li ihre Mutter rasch, die zu oft von diesen Dingen sprach.
Und die Mutter sagte nichts weiter, winkte ihr aber zu folgen. Sie zog Li in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
"Ich weiß nicht, was ich tue", sagte sie mit zerstreutem Blick, als es geschehen war, und schien bedrückt über die Vertrautheit zwischen ihnen.
"An was denkst du gerade?", fragte Li. Die Mutter stand im Raum und sah sich im Spiegel an, als sehe sie eine fremde Person. Langsam kehrte ihr Blick zurück, aber nicht völlig.
"Wir unterscheiden uns nicht mehr in der Größe?", sagte sie und zeigte auf einen Schrank. "Ich bitte dich, Kind, such dir ein Kleid aus."
Um die Mutter freundlich zu stimmen, ging Li hin, öffnete den Schrank und sah ohne Interesse hinein.
"Hier ist ein Kleid", sagte die Mutter und nahm vorsichtig eines heraus. "Wäre dies Kleid nicht schön an dir? Ich trug es ... lass sehen ... ach, nicht dieses Kleid, das tue ich weg. Ein anderes, sieh, dieses hier ist schöner noch!"
"Was ist mit dem Kleid?", fragte Li, neugierig geworden.
"Nichts, Kind. Was ist schon an einem Kleid?", wehrte die Mutter ab.
"Es gefällt mir sehr!"
"Du weißt Dinge nicht, und ich sollte nicht sprechen", sagte die Mutter leise. Lange und voll Weh sah sie Li in die Augen und wusste schließlich, dass vor dem Kind nichts verborgen geblieben war.
"Ich trug das Kleid für deinen Vater, deshalb wollte ich nicht ... Nimm es in die Hand! Gefällt es dir?"
Das Kleid war schön, aber wie viel schöner war, dass der Blick des Vaters darauf gelegen hatte!
"Ich schenke es dir", sagte die Mutter.
"Aber, Mutter, wie kann ich tragen, was du getragen hast. Das wäre ... als zöge ich einen Kreis um die Zeit."
Die Mutter lächelte. Wie ihre Tochter sie an den eigenen Mann erinnerte. Wie wichtig sie beide nahmen, was sie mit ihren Worten machten. Ihr Mann hatte einmal gesagt, es sei eine schwere Arbeit, das richtige Wort zu finden. Nichts sei ohne die Worte wirklich. Ob sie das verstehe? Und sie hatte trotzdem genickt.
"... und wenn er nun käme und mich sähe?", fragte Li, das Kleid unschlüssig in den Händen.
"Li, wie sollte er kommen können? Du denkst Dinge, die nicht sein können. Du machst dich unglücklich, wenn du so denkst."
"Und mache ich mich glücklich, wenn ich es nicht tue?" In Lis Augen glänzten Tränen.
Voller Mitleid sah die Mutter sie an. Es war schwer für Li und würde immer schwerer werden. In ihrem Alter brauchte die Tochter einen Vater. Vielleicht war es richtig, ihr die Gedanken an ihn zu lassen?
"Wir könnten ihm einen Brief schreiben!", rief Li aus. "Du sagst mir die Dinge zum Schreiben. Vielleicht ... ganz zum Schluss, können wir sagen, dass ich groß bin und den Brief geschrieben habe."
"Dann weißt du nicht alles?", rief die Mutter erschrokken. Sie sah das Kleid in Lis Händen und fragte sich, ob es gut war, dem Kind zu viele Dinge zu sagen.
"Ich habe nur Woi, der etwas herausfindet", bemerkte Li bitter. "Aber der bringt alles durcheinander, weil ihm nichts wichtig ist! Der Vater ist doch am Kaiserhof, nicht wahr?"
"Nein, er ist nicht mehr dort", sagte die Mutter bedrückt. Alles würde sie dem Kind nun sagen und nicht entscheiden wollen, ob es gut war.
Sie nahm Lis Hand auf. "Dein Vater war nicht nur ein Schreiber, wie sie dir sagen. Wie hätte er verbannt werden können, wenn er nichts anderes als ein Schreiber war!"
"Aber was hat er getan? Etwas muss es doch gewesen sein!"
"Kind, Kind, die vom Hofe haben nicht darüber gesprochen, nur das Schreckliche ohne einen Grund gesagt. Es gehöre zu Strafe, sagen sie, dass keiner etwas wisse."
Die Mutter schaute aus dem Fenster und suchte einen neuen Anfang. "Dein Vater besaß eine wunderschöne Sprache, weißt du, so weich und fein und fließend wie dein neues Kleid."
"Nein, Mutter, nicht ablenken! Ich will wissen, was ihm geschehen ist." Li hielt ihre Hand fest gedrückt.
"... wie sich seine und deine Schrift gleichen!", sagte nachdenklich die Mutter
Aber Li wollte sich nicht ablenken lassen. Blickte zornig durch das Lob hindurch.
"Irgendetwas geschah dort", sagte die Mutter schließlich. "Er muss etwas erfahren haben, was sehr gefährlich war. Dein Vater sei in die Verbannung geschickt worden, sagten die vom Hofe uns, umgeben von Sümpfen, an der Grenze zu einem anderen Land. Kind, mehr weiß ich wirklich nicht!"
Li sah eine Gestalt vor sich, mit einem filzigen Umhang, von Mückenschwärmen umschwirrt. Aber die Gestalt hielt das Gesicht verborgen. Keine Hände, nicht einmal Füße zeigte sie, saß zusamengekauert unter ihrem Schatten.
"Eines Tages, Li, kommt er zu uns zurück. Seien wir froh, dass er lebt und dass wir leben. Er ist ja in unseren Gedanken bei uns."
Li schüttelte den Kopf. Das war ja nur ein halber Trost für ihre Mutter. Aber für Li war es gar kein Trost, weil sie ihren Vater nicht einmal kannte.
"Er wird niemals zu uns kommen!", stellte sie fest, als zöge sie einen Kreis um Dinge, die in ihrem Kopf waren. "Dann hat Bea also doch recht!"
"Die Bea ...? Ist das deine neue Freundin, die im Turm beim Fürsten wohnt?"
"Sie hat aus den Winden gelesen, dass mein Vater mich ruft, und ich glaube es ihr!"
"Sie sollte nicht solche Dinge sagen!" Zornig war die Mutter mit einem Mal. "Und du solltest nicht solche Dinge glauben!"
"Ich will das Kleid nicht!", sagte Li trotzig. "Es ist nur eine Erinnerung, die zu nichts nütze ist!"
"So sei doch vernünftig, Li! Es ist unmöglich, zum Kaiserhof zu gelangen. Wie unmöglich erst, deinen Vater in der Verbannung zu finden!"
"Das sagt Bea anders!"
"Kind, komm auf andere Gedanken ... die Mädchen in deinem Alter, sieh nur, wie sie sich anziehen und schön tun für die jungen Burschen."
"Das Kleid gib einer anderen, die schön sein möchte. Ich will einen Vater, keinen Mann!"
Chapter 35. Woi als Ritter
Wois Bett war verlassen. Vom Fenster fiel ein Streifen Licht und brach es entzwei. Woi stand Rücken gegen die Wand gelehnt und wartete.
Da war sie im Raum. "Ich weiß, dass du da bist, Ihscha", sagte er. "Ich brauche dich nicht zu sehen und doch weiß ich es!"
"Ich kam so leise, weil im Schlaf ich dich glaubte", sagte sie und machte sich sichtbar. Sie trug einen schwarzen Umhang, an dessen Seite ein weißer Schal bis auf den Boden herunterfiel.
"Bringst du den Dolch zurück, Ihscha?", fragte Woi streng.
"Ich dachte nicht, dass du ihn gleich zurückverlangen würdest", antwortete Ihscha, ohne Reue zu zeigen. "Wenn es dir recht ist, will ich ihn noch ein wenig behalten."
"Nun ... eigentlich schadet es nicht, wenn er in deinen Händen ist?" Er biss sich auf die Lippen, weil sie so schnell seinen Zorn weggezaubert hatte.
"Du brauchst ihn nicht selbst?", fragte sie zauberspöttisch.
"Ich habe ihn versprochen wegen einer Fürstensache und brauche ihn wirklich ... aber nicht jetzt!"
Als er erneut sprechen wollte, legte sie ihm den Finger auf die Lippen und sah ihn traurig an: "Sprich nicht von Tagesdingen. Sag, ist dies nicht auch den Wachenden die Stunde des Träumens?"
Woi musste ihr recht geben. Heute nicht, ein anderes Mal würde er ihr die Sache erklären! Ihscha wusste nun, dass er den Dolch eines Tages vorzeigen musste. Sie würde ihn sicherlich mit allem Anstand zurückgeben.
"Schon habe ich mein Anliegen vergessen", sagte Woi leise, "sehe nur, wie schön du bist. An den schlanken Fuß einer Vase erinnert mich dein Schal. Dein Gesicht gleicht einer Blüte darin, die keinen Schlaf findet."
"Komm auf den Gang", sagte Ihscha. "Lass uns schauen, ob dort jemand ist."
Er folgte ihr willig, wenn auch verwundert nach. Nicht zum ersten Mal schien es Woi, als fürchtete sie den Blick der Menschen bei ihrem Tun. Stand sie als Fee nicht über dem Urteil der Menschen?
Als sie in Deckung schlichen, streifte er mit der Schulter den Drachen an der Wand und hieß sie anhalten. Er griff unter den Bauch des Drachen und holte ein kleines Fläschen hervor.
"Das kleine Geheimnis vom Koch ... Komm, Ihscha, trink mit mir." Sie schüttelte den Kopf, aber er wollte, dass sie trank. Woi nahm selbst drei große Schlucke.
Wie Eindringlinge auf fremden Grund kauerten sie sich an einem Fenstern und sahen auf den Hof. Er zeigte ihr den Turm, um weniges schwärzer als die Nacht. Seine Zinnen mit eisernem Griff hielten die schmale Sichel des Mondes fest.
"Wir wollen, wenn du erlaubst, etwas spielen", flüsterte Woi und fasste Ihschas Hand, "... die Traumgeschichte von dem Drachen, der sein Fräulein entführt. Wangenweiß heißt sein Fräulein, und er liebt sie schrecklich. Oben im Turm wohnt der Drache. Auf den Zinnen ist sein Drachennest. Dorthin bringt der Drache sein Fräulein. Später rettet sie ein Ritter ..."
Er nahm das Ende ihres Schals auf. So ging sie nun, das bleicherschrockene Fräulein, gefangen und entführt vom Drachenmann. Der Weg zum Hof machte ihm die Glieder schwer. Mit jedem Schritt über die langen Gitter des Pflasters musste er sich mehr in einen Drachen verwandelt haben. In seinem Turm war es grottig, in seinem Zimmer schrecklich und fremd.
Ihren schauernden Blick sprach seine schreckliche Verwandlung an: 'Ich bin vor dir der Drache nun. Meine Familie ist alt und tot auf vielen Bildern. Haben sie keine Angst, mein Fräulein Wangenweiß. Hier oben, wo die Fee ein Feuerwesen trifft, wiegen Sünden wenig.'
Das Band vom Mondlicht löste sich aus seiner Hand. Begann ein eigen herausfordernd Spiel, bis er es nahm und ihre Glieder band.
- Was fesselt er sie, wo er ein Drache mit vielen Kräfte ist? Wird der Drache, wo er redet, nicht zum Mensch?
'Du sollst mich nicht ansehen, Furchtweißauge!', bat der Drache sie recht. 'Der Nase Qualm soll nicht erschrecken. Meine Zunge will nicht ungehörig feurig sein. Von meinem Bauch das Weiße ist wie Menschenhaut zart, dessen überzeugen Sie sich!'
- Hat das Unsichtbare nicht viele Türen für eine Fee? Was trat sie nicht hinaus? Ist die Fee, die schweigt, nicht schon des Drachen Tod?
Der Drache in Galanterie bat die Sterne um eine Spielmusik und sah voll Schmacht sein Fräulein an. Wie gern wäre er für sie ein Ritter: Ein Lächeln auf ihre Lippen legen, Hände haben, die ihr sanft gefällig sind, einen Duft, der den Fraumensch gewinnt, ein Flüstern, leiser als Gedanken sind.
- Wer dereinst trennte Fee und Drachen? Wer gab ihm Sonnenfeuer in den Bauch und ihr, der Fee, die kalte Mondlichhaut?
'So entschuldigen Sie, Gnädigste, dass die Drachenhaut auf Fliesen kratzt. Könnte ich doch dem Maul das Speicheln verbieten! Die Stimme wird rauh mir über dem Betteln. Der Augen Farbwechsel hat nichts zu bedeuten, ist drachenüblich. Schwefel und Schweiß sind feine Gerüche für den Gewöhnten.'
Er steckte, im Qualm benommen, den Kopf zum Fenster hinaus und leckte mit heißer Wonne von der Nacht die kühle Firniss ab.
'Oh, Gnädigste, ich bitte, wenden sie ab den Blick vom Drachenbild! Die Zacken, wenn sie dem Panzerrücken
entragen, welch unschöner Anblick! Da schwillt und schlägt der Körper mit Überkräften, windet fremdgestalte Zunge staubig sich am Boden!'
Fortgewendet, gut beraten, hat das Fräulein den Blick, hört so zum Übermaße fremd das verstümmelte Stammeln des Drachen ... bis sich das Spiel mit fein-ferner Stimme der Rettung erinnert.
Schon vernimmt das Fräulein: Der Retter ist da! Sieht, wie seine Rüstung glänzt! Hört, wie sein Atem die Stufen nimmt, wie sein Lachen die Schritte zählt!
Schon spricht der Ritter: 'Oh, meine Edle, spät kam ich, aber ließ von der Hoffnung nicht, den Drachen zu wehren. Halte nun den Arm um dich. Flüstere dir, was ein Ritter flüstert, dem der Drache geflohen ist.'
Schon bittet der Ritter ihre Verzeihung: 'Klug gewählt waren Versteck und Stunde des Drachen. Mein Schwert lag verlegt. Das Pferd war traumselig und wählte falsch den Weg. Doch entschuldigen will ich nicht, dass ich, der Ritter, den Drachen verschlief. Nie wieder, bleiches Fräulein, sollen Sie allein im Dunkeln sein, wo Drachen sind, und sich Ritter zur Unzeit einfinden.'
"Sprich, Ihscha, sprich!", fleht der Ritter Woi. "Öffne die Augen und richte Worte an deinen Retter. Nimm meine Hand und drücke sie fest!"
"Der Ritter kam zur rechten Zeit", flüstert Ihscha. "Wenn nur ein Ritter kommt, will ich gern vergessen, dass ein Drache ihm voraus war."
"Was bin ich froh, dich unversehrt zu finden!", ruft Woi, auf den Knieen küssend die edle Hand.
"Hier, nimm den Mantel, den der Drache zurückließ", sagte sie mit Zartheit und legte sorgend den Mantel um seine Schulter. "Du zitterst ja und bist fahl!? Dabei war ich es, die dem Drachen in die Augen sehen musste."
Sie blickte auf den Boden, wo das Mondlicht einen zittrigen Rest zurückgelassen hatte. Als ein feines Tuch nahm ihn ihre Feenhand auf.
"Nun will ich auf den Boden mich setzen, Woi", sagte sie, "will sein wie eine Mutter, dein Kopf in meinem Schoß."
Sie zog ihn zu sich herunter und legte den Kopf zwischen ihre Beine und das silbrige Tüchlein auf seine Stirn.
Woi hatte die Augen geschlossen, und was Ihscha sagte, floss durch sein Verstehen hindurch. Sie war eine Fee und würde ihn niemals loslassen. Seinen Dolch hatte sie, seinen Namen, seinen Schlaf. Und nichts forderte der Ritter sich zurück.
Sanft wiegte sie seinen Schlaf in ihrem Schoß, schmückte und beschwerte ihn mit einem Lied von alters her:
Der Mutter Schoß ist Bett
Der Liebe Band ist weiß
Der Ritter Jung ist stolz
Der Sage Schlund ist Hall.
Der Mutter Lieb ist Pfand
Der Liebe Herz ist stumm
Der Ritter Stolz ist fort
Der Drache Rot ist tot.
Der Mutter Haar ist Schnee
Der Liebe Aug ist voll
Der Ritter Fern ist rot
Der Krone Haupt ist ab.
Der Mutter Bett ist Erd
Der Liebe Mund ist bleich
Der Ritter Rot ist tot
Der Henker hält den Kopf.
Chapter 36. Li malt ein Gedicht
Der Fürst war an diesem Morgen der erste gewesen. Vogelrufe hatten ihn und die Sonne gleichzeitig aus ihren Betten geholt. Der ganze Hof, die Stadt, die Dörfer schliefen noch mit langem Atem in den sanft getürmten Kissen der Berge.
Er war umhergegangen und hatte sich vorgestellt, er sei ein Wächter, dessen Dienst zu Ende ging. Mit den Händen formte er ein Horn und tat so, als bliese er die Stunde. Dann klopfte er mit seinem Stock auf den Boden, aber das war wohl unsinnig. Warum sollte ein Wächter auf den Boden klopfen?
Ein Tag legte sich schwer auf seinen Schultern, der an seinem Ende die immergleiche Müdigkeit für ihn bereit hielt. Nicht mehr lang, und er musste sich aufmachen. Er war ein Bauer, der auf das Feld musste. Ein Fischer, der die Netze legte. Schwerer noch als ihm war der Sonne das Aufstehen.
Die Fenster des Küchentraktes sangen ein Lied in einer fremden Sprache. In den warmen Ställen klapperten die Kühe mit ihren Eimern, und das Dach probierte noch die Farbe, die zu diesem Tag passen würde. Im Nest an der Hauswand verschlangen junge Schwalben die Schnäbel ihrer Eltern. Die Kronen der Bäume schwiegen sich an. Darüber am Himmel flogen Wildgänse. Der alte Mann fragte sich, ob sie die Nacht durchgeflogen waren oder jetzt ihren Schlafplatz verließen.
Er spürte, wie sein Herz gegen die Brustwand schlug. Das Gras überzog sich mit einem roten Teppich. Die Bäume stießen mit den Kronen zusammen, und die Wolken sanken ohne Halt zur Erde. Der Fürst musste sich auf eine Bank setzen. Dann ging es wieder, sein Herz hatte wieder Platz.
Jetzt erst bemerkte er, dass er nicht allein war. Neben ihm saß ein junges Mädchen mit streng nach hinten gebundenem Haar. Sie sah auf ihr Blatt, wo sie Zeichen unter Zeichen setzte. Sie schrieb schöner als seine Schreiber, fand er. Was sie gemalt hatte, kam ihm bekannt vor. Es waren die aus ihrem Morgendunst ragenden Umrisse einer steilen Bergwand, von deren Höhe rauschend und sprühend ein Wasser herunterfiel.
"Warum sitzt du hier um diese Stunde?", fragte er freundlich.
"Ich male den Nebel", antwortete das Mädchen. "Der Nebel ist das Schwierigste."
"So ein Bild hat meine Frau gemalt", sagte der Fürst. "Es ist schon lange her. Jetzt fällt es mir wieder ein."
"Es ist ein Gedicht über Blumen, schon ganz alt."
"Was für Blumen? Ich sehe keine Blumen." Der Fürst hatte die Augen zusammen gekniffen.
"Die Blumen male ich noch. Dort am Abhang sollen sie sein. Sie haben sich den Winter über zwischen den Felsen festgeklammert. Wind und Kälte haben sie ausgehalten, aber des Frühlings Ungestüm wird sie mit ihren Wurzeln fortreißen.
"Es ist ein trauriges Gedicht, nicht wahr?" sagte der Fürst und dachte an seine Frau.
"Ja, ein trauriges Gedicht", sagte das Mädchen.
"Schira war ihr Name."
"Ein schöner Name ... ein fremder Name."
"Eine schöne Frau ... eine fremde Frau mit einem traurigen Namen. Lang ist's her." Der Fürst nickte. Ja, sie war wie eine von den Blumen in dem Gedicht. Hatte sich nicht festhalten können.
"Als sie gestorben war, sagte der Arzt, er wisse nicht, woran sie gestorben war. Die Krankheit sei ihm unbekannt. So war sie, Schira, alles an ihr war fremd, selbst der Arzt wusste nicht, woran sie gestorben war."
"Aber eure Frau konnte schreiben. Da war sie ja auch wieder glücklich", stellte das Mädchen fest.
"Ich habe nicht lesen können, was sie schrieb. Aber ein glückliches Gesicht hat sie dabei nicht gemacht, und ich war mit anderen Dingen beschäftigt."
"Ein Fürst zu sein, ist sicherlich schwer ..."
"Eigentlich nicht. Es ist nicht schwerer als Schatten werfen, wenn die Sonne richtig steht. Man kann eigentlich nichts falsch machen."
"Ich bin die Li!" rief das Mädchen, als müsse er sie kennen.
"Ich habe viele Dinge vergessen", sagte der Fürst traurig.
"Ihr habt erlaubt, dass ich mit eurem Sohn, dem Woi Lesen und Schreiben lernen kann. Und jetzt kann ich es! Seht ihr nicht? Die Luft ist voll von Worten. Sie kommen alle zu mir und wollen von meiner Tusche trinken."
"Das hast du schön gesagt, Li. Ich sehe sie, wie sie dir die Hände lecken und mit den feuchten Nasen dein Knie stubsen ... Sag mal, kommen die Worte auch zu Woi?"
"Also alle Worte mögen ihn nicht. Aber ein paar würden schon bleiben, wenn er sie nur ließe ..."
"Aber du rufst nach ihnen, und sie kommen alle, dass wir sie greifen können? Da, hab ich eins! Wie einen Schmetterling fass ich es vorsichtig an den Flügel ... Sieh her, Li, was ich gefangen habe."
Li nahm seine Hand und las ihm das Zeichen vor: "Ihr habt das Zeichen für 'Kind-Mann-Kind' gefangen. Es steht für das Leben eines Mannes, der weise geworden ist."
"Oh, so ein Zeichen gibt es? Ich will es gleich wieder fliegen lassen, denn ich bin nicht der einzige, den es besuchen will."
Li malte die Blumen zwischen die Felsen. Ganz zarte Blüten sollten es sein, so fein wie die Sprühtropfen vom herunterstürzenden Wasser.
"So kleine Blüten malst du?" fragte der Fürst. "Weißt du, ich sage das nur, weil meine Frau immer schwere Blüten gemalt hat, welche die Köpfe hängen ließen. Ich glaube, sie wären von allein runtergefallen mit der Zeit ..."
Die langen, weißen Haare des Fürsten wurden ständig hin- und hergeweht. Mal lagen sie auf der Stirn, um sich mit den Augenbrauen zu streiten, dann wieder standen sie über den Ohren ab. Von dort wirbelten sie hoch, um sich auf dem kahlen Haupt zu jagen.
"Li, was siehst du mich an? Die Blumen sollst du mir erklären!", rief der Fürst.
"Ach, die Blumen ... Seht her, Fürst, sie sollen so fein wie die Tropfen sein, damit sie dem Sturzbach gleichen. In dem Augenblick, den ich male, soll niemand den Sturzbach und die Blüten auseinanderhalten können."
"Ich versteh dich gut, Li!" rief der Fürst. "Das ist, als wäre ein alter Mann ganz plötzlich glücklich, obwohl er bald sterben muss."
"Also davon versteh ich nichts, Fürst, aber die Tropfen und die Blüten kümmert nicht, was mit ihnen geschieht."
"Nenn mich nicht, Fürst! Ich bin ein alter Mann, der seinen Namen vergessen hat. Es ist meine Bitte, dass du mich nicht mehr 'Fürst' nennst."
Der alte Mann sah hinüber zu den Bergen. Mit seinem Finger zeigt er zitternd in ihre Richtung: "Li, ich habe noch eine Bitte ... Da ist doch noch ein leeres Blatt. Du hast noch Tusche? Dann wäre meine Bitte, dass du für mich jetzt ein Bild malst."
Li sah ihn an. Tränen hatten sich in seinen Augen gesammelt, und seine Lippen zitterten. Sie wandte sich ab. So war es ihr nicht möglich, ein Bild zu malen!
"Willst du nicht?! Ich bitte dich darum!" Er wollte, dass sie ihm ein Bild malte. Aber es stimmte ihn unendlich traurig. Eigentlich hätte er nicht sagen können, was daran traurig war.
"Ihr müsst aufhören zu weinen", sagte Li. "Sonst muss ich selber weinen und kann nicht malen!"
Der alte Mann lächelte. Und nun waren es Tränen der Freude in seinen Augen. So schnell ging das, wenn einer so alt war wie er!
Lange dachte Li an nichts, dann fiel ihr alles ein: Sie malte den Berg, den runden Berg Kenem. Sie malte ihn kleiner, als er war, damit er in die Mitte auf ihr Papier passte. Sie malte ihn bis zu den Füßen mit Schnee bedeckt. Zwei Vögel ließ sie treiben vom Wind über seinem Gipfel.
Der alte Mann sah ihr zu und wunderte sich: 'Wie konnte ich vergessen, dass ich dies Mädchen habe lernen lassen? Sie malt den Berg, als hätte sie ihn erdacht. Als wäre der wirklich Berg auch nur von einem Maler erdacht worden. Vielleicht steht morgen der Berg von ihrem Bild an seiner Stelle?"
Zu Füssen des Berges lief ein Weg. Zwischen ihm und dem Schnee hatten sich linkseitg ein paar Büsche mit dem Rükken gegen den Wind gestellt. Rechtsseitig erhob sich ein knotig gewachsener Baum mit einem Haupt von langen, fadig nach unten hängenden Zweigen, so dünn wie Greisenhaar. Er sah dem alten Mann nach, der auf dem Weg an ihm vorbeigegangen war. Krumm war der Rücken des alten Mannes. Sein Umhang strich über den staubigen Weg und zog eine Spur. Seine Arme hingen herunter, als müssten sie bald seinen Gang bei diesem und jenem Schritt stützen. Der Kopf war kahl, den Bart, fein wie Pinselhaar, zauste der Wind.
"Das bin ich", sagte er. Sie hatte ihn als den Wächter-Bauer-Fischer-Mann gezeichnet. Wie müde seine Beine mit einem Mal waren!
Jeder, der sich so alt wie der Fürst fühlte, hätte auf den Tusche-Mann gezeigt und gesagt: "Das bin ich!" Er sah sie vor sich: All die alten Männer, die vorbeikamen und stehen blieben, weil sie viel Zeit hatten und wenig Atem. Vielleicht gab es ja ein Land der alten Männer, genauso, wie er sich vor langer Zeit ein Land der Kinder vorgestellt hatte ...
Auf die Schultern des alten Mannes hatte sich ein Kind gesetzt. Mit der einen Hand hatte es die Haare des Mannes gegriffen, die andere Hand hielt es dem Mann vor die Augen. Mit ein paar Strichen ließ Li den Alten und das Kind ineinander übergehen, dass er auf den ersten Blick nur die eine Gestalt erkannte, krumm und ohne Füße, festgewachsen auf dem Weg.
"Erkennen sie es?" fragte Li. "Nein, ich muss es deutlicher machen." Sie zog noch ein paar Linien und die Umrisse nach und verdeckte mit ihrer Hand den Berg und den Baum.
Nun erkannte der Fürst sein Zeichen: Aus dem alten Mann und dem Kind war das Zeichen 'Kind-Mann-Kind' geworden, dass ihm heute auf die Hand und wieder fort geflogen war!
Chapter 37. Wois Mordplan
Woi war mit dem Gesandten in die Stadt geritten. Er hatte ihn auf dem Weg zu seines Vaters Hof abgefangen, weil er nicht mit ihm zusammen gesehen werden wollte. Der Gesandte hatte verstanden. Sie waren umgekehrt und ritten jetzt in die Stadt wie zwei, die sich zufällig begegnet waren und für den Abend Bekannte sein würden.
"Was macht euer Sohn?", fragte Woi mit einem Augenaufschlag.
"Was macht euer Vater?" fragte der Gesandte mit einem Lächeln. "Ich hoffe, es geht ihm gut."
"Er sagt, er sei verliebt." Woi sah zum Himmel empor. "Ich habe zugehört, als er zu sich selbst darüber gesprochen hat."
"Wer ist es denn?" Der Gesandte zog am Zügel, damit sein Pferd im langsamen Schritt ging. Er tat gleichgültig, als interessiere ihn nichts anderes als der Gehorsam seines Pferdes.
"Sie heißt Li und hat mit mir Schreiben und Lesen gelernt", berichtete Woi. "Er hat von ihr ein Gedicht geschenkt bekommen, und nun will er sie heiraten. Wenn mein Vater allein ist, fällt er auf die Knie und stellt sich vor, er bitte um Lis Hand. Ich habe ihn beobachtet."
Der Gesandte betrachtete eine verlassene Hütte am Wegrand. Das Dach bestand aus nicht mehr als zwei winklig gezimmerten nackten Stämmen. Die Ziegel und ihre Auflage waren auf den Seiten heruntergerutscht und bildeten zwei staubüberzogene Haufen gleicher Größe und Form.
"Wenn ich recht verstanden habe", so Woi weiter, "kann Li sich die Tage aussuchen, an denen sie seine Frau sein will. Er nennt sie 'Tagesfürstin'. Ich glaube aber nicht, dass sie diesen Unsinn mitmachen wird."
Das Pferd des Gesandten ließ Wois 'Prinz', weil es sich besser auskenne und bekannt sei am Ort. Während ihre Reiter wenig Worte machten, verständigten sich die Pferde über Hindernisse und Hunde, über neuen Tratsch und alte Stallgeschichten. Beide fanden, dass sie sich gut verstanden und hofften, sich wieder zu treffen.
Weil viele Menschen zu dieser Tageszeit in die Stadt kamen, um sich ein Quartier zu suchen, mussten sie hinter einem Karren herreiten, der auf schweren Rädern schwankend vorwärts kam. Ein junges Mädchen hatte die hintere Plane beiseite geschoben und lächelte Woi zu. Sie stütze die Hände auf der niedrigen Wagenrampe ab und beugte sich aus irgendeinem Grund weit vor. Woi musste tief in ihren Ausschnitt blicken, wo die nackten Brüste im Takt der aufgehängten Handelskrüge baumelten.
"Wie sieht meine Frau eigentlich aus?" fragte Woi. Die Brüste des Mädchen zitterten von den Kräuselwellen der Pflastersteine.
"Sie ist - wie soll ich sagen? - auf ihre Weise ...", sagte der Gesandte und suchte nach den rechten Worten.
Das Mädchen lehnte sich wieder zurück. Unter ihrer Bluse zeichnete sich deutlich ihre hart gewordene Brust ab. Die glänzenden Haare wickelten sich zerfließend um ihre Hände.
"Hier gibt es soviele Mädchen", sagte Woi. "Zeigt mir doch eines, damit ich weiß, wie sie ungefähr aussieht."
Die Karre vor ihnen bog ab. Das Mädchen schlug die Augen nieder und ließ die Plane heruntergleiten, damit der junge Reiter auch wisse, dass sie nicht so ein Mädchen sei, wie er sie angesehen habe.
"Sieht sie so aus?" fragte Woi und zeigte auf eine, die ihnen zuwinkte. Der Gesandte schüttelte den Kopf.
"Da bin ich ja beruhigt", sagte Woi.
Immer wieder zeigte Woi auf ein anderes Mädchen, immer wieder schüttelte der Gesandte den Kopf. Es war nicht die Kleine, die ihren Finger leckte. Auch nicht die Große, die der Vater 'Gehni' rief. Dem Mädchen mit dem Pflaumenmund und den Traubenaugen ähnelte sie nicht, und keiner von denen, die sittsam und bleich wegschauten.
Woi wird sie ihm wohl alle gezeigt haben, aber keine war dabei. Die eine oder andere wäre für ihn schon richtig gewesen, aber von denen war es auch keine.
Der Gesandte sah betreten drein, da er nicht mehr drumherum reden konnte. Etwas sehr betreten, schuldbewußt, ein wenig ängstlich.
Sie ritten langsam weiter. Die Pferde zeigten sich den entgegenkommenden Stuten von ihrer feurigsten Seite, stolz, aber nicht unnahbar, eben edel und von Rasse, und so gut wie nicht in festen Händen.
Woi hielt sein Pferd vor einer Gaststätte an. "Zum Findling", las er dem Gesandten langsam vor. Sie saßen ab und betraten die Schenke.
Außer dem Wirt war niemand da. Seine Augen schauten aus dicken Gläsern und waren verzerrt wie die seiner Fische, die er in Wasserbehältern unterschiedlicher Größe hielt.
"Habt ihr euren Dolch nicht dabei?", fragte der Gesandte. "Ich muss meinem Fürsten berichten, dass ihr ihn in Ehren haltet."
Woi war froh, dass der Wirt kam und seinen Bauch zwischen sie schob. So konnte er dem Gesandten zutrinken, statt sich eine Antwort suchen zu müssen.
"Ihr trefft sie im Wald bei den Teichen", sagte der Gesandte, nachdem er grimmig geschwiegen hatte. "In der Nacht ist sie dort. Ihr werdet sehen, wie sie euren Dolch herumzeigt. Ihr müsst mir versprechen, ihn zu holen!"
"Ich verspreche es euch, macht euch keine Gedanken!", sagte Woi. "Ich kenne die Stell und habe bereits mit ihr darüber gesprochen."
Der Gesandte knurrte etwas, was Woi nicht verstand. Oder war es der Wirt, der geknurrt hatte?
"Ich will wohl seine Tochter zur Frau nehmen, die das einzige Kind ist", sagte Woi, um dem Gespräch eine andere Richtung zu geben. "Es ist wohl klug, aus zweien eins zu machen, wenn es beiden nützt."
Der Gesandte hatte genau zugehört. Entgangen war ihm nicht, dass der junge Mann der Frage nach dem Dolch auswich, aber er sah darüber hinweg. Statt eine Antwort zu fordern, legte er einen Ring auf den Tisch.
Mit einem Blick schätzte Woi den Wert des Ringes ab. Das Pfand, über welches seine Zukünftige verfügte, lag auf dem Tisch. Reich durch Handel waren sie wegen der Außenlage ihres Landes geworden. Mit jedem handelten sie, wenn er nur das Richtige anzubieten hatte. Reichtum war der Lohn dafür, dass sie nicht wählerisch waren.
Nun hatten sie die Absicht, ihre einträgliche Handelsfreiheit durch Einfluss am Kaiserhof abzusichern. Das Fürstenhaus von Wois Vater war nie reich gewesen, aber es hatte wohl zu seines Großvaters Zeiten politischen Einfluss gehabt.
Die Hand des Gesandte zeigte, dass er nervös war. Schnell hielt er sie ruhig. "Ihr sagt, euer Vater ist gewillt - spielt unernst, wie ihr sagt, mit eigenen Heiratsgedanken?"
Woi ließ sich den Wein schmecken. Es gab ihm Zeit seinen Gegenüber zu beobachten. Der Gesandte schien ihm unruhig, ja ängstlich zu sein, als müsse er etwas entscheiden, was er nicht bedacht hatte. Nirgendwo fanden seine Augen einen Halt. Und der Anblick des Wirtes schien ihn geradezu wütend zu machen.
Mit der Hand trommelte er auf den Tisch. Er begann in großer Erregung zu sprechen: "Wir geben euch unsere Fürstin, die nach dem zu erwartenden baldigen Tod des Vaters den Hof übernehmen wird. Doch was bekommen wir als Gegenleistung: eine Anwartschaft, eine lange, vielleicht vergebliche - nichts sonst! Stellen wir uns einfach mal vor, euer Vater würde heiraten. Seid ihr sicher, der Fürst ließe euch in seiner Nachfolge den Vortritt? Würde er nicht seiner neuen Frau gehorchen und ihr zu willen sein!?"
Wenn der Gesandte die Li nur schon einmal gesehen hätte, dann würde er nicht so reden! Woi versteckte sein Lächeln hinter dem erhobenen Weinglas und sagte ernst: "Niemand kann vorhersagen, wie er sich aufführen wird. Aber kann nicht jemand beim Kaiser über seinen Geisteszustand ein Wort sagen?"
"Wie stellt ihr euch das vor? Der Kaiser ist selber alt und manchmal ..."
Woi beobachtete auf die Worte des Gesandten hin den Wirt. Doch dessen Augen schwammen interesselos hinter den dicken Brillengläsern.
Der Gesandte klopfte mit dem Ring auf den Tisch. "Gut", sagte er schließlich und dämpfte seine Stimme, "reden wir darüber. Euch steht euer Vater im Weg und - es sei offen ausgesprochen - uns auch."
Woi schob den Ring in die Mitte des Tisches. "Dann wollen wir beide dasselbe, stelle ich fest", sagte er sanft und nahm einen Schluck Wein.
Der Gesandte schob den Ring wieder zurück. Er sah Woi lange in die Augen, der seinen Blick ohne Unbehagen ertrug.
"Warum ladet ihr meinen Vater nicht zu einem Besuch an eurem Hof ein?", schlug Woi freundlich vor und machte sich nicht einmal die Mühe leise zu sprechen.
"Wir können doch nicht ...!?", entsetzte sich sein Gegenüber.
"Ihn einladen?"
"Nun, einladen natürlich, aber ..."
"Aber was?!"
"Gut, wir laden ihn also ein ..."
"In einer Sänfte soll er zu euch kommen. Bedenkt, er ist alt. Der lange Weg würde ihn erschöpfen."
Der Gesandte nickte. " ... und dann?", fragte er. Woi schien ihm nicht bei der Sache zu sein. Der junge Mann betrachtete lächelnd die Goldfische, als ging es nicht um Dinge von allergrößter Tragweite. Das konnte ihnen allen den Kopf kosten! Schon die Planung eines solchen Unternehmens war ein mörderisches Risiko! Und Woi war mit seinen Gedanken bei den Goldfischen.
"Habt ihr einen Bottich aus Glas? Sagen wir, so groß wie ein Fass vom Wein."
Der Gesandte nickte abwesend. Was sollte das nun wieder? Der junge Mann hatte manch gute Anlage, aber da war etwas an ihm ... Schon beim letzten Mal war ihm das aufgefallen. Er ging mit diesen Dingen um, als handele es sich um ein Spiel, das jederzeit abzubrechen war.
"Starken und klaren Schnaps habt ihr auch, dass der ganze Bottich bis zu seinem Rand gefüllt werden kann?"
Wieder nickte der Gesandte. Was sollte das? Einen Glasbottich gefüllt mit klarem Schnaps? Warum einen Bottich aus Glas und nicht aus Holz? Wurde Schnaps nicht in Holzfässern gelagert? Er war nun völlig verwirrt und mochte keinen Schluck Wein mehr trinken.
Woi hatte derweil amüsiert den Wirt betrachtet, der sich nicht bewegte, als liege er wie seine Fische glotzend in einem Glas. Von dessen Anblick war ihm die Idee gekommen, und eigentlich meinte er ihm Spaß, was er dann sagte.
"Kommt näher mit eurem Ohr", flüsterte er geheimnisvoll, "noch ein wenig näher. Und nun hört gut zu! Kein zweites Mal sag ich es." Woi teilte darauf dem Ohr des Gesandten mit, wie er sich den Ablauf des Besuches und seinen Ausgang vorstellte.
Der Gesandte hielt sich mit den Händen am Tisch fest. Kalkweiß war er im Gesicht geworden. Sein Mund zitterte. Das war ungeheuerlich, das war unvorstellbar! Er starrte Woi wie ein Monster an. Fragte sich, ob er alles nur träumte?
"Ich sehe, ihr habt gut zugehört", sagte Woi, wobei er den Gesandten nicht aus den Augen ließ. "Es ist nicht eure Sache, eine Entscheidung zu fällen. Nehmt euren Ring und geht! Berichtet eurem Fürsten und eurer Fürstin ... Im Falle einer Einladung an meinen Vater und mich, gehen wir so vor, wie ich es gesagt habe. Hört ihr! Genau so, mit allen Vorkehrungen!"
Woi schob den Ring zum Gesandten. "Macht keinen Fehler, guter Mann! Niemand wird euch glauben, dass dieser Plan von mir stammt! Ihr seid doch ein alter Soldat, nicht wahr!? Welchen Kopf, glaubt ihr, wird man für diesen Wahnsinn abschlagen?"
Der Gesandte ging mit schweren Beinen nach draußen. Dort traf ihn das Sonnenlicht wie mit einem Faustschlag. Sein Pferd sah ihn besorgt für sein Schwanken an. Er führte es zu Fuß aus der Stadt und setzte sich draußen mit seinen Gedanken auf einen runden Stein.
Wenn ein junger Mann, ein Fürstensohn, einen solchen Plan gegen seinen eigenen Vater ersann, dann war die lange Zeit des Ruhe, die ihn mit Anstand hatte alt werden lassen, bald vorbei. Die Erde würde wieder zittern unter den Hufen des Krieges, und seinem Sohn Friede würde eine jede Gesandtschaft das Leben kosten können.
Solange dachte er über diese Dinge nach, so schwer wurde ihm das Herz, so schmerzlich stieg die Erinnerung empor, dass er die genauen Worte, die Woi gebraucht hatte, vergessen hatte und sich voller Besorgnis um seine Glaubwürdigkeit auf den Weg begab.
Chapter 38. Das Leben des Fürsten als ein Tag
'Fürst' wollte er vom heutigen Tag an nicht mehr genannt werden. Das hatte er allen Dienern gesagt. Den ganzen Tag hatte er jedem mitgeteilt, er sei es leid, 'Fürst' genannt zu werden. Es sei Schluß nun damit.
Wie er denn angesprochen werden wolle.
Das überlasse er jedem selbst, die Welt sei groß und schön, voller Blumen und voller Namen. Dann hatte er den Zeigefinger warnend gehoben und sie streng angesehen.
So hatte er den Tag zugebracht und war müde geworden. Er öffnete das Fenster von seinem Zimmer, um sich mit dem Rauschen der Bäume zuzudecken. Mild war das Licht. Es hieß ihn, die Augen zu schließen und nach innen zu sehen.
Er war das einzige Kind auf dem ganzen Fürstenhof gewesen. Wenn er als kleiner Junge die Wildgänse am Himmel vorbeifliegen sah, dann stellte er sich vor, dass es irgendwo ein Land gab, wo nur Kinder waren. Die Vögel würden ihm den Weg dorthin zeigen können, schließlich waren sie schon über alle Länder der Welt geflogen, also auch über das Land der Kinder.
Er erinnerte sich, dass er sich von seinem Vater einmal ein Schaf gewünscht hatte.
"Ich will ein Schaf!" hatte er dem Vater gesagt.
"Schafe sind nicht zum Spielen da. Sie sind zum Essen da und für die Wolle", entgegnete der Vater.
"Ich will ein Schaf, das zum Spielen da ist, und nicht gegessen wird, und seine Wolle soll bis auf den Boden gehen", war seine Antwort gewesen.
Aber er hatte einen Sattel bekommen. Er war aus schwarzem Leder und so schwer, dass er ihn nicht einmal schieben konnte. Selbst das Pferd mochte diesen Sattel nicht.
Als er größer war, hatte er sich einen Freund gewünscht. Aber sein Vater hatte gesagt, er solle lieber gleich an das Heiraten denken. Er werde ihm ein Mädchen aussuchen. Seine Meinung war, dass Söhne von Fürsten nicht mit anderen Jungen spielen sollten.
Das Mädchen, das ihm der Vater ausgesucht hatte, mochte ihn aber nicht heiraten. Sie sagte ganz laut, dass es alle hören konnten: "So ein Kleiner! Mama, du hast gesagt, ich kriege einen richtigen Prinzen. Das hast du gesagt! Er ist kein richtiger Prinz! Den will ich nicht! Die Do kann ihn haben, die freut sich!" Aber ihre kleine Schwester Do war seinem Vater nicht alt genug, und einen Freund hatte er immer noch nicht.
Einmal war er auf einen Heuwagen geklettert und knapp unter dem Tor hindurch in die Scheune gefahren. So lag er da und wartete und wusste nicht, wie er hätte hinuntergelangen sollen. Irgendeiner würde ihn schon holen. Das war immer so.Es war aber noch jemand da. Auf den Strohballen im Heu tief unter ihm lagen ein Junge und ein Mädchen.
'Die werden wissen, wie es runter geht', dachte er, lag aber erst mal still, weil es ihm oben eigentlich gut gefiel. Außerdem waren die beiden viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
Das Mädchen sagte, der Junge solle aufhören, sie zu kitzeln. Erst wolle sie, dass er sie heirate. Der Junge schien nicht zu hören. Er setzte sich auf das Mädchen drauf und versuchte, sie zu küssen. Aber sie kämpfte und wand sich unter ihm fort. Er sagte, er heirate erst, wenn sie ihm gezeigt hätte, wie das überhaupt sei, wenn er verheiratet sei, vielleicht, es könne ja sein, wolle er doch lieber etwas anderes machen. Darauf hielt er ihr den Kopf fest, und sie ließ sich küssen. Aber nicht lang. Statt zu heiraten, wolle er doch lieber Soldat werden, sagte der Junge und legte sich neben das Mädchen. Mit der Hand schob er ihr den Rock hoch. Aber das weiße Höschen wollte sie sich nicht ausziehen lassen. Nein, sagte sie, das wolle sie nicht ausziehen.
Ganz enttäuscht sah er aus, wie er so neben ihr lag. Vielleicht dachte er jetzt daran, Soldat zu werden. Sie drehte ihn auf den Rücken und machte sich an seiner Hose zu schaffen. Er musste ihr helfen, sein Ding herauszuholen, das schon rot glänzte und sehr sperrig war. Sie könnten ja so tun, als wären sie schon verheiratet, schlug sie vor, nicht richtig, eben nur so tun. Der Junge sagte dann nichts mehr. Er lag auf dem Rücken, aber er sah den Zuschauer nicht, weil er die Augen halb geschlossen hielt. Während er schnell mit der Hüfte auf- und abwippte, hielt sie mit der Hand seinen Stab ganz fest. Als er immer mehr keuchte, sah sie genau hin, dass er ihr Kleid und Höschen nicht nassmachte.
Der Fürstensohn hatte noch lange auf dem Heuwagen gelegen und seinen eigenen Stab betrachtet, der wirklich sehr klein war. Damit würde er keine Frau finden. Der Stab des Jungen war viel größer und röter gewesen. Er musste achtgeben, dass sein Vater nicht sah, wie klein er war.
So hatte er gedacht. Aber das war lange her, eine ganze Kind-Mann-Kind-Zeit.
"Wie sollen wir dich nennen?" riefen die Abendvögel. "Mann mit den kalten Händen, wie sollen wir dich nennen? Mann mit den schweren Beinen, was soll dein Name sein? Mann ohne Name, müder Mann, was sprichst du nicht!?"
"Wir hören", schimpften die Abendvögel, "dass er einem Singvögelchen Fallen stellt. Ist es wahr, dass er Jahressaft im Totenbette trank? Dürfen wir glauben, dass er einen neuen Namen sucht für sich graubärtig Wiegenkind?" Und so zeterten, tratschten und spotteten die Vögel, bis der Abend sich das Lärmen endgültig verbat.
In den Traum des Fürsten trat leise die kleine Li und führte ihn auf dem Gartenweg an den Bäumen vorbei, die einen weißen Turban trugen, zu dem Teich, indem anstelle der Fische die weißen Steine schwammen.
'Sag nichts, Li', sprach der träumende Fürst. 'Deine Worte könnte mein Traum wohl nicht verstehen, aber er macht aus uns sonderbar ein Paar: ein alter Mann und, wie seine Tochtertochter jung, ein Mädchen. Er legt deine Hand in die meine und führt uns Seite an Seite zu der Kapelle, die meinen Fischen gehört. Dort geh ich auf die Knie vor dir. Kalt ist der Boden, aber warm ist deine Hand. Leise sag ich dem Ring, dass er dich zu meiner Fürstin erklären soll, für immer und wie lang du willst. Mir altem Manne fehlt der Mut.'
'Der alte Mann', sprach der Ring mit der Stimme des Fürsten, 'bittet dich nicht um Treue. Wo Treue er in jungen Jahren nicht fand, will er sie im Alter nicht suchen. Er bittet dich nicht ins Dunkle der Kammer. Fand er selbst dort etwas von Wert? Du sollst ihm nicht dienen. An Dienern hat er keinen Mangel. Vielleicht, dass du ihm gestattest, wieder auf die Beine zu kommen. Vielleicht, dass du ihn ein wenig hältst, wenn er die Knie strecken will.
Nicht dein Herz will der alte Mann besitzen, nicht deine Schönheit, nicht deine Klugheit. Allein die Tage, da der gleiche Vogel euch weckt, die Stunden, in denen das Alter die Zahlen vertauscht, die Minuten wie alter Wein, die Momente, da ihr die Augen tauscht - die würden ihm genügen.'
"Hörst du mich, Mann ohne Namen?", uhute es durch das Fenster. "Ich bin der Vogel der Toten. Hörst du mich? Man spricht von dir. Am Tisch steht ein leerer Stuhl. Was macht er so lang, fragen sie. Was denkt er sich? Wer hielt ihn auf? So fragen sie mich, den Vogel der Letzten Stunde. Wir wollen unser Mahl beginnen. Gewiss doch war er geladen, sagen sie. Hörst du mich, Mann ohne Namen? Alles ist bereit und gerichtet und wartet auf den Gast. Dein Sohn, sagen sie, habe um eine Bleibe für seinen Vater nachgesucht. So schickt man mich, den Vogel der Kalten Ruh, dass ich ihnen berichte. Hörst du mich, Mann ohne Namen? Zum Fest bist du geladen! Wann machst du dich fertig? Was kann ich ihnen sagen?"
Der Fürst machte die Augen auf, als das Fenster zuschlug. Ihn fror. Es kam ihm vor, als sei er schon tot. Dann knurrte sein Magen, und eine gierige Mücke suchte sich einen Platz, um von seinem Blut zu trinken.
Chapter 39. Ihscha mit dem Dolch im Wald
Ungeduldig hatte Woi auf den Abend gewartet. Immer wieder hielt er sich vor, wie unsinnig es war, dem Ratschlag des Gesandten zu folgen. Wen traf Ihscha im Wald bei den Teichen? Was stellte sie mit seinem Dolch dort an? Warum musste er nachts reiten?
Wie immer er es aber drehte: Der Gesandte war kein Mann, der scherzte oder sich Späße ausdachte! Er wusste, wovon er sprach und hatte schon recht, wenn er für seine Herrin darauf bestand, dass Woi sein Versprechen einlösen konnte. Es war dumm, dass nun alles an seinem Dolch hing! Wie hatte er ihn Ihscha nur anbieten können, ohne selbst dabeizustehen! War es ein Wunder, dass sie ihn ohne Bedenken eingesteckt hatte?
Endlich war es dunkel genug, mehr Nacht als Abend. Woi beeilte sich, zum Stall zu kommen und Prinz satteln zu lassen. Dazu musste er den Stallmeister aus dem Bett rollen und ihn mit einem Eimer Wasser bedrohen, um seinen Willen zu bekommen.
"... hoffe nur, die Dame weiß, wie eilig es dem Herren ist", brummte der Stallmeister, der wieder betrunken war.
Woi ritt in den Wald hinein, bis zu einer Stelle war, wo er Prinz lassen konnte. Dort sprang er ab und landete mit den Füssen auf einem weichen Gestrüpp. Der Boden in der Umgebung war weich. Die Luft war feucht, aber warm. Es war dunkel wie in einer Kammer ohne Fenster.
Er ging ein Stück, bis er sich auf einer freien Fläche befand, die vom Mond beschienen wurde. Nicht weit von ihm standen vier große Weiden, die unter dichtem Hängehaar die Köpfe verdreht hatte, als gebe es bei ihnen etwas zu sehen.
In einer Entfernung hörte er Geplätscher und dumpfe Menschenlaute und blickte, als er zwischen den Baumzuschauern hindurchtrat, auf einen der Teiche. In seiner Mitte stand Ihscha bis zu ihrem Bauch im Wasser. Wie die Blätter einer Seerose schwamm ihr weißes Kleid auf dem Wasser um sie herum.
Nicht weit am Ufer standen drei finstere Gesellen. Sie riefen Ihscha Dinge zu und spukten nach ihr aus. Keiner von ihnen bemerkte Woi, so gefangen waren sie. Ihscha selbst lachte die drei nur aus. Scheinbar war sie dort, wo sie stand, sicher vor ihnen, denn keiner von denen traute sich, zu ihr ins Wasser zu kommen. Einer stieg bloß in den Morast und formte Kugeln, die in seinen Händen auseinanderliefen, bevor er sie schleudern konnte.
Was sie riefen, verstand Woi nur insoweit, als es unflätig und schmutzig war. 'Hure' und 'Bockdirne' riefen sie. Andere Ausdrücke waren wohl so derb, dass ein junger Fürstensohn sie nicht kennen durfte.
Plötzlich hielt Ihscha den Dolch in der Hand und streckte ihn den Dreien entgegen, die erst begrifflos glotzten. Doch als sie erkannt hatten, was Ihscha in der Hand hielt, duckten sie sich wie unter einem Peitschenschlag, machten eine Kehrtwendung und verschwanden lauffluchtartig im Wald. Wenig später hörte Woi, dass sie auf ihren Pferden davonritten.
"Ihscha", rief Woi, der zwischen den Bäumen hindurchgetreten war, "ich habe alles mit angesehen."
"Sie konnten mir nichts anhaben", rief Ihscha zurück.
"Nein, das konnten sie nicht", bestätigte ihr Woi, "aber was hattest du mit ihnen zu schaffen?"
"Erst gib selber Auskunft! Sag mir, was du im Wald zu dieser Zeit suchst!"
Woi überlegte, dass er sie nicht anlügen wollte. "Ich komme, weil ich den Dolch brauche. Es geht nicht länger, dass ich ihn dir lasse!"
"Hast du gesehen, wie ich sie vertrieb?"
"Ja, das war sehr mutig!"
"Dein Dolch gibt mir die Kraft. Wie hätte ich sie sonst vertreiben können!?"
"Ich brauche ihn, Ihscha. Dafür kam ich. Das wollte ich dir sagen. Ich versprach der Dolch der Fürstin eures Hauses."
"Sie ist nicht meine Herrin. Was habe ich mit ihr zu schaffen? Ich war ihnen eine Kundschafterin, doch das ist nun vorbei."
"Ich versprach ihn als einen Ehepfand!"
"Wie konntest du IHR versprechen, was du MIR zu nehmen gabst!?"
"Es ist mein Dolch, Ihscha. Ich brauche ihn!"
"Ich geb ihn nie wieder her! Hörst du, nieder wieder! Denn gäb' ich ihn heraus, dann stündest du sogleich am Ufer wie einer von denen und würdest Schimpfwörter rufen!"
"Nie würde ich mich so gemein machen!"
"Das sagten diese Drei, einer wie der andere, zu ihrer Zeit auch. Nein, ich wäre dumm, wenn ich dir glauben würde!"
"Ich hol' ihn mir", warnte Woi. "Es ist nicht weit zu dir."
"Für die Augen ist es nicht weit, aber jeder Schritt würde dich in die Tiefe ziehen!" Ihscha lachte, immer lauter werdend, und ihr Lachen prasselte auf ihn herunter und tat weh, dort wo es auf die Haut traf. So schnell wie die drei vor ihm rannte Woi in den Wald zurück.
Außer Atem hielt er sich an einer Rinde fest und blickte sich um. Wie sehr Ihscha sich verwandelt hatte! Es war unklug gewesen, ihr zu sagen, wie dringend er den Dolch benötigte! Nun war sie gewarnt und würde alle ihre Kraft gegen ihn einsetzen!
"Psst, Woi", rief es hinter einem Baum.
"Hier sind wir, Fürstensohn", rief es.
'Komm herüber zu uns', winkte eine Hand.
"Wer seid ihr?", fragte Woi, als er sich vorsichtig den vier Gestalten näherte, die sich hinter einem Busch niedergeduckt hatten.
"Wir sind die Räuber des Waldes und kennen dich", sagte ihr Anführer, der einen Hut mit einer Fasanenfeder auf dem Kopf trug. Die drei anderen stimmten lebhaft nickend zu.
"Ihr kennt mich noch?", tat Woi erstaunt.
"Du warst ein Junge, da kamst du in den Wald mit einem Soldaten, der in die Jagd dich einwies. Du aber hattest so wenig Angst wie jetzt."
"Das war Medith, und ich war noch sehr klein", erinnerte sich Woi.
"Einmal brachtest du einen Jungen mit, der 'Sterben' spielen wollte."
"Ich erinnere mich ... Wisst ihr, dass der Junge nicht einmal einen Namen hatte?"
"Ein seltsamer Junge, da geben wir dir recht!"
"Ich sagte, ich sei euer Anführer. Das war natürlich gelogen!"
"Du hast den Mut und die Klugheit eines Anführers. Es war also nicht sehr gelogen!"
"Kennt ihr auch ... Ihscha?", fragte Woi.
"Wir kennen sie als Fee und wundern uns, dass du sie mit ihrem Namen kennst."
Immer wieder sahen sich die Vier nach allen Richtungen um. Sie schienen zu fürchten, dass Ihscha ihnen bis hierher gefolgt war, um sie zu belauschen.
"Könnt ihr mir gegen Ihscha helfen?", fragte Woi. "Ich brauche euren Rat in einer Sache ..."
"Psst, nicht so laut!", flüsterte der Anführer. "Nachts ist sie mächtig, und wir müssen sie fürchten. Komm in den Wald bei Tage, sei auf der Hut und allein. Wir wollen dir beistehen, wenn wir vermögen."
Als Woi versprochen hatte zu kommen, waren sie fort, hatten sich in die Dunkelheit davongeschlichen. Aber sie mussten wohl für ihn gesorgt haben, denn Prinz war gekommen und berührte mit dem feuchten Maul Wois Rücken.
Chapter 40. Li als Tagesfürstin
"Li", sagte der alte Fürst, "ich bitte dich, sei meine Frau bis zum Abend, meine Tagesfürstin."
Er kniete vor ihr auf dem kalten Boden und spürte keinen Schmerz in den Beinen. Das Blut war in seinen Kopf gestiegen, und aller Schmerz hatte sich in seinen Augen gesammelt. Das Mädchen war völlig verwirrt, aber sie nahm ihm seine Rede nicht übel.
"Fürst", sagte Li bittend, "es ist nur ein Spaß, ein Spiel, das ihr treibt, nicht wahr!" Der Fürst nickte sehr ernst. "Wenn es das ist, will ich eure Frau wohl sein bis zum Abend, eure Tagesfürstin, wie ihr sagt, dass euch die Zeit nicht lang werde und dass ihr statt des Alleinseins meine Hand nehmt."
Langsam, ganz langsam erhob er sich von den Knien, die völlig taub geworden waren und ihm durch lautes Knacken zu verstehen gaben, dass sie zu alt waren für solche Auftritte.
"Oh weh", sagte der Fürst, "was mute ich mir zu ... und dir. Aber bis zum Abend halte ich durch. Komm nimm meine Hand, ich will dir etwas zeigen."
Er führte sie langsam zu seinen Räumen. Li hielt an, als wolle sie etwas klarstellen: Gewisse Dinge taugten sich nicht für eine Tagesfürstin, und sie dachte nicht daran, solche Regeln zu verletzen.
"Nein, nein", sagte der Fürst und lächelte, fast geschmeichelt, dass sie ihm solches Ansinnen zudachte. "Sieh mich an: Der Geist ist jung, aber der Körper ... schon dass ich kniete vor dir, verzeiht er mir nicht. Ich führe dich in das Ankleidezimmer. Du sollt einer Fürstin gleich gekleidet sein. Dort in den Schränken, die geschlossen sind seit langer Zeit, sind die schönsten Kleider, die du dir denken kannst."
Er führte Li langsam zu einem abgelegenen Zimmer, immer wieder kichernd, dass sie von ihm ihre Tugend bedroht sah. Er öffnete die Tür und zog ein wenig die Vorhänge auf, dass gerade genug Licht hereinfiel.
"Ihr denkt oft an eure Frau, nicht wahr", sagte Li. "Ihr Duft ist noch hier, der so flüchtig ist wie ein gehauchtes Wort."
Der Fürst nickte. All das war richtig und schön gesagt. Ja, Schira sprach noch zu ihm. Es waren keine Worte, nur die Laute in ihrer Sprache, die er nicht verstand.
Li besah staunend die Menge der Kleider. "Fürst, es sind soviele! Welches soll ich anziehen? Das müsst ihr entscheiden. Schön sind sie alle, wunderschön."
"Leg schon mal deinen Umhang ab", der Fürst kicherte, weil Li schon wieder etwas dachte, "nichts als den Umhang sollst du ablegen. Ich darf dir aber sagen, dass mich deine Sorge rührt. Du siehst Äste, wo nicht einmal Knospen sind. Fast will ich selbst an den Frühling glauben."
Langsam ging er die Kleider durch. Hielt eines so, das andere so. Sie waren schön, allesamt - dann hatte er das richtige gefunden! Er hielt es hoch und ließ das Licht hindurch scheinen.
Das Kleid, das er Li hinhielt, besaß eine Farbe zwische Blau und Rot, die sie noch nie gesehen hatte. Sein Schnitt war erdenklich einfach, aber die Farbe ließ es leuchten. Wenn eine Frau das Gesicht, wie aus einer Sage, dazu besaß und Augen ohne Boden, dann mochte es wohl unvergesslich sein. Li fand, dass es ihr nicht richtig stehen wollte. Es war ein Kleid, dass niemals die Frau vergaß, die es zuerst getragen hatte.
Doch der Fürst ging um Li herum und war verzaubert. Sie musste sich die Haare ein wenig anders legen und die Brauen hochzeichnen. Ihre Augen hätten größer sein sollen, ein wenig schattiger, der Mund in seinem Schnitt fremder, aber im Licht des Zimmers, und wenn sie so still stand, dann war sie es.
"Schira, bist du es?" flüsterte der Fürst.
Li ging auf ihn zu und nahm seine beiden Hände auf. Der alte Mann sah in ihr eine andere. Seine Hände zitterten, seine Gesichtshaut war fahl geworden, so deutlich sah er seine Frau, und so sehr hatte er sie geliebt.
"Schira, Schira", sagte er, nichts als ihren Namen, und schlug, als schäme er sich unendlich, seine Augen nieder. Er setzte sich auf das Bett und ließ auch dort ihre Hände nicht los.
"Verzeihst du mir, Schira, jene Nacht?"
Li nickte langsam.
"Wenn ich gekonnt hätte ..." Schiras Hand verstand und verzieh. Sie strich über das Haar des alten Mannes, wieder und wieder. Verstand die Tränen, die in seinen Augen schwammen. Vernahm die Worte, die ihm auf den Lippen zerfielen. Entschuldigt war es und gut für alle Zeit.
Langsam öffnete sich die Tür des Zimmers. Jemand sah hinein, glaubte nicht, was er sah, öffnete die Tür noch ein wenig weiter, schob den Kopf in Gänze herein und blieb doch unentschieden zwischen Verwunderung und Unglauben.
Der alte Fürst hörte nichts. Er war in einer Welt, die andere Bilder und Geräusche für ihn hatte. Li sah sich um, ohne ihre Haltung zu verändern. Es war Woi, dessen stummes Starren in mundoffenes Staunen übergegangen war, um in einem lang gezogenen und frech gewogenen Grinsen zu enden.
"Wenn ich störe, gehe ich wieder" sagte er, schien aber nicht ernsthaft diesen Weg verfolgen zu wollen.
"Ach, Woi, komm herein", sagte der Fürst. "Was wäre diese Stunde ohne dich. Dies ist deine Mutter Schira, die starb, als sie dich geboren hatte. Sie ist gekommen, mir meine Sünde zu vergeben." Undeutliches gab er schluchzend von sich in Folge des Gesagten.
Li drückte die Hände des alten Fürsten und legte soviel Vergebung in ihre Augen, wie es ihr als einer Fremden gestattet war. Sie kannte das Gesicht, das Woi verzog, und wusste, dass er sich jetzt einen Streich ausdachte. Nun musste sie besonders auf der Hut sein.
"Ach, Mutter", sagte Woi mit belegter Stimme. "Die lange Zeit ... wie hast du mir gefehlt."
Li konnte sich nicht dagegen wehren, dass er sie umarmte. Sie hätte dem Fürsten alles zerstört mit einer falschen Bewegung. Das war ganz Woi, der die Situation ausnutzte und seinen Spaß an ihrem Elend hatte.
"Kommt, Mutter", sagte Woi. "Kommt auch, Vater, alle sollen sehen, wie wir wieder vereint sind."
Er half dem Fürsten auf, nutzte dessen Verwirrung aus, um ihn dorthin zu steuern, wo er sich vor allen Augen lächerlich machen würde. Li würde Woi nicht aufhalten können, soweit kannte sie ihn.
"Hofmarschall und alle!", rief Woi den Gang herunter. "Kommt her! Seht, Schira ist gekommen! Seht die Familie wunderbar vereint! Richtet den Ess-Saal! Lasst die Musik holen, gebt Nachricht, was geschah!" Er zog Li und seinen Vater hinter sich her. Der Hofmarschall hatte kaum Zeit, sein Staunen angemessen auszudrücken.
Woi brauchte Li nur hinter sich herzuziehen, um den alten Mann dahin zu bekommen, wo er ihn haben wollte. Vielleicht war es Lis Schuld, dass sie den alten Mann an ihrer Hand vertrauensvoll wie ein Kind mitführte. Wie ein Blinder stapfte er hinter ihnen her.
Als sich alle im großen Saal versammelt hatten, trat Woi stumm zurück und ließ dem alten Fürsten keine Wahl, als selbst zu sprechen. Alle warteten mit Woi, ob der Fürst seine Lächerlichkeit noch würde übertreffen können. Sie waren still und gebannt.
Mit leiser Stimme, jedem verständlich, sprach der Fürst, als sei er allein im weiten Rund: "Für ein paar Stunden, bis zum Abend hat sich die Zeit zurückgezogen und schickte mir einen Menschen, den ich lange vor dem Gestern verloren glaubte. Heute lässt sie mich gewähren und wird es morgen leichter haben mit mir altem Mann. Wie alle Geizigen wird die Zeit mir's aufschreiben und vom Morgen den gleichen Teil abziehen. Die Dumme weiß nicht und würde es nicht glauben, dass jeder von ihrer Münze die Wahl hat, einen Schatz zu kaufen, den er niemals verliert, oder einen Korb voll Beifall, den er bis zur Leere herumträgt. Den Schatz, den ich erwarb - ich will ihn nicht länger vor euren Augen verbergen: Dich, wunderbarste Schira, dich, schönste Schira, habe ich dem Vergessen abgekauft ... den Rest trag ich, um ihn zu verlieren."
Der alte Mann ließ sich langsam von Li aus dem Saal führen. Sie gingen über den Hof wie zwei Kranke, die sich gegenseitig eine Hilfe waren. Bis zum Teich schafften sie es, weil sie immer wieder anhielten. Lange vor ihnen war der Abend da.
"Es war eine schöne Rede, Fürst. Ein alter Mann hat ihnen allen die Augen mit seinem Weh gefüllt!"
"Bist du es, Li? Ist es schon Abend?" fragte er.
"Ja, ich bin es wieder, die Li. Schira kehrte in dein Herz zurück, dorthin, wo sie hergekommen ist."
Er nickte zufrieden und setzte sich auf die Bank. Ließ seine Gedanken im langsamen Kreis mit den Fischen durch das Wasser glitten. Am Rand des Tages saß er, Seite an Seite mit der Stille. Der Abend kam und streichelte ihm das graue Haar. Am gegenüberliegenden Ufer tranken schwarze Weiden die rote Sonne leer.
Chapter 41. Woi trifft Baldeina im Wald
"Hier ist niemand", sagte Woi leise und ärgerlich zu sich. Er hatte am Sinn seines Besuches zu zweifeln begonnen. Was sollten ihm vier Räuber aus dem Wald schon sagen können? Es sprach nicht für ihren Mut, dass sie Ihscha fürchteten und erst am Tage sich trauten, frei heraus zu sprechen.
Die Luft war feucht von den Teichen in der Nähe. Aus hohen Baumkronen ließ die Sonne dunstig gewirkte Vorhänge herabhängen. Als er Prinz in den Schatten treten ließ, hatte dieser leise schnaubend etwas vernommen. Schnell nahm Woi seinen Bogen auf und war aufmerksam.
Dreißig Schritte vor sich hört er im Unterholz ein Knacken und das Sirren eines Pfeiles, der im nächsten Baum bebend stecken blieb.
Er sprang ab und führte Prinz im weiten Bogen in den Rücken des hohen Baumes, auf dem der Bogenschütze gesessen haben musste. Solange er unsichtbar für die Räuber blieb, würden sich diese zur Unvorsicht verleiten lassen und ein gutes Ziel abgeben.
Hinter einem eingedrückten Busch bemerkte er den Hut ihres Anführers mit der langen Fasanenfeder, die er mit etwas Glück treffen würde. Die Spannung des Bogens steigerte er gleichmäßig bis zum Haltewinkel, hielt die Luft an und wurde in seinem Herzen eins mit dem Bogen, mit seinen Augen eins mit dem Ziel. Das war der Moment, in dem er den Pfeil losließ, der sich ohne zu zittern, fast ohne Flugabfall drei Fingerbreit neben dem Federhut in den Baum bohrte.
Jetzt schreckten sie hoch. Ihre Augen flogen auf wie eine Schar Enten.
"Das kann nur einer sein!", rief einer von ihnen.
"Woi ist uns in den Rücken geschlichen, und wir haben ihm ein schönes Ziel abgegeben."
"Komm heraus, zeig dich, Woi! Du hast mehr als gleichgezogen. Für unseren schlechten Schuß, mehr als Begrüßung gedacht, hast du unserem Besten fast den Kopf durchbohrt."
Der Hauptmann schließlich sagte tonlos im Schrecken: "Wie ist ein solcher Schuss möglich? Seht her und bedenkt, Freunde, wie schnell ein Räuberleben sein Ende finden kann!"
Woi trat lachend hervor. "Ihr Hasenherzräuber, so unvorsichtig wart ihr, dass euch der Gejagte zum Jäger wurde. Habt darauf vertraut, dass er euch nicht treffen würde, wo ihr ihn nicht treffen könnt." Rief es ihnen fröhlich zu, lachte laut und zeigte sich ihnen winkend den trefflichen Bogen.
"Setzt euch her, Woi", sagte der Hauptmann. "Wir können nicht lange bleiben, müssen uns bald ein neues Versteck suchen ... fast in jeder Nacht noch kommt die Fee in unseren Wald."
"Ich halte euch nicht auf", sagte Woi. "Gebt mir einen Rat, dann bin ich fort."
"Wie kamt ihr überhaupt in ihre Fänge?"
"Sie ist am Hofe meines Vaters und hat meinen Dolch, den ich einer Fürstentochter für die Hochzeit versprach, in ihren Besitz gebracht. Nun lässt sie nicht mehr von ihm ab!"
Ängstlich sahen die Räuber sich um, als fühlten sie sich von überall beobachtet. Es waren wahrhaft furchtsame Räuber, die nicht gut in einen Wald passten!
"Sagen wir es ihm", drängte der eine. "Wenn Woi ihre Kraft bricht, ist es zu unserem Nutzen!"
"Eilen wir, dass wir von hier fort können", so der andere, der sich so oft umgesehen hatte. "Ich habe kein gutes Gefühl. Irgendwer beobachtet uns!"
"Sie kommt nur nachts, das weißt du. Was also fürchtest du dich schon am Tage?"
Und schließlich der Anführer, der ihnen das Schweigen gebot: "Sie besitzt deinen Dolch, nur solange sie ihre Schönheit besitzt. Hörst du!? Hast du verstanden!?"
"Ja, das weiß ich", antwortete ihm Woi ungeduldig. "Wie aber bekomme ich ihn zurück. Sagt es mir. Ich tu, was ihr sagt, auch wenn es mehr als euren vierfachen Mut verlangt."
Da flüsterten sie im geübten Chor: "Schneid ihr ab, das lange Haar, den Fluch der Fee! Raub ihr das schwarze Gold! Wirf's hinauf in die neidische Nacht! Bist du schlau und mutig, so ist der Dolch bald wieder dein!"
"Was bist DU denn für einer?" fragte eine wirkliche Stimme auf Wois Rücken herunter. "Verstehst du die Sprache der Bäume und sprichst mit ihnen? Haha, Haha!"
Woi spürte den Schlag des Schreckens bis in die Zähne. Er fuhr herum und sah einen Jungen, der in seinem Alter war, ein wenig größer und reichlich dick. Er saß auf einem schneeweißen Pferd und hatte irgendetwas Gelbes um den Bauch gebunden. Dabei hielt er beide Hände erhoben, als wolle er Woi um eine letzte Gnade anflehen. Sein weiches und freches Gesicht war ein einziges eingedrücktes Grinsen. Wie ein schlechter Schauspieler hatte er sich in Positur gesetzt, und hörte nicht auf, sich einen Ulk mit Woi zu machen.
"Findest mich wohl lächerlich", sagte Woi leise und merkte wie sein Kopf rot wurde vor Wut. Die Räuber waren alle fort. Wie recht sie hatten, unruhig zu sein und sich zu eilen!
"Ups", machte der Junge. "Nein. Gluck. Käme nie auf die Idee. Ausgefallen, würde ich sagen, mmmh, aber lächerlich? Eine Fee nahm deinen Dolch? Ich hoffe doch, er wird sich ersetzen lassen! Gluck."
"Pass auf, du ... Lurch! Wir steigen beide ganz langsam von unseren Pferden. Dann wollen wir mal sehen, wer hier wen lächerlich findet. Den Bogen, siehst du, lege ich beiseite."
Als der Junge frech nickte, glitt Woi langsam von seinem Pferd. Worauf der andere lachte, schnell sein Pferd herumriss und durch den Wald davongaloppierte.
Woi fluchte, verlor Zeit, weil er beim Aufspringen den Bogen falsch fasste und sah das weiße Pferd erst, als er den Wald verlassen hatte. Der fremde Junge ritt auf eine Gruppe von Wagen zu, die von zwei Soldaten begleitet wurde. Dort hielt er an und zeigt auf Woi. Ein fetter Mann, der sich auf seinem Pferd umgedreht hatte, rief den Soldaten etwas zu. Mit gezogenen Schwertern ritten diese los. Die Büschel auf ihren glänzenden Helmen waren gelb und grün. Ihre Pferde sahen aus wie Zirkuspferde, aber es waren immerhin zwei Soldaten. Also verschwand Woi, und die Soldaten, wenn es welche waren, verfolgten ihn nicht weiter als bis zur Grenze der offenen Wiese.
Als er im Wald war, dachte Woi über diese Gruppe nach. So etwas hatte er noch nie gesehen. Vielleicht waren es Schauspieler, die auf der Durchreise waren. Die Wagen hatten sie voll von Anziehsachen und heute abend würden die Soldaten Bauernmägde mimen, und der Junge mit seinem gelben Zeug, der aussah wie ein Lurch, würde ihnen von seinen Abenteuern im Wald erzählen. Sie waren lächerlich, das waren sie! Aber sie mussten reich sein, denn die Pferde, die sie hatten, waren teuer und alles andere als Packesel. Der fette Mann sah aus, als nasche er zuviel.
Prinz ritt zu einem freien Platz, wo er grasen und Wasser trinken kann. Sie kamen an dem hohen Baum vorbei, wo Woi die Räuber angegriffen hatte. Den Pfeil, der in der Rinde steckt, konnte er nur mit Mühe herausziehen. Stolz strich er über seinen Bogen. Mit ein wenig Übung würde er ihn zu einer tödlichen Waffe machen.
Woi ließ Prinz in Ruhe grasen. Er legte sich auf das Moos und sah zu, wie sich das Tageslicht aus dem Himmel zurückzog. Die Luft wurde trübe und die Geräusche weich. Die Tiere erzählten sich von dem Lurch und seiner Schauspielschar. Bald war der Wald gefüllt mit ihrem Hohn. Einige Vögel hatten die Flüsterworte der Räuber aufgelesen und warfen sie sich zu: '... den Fluch ... das schwarze Gold ... die Nacht voll Neid ... schneid ab, schneid ab, schneid's ab, das lange Haar!'
Chapter 42. Das Fest für Baldeina
Das Fest zum Abend hatte pünktlich begonnen. Am Tisch des Fürsten saß ein junger Mann, dem eine breite gelbe Schärpe umgebunden war. Die Freude über ein gutes Essen und einen vergnügten Tanz zum mundenden Wein hatte sich mit einem feinperligen Schweißteppich auf seinem Gesicht ausgebreitet. Der Fürst saß neben ihm und wirkte in seiner Erscheinung ein wenig beengt.
Der junge Mann sah den Tänzerinnen zu. Unter ihnen fand besonders Ihscha seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Wenn er recht sah, dann versteckte sie ihre Blicke vor ihm nicht. Dabei war ihre Haltung edel und ihr Gesicht von feinem Schnitt. Solches Haar wie ihres glaubte er noch nie gesehen zu haben. Indem er ihr zusah, vergaß er, wie lang und beschwerlich der Reisetag gewesen war.
Am nächsten Tisch saß der Gesandte des Kaisers und hatte Durchfall. Er war mit seinem Magen von vornherein eins in der entschiedensten Ablehnung dieser Reise gewesen. Dieses Geschüttele und Steißgestoße, dieser immerfort auslaufende Schweiß, der überallhin vordringende Staub, die Sprache der Bauersfrauen, die Frechheit der Gassenjungen - all dies war auf das höchste widerwärtig. Er fragte sich zum wiederholten Mal, ob der Kaiser gut beraten gewesen war, seinen beleibtesten Diener auf eine solche Reise zu schikken. Immer wieder musste er sich einen Vorwurf an seinen Kaiser verbieten.
Dabei horchte er erschreckt auf die seltsamen Geräusche, die aus seinem Magen zu hören waren. Er legte eine Hand auf seinen Bauch, als könne er die Lautstärke der hallenden Klagen beeinflussen.
Ob ihm der Ritt nicht bekommen sei, fragte der Mann neben ihm und stellte sich und seinen Sohn Friede vor. Ein Gesandter des Fürsten Togisch sei er und erfahren in derlei Reiseusancen. Das Beste sei Rotwein und ein starker Wille. Der Kaiserliche Gesandte goss sich ein und noch ein wenig dazu, weil er den Willen am Tage auf das Dünnste durchgeritten hatte.
Man solle ihn 'Baldeina' nennen, sagte der junge Junge am Fürstentisch und füllte den halbleeren Teller nach. Er sei Sohn des Fürsten Hanga, auch 'Gold-Hanga' genannt. Aber bitte, 'Baldeina' genüge für den Abend. Haha, Hoho, und für die Nacht genüge es sowieso, fügte er laut und für die Tänzerin hinzu.
Um seinen Magen zu übertönen, erzählte der Gesandte, dass der Kaiser ihn geschickt habe, um den Erfolg dieser Reise zu gewähren. Da der Fürstliche Gesandte und ebensowohl sein Sohn Friede nicht nachfragten, setzte er fort, daß Baldeina, der am Fürstentische sitze, und Woi, der Sohn dieses Haus, den beiden Töchtern des Kaisers zwecks einer Heirat vorzuführen seien. Weil der Magen laute Zwischenrufe von sich gab, verschob er den Stuhl über dem Boden, was einen ähnlichen Klang abgab. Nichts habe der Kaiser vergessen, ebensowenig den Fürsten Alta wie seinen Sohn.
Ob die Heirat beschlossen sei, fragte der Fürstliche Gesandte.
Ob der Kaiser ihn auf eine solche Reise geschickt hätte, wenn die Sache nicht beschlossen sei, fragte der Kaiserliche Gesandte ungnädig zurück.
Dann hätten des Kaisers Töchter die erste Wahl, sagte der Fürstliche Gesandte zu seinem Sohn, und der fürstlichen Abordnung bleibe nur die Abreise.
Es seien wunderbare Mädchen, sagte der Gesandte des Kaisers und nahm vom roten Weine einen großen Schluck, der wie ein warmer Ball in seinen leeren Magen fiel.
Derweil fragte Baldeina den Fürsten, wer denn der Sohn des Hauses sei. Er wolle doch seinen Reisegenossen kennen lernen.
Der Woi sei nicht hier, nuschelte der Fürst, weil ihm Baldeina, ohne zu achten, gegen das linke Schienenbein getreten hatte.
Baldeina bat, der Fürst möge ihm einen Eindruck zu geben.
Woi sei nicht groß, sagte der Fürst und sah besorgt unter den Tisch. Kräftig sei er, meist aber still und gebe nicht viel um Fürstendinge.
Ob sein Pferd 'Prinz' heiße, fragte Baldeina.
Dies wurde ihm fürstlicherseits nickend bestätigt.
Dann habe er ihn bereits im Wald getroffen, rief Baldeina. Er neige zum allermenschlichsten Zorne, das ließe sich wohl sagen.
Obwohl um Baldeina herum viel und lustig geredet wurde und der Tanz seine Fortsetzung nahm, dachte er über seine Begegnung im Wald nach. Was für ein seltsamer Bursche dieser Woi war! Während bei seinem Vater gefeiert wurde, saß er im Walde und sprach mit sich selber. Baldeina würde aufpassen müssen, wenn er allein mit ihm war. Dieser Woi war etwas kleiner, aber bestimmt sehr kräftig und würde nicht lange zögern, sich einen Vorwand für einen Kampf zu suchen. Sicherlich hätte Baldeina ihn nicht verspotten dürfen! Einfach wegzureiten, als Woi zum Kampf vom Pferd gestiegen war, war zwar schlau und spaßig gewesen, aber er würde nun keine ruhige Minute mehr haben.
Er entschloss sich, ein schlauer Junge zu sein und Woi zu seinem Freund oder Gefolgsmann zu machen. Baldeina würde die Ideen haben, Woi war geschickt und mutig. Mit der Zeit und Gelegenheit würden sie unzertrennliche Freunde werden.
Doch erst einmal musste sich Baldeina um die junge Tänzerin kümmern. Immerfort sah sie ihn an und tat geradezu verliebt und schmusig. Da brauchte er nur ein leises Wort zu sagen, einen herztiefen Blick zu wagen. Er war kein Kostverächter, einem Nachtisch im Bett auf den Nachtisch am Tisch nicht abgeneigt. Zuerst aber nahm er sich vom Teller eine gefüllte Teigtasche, welche er sich zur Gänze in den Mund führte, um sich danach seine Finger einen nach dem anderen abzulecken, dass die kleine Tänzerin wohl den Genießer in ihm erkennen konnte.
Am letzten Tisch saßen die beiden Soldaten von Baldeina mit den Soldaten des Fürsten zusammen und waren sehr in die Mitte genommen worden. Sie waren stattliche junge Männer, nicht sehr trinkfest, aber gesellig. Dass sie dem Kaiser zum Geschenk gemacht werden sollten, hatten sie stolz und herablächelnd zum Besten gegeben. Nun, da wussten der alte Remp ihnen etwas zu erzählen. Still waren seine Kameraden, als er düster das Glas sich füllte. Dem Kaiser zum Geschenk würden sie gemacht, das habe er richtig verstanden, fragte der alte Remp, um sicher zu gehen. Sie bestätigten die ihnen zugedachte Ehre gerne. Stolz stellten sich ihre Bärte auf. Ob es erlaubt sei zu erzählen, fragte der alte Remp, gedrängt von seinen Kameraden. Es sei erlaubt, kam es von Baldeinas Soldaten. Er müsse erzählen, begann der alte Remp, von allerlei Prozeduren, von denen er sagen könne, dass sie ebenso merkwürdig wie wahr seien - für die Quelle erhebe er sein Glas - wolle also mit Einverständnis sprechen von einem Kaiserlichen Brauche in dessen Ergebnis, die Soldaten am dortigen Hofe mit den Soldaten der Fürsten gewisse Dinge nicht mehr gemein hätten. Also, kurz und schmucklos gesagt, man trenne ihnen am Hofe des Kaisers, sauber und sozusagen behutsam, gewisse Teile ab, die beim Manne und Soldaten paarweise in bester Lage vorzufinden seien. Natürlich brauche der Kaiser auch Männer als Soldaten, aber das sei niederer Dienst, die schönsten und propersten der Soldaten dienten ihrem Kaiser als Eunuchen, so gesehen fehle es ihnen an nichts. Der alte Remp klatschte in die Hände, um die beiden Geschenksoldaten auf andere Gedanken zu bringen, aber diese zuckten schreckhaft unter einer Vorstellung zusammen, die sie mit diesem Geräusch verbinden mochten. Im Ergebnis der Erzählung verstummten sie ganz. Der eine trank zuviel, während der andere nichts mehr anrühren wollte. Der alte Remp sprach noch lange davon, wie er gezögert habe, von dieser Prozedur eine Kunde abzulegen.
Woi hatte leise den Raum betreten und sich zu den Soldaten gesetzt, ohne dass ihn jemand an den anderen Tischen bemerkt hätte. Die Soldaten behandelten ihn wie einen der ihren und machten ihm auf ihrer Bank Platz.
Als zum Gesange aufgerufen und Baldeinas Name zuvorderst eine Nennung erfuhr, erhob sich dieser, geschmeichelt von der vielstimmigen Nachfrage. Er nahm einen vollen Schluck aus dem Glas und klopfte sich auf die Brust. Alle Blicke waren, das Beste erwartend, auf ihn gerichtet, nur dort hinten bei den Soldaten saß dieser Woi, spät gekommen, und schaute grimmig. Ihn würde Baldeina später besänftigen können, nach seinem Auftritt, nach seinem Nachtisch, irgendwann morgen, auf der Reise.
'Rööh, Tööh, Nööh, Mööh!' sang er und reichte seine Hand der schönen Tänzerin, die er als seine Darbieterin auf die kleine Bühne führte. Ohne jede Scheu stellte sich das Mädchen neben ihn. Sie war nicht groß, und ihre Haare hatten einen Glanz, dass die Augen darauf den Halt verlieren wollten.
Baldeina legte den Arm um sie. Auf ihrer beider Bühne war es ein wenig beengt, aber das Mädchen war flink auf ihren Füssen und durchaus biegsam in ihrer Darbietung! In Anbetung sang Baldeina die erste Liedstrophe. Sie erkannte das Lied sogleich und wusste zu antworten im Gesang. Ohne zu zögern sang sich Baldeina in ihr und der Zuschauer Herz, überwand Lücken vollkehlend und war zur Stelle, als das Mädchen vom Lied in seine Umarmung geworfen wurde. Da hob er sie in die Höhe und küsste ihr vollglutvoll auf den Mund. Sie war ganz leicht und schmeckte nach Vanille.
Chapter 43. Ihscha als Töchterchen
"Ich will mit meinem Sohn allein sein", sagte der Fürst. Daraufhin verließen der Hofmarschall, die Diener und sogar der Soldat an der Tür den großen Saal.
"Komm, Woi, du musst näher treten, wenn wir miteinander reden wollen", sagte der Vater und winkte ihn heran.
Woi trat zögernd näher. Der Vater machte wieder einen sehr vernünftigen Eindruck und blickte Woi ohne Fremdheit in die Augen. Er schien seinen gestrigen, peinlichen Auftritt völlig vergessen zu haben. Woi sah beruhigt, dass er sich kein schlechtes Gewissen zu machen brauchte.
"Ich mache mir Sorgen", sagte der Fürst. "Wir wollen zum Fenster gehen und hinaussehen."
Woi stellte sich neben ihn an das Fenster. Der Fürst blickte hinaus und sagte lange Zeit nichts. Auch Woi schwieg, weil er in Gedanken bei Ihscha war.
"Unser Fürstentum ist nicht groß", begann der Fürst und beschrieb einen Bogen mit der Hand, der das wenige einfasste. "Ein alter Titel und kaum genug, um ihn mit Leben zu füllen. So ist es, nicht wahr?"
"Ja, viel ist es nicht." Woi dachte, dass er Ihschas Haar nur durch einen Kampf bekommen würde. Aber welche Waffen taugten gegen eine Frau, die eine Fee war?
"Da, du sagst es selbst." Der Vater war froh, dass Woi so einsichtig war. "Ich nehme an, der Kaiser weiß nicht einmal, wie wenig es ist ..."
Ihscha wusste um das Geheimnis ihrer Macht. Sicherlich würde sie sich nicht auf einen Kampf einlassen, sondern entfliehen oder sich unsichtbar machen, wie sie es immer getan hatte. Niemals würde sie zulassen, dass er ihr die Haare abschnitt. Sie war eine Fee und klug dazu!
"Hätte der Kaiser dich sonst eingeladen, eine seiner beiden Töchter zu freien?" Der Fürst trat einen Schritt zur Seite, weil ihn das Licht blendete.
"Nein, wohl nicht", sagte Woi. Es gab keine Möglichkeit, sie zu zwingen. Also blieb nur, sie in ein Spiel zu lokken.
"Baldeina besitzt soviel, dass sie es in zwei Wagen mitführen und bewachen müssen", sagte der Vater betrübt. "Davon sind wir weit entfernt. Du wirst im Kaiserlichen Wagen mitfahren und wenig mehr als einen Reisesack bei dir führen."
"Ich nehme auf jeden Fall Prinz mit, ebenso meinen Bogen", warf Woi ein.
"Ja, auch deinen Pinsel und deinen Dolch ... aber anderes besitzt du nicht."
"Hmm", sagte Woi. Wieder dieser Dolch! Er musste sich ein Spiel für Ihscha ausdenken. Aber, was immer er ihr vorschlug - sie würde misstrauisch sein!
"Ich fürchte, du kannst der Tochter des Kaisers nichts als deine Person anbieten."
"Gibt es denn keinen anderen zum Heiraten?", fragte Woi misslaunig. Er konnte Ihscha nur die Haare abschneiden, wenn sie sich in einem Spiel fesseln ließ. Aber Ihscha vertraute ihm nicht mehr, weil sie wusste, wie dringend er auf den Dolch angewiesen war.
"Nicht einmal deine Liebe kannst du ihr kunstvoll genug darbieten - du bist ein wenig sparsam mit den Worten, wie wir wissen."
Woi nickte und gab seinem Vater recht. Baldeina führte einen unsichtbaren dritten Wagen an schönen Worten bei sich.
"Weil der Kaiser es verlangt, musst du auf diese Reise gehen, Woi. Aber eine Kaisertochter ist sehr eigen. Versprich dir also keinen allzu großen Erfolg." Der Fürst dachte beklommen, wie wenig Achtung Woi vor Titeln hatte. 'Fürst' war ihm dabei ebenso ein Titel wie 'Hofmarschall', 'Vater' und 'Prinzessin'.
"Hättet ihr euch eine Tochter gewünscht?", fragte Woi plötzlich.
So sehr erschrack der Fürst, dass er sich mit der Hand trügerischen Halt am Vorhang suchte. "Wie meinst du das?"
"Eigentlich nur so", sagte Woi. "Ich dachte an Li, die euch Schira war, da fiel es mir ein."
"Wie stellst du dir das vor?"
"Sie läge hier bei euch in einer Wiege und wäre eingewickelt wie ein Kindchen. Nur der Kopf schaut heraus und ist süß anzusehen."
"Aber Li ist doch Schira. Ich will ihr nicht zumuten, auch meine Tochter zu sein."
Woi tat so, als überlege er. "Aber es wäre doch schön, und würde euch erfreuen? Ich sehe doch, dass es euer Wunsch ist!"
Der Fürst nickte. Was Woi aussprach, hatte einen sehr wahren Kern. Einen Sohn zu haben, war Fürstenpflicht, aber mit seinem Herzen hatte er sich ein Mädchen gewünscht. Ihn wunderte nur, dass Woi ein so feines Gespür für das Verborgene entwickelt hatte. Vielleicht hatte sich der Fürst in seinem Urteil über ihn fehlleiten lassen.
"Ich könnte mir vorstellen", sagte Woi und wartete, bis der Fürst ihn ansah, "dass Ihscha sehr gerne Rollen spielt. Wo Li Schira ist, könnte doch Ihscha -"
"- nicht wahr, sie ist eine wunderbare Schira!?" Die Augen des Fürsten glänzten im trüben Erinnern.
"Stellt euch vor, Schira hätte eine Tochter." Woi ließ sich nicht abbringen. "Die Mutter stände an der Wiege ihrer Tochter - welch wunderbares Bild für euch!"
"Junge, wie sehr du mein Herz kennst", wunderte sich der Fürst.
"Dann ist es also abgemacht", sagte Woi.
"Mein Glück ist a-b-g-e-m-a-c-h-t", sagte der Fürst und lächelte über Wois merkwürdige Wortwahl. Lange, zu lange war der Junge im Soldatischen aufgewachsen.
"Ihr müsst nur alles anweisen", sagte Woi. "Eine Wiege sollte es sein, die groß genug für Ihscha ist. Als kleines Kind muss sie bis zum Hals in Bänder eingewickelt sein?"
"Ich werde die Dienerinnen anweisen. Sie kennen sich aus und wissen diese Dinge."
"Natürlich muss Ihscha für euren Wunsch von unserer Li gewonnen werden."
"Hast du ihre Augen gesehen? Sie ist ein so gutes Kind!", rief der Fürst.
"Ich weiß sogar, dass Ihscha und Li Freundinnen sind", sagte Woi.
"Was du alles siehst, mein Junge! Du solltest mehr zeigen, wie sehr du um die Menschen besorgt bist. Einem Fürsten steht dies gut zu Gesicht!"
"Darf ich hinein und sie ansehen, bevor ihr als Vater kommt?", fragte Woi. "Sie ist ja auf gewisse Weise meine Schwester."
"Wird sie nicht erschrecken?", fragte der Fürst.
"Ich zeig ihr meine große Freude und sag ihr, dass sie von ihrem Bruder nichts zu fürchten hat."
Der Vater lachte gemeinsam mit seinem Sohn und bedauerte heimlich, dass er sich von Woi für lange würde trennen müssen. Ihm wollte scheinen, dass sie sich erst jetzt wirklich nah gekommen waren.
"Die Tür ist also auf, und ich kann sie vor euch besuchen?", fragte Woi beharrlich.
"Ich weise die Dienerinnen an, mein Wort darauf!"
Woi überlegte, ob er noch irgendetwas vergessen hatte. Ihscha in der Wiege, arglos und eingewickelt bis zum Hals, die Tür unverschlossen: Nichts fehlte, es war ein perfekter Plan!
'Vielleicht', dachte der Fürst, 'tritt Woi nicht ganz ohne einen Schatz vor die Prinzessin. Seine Anteilnahme am nahen Menschen, sein Gespür für Herzenswünsche - sind sie nicht etwas, das er der Prinzessin anbieten kann?'
Chapter 44. Woi schneidet Ihschas Haare ab
Woi hatte alle Vorkehrungen, die mit Ihscha getroffen wurden, vom Nebenzimmer aus belaucht. Als die Dienerinnen gegangen waren, und es still geworden war, trat er auf den Gang und öffnete die Tür zum großen Saal.
Dort, neben dem Stuhl des Vaters, stand ein kleines Bett, das von den Zimmerleuten mit Stäben rundherum und einem Paar Wiegekufen versehen worden war. Der Vater und Li hatten ihn nicht enttäuscht, und Ihscha hatte sich prächtig in die Irre führen lassen.
Bevor Woi zum Bettchen trat, nahm er sich aus dem Tisch des Vaters die Schere, mit der die Schreiber ihre Federn spitz schnitten. Vorsichtig verbarg er sie in seinen Ärmel. Die Schublade ließ er offenstehen, damit er sie wieder zurücklegen konnte.
Als er sich über das Bett beugte, sah Ihscha mit großen Augen zu ihm auf. Ihre Haare verbargen sich unter einem schicklichen Häubchen. Dem blassen Gesicht fehlte die Zeichnung. Sogar ihren Duft hatten die Dienerinnen fortgebadet. Es hätte nicht viel gefehlt, und Woi hätte sich nicht erkannt. Ihscha sah ihn an, als wisse sie nicht, was sie von seinem Erscheinen zu halten habe.
Erst machte Woi ein ernstes Gesicht, dann eine lustige Grimasse. Er schaukelte ein wenig am Bett, um neben der Aufmerksamkeit auch das Vertrauen des Kindes zu gewinnen.
"Seid ihr die kleine Tochter des Fürsten?", fragte er mit hoch gestellter Stimme.
"Ja, der Fürst ist mein Vater", lispelte Ihscha.
"Und Schira ist eure Mutter, nicht wahr?"
"Das ist richtig. Aber wer seid ihr?"
"Ich bin Woi, euer großer Bruder. Ich komme, um nach euch zu sehen."
"Wie froh bin ich, dass ich einen solchen Bruder habe!", süßelte Ihscha.
"Es ist alles nur ein lustiges Spiel", flüsterte Woi, indem er sich über sie beugte. Er fuhr Ihscha sorgend über das Häubchen, richtete die Schleife an ihrem Hals und kitzelte ihr eines der nackten Füßchen.
Ihscha kicherte und machte Geräusche. Wie ein kleines Baby rollte sie die Zunge über die Lippen, brubbelte und schmatzte. Die Haut war milchig, und die Äuglein auf der Suche nach einem Platz in diesem Gesicht. Reinlich und streichelig für jeden war sie anzuschauen.
Erneut beugte sich Woi über das Bett und flüsterte: "Hörst du, Ihscha? Hörst du, Schwesterlein klein im Bett? Ich bitte dich, sag mir, schnell sag mir: Mein Dolch, wo ist mein Dolch?"
"Denkst du nie an etwas anderes?", flüsterte Ihscha schelmisch zurück.
"Alle fragen mich nach meinem Dolch, alle", sagte Woi sehr freundlich, damit sie ihn auf seine Weise verstand.
"Ich frage nicht nach ihm", entgegnete sie frech.
"Nun soll ich sogar eine Prinzessin heiraten", setzte Woi fort.
"Dann tu es doch", spöttelte Ihscha.
"Du wirst sehen, wie sehr ich den Dolch benötige", sagte Woi und hob zum Spaß den warnenden Finger.
"Ich denke nicht dran, den Dolch herzugeben!", entgegnete Ihscha und kicherte wie ein sehr leichtes Mädchen.
"Du solltest nicht frech sein, Ihscha, geschnürt, wie du bist!", ermahnte sie Woi.
"Ich bin doch dein kleines Mädchen, Woi", flötete Ihscha. "Willst du nicht, dass ich dein kleines Mädchen bin?"
Er entgegnete ihr nichts, wunderte sich nur, wie raffiniert sie war. Gleich, wenn er weg war, würde sie nach seinem Vater ihre Spinnennetze auswerfen!
"Ich sehe doch, wie du es magst!" Ihscha ließ sich nicht von ihrer Idee abbringen. "Ein süßes Ding willst du, das sich ausziehen und baden lässt. Willst mich mit Seife einschäumen und waschen und recht gewissenhaft die Haut abtrocknen! Ein Küsschen und ein kleines Klapserl, nicht wahr, so soll's doch sein!"
Vorsichtig fühlte Woi ihren Körper ab. Ihscha dachte derweil, dass er auf ihr Spiel einging. Zu verstrickt war sie in ihre Vorstellung, Wois kleines Mädchen zu sein: "Musst ihr die Haare kämmen, bis sie in deinen Augen glänzen! Streif der Süßen das dünne Hemdchen über. Vergiss nicht, der Kleinen den Popo zu pudern!" Ihscha lachte ihn aus, als sei er ein Schäbiger.
Sie hatte sich den Dolch quer über den Bauch gelegt. Fast hätte Woi ihn nicht gefunden. "Warum gibst du mir meinen Dolch nicht zurück?", fragte er ernst.
Doch sie ging nicht darauf ein. "Was sagtst du?", rief sie albern. "Wieder dein Dolch!? Lass ihr doch, wenn's ihr ein Wunsch ist, zum Spielen den dummen Dolch in den kleinen Hände. Leg eine Decke drüber! Niemand soll ihr Spielzeug sehen und sich ängstigen für das Kind."
Weil ihm Ihschas Gelache unerträglich geworden war, stellte sich Woi an das Kopfende des Bette und ließ die Schere aus dem Ärmel gleiten. Er streichelte Ihscha den Kopf, und sie bemerkte nicht einmal, wie das Häubchen zur Erde fiel. Behutsam nahm Woi das lange Haar auf und drehte es vom Ende her zu einem lose hängenden Zopf auf und setzte die Schere an. So scharf waren die Schneiden gegeneinander geschliffen, dass er den Zopf mit drei, vier leichten Schnitten durchtrennt hatte.
"Was war das für Geräusch?" Ihscha wand sich und verdrehte den Kopf zu ihm. "Warum bist du so still? Was hältst du auf dem Rücken? Zeig mir die Hände - eine Schere! Zeig die andere Hand - mein Haar. Das ist mein Haar, mein Haar!"
Ihscha schrie und weinte, aber es kam Woi vor, als sei alles sehr leise und sehr weit entfernt. Er ging zum Tisch, legte die Schere wieder zurück und schob die Lade zu. An der Tür vergewisserte er sich, dass niemand auf Ihschas Schreien hin gekommen war.
Dann trat er vom Fußende her an das Bett. Als Ihscha ihn sah, brach ihr der Schrei ab. Stumm geworden, kämpfte und wand sie sich in ihrem Bettchen, während Woi die Schnüre Runde für Runde aufwickelte, soviel wie er benötigte, um den Dolch fassen zu können.
Als er ihn herausgezogen hat, steckte er ihn sich in den Bund und wickelte Ihscha wieder ein, genau wie die Dienerinnen es zuvorgetan hatten, machte aber einen Knoten statt einer Schleife am Ende.
Noch einmal sah er auf den Gang und trat hinaus. Es war Abend. Alle Flure hatten sich geleert, als gebe es niemanden am Hof außer ihm und Ihscha.
Mit ihren Haaren in der Hand ging er zu Ihschas Zimmer und trat leise ein. Er fand ihr Bett vor, als hätte sie gerade darin gelegen. Unter der Decke sah das Nachthemd hervor. Das brachte ihn auf eine Idee: Er legte den Zopf auf das Kissen und verteilte fließend das Haar, als seien Nachthemd und Haar vor ihrer Herrin zu Bett gegangen.
Chapter 45. Ihscha vor Wois Fenster
Baldeina lag wach und wartete auf die Tänzerin. Er lag angekleidet auf dem Bett, das zu kurz war und erbärmlich quiekte, wenn er sich bewegte. Außerdem war er schon wieder hungrig. Der ganze Fürstenhof war nichts anderes als ärmlich. Das Essen war nicht sättigend, die Kammern waren niedrig und besaß nicht einmal einen richtigen Schrank. Die Türen waren so dünn, dass er jedes Geräusch von draußen hörte. Er konnte sich denken, dass die Tänzerin nicht kam, weil sie vor diesen Widrigkeiten zurückschrak.
Leise schlich jemand über den Gang. 'Da ist sie endlich!', dachte er und sprang aus dem quieckenden Bett.
"Moment", rief er und band sich die gelbe Schärpe um. In seiner Eile stieß er die Kerze vom Tisch. Als er am Boden nach ihr suchte, hörte er, dass seine Tänzerin sich wieder entfernte.
Schnell sprang er zur Tür und sah auf den Gang. "Hallo", rief er. Sechs Schritte vor Baldeina stand die Tänzerin und sah ihn mit großen Augen an.
"Aber bitte", sagte Baldeina und lud sie in sein Zimmer ein. Weil sie stehen blieb, trat Baldeina auf sie zu. Da blitzte in ihrer Hand plötzlich ein Messer auf, mit dem sie emporfuhr und den Ärmel seines Kostüms aufschlitzte. Als Baldeina aufschrie, warf sie das Messer von sich und lief schnell über den Gang fort. Baldeina bückte sich nach dem Messer und prallt dabei mit der Stirn gegen eine schwere Tür.
"Wer da?", rief Baldeina, als er benommen auffuhr und einen Mann in der Tür sah.
"Ich nur niemand", sagte der Mann. Eine stummelige Kerze beleuchtete sein Gesicht, das von narbiger Haut zusammengehalten wurde.
"Das war die Tänzerin!", stieß Baldeina aus und hielt sich stöhnend die Stirn. "Sie hat mich beinahe umgebracht." Er zeigte dem Mann das Messer und den aufgeschlitzten Ärmel.
"Kommen sie, ich verbinden Kopf von großen Fremden", sagte der Mann und machte einen Buckel.
"Ich heiße Baldeina. Sie könne mich so nennen."
"Ich Koch bin und hören ein Geräusch wie Knurren von Magen", sagte der Mann und betrachtete Baldeinas gelbe Schärpe.
"Der Koch sind sie also, das ist gut", sagte Baldeina und ließ sich bereitwillig ein langes weißes Tuch um die Stirn wickeln.
"Trinken Wein?", fragte der Mann.
"Trinken Wein!", bejahte Baldeina strahlend.
"Ein bisschen ist meine Schuld wegen Kopf, ein bisschen ist Schuld von schwere Küchentür", sagte der Mann und öffnete mit großem Geschick eine Flasche Rotwein.
Baldeina verstand nicht, wie er sich mit dieser Tänzerin hatte einlassen können. Der Koch holte zwei Gläser und schüttete ein. Sie nahmen beide einen guten Schluck. Dann schnitt der Koch ein gewaltiges Stück Käse ab, das er in mundgroße Portionen teilte und auf einem Teller vor sie hinstellte.
Auch er kannte diese Tänzerin, lächelte aber anzüglich. 'Frau von Gang' nannte er sie. Baldeina wollte ja nur ...
"Ist naturlich das von Mann", fand der Koch.
Baldeina war diesem Menschen so dankbar für seinen Zuspruch! "Was macht sie mit Messer?", fragte er den Koch. Dazu erhob er sich schwankend und führte vor, mit welchem Schwung sie ihn beinahe getroffen hätte.
"Vorsicht!", rief der Koch. "Ich meinen Kopf nicht viel brauchen, aber Leute wissen Namen mit diesen Kopf!"
"Wir gehen ihr nach!", rief Baldeina begeistert. "Wir sehen nach, was sie tut!"
"Wir zwei Männer, wir nicht Angst vor Frau von Gang!", rief auch der Koch und setzte die Flasche an. Hustend reichte er sie Baldeina, der zwei große Schlucke nahm und mit den Augen rollte.
Sie traten auf den Gang - zwei lange Schatten, das Messer in Baldeinas Hand ein Schwert, die Flasche in der Hand des Koches ein Schlachterbeil.
"Zeig dich!", hörten sie vom Hof eine laute Stimme rufen. Als sie hinaussahen, stand Ihscha dort und sah zu den Fenstern hinauf. "Zeig dich, Woi!", rief sie.
"Sollen wir lieber doch nicht ...", flüsterte Baldeina.
"Nein, wir zwei Männer!" Der Koch puffte ihm den Hals der Weinflasche in die Seite. "Bleibt einer kann sein wegen Hilfe, bleibt anderer wegen Neugier. Ist Wort richtig für machen Augen wie von jungen Kalb?"
"Ist richtig Wort", sagte Baldeina und beugte sich aus dem Fenster.
Ihscha hatte zu singen begonnen. Sie sang, unüberhörbar und schön. Baldeina hörte ihrem Gesang zu, während der Wind eine blonde Locke aus seinem Haar genommen hatte, um mit ihr zu spielen. Das weiche Gesicht des Koches verformte sich in dem Bemühen, die Worte in seine Sprache zu übersetzen. Ihscha sang, ohne ihre beiden Zuschauer bemerkt zu haben:
Weil Süßlieb ehrlos ist
Ist Wehliebs Herz so schwer
Die Windhex kennt das Ende.
So schön war ich zu zweit
Ein Traum ein Lied im Grün
Die Herzfaust dein so nah.
Doch sieh, der Herbstwind ruft
Das Welk zur Wolkenjagd
Doch sieh die Vögel ziehn.
Die Schattenfrauen stehn
So viele grimm und gram -
Sie gaben Kuss für Jahr.
Es kommt die neidisch Nacht -
Ach weh, dass Klag nur führt
Der Wind, nicht Gruß noch Trost!
Ein Fremder ruft zum Tanz -
Bevor du denkst an mich
Mein Name steht auf Stein.
"Das ist wunderschön Lied", flüsterte der Koch, "tropft von Weinen wie fetter Braten von Spieß auf Feuer. Ich kenne von meine Heimat Lied, aber Worte bedeuten anders."
Ihscha stand unbeweglich und blickte zum Fenster hoch. Ein heftiger Wind blies ihre Haare hoch und drückte das weiße Kleid an ihren Körper. Tapfer trotzte sie einer Nacht, die sich erbost über ihren Auftritt zeigte.
"In Heimat ist Lied nicht tropft von Tränen. Ist Lied von Tanz und gute Laune, dass Mädchen und junge Mann haben Hände gegeben zueinander. Ist Lied, dass alle von Glück so leicht, dass Beine nicht mehr kommen auf Erde. Dann Wolke sagen 'Guten Tag' und holen Sonne, dass weil wegen Tanz."
Ein Blitz zuckte am Himmel. Als Ihscha die rechte Hand hob, folgte der Donner aus nächster Nähe.
"In Lied ist Vater sehr glücklich, weil er sieht Blume, die er gepflanzt von seine Hand. Und Blume sehr glücklich, weil sie ist Blume, so sagt so, ich glaube, in Lied. Wenn Leute singen, sie fassen Hände und tanzen und laden Abend ein, dass beisammen mit ihnen er trinkt, bis Nacht kommt und Feuer löscht. Wenn alle traurig, weil ist vorbei, wenn alle müde, weil ist spät, dann alle gehen, bis sie sind zu Hause und in Bett wo kommen Schlaf und mit ihnen tanzt und trinkt, bis sie aufwachen und nicht wissen, wie diese Kopf sie sollen tragen, wenn Tag ist Tag."
Woi hatte das Fenster geöffnet und gähnte. Dann sah erbelustigt zu den anderen Zuschauern herüber und gähnte erneut.
"Was weckt du mich?", rief er zu Ihscha herunter. "Bist du nicht das Töchterchen des Fürsten? Wie hast du dich aus den Windeln befreit!"
"Ich bin so wenig seine Tochter wie du sein Sohn!", schrie Ihscha herauf. "Was weißt du denn? So wenig wie ein edles Herz hast du einen fürstlichen Vater!"
"Ihscha, dein Kopf hat so wenig Haare wie Verstand", rief Woi belustigt von seinem Fenster herunter.
Nun sah Baldeina, was ihn am Aussehen der Tänzerin fremd vorgekommen war. Ihre Haare waren nicht mehr als schulterlang. Jemand hatte sie zudem schief abgeschnitten.
"Was du mir angetan, es sei dein Fluch!" Ihschas Stimme schnappte über, so sehr hatte der Hass sie an den Rand ihres Verstandes geführt.
"Flieg herauf zu mir, wenn du eine Fee bist!", rief Woi unbekümmert. "Deinen Menschenfluch, den fürchte ich nicht!" Ein Grollen des Nachthimmels folgte seinen Worten. Woi sah grinsend hinauf, überlegte, ob er nicht auch ein wenig grollen sollte.
"Ich verfluche dich: Niemals sollst du gewahr werden, wenn eine Frau dich liebt!" Wieder hob Ihscha den Arm. Ein Blitz folgte ihrem Fingerzeig und ein Donner, der sich in einem Knall entlud.
Pünktlich wie in einem Bühnenstück erhob sich ein Wind. Im Tanz hob Ihscha drei Mal ihren Arm und warf ihr ganzes Haar in einen kräftigen Windstoß hinauf. "Ich schenke dir, Nacht, mein Haar! Solltst es mir nicht mehr neiden müssen!"
Dann drehte sie sich um und rannte fort. Nicht lang, da hatte die Nacht einen Mantel über sie geworfen und Ihschas Blöße vor den Augen der Zuschauer verborgen.
"Himmel", sagte Baldeina leise, "das war echt!"
"Alles bloß wegen ihrer Haare", brummte Woi.
"Wer weiß, was passiert wäre, wenn ich ihr nicht das Messer abgenommen hätte!?"
"Sie hatte ein MESSER?", fragte Woi staunend.
"Ich habe mich ihr in den Weg gestellt. Im Kampf fiel es zu Boden, das Messer!" Baldeina zeigte zum Beweis seiner Tapferkeit seinen zerrissenen Ärmel.
"In den Weg gestellt - nennt man das so?", fragte Woi hustend.
"Bitte", sagte Baldeina beleidigt, "ich hätte es auch für jeden anderen getan!"
"Danke jedenfalls", ließ Woi sich vernehmen und schloss das Fenster.
"Sehr unfreundlicher Mensch dieser", bemerkte Baldeina.
"Meint nicht so das", sagte der Koch und begann, Ihschas Lied zu summen. Er zog Baldeina vom Fenster fort, fasste ihn unter dem Arm und ging mit ihm langsam, ein wenig schwankend, in den dunklen Gang hinein.
Dort erzählte er Baldeina von seinem Drachen. Dieser sei ein Freund, aber ein Drache eben. Und Baldeina sei ein Freund, aber ein Mensch eben. Dazu summte er Ihschas Lied und sagte immer wieder: "Das kein traurig Lied ist in meine Heimat. Ist nicht Lied von Ach und Weh, nicht Lied von Mann in Fluch und Frau in Hemd von Tod."
Chapter 46. Ihscha bei Li
Der Morgen war schon einmal in Lis Zimmer gewesen. Da war er leise eingetreten, hatte ihr einen winzigen Spalt breit die Augen geöffnet, aber gesehen, dass noch Platz darin war für einen Traum. Nun war er ein zweites Mal erschienen, spielte mit den Vorhängen und dem Sonnenlicht und hatte jemanden mitgebracht.
Wo wohl hatte er diese junge Frau aufgelesen? Sie schien die ganze Nacht kein Auge zugetan zu haben. Ihre Lider waren rotgebrannt vor Müdigkeit. Getrocknete Tränen hatten ihre Haut spröde gemacht. Fransig geschnitten und fettig das Haar. Sie hatte den Kopf gesenkt, saß auf dem Rand des Bettes, legte zaghaft ihre Hand neben die der schlafenden Li.
Ohne Bewegung saß sie da, weinte nicht. So still war es im Zimmer, dass der Morgen sich für den nächsten Besuch wieder aufmachen wollte, als die Bewegung unter Lis Augen ihm zu verstehen gab, dass man dort ausgeschlafen hatte. Der Morgen war darob zufrieden. Er blieb noch eine Weile und versuchte, mit den Schatten an der Decke eine Fliege zu fangen suchte.
"Ihscha!", rief Li erschreckt, setzte sich mit aufgerissenen Augen in ihrem Bett auf und hielt sich die Hand vor den Mund. Sie sammelte sich schnell, als sie sah, wie weh der Freundin das Erschrecken über ihren Anblick tat.
"Es ist nur ... ich bin aus dem Schlaf grad' hochgeschreckt." Sie wich den Augen von Ihscha nicht aus, sondern legte die Hand auf ihren Kopf und streichelt sie. Ihscha brauchte jetzt ihre Hilfe, ihr Mitleid. Was so schlimm war, durfte nicht durch Lis Erschrecken schlimmer werden.
"Komm, leg dich auf mein Bett", sagte sie.
Ihscha gehorchte so ernst, als gebe es nie wieder ein Aufstehen. So lag sie nun da und starrte zur Decke. Sie wollte in Lis Augen nicht das eigene Spiegelbild sehen. Am liebsten wäre sie in die fremde Schlafwärme gekrochen und hätte sich eingerollt.
Sie waren füreinander eine Zeit lang da: die Hand, die dem Schmerz zusprach, und der Kopf, der die Müdigkeit trank wie ein Verdurstender.
"Ich ...", sagte Ihscha und blickte in Lis Augen. Aber sie verlor sich darin, fand keine Worte, die sie den Augen hätte sagen können.
Nach langer Zeit fragten Lis Augen, was geschehen war.
"Woi", sagte Ihscha. Der Schmerz kehrte zurück, als höre er auf diesen Namen.
"Hat er ...?" fragte Li behutsam.
"Du ...", sagte Ihscha und sonst nichts. Da war es wieder gut. Sie setzte sich auf und zog die Beine an den Körper.
Li wartete geduldig und behütend, bis Ihscha die Teile gefunden hatte, die zusammengehörten, und die Worte, die dazu passen wollten.
Zuerst sprachen Ihschas Augen, dann versuchten die Hände zu beschreiben, die Finger zu erklären. Aber sie sah ihnen zu, als sprächen sie nicht die Wahrheit. Bald zerschnitt das scharfgeschliffene Sonnenlicht den Zopf der Erinnerung.
"Gestern in der Nacht ...", sagte Ihscha. "Am Abend spät ... als die Feier begann ... den ganzen Tag nicht ..."
Li streichelte sie und drängte sie nicht. Was geschehen war, brauchte Zeit. Ein Morgen würde zum Heilen nicht ausreichen.
"Hast du einen Wunsch an eine Fee? Sag ihn mir ... die Fenster haben kalte Augen ... ich bleibe allein zurück ... eine Frau, die lange tot ist, was braucht sie mein Haar?"
Sie begann, ein Lied zu summen, ganz gebrochen, dass Li erst nicht wusste, welches es war, dann fester, dass sie es lächelnd erkannte. Als Ihscha ihr das Einstimmen gestattete, sangen sie beide:
Die Tränen sind Träum
Fahrenden Volks.
Die Tränen sind Gold
Augen schwarz Holz.
Die Tränen sind frei
Leichter als Blau.
Die Tränen sind Kett
Führen die Stund.
Die Tränen sind Tand
der Närrin Geschmeid.
Die Tränen sind all
Kalt ist der Tau.
"Ich habe einen Weg zu gehen", stammelte Ihscha. "Der Tag kann nicht weiter. Dort ist mein Weg."
"Wohin ein Weg?", fragte Li ohne Hoffnung auf eine Antwort.
"Eine dunkle Pforte, die mich aufsucht."
"Du gehst fort?"
"Kommst du allein, fragen sie mich ... die Treue kam allein ... die Herrlichen suchen keinen Trost ... der Besitz hat die Augen der Einsamen ... nie ging jemand fort, der fort seinen Namen gab. 'Ich bin allein', sag ich und frag. Sie sagen: 'Komm allein und bleib.'
"Wer sagt das? Von wem sprichst du?"
"'Gebracht' und 'Geholt' ist das Gleiche der wertlosen Münze. Wenig gelten sie, dienen uns, aber nicht sich, tragen doch unseren Schmerz. Kann ich alleine gehen? Aber kehre ich je wieder zurück?"
"Um Himmels Willen, Ihscha, sag nicht solche Sachen. Deine Haare werden wieder wachsen, und du wirst schöner sein als je!"
"Einer anderen schenk ich meine Schönheit, wenn sie mein Leid dafür tauscht. Wer sitzt an ihrem Bett wie eine Freundin, die wissen möcht, wie leicht die Träume wiegen, wie schwer die Tränen?"
"Du machst dich lustig über mich!"
"Das Zweiherz machte sich lustig - ICH hatte keinen Spaß!"
"Ihscha, leg dich schlafen. Deine Stirn ist heiß. Morgen ist wieder alles gut ..."
"Der Schrecken hat eine heiße Stirn. Die Zeit ist ein staubiges Buch. Ich kann nicht lesen. So rechnen sie dir vor!"
"Wer sind denn SIE?"
"Sie sind keine Namen - der Himmel trägt schwarze Wolken - anders bin ich nicht sein Echo - die Schreie haben sich still auf den Boden gedrückt - hör sagen, sie heilen das Glück ... dann bitte ich dich, komm zu meiner Begleitung."
"Gern will ich dir helfen, wenn ich kann."
"Ich geh nicht allein, wenn mich jemand schaut."
"Wohin musst du denn gehen? Woher hast du all das?"
"'Wohin' kommt, wenn der Tag sich sattgefressen hat. 'Woher' zeigst mir den Weg - schscht, hör nur die Schritte, die sie gehen!"
"Aber die Schritte sind doch draußen, Ihscha!"
"Die Türen sind draußen, aber nicht die Schritte. Wehmals, hör nur die Schritte! Sie wissen nicht, dass ich ein Körper bin."
"Es sind bloß Dienerinnen, Ihscha. Du hörst sie klopfen. Gleich werde ich sie einlassen, weil es bereits morgen ist."
"Sie treiben Spott mit mir. Lass sie nicht herein. Für MICH kommen sie! Was würden sie wollen von DIR? Du zählst ihnen nicht mehr als eine Öffnerin der Tür."
"Ihscha, jetzt ist aber gut! Ich lasse sie herein. Siehst du, es sind Dienerinnen. Sie wollen das Bett abziehen. Komm steh auf, wir sind spät! Sie nehmen die Decke und das Kissen, um es neu zu beziehen. Und sehen dich voller Mitleid an, bemerkst du es nicht?"
"Leicht und schwer, was rät sie mir, die Kopfäugige? Ach, ihr Nachtweisen, meine tagfleißige Freundin kennt ihr nun! Setzt euch her! Schenkt euch von ihrem Lachen ein! Wählt zwischen Klugheit und Trost und Neugier von ihrem Angebot. Nehmt euch, was ich verloren gab!"
Chapter 47. Die Gesandten nehmen Abschied
Baldeina stellte alles, was er auf seiner Reise mitführte, für den morgigen Aufbruch im Hof aus. Er selbst hatte sich in die Mitte gestellt und Weisung gegeben, den Hof leer zu räumen. Immer wieder sah er zu den Zuschauern hoch, die sich zahlreicher werdend in den Fenstern versammelt hatten.
Die Diener führten seinen hoch gedeckten Wagen in die Mitte des Platzes. Die Zugpferde, die glänzend gerieben waren, schüttelten, satten Dampf schnaubend, die bewundernden Blicke von ihren Mähnen herunter. Immer wieder kratzten sie mit den Vorderhufen, als seien sie für eine Vorführung dressiert, die unmittelbar bevorstand.
Die beiden Soldaten, die dem Kaiser zum Geschenk gemacht werden sollten, schritten herbei, salutierten vor Baldeina und zwirbelten an ihren Bärten, als sei ihnen hierzu ein Befehl ergangen.
Baldeina war sehr zufrieden. Als eine leere Milchkanne, die herumgestanden hatte, entfernt worden war, zeigte sich auch die Sonne, worauf die in den Fenster klatschten, als handele es sich um einen Zaubertrick.
Mehrer Lakaien kamen mit großen Stangen angerannt, um die Plane des Wagens hochzuheben und aufzurollen.
Eine beschlagene Kiste war darin, deren Inhalt nicht für das Nachsehen bestimmt war. Einen leichten Schrank, der anlehnte, ließ er, Baldeina, aber bereitwillig öffnen und die Kleider zählen, die er mit sich führte, ebenso die Schuhe, die in einer Truhe waren. Des weiteren besaß Baldeina ein Schwert von ungeheuerer Länge, zwei Spieße, einer kurz, einer lang, einen Sattel mit drei verschiedenen Sätzen von Beschlägen, eine Schachtel mit Kämmen, eine Schachtel mit Ringen und mehre Ketten, die er in einem Säckchen wog.
Die Diener und Dienerinnen lagen allesamt in den Fenster lagen und sahen herunter. Immer wieder sprachen die Diener den Name 'Gold-Hanga' aus, raunten ihn geradezu, als bezögen sie daraus eine Hoffnung auf eigenen Reichtum.
So reich wie der Kaiser sei er, flüsterten sie. Reicher noch, denn der Kaiser habe viel Geschnitzes am Hof und überflüssiges Bauwerk. All das wöge sich nicht gegen echtes Gold und Schuldurkunden.
Als alles gezeigt und gezählt war, erklärte Baldeina laut, dass er ja nur das Nötigste in der Eile habe zusammenpacken können. Der Vater werde sicherlich all das nachbringen, was vergessen worden sei oder keinen Platz gefunden habe.
Der Kaiserliche Gesandte hatte auch Woi geheißen, alles bei sich zu versammeln, damit man eine Ordnung schaffen könne. Bei Woi stand nur sein Pferd 'Prinz' und ein Diener, der einen Sack trug. Ein Fremder hätte denken können, Woi gehöre zum Tross von Baldeina, so wenig verstand es dieser Fürstensohn, sich abzuheben. Er spielte mit seinem Dolch in den Händen, stand aber eigentlich voller Langweile herum. Niemand sollte denken, dass auch er eine Hauptperson war.
Spät, sehr spät kam der Vater dazu und besah sich alles. Fragte mehrmals, ob alles wirklich im Besitz allein von Baldeina sei. Woi gab keine Antwort. Schließlich rief der Vater zwei Diener.
Mit großen misstrauischen Augen sah Baldeina, dass sie ein kleines Kästchen herbeitrugen. Hinter den Dienern schritt auf eine weihevolle Art ein Mädchen, das aber nichts bei sich hatte, wie Baldeina mit scharfen Augen bermerkte.
"In diesem Kästchen", sagte der Vater und wandte sich direkt an Baldeina, "sind Feder, Tusche und Papier. Unsere Li", er zeigte auf das Mädchen, "ist eine Dienerin des Geistes. Sie wird Woi, meinen einzigen Sohn, als seine CHRONISTIN auf dieser Reise begleiten."
'So eine Blamage!', dachte Baldeina. 'An alles haben wir gedacht, nur nicht an sowas! Ein schlauer alter Mann ist der Fürst!' Er kam sich recht kümmerlich vor, weil das Mädchen ihn sehr herablassend, ja mitleidig betrachtet hielt.
Woi ließ sich nicht beeindrucken. Li zählte er als einen schlauen Trick des Vaters nicht zu seinem Besitz. Er erhob keinen Anspruch auf sie, denn sie erinnerte ihn ständig an Dinge, die ihm unangenehm waren.
In einem Winkel des Hofes hatte sich der Gesandte und sein Sohn Friede gezeigt und auf Wois Blick gewartet, um ihn herüberzuwinken. Sie waren wohl die Einzigen gewesen, die nicht in einem Fenster standen, um hinauszusehen.
"Wir sind für den Abschied gekommen", sagte der Gesandte. "Wir werden noch vor euch abreisen." Er zog Woi ins Gebäude, wo Friede stand. An einem Haken hing der Umhang des Gesandten mit dem aufgestickten Drachen, welcher dreinschaute, als sei er durch irgendetwas in seinem Stolz gekränkt worden.
"Ich habe meinen Dolch wieder", sagte Woi. "Nun weiß ich seinen Wert."
"Das ist jetzt nicht wichtig", antwortete der Gesandte. "Unsere Herrin hat euch ohne Zögern freigegeben."
"Dann ist sie wohl ein wenig traurig", sagte Woi nachdenklich.
"Darüber darf ich nicht sprechen."
"Das heißt ja dann, dass sie traurig ist."
"Das bedeutet es nicht", sagte der Alte ungehalten. "Ich habe es so nicht gesagt."
"Ich stehe zu meinem Wort", sagte Woi. "Sie kann den Dolch haben, wenn sie will."
"Wie ...?" Das Erstaunen zog dem Alten das Gesicht in die Länge.
"Dann muss sich die Kaisertochter eben einen anderen zum Heiraten suchen", erklärte Woi.
"Der Kaiser hat es angeordnet", sagte der Alte und sah seinen Sohn Friede streng an. "Da muss alles zurücktreten und sei es noch so fruchtbar gediehen." Friede nickte, dass die Zähne zusammenstießen.
Ihm sei es egal, sagte Woi. Er kenne ja keine von beiden. Er habe das Pech, dass ihn immer eine zum Heiraten aussuche, die er nicht kenne. Es bestehe wohl eine Wirkung, die von ihm ausgehe.
"Aber es ist doch eine große Ehre, die Tochter des Kaisers zu heiraten", sagte Friede und schaute seinen Vater dabei an.
"Natürlich" bestärkte ihn der Vater. "Es ist die höchste Form, dem Kaiser zu dienen. Sie soll ein wunderbares Mädchen sein!"
Zwei seien es, sagte Woi und fragte, welche von beide die wunderbare sei.
"Friede, das hast du nicht gehört!", gebot der Alte streng. Friedes Augen suchten knipsend das Vergessen.
"Geht Ihscha mit?", fragte Woi nach einer Weile.
Man wisse nicht, was sie tue, sagte der Alte.
Er habe gehört, dass sie sich die Haare geschnitten habe und nicht recht glücklich sei, bemerkte Woi.
Sie sei immer noch schön, warf Friede eifrig ein, nur die Gewöhnung fehle ihr.
Das müsse Friede nicht kümmern, darauf sofort der Alte. Nun sei sie fort, da sehe er, wie es mit solchen gehe.
Friede sah nicht glücklich drein.
Sie sei eine, der man nicht hinterhersehe, die man schleunigst vergesse, ereiferte sich der Alte und zeigte streng blickend auf Woi und meinte nichts anderes, als dass Friede auch diesen in dasselbe Vergessen einzuschließen habe.
Ob er noch einmal bei den Teichen im Wald gewesen sei, fragte Woi den Alten.
Es sei eine Erkundung gewesen, sagte der Alte streng.
Was er denn der Tochter des Fürsten über ihn, den Fürstensohn, sagen werde, verlangte Woi dann zu wissen.
Der Alte tat erstaunt.
Sie werde doch sicherlich fragen, wie der fast Angetraute von seinem Äußeren her ausgeschaut habe.
Sie sei nicht so eine Frau, die sich Gedanken mache über das Äußere eines Menschen.
Ob sie denn wenigstens auf das Innere im Nachhinein neugierig sei.
Nein, sie sei ein Mädchen, das sich aufheben, sagte der Gesandte entschieden.
Das sei ja auch das Einfachste für ihn, den Gesandten, sagte Woi. Da brauche er nur heimzukehren und Gesichter zu machen.
"Ich lasse mir das nicht sagen!", rief der Alte und fuchtelte mit der Hand, als versuche er, Wois Worte aus der Luft wegzufangen.
Friede zog seinen Vater, der immer weiter schimpfte und sich um seine Ehre kämpfend gebärdete, fort. Immer noch hing der Umhang des Gesandten auf einem Haken und war zurückgelassen worden. Der silberschuppige Drache darauf sah den beiden mit großen Augen nach, die ängstlich eine Umkehr und Rückholung verlangten.
Schließlich kam Friede noch einmal und legte sich den Umhang und den Drachen über den Arm. Kein Wort sagte er zu Woi, mit keinem Blick beachtete er ihn. Er schnaufte und ging gebückt, als sitze ihm der Vater, unsichtbar, aber schwergewichtig, auf der Schulter. Der Drache traute sich nun und bedachte Woi mit einem tief und dauerhaft empörten Blick.
Chapter 48. Reise zum Hof des Kaisers
Der Kaiserliche Gesandte war froh, dass die Wagen nun wieder rollten. Der Aufenthalt hatte seinem Magen und ihm gutgetan. Voller Zuversicht grüßte er die Soldaten am Tor, indem er den Kopf in den Nacken warf und beide Hände zur Stirn führte. Irgendetwas in der Art war es wohl, was Soldaten unter einem Gruß verstanden. Es ging ja nur darum, ihnen freundlich zu sein. Die Soldaten verstanden es recht, knallten die Eisenhacken zweimal auf den Boden und zogen die Speere stramm an den Körper.
Er blickte sich vorsichtig um, weil er sehen wollte, wie die Soldaten des Fürsten Baldeinas Männer verabschiedeten. Daran war etwas merkwürdig. Während Baldeinas Männer auf ihren Pferden Haltung annahmen, klatschten die Soldaten des Fürsten Alta zweimal kräftig in die Händen und sangen, wenn er das recht verstand, mit hoher - knabenhaft hoher Stimme ein Lied von Dienen und Entsagen und Enthaltsamkeit, von kurzem Schmerz und langer Zeit der Keuschheit. Er kannte dieses Lied nicht, aber er würde bei Gelegenheit danach fragen.
Hinter dem Wagen ritten Baldeina und Woi, die sich ganz offensichtlich sympathisch waren. Der Gesandte verstand nicht viel von diesen jungen Menschen, weil ihrer wenige am Hofe waren, aber er mochte sie irgendwie, wenn sie sich so unaufdringlich wie diese beiden präsentierten.
"Mein Name ist ZungSung", rief er den beiden Fürstensöhnen zu. "Da wir nun auf einer Reise sind, wollen wir uns bei den Namen nennen."
"Baldeina heiße ich", rief der eine.
"Woi", rief sogleich der andere.
Zufrieden ließ sich ZungSung in den Wagen zurückfallen und betrachtete die wackelnd vorbeiziehenden Baumgipfel.
"Mein Pferd heißt 'Mora'", sagte Baldeina. "Ich habe auch ein Fohlen. Es heißt 'Mira'."
"Mein Pferd heißt 'Prinz'", antwortete Woi. "Und ich habe kein Fohlen."
"Das ist ganz natürlich", beruhigte Baldeina. "Mein Pferd ist ja auch eine Stute, und deines ist ein Hengst."
Schweigend ritten sie nebeneinander her. Während Baldeina überlegte, wie er das Gespräch fortsetzen konnte, dachte Woi an andere Dinge.
"Glaubst du an Flüche?", fragte Woi nach einer Weile.
"Kommt drauf an."
"Worauf kommt es an?", fragte Woi ungeduldig.
"Ob sie eine Fee ist oder nicht!"
"... und wenn sie eine ist?"
"Dann wird es schwierig", sagte Baldeina.
"Kannst recht haben damit ..." Woi verschwand wieder in seinen eigenen Gedanken.
"Machst du dir wegen ihrem Fluch Sorgen?", fragte Baldeina, um sich weiter unterhalten zu können.
"Findest du, es ist ein schlimmer Fluch?"
"Du meinst, dass du niemals gewahr wirst, wenn eine Frau dich liebt?" Baldeina war stolz, den Fluch Wort für Wort behalten zu haben.
"Hmm ..."
"Also eigentlich glaube ich nicht, dass es ein Nachteil ist, aber bei Prinzessinnen bin ich mir nicht sicher ..."
"Wenn ich nun einfach rate - das ginge doch!", sagte Woi.
Baldeina überlegte. "Es wäre besser, du gehst davon aus, dass sie dich liebt. Dann kann eigentlich nichts passieren. Schlimmstenfalls kommt heraus, dass sie dich eben nicht liebt!"
"Ich sage mir lieber, dass sie mich NICHT liebt", entschied Woi. "Das ist irgendwie einfacher!"
"Wie du willst", sagte Baldeina. "Aber sie nimmt es dir bestimmt übel, wenn sie dich DOCH liebt."
Woi dachte nach. Es war eigentlich gut, dass er sich mit jemandem über den Fluch unterhalten konnte. Außerdem war es nicht so langweilig auf der Reise.
"Ich könnte ja so tun, als sei ihre Liebe undeutlich!", sagte er nach einer Überlegung.
"Auch schlau!", gab Baldeina zu. "Du tust einfach so, als seist du gar nicht verflucht."
"Dann hat sie die Schuld, wenn ich ihre Liebe nicht merken kann, verstehst du!?"
"Nicht schlecht", sagte Baldeina voller Anerkennung.
"Wie einigen wir uns überhaupt?"
"Wie meinst du das?" Baldeina wusste nicht im gerinsten, wovon Woi sprach.
"Sie sind zwei, und wir sind zwei - wer sucht welche aus? Das meine ich!"
"Also, hör mal", empörte sich Baldeina, "sie sind Prinzessinnen und suchen UNS aus, nicht andersherum."
Woi ritt eine Weile schweigend weiter. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass sie nur sehr langsam vorwärts ging.
"Nimm mal an, es ist so, wie du sagst", überlegte Woi laut. "Es wäre doch das Beste, du sagst mir, welche sich für dich entschieden hat. Dann nehme ich einfach die andere - du weißst schon wegen dem Fluch."
"Du hast recht", sagte Baldeina und wischte sich den Schweiß von der Stirn. "Ich sage Bescheid, welche es ist, damit wir uns einigen können." Ihm war nicht wohl bei diesem Gespräch.
"Bist du sicher, dass die Prinzessinnen sich entscheiden können?" Woi sah sich ungeduldig nach dem Wagen um, wo der dicke Gesandte für ein Geschäft in den Wald hüpfte.
"Ich weiß nicht ... ", wehrte Baldeina ab. "Ich mag einfach nicht SO darüber sprechen."
"Es ist besser, wir haben einen Plan", sagte Woi entschieden. "Für den Fall, dass die Prinzessinnen sich NICHT entscheiden können, schlage ich vor, dass DU dir eine aussuchst. Ich bin ja verflucht und nehme die andere."
Immer hatte sich Baldeina nur EINE Prinzessin vorgestellt, niemals hatte er sich ZWEI vorgestellt. Obwohl Woi natürlich recht hatte, dass es zwei waren. Und nun war ihm unwohl und irgendwie schwindelig. Er würde immer nur denken müssen, wie schwierig es war, obwohl er sich eigentlich hätte freuen müssen.
"Sie dürfen nicht merken, dass wir einen Plan haben", gab Woi zu bedenken. "Es muss alles ganz schnell gehen."
"Ich weiß nicht ... bin mir nicht mehr sicher, dass alles recht ist ..." Baldeina wollte es vorkommen, als sei nun auch er irgendwie verflucht.
"Ich hoffe doch, dass ich merke, wenn du verliebt bist?", unterbrach Woi sein Grübeln.
"Du meinst wegen dem Fluch?", fragte Baldeina unglücklich.
"Der gilt doch nur für Frauen! Wegen DIR bin ich nicht sicher! Du bekommst viel zu oft einen roten Kopf. Wie soll ich da wissen können, wenn wirklich etwas ist!"
Der Gesandte, der wieder aus dem Wald getreten war, sah zu ihnen herüber und rief: "Die Herren streiten doch nicht etwa!? Denken sie, es ist eine lange Reise!"
"Nein, wir streiten nicht", rief Baldeina zurück.
Als es endlich weiterging, ritten sie, jeder in seinen Gedanken für sich. Woi versuchte, sich seinen Plan zu merken. Er stellte fest, dass der Plan leider viel zu verwickelt war. Es war ein großer Nachteil, dass er den Plan nicht behalten konnte. Er konnte nur hoffen, dass sich Baldeina alles besser gemerkt hatte.
Baldeina mühte sich, Ordnung in seinem Herzen zu schaffen. Es sei ganz einfach und wunderschön zu heiraten, hatte sein Vater gesagt und dabei immer von EINER Prinzessin gesprochen. So hatten sich Baldeina und sein Vater in gleichlautender Weise auf das Ereignis gefreut.
Nun kam Woi und verdarb ihm alles. Plötzlich waren es zwei Prinzessinnen, und nicht sie, sondern er, Baldeina, musste sich entscheiden. Und schnell sollte es gehen, und das Wichtigste war, dass er im richtigen, nicht im falschen Augenblick einen roten Kopf bekam.
Der Gesandte bat auch seine neue Mitreisende ihn bei seinem Namen zu nennen. Da sie nicht sprach, nicht einmal selbst ihren Namen nannte, fragte er sie, weil er nun einmal neben ihr saß und eine Näherung sittsam war, ob sie ihm erklären könne, die Quell des glitzernden Wehtaus, ob sie ihm eine Führung sein wolle im wuchernd Garten der Menschen Herzen. Sie sah ihn so an, als verstünde sie nicht ein Wort, als sei ihr das Geläufigste ungeläufig, dabei gab sie sich als Frau der Feder aus.
"Der Fürst las beim Abschied von einem Zettel und weinte. Gibt es einen anderen Grund für seine Traurigkeit als den Abschied von seinem Sohn?", stellte er seine Frage in der einfachsten ihm geläufigen Weise.
"Der Fürst hat ein Gedicht gelesen, das ihn wohl traurig gemacht hat", erklärte Li.
Ihre Wortwahl war in der Tat einfach, wenn nicht ruhmlos zu nennen. Er fragte, welchen Inhalts das Gedicht gewesen sei. Er meine den Kern, sozusagen die Füllung. Ob er sich übertragbar genug ausrücke, wollte er wissen. Zu seinen Worten stellte er sich eine schokoladige Süßigkeit vor, die ihr fließendes Geheimnis der Zunge preisgab, nachdem der Gaumen einen sanften Druck ausgeübt hatte.
"Wollt ihr es wirklich wissen?" fragte sie und deutete sein Kopfnicken als Zustimmung.
"Gut", sagte sie, "wenn es euch interessiert, will ich es gerne aufsagen."
Er nickte noch einmal, so müde ablehnend und stumpf interesselos es ihm gegeben war, aber ohne Hoffnung, dass ihr die Sprache der höfischen Höflichkeit eine vertraute war.
"Dann will ich es euch sagen", begann sie mit leuchtenden Augen zu sprechen. "Es ist ein Gedicht, das sich der Fürst von mir gewünscht hat, wisst ihr. Es soll gelesen werden, wenn er stirbt, an seinem Grab. Es ist ein Gedicht von mir, müsst ihr wissen."
ZungSung schloss die Augen und war bereit für ein Gedicht von ihr. Er dachte an Dinge, die schlimmer waren: sein Darm konnte wieder zu allen Unzeiten aktiv werden, dies würde nicht seine letzte Reise sein, die Verstecke seiner Süßigkeiten waren in seiner Abwesentheit durchstöbert worden - all das war auf das Vorstellbarste schrecklich! Was war dagegen ein Gedicht? Nichts als ein Mückenstich, ein verdorbenes Konfekt!
"Also, ich fange an", sagte sie. Genug der Vorwarnung und Bangwangigkeit - er schloß die Augen und war bereit.
Am Baum mit einer Liebe Herz
Steht der Tod und führt die Liste.
Er nimmt das Maß, er zählt die Schlüssel
Und bricht das Gold aus deinem Lächeln.
Er hat ein Kleid für dich bereit
Gewebt aus Wind, genäht aus Nacht.
So leg dich in sein rauschend Bett
Erzähl von uns und lausch und ruh.
"Ist es", fragte er vorsichtig, "vorbei?"
"Ja, es ist ein kurzes Gedicht."
"Und ich dachte, es ist lang!" ZungSung nahm sogleich wieder eine unverkrampfte Sitzstellung ein.
"Seid ihr enttäuscht?"
"Oh nein", rief ZungSung, "im Gegenteil!" Das Mädchen strahlte vor Glück, und mochte etwas falsch verstanden.
"Und diese Tänzerin, die neben ihm stand, die mit den kurzen Haaren, warum hat sie geweint?", fragte ZungSung, wieder mutig geworden. "Dass der Fürst über dieses Gedicht geweint hat, will ich treulich glauben, sie aber schien mir noch recht lebendig."
"Nein, Ihscha weinte, weil sie traurig war. Weil sie ganz einfach sehr traurig war."
"Ach-ah", sagte der Kaiserliche Gesandte, "gehört habe ich davon ... aber weinen, so ganz ohne Gedicht, war mir nicht recht vorstellbar."
Chapter TEIL 2
Chapter 49. Des Kaisers Sterben
'Der Kaiser liegt im Sterben.' Niemand sprach es aus, aber wenn sie in seine Augen sahen ... Feierlich lag er auf seinem Bett und atmete flach. Alle standen still um ihn herum. Das Sterben dieses Kaisers nahm keinen aus, der ihm gedient hatte.
Das Dach seines Bettes bildete den Körper eines Drachen nach. Die Säulen waren in der Art von vier mächtigen stumpfen Beine gestaltet. Der Kopf des Drachen wandte sich zur Seite. Sein Blick war aufgeregt, eher als zornig zu nennen.
Der Tierkörper war blau bemalt, weil er ebenso einen Drachen darstellen konnte wie den sich windenden Großen Fluss, der das Reich des Kaisers durchlief. Das Bett des Kaisers war ein Wolkenkahn oder ein Drachenbauch, dieses oder jenes, zur Entscheidung freigestellt.
Neben dem Kaiser stand seine zweite Frau, die jeder 'Kaiserin' nannte. Eigentlich war dies falsch, aber der Kaiser ließ es geschehen, oder es blieb ihm unbemerkt. Die einzig richtige 'Kaiserin' war seine erste Frau. Weil diese aber schon sehr lange tot war, hatte jeder am Hof sich daran gewöhnt, auch die zweite Frau 'Kaiserin' zu nennen.
'Wasi' nannte der Kaiser die zweite Kaiserin heute. Dies war eigentlich der Name und der zärtliche Name seiner verstorbenen Frau, der wirklichen Kaiserin, die ihm zwei Töchter geschenkt hatte.
Die zweite Kaiserin nannte ihren eigenen Namen. Aber sie sagte ihn sehr leise, als wolle sie, angesichts des Todes, nicht darauf bestehen, mit ihrem richtigen Namen angesprochen zu werden.
Der Kaiser hätte ihr auch nicht zugehört. Er überlegte bereits an etwas anderem. Jedenfalls schloss er die Augen, und eine Anstrengung zog Furchen über seine Stirn.
"Ich mochte meine Schwester nicht", sagte der Kaiser, als sich der Arzt über ihn beugte. "Sie war jünger als ich und hatte eine Stimme, die wehtat. Mit dieser Stimme rief sie meinen Vater, und er kam immer, obwohl er ein Kaiser war."
Die Kaiserin verspürte über dem Sterben ihres Mannes keinen Schmerz in der Gegend des Herzens. Anders als sie angenommen hatte, waren es die Füße, die ihr wehtaten. Langsam wanderte der Schmerz die Beine hoch und wurde in Höhe der Knie taub. Die Kaiserin hätte sich gerne einen Stuhl gewünscht.
"Wasi", sagte der Kaiser wieder, "du erinnerst mich an meine Schwester. Im Äußeren seid ihr euch gleich. Vielleicht hat der Vater euch aus diesem Grund zu meiner Frau gemacht. Er mochte meine Schwester sehr und ließ keinen Blick von ihr."
Der Drache sah nun weniger aufgeregt von oben drein. Er hatte sich daran gewöhnt, dass so viele Leute sich versammelt hatten, und es belustigte ihn, dass sie, wenn sie nur alle zur gleichen Zeit kamen, ganz still standen. Kamen sie dagegen allein, wie sonst immer, dann rannten sie, dass ihnen die Köpfe wackelten. Und einem Drachen in seiner Höhe konnte es recht schwindelig dabei werden.
"Meine Töchter Dessa und Nadim" sagte der Kaiser, "tretet her, neben eure Mutter."
Nadim trat an das Bett ihres Vaters und sagte: "Sie ist nicht meine Mutter. Deine zweite Frau ist sie und hat keine Kinder." Dessa nickte und schaute an der Kaiserin vorbei.
Nadim war die Ältere und konnte nicht verbergen, wie nah ihr der Tod des Vaters ging. Sie hatte seine Hand genommen und sich zu ihm gesetzt. Dessa, ihre jüngere Schwester, war zierlich und besaß ein Gesicht, das ihr die Schönheit mit ein paar virtuosen Zügen aufgezeichnet hatte. Groß war die Ähnlichkeit mit ihrer Stiefmutter, obwohl es keine Erklärung dafür geben konnte.
"Wie steht es mit eurer Heirat, ihr beiden?", fragte der Kaiser und sprach sie auf seine Weise an, als seien sie eins, das nicht zu unterscheiden war.
Nadim schüttelte den Kopf, und Dessa legte ihr sanft die Hand auf die Schulter.
"Es kommen zwei, die wir nicht kennen", sagte Nadim,
"Dann werde ich wohl eure Heirat nicht erleben, ich alter Kaiservater", stellte er traurig fest und war bereits wieder in anderen Gedanken.
"Wo ist euer Halbbruder?", fragte er streng.
"Wir haben keinen Bruder", sagte Nadim verwirrt, "auch keinen Halbbruder." Dessa schüttelte traurig den Kopf über die Verwirrtheit des Vaters. Die Kaiserin hatte die Stirn gerunzelt und betrachtete ärgerlich ihre Füße.
"Kommt er nicht, wenn der Vater stirbt?", fragte der Kaiser laut und richtet damit seine Empörung an alle. "Geht hinaus, niemanden will ich sehen! Ihr da, Musiker, ihr bleibt."
Als alle gegangen waren, traten die Musiker vor. Der Kaiser richtete sich in seinem Kissen auf und gestattete ihnen, noch ein wenig näher an sein Bett zu treten.
"Spielt mir das Lied", bat der Kaiser, "ich möchte weinen dazu ..."
Er streichelte mit der rechten Hand zärtlich die linke, als läge sie dort fremd von jemand anderem. Die Musik schritt traurig im Raum des Sterbens umher. Als die Erinnerung kam, war der Kaiser sich nicht sicher, ob er schon zu weinen begonnen hat.
Draußen vor der Tür saß die Kaiserin auf einem Stuhl und horchte durch die Tür. Hinter ihr stand der Hofmarschall und machte ein angestrengtes Pflichtgesicht. Der General stand abseits, weil er seinen Kaiser nicht belauschen wollte.
"Was ist das für eine Musik?", fragt die Kaiserin.
Der Hofmarschall blickt sich eine Antwort fordernd um. Der General kannte diese Musik, da war er sich sicher!
"Sie erinnert mich", ließ sich der General zögernd entlocken, "ich glaube an die Nachtstadt ... da spielen sie es, bei den Mädchen, soweit ich weiß."
Die Kaiserin und der Hofmarschall nickten verstehend.
"Manchmal singen auch Soldaten dieses Lied!", warf der General nach, als könne diese Aussage sein Ansehen noch retten!
"Warum spricht er jetzt von seinem Bastard?", fragte die Kaiserin. "Warum sagt er, dass er ihn erwartet? Ist er schon so ..., dass er nichts mehr richtig weiß?"
Der Hofmarschall nickte. Traurig hob er die Arme, um Schicksalhaftes zu bedeuten. Der General malmte mit den Zähnen, weil das ein Mittel gegen das Weinen war. Denn der Kaiser war den anderen bloß ein Kaiser, aber ihm ein wirklicher und ehrlicher Freund gewesen.
Die Kaiserin hatte sich wieder gebückt und horchte. Die Musik war leiser geworden, weil der Kaiser gesprochen hatte.
"Da bist du ja!", sagte er. "Ich habe dich erwartet."
Ein junger Mann hatte sich für ihn sichtbar still mit dem Rücken zum Fenster gestellt und blickte den Kaiser traurig an. Weil der junge Mann im Gegenlicht stand, war sein Gesicht undeutlich, und sein Körper stand in einem Schatten.
"Ich habe nach dir verlangt, aber du warst nicht da", sagte der Kaiser. "Jetzt bin ich froh, dass du gekommen bist."
Der junge Mann wandte sich um und sah zum Fenster hinaus. Dem Kaiser kam es vor, als komme die Musik aus dem Fenster, vor dem er stand.
"Wer hat dir gesagt, dass es mit meinem Leben zu Ende geht?", fragte der Vater.
Hatte sich der Kaiser zum Sterben die Vorhänge ausgedacht? Ihm wollte es scheinen, als habe es in diesem Zimmer niemals solch trauerschweren Vorhänge gegeben.
"So kenne ich dich", sagte der Vater zärtlich. "Kommst, wenn sie dich vergessen haben. Schleichst dich herein, dass niemand dich sieht. Stellst deine Fragen mit meinem Mund."
Gewiss hatte der Sohn die Vorhänge mitgebracht, damit sie für seine Trauer sprechen konnten!
"Wenn ich aus dem Leben trete", sagte der Kaiser, "wirst du hineintreten."
Die Gestalt am Fenster rührte sich nicht, als wisse sie bereits und habe viele Male gehört, was der Kaiser sagen wollte.
"... da es mit mir zu Ende geht, bleibt dir nichts, als herauszukommen aus meinem Unsichtbaren." Der Kaiser kniff die Augen zusammen, so sehr strengte es ihn an, in das Gegenlicht zu schauen. Schließlich hielt er sich die Hand vor die Augen und sah durch einen winzigen Spalt hinaus.
"Ist er noch da?", fragte er die Musiker.
"Er? - Wer? - Nein! - Wo?" sprangen ihre Stimmen durch den Raum, ohne auf sein Lied achtzugeben.
"Sagt nichts, spielt!", befahl der Kaiser schnell, ehe sie sein Lied zerstören konnten. Als sie wieder begonnen hatten, war er froh, dass das Lied heil geblieben war. Glücklich und müde lehnte er sich in sein Kissen zurück und betrachtete sich, wie das Licht aus seinen Augen abfloss.
"Jetzt schläft er", flüsterte draußen die Kaiserin und erhob sich von ihrem Stuhl. "Aber er hat die ganze Zeit mit sich gesprochen und zum Fenster gesehen."
Leise trat der Hofmarschall in den Raum, zog die Vorhänge vor das Fenster und schickte die Musiker fort.
Chapter 50. Flucht der Soldaten
Der Kaiserliche Gesandte hatte Woi und Baldeina als Boten auf ihren schnellen Pferden vorausreiten lassen. Die beiden sahen nun von einer Anhöhe herab den Hof der Fürsten I vor sich. Ihre Gesichter waren grau vom Staub, ihre Augen schmal geworden vom Wind und von der Müdigkeit, die sich über Tage gesammelt hatte. Die Sonne hatte sich hinter dichten Wolken verborgen. Es war dunkler, als es zu dieser Stunde hätte sein sollen.
"Ich kannte den Fürsten I", erklärte Baldeina, als sie anhielten, um sich den Staub herunterzuklopfen. "Er war ein Freund von meinem Vater, aber sie sind sehr arm. Nun ist nur noch die Fürstin übrig. Sie haben keine Kinder, nicht einmal Töchter."
Sie mussten nicht lange warte, da trafen der Gesandte und die beiden Soldaten mit ihrem großen Wagen ein. Gemeinsam ritten sie in den hallend leeren Hof ein.
Die Fürstin rief sogleich zu einem 'kleinen Mahl'. Als der Gesandte sah, wie klein es war, entschuldigte er sich mit einer Unpässlichkeit. Die beiden Soldaten galten der Generalin trotz ihrer bettelnden Blicke nicht als Gäste.
Den anderen überreichte sie mit salzigem Schmalz geschmierte Brote. Den Teller mit den Broten behielt sie ständig bei sich und überreichte jedem nur gegen eine ausgestreckte Hand eines ihrer Brote. Dabei machte sie ein Gesicht, als wären die Gäste dabei, ihren Wintervorrat leerzuessen. Lang saßen sie nicht zusammen. Weniger noch, als Brote zu essen, gab es Dinge, worüber sie sprechen konnten.
Woi wusste nicht, wie lang er geschlafen hatte. Die Kälte hatte ihm ihre Hände auf den Nacken gelegt. Im Traum war ihm gewesen, als habe er mit dem Kopf einen Stand auf einem steinernen Tisch gemacht.
Ein Geräusch hatte ihn geweckt. Als er sich umblickte, glaubte er zuerst, im Hause seines Vaters zu sein. Dann fiel ihm sein Hunger ein, und er sah die Generalin vor sich, wie sie ihre eigenen Schmalzbrote aß.
Doch niemand war da. Eine Kerze brannte vor ihm, aber der Raum war leer. Von seinem Fenster aus sah er hinunter auf den Hof und bemerkte einen von Baldeinas Soldaten, der sich zu den Pferdeställen schlich. Er trug keinen Helm und keine Uniform, aber Woi erkannte ihn, weil sein Hals ein wenig lang geraten war. In einer Ecke sah Woi seinen Kumpan warten, ebenfalls ohne Uniform und Helm. Es war deutlich, dass sie sich verabredet hatten.
Woi nahm sich die Kerze und begann, Baldeinas Schlafraum zu suchen. Er schlich sich mit abgeschattetem Licht den Gang entlang und horchte an den Türen. Hinter der ersten hörte er den Kaiserlichen Gesandten schnaufen.
Ohne ein Geräusch zu verursachen, öffnete er die zweite Tür. Dort lag ruhig, wie aufgebahrt die Generalin auf ihrem Bett. Ihr Gesicht war grau und glatt wie das Ei eines großen Vogels. Sie glich einer Verstorbenen mehr als einer Schlafenden, und so tief schien auch ihr Schlaf zu sein.
Leise öffnete Woi eine dritte Tür. Weit in der Ecke stand das Bett von Baldeina. Es war kein Laut zu hören und kein Kopf zu sehen. Baldeina hatte sich die Decke über den Kopf gezogen, als gebe es ihn nicht. Vorsichtig, aber ohne Schonung zog Woi ihm die Decke vom Körper.
Als Baldeina sich vergeblich klammerte und in der Luft suchend nach seiner Decke griff, gab Woi ihm einen der Schuhe in die Hand.
"Schuh?", fragte Baldeina.
"Ja, Schuh", bestätigte Woi.
Die andere Hand suchte weiter und bekam einen Becher zu fassen.
"Trinken?", fragte Baldeina.
"Nein, leer", sagte Woi.
Baldeinas Kopf schreckte hoch. Die Augen wussten noch nicht, wo sie waren.
"Traum?", fragte er.
"Nein, Woi."
Baldeina sah genauer hin, was er in den Händen hielt. Er sah einen Schuh und einen Becher. Also träumte er, wie er gedacht hatte.
"Nein", sagte Woi. "Das ist kein Traum."
Baldeina lächelte ihn an, als wisse er das besser.
"Das sagen sie im Traum zwar auch, aber es ist wirklich kein Traum", noch einmal Woi.
Nun war Baldeina wach. So hatte sich noch nie jemand in seinem Traum zu ihm gesprochen!
Woi schenkte Baldeina ein flackerndes Lächeln und hielt die Kerze so, dass es gut zu sehen war. Ausserdem gab er ihm die Decke zurück.
"Was ist denn, ist denn?", fragte Baldeina.
"Ich bin es, Woi!"
"Wie? - Du? - Ah so!"
"Deine Soldaten sind bei den Pferden?"
"Was tun sie?"
"Ich glaube, sie wollen davonreiten. Komm, wir müssen uns beeilen!"
Baldeina zog sich die Stiefel an und band sich den Gürtel mit dem Schwert um. In seinem langen weißen Schlafgewand ähnelte er dem Geist eines Kämpfers, dem eine unerledigte Ehrenangelegenheit keinen Schlaf gönnte.
Sie schlichen zu den Pferdeställen und lehnten sich gegen die Außenwand, um zu lauschen. Die beiden Soldaten waren sich noch nicht einig, was sie tun sollen.
"Lieber mit Tigerteilen Bauer, als ohne Tigerteile Soldat", sagte der eine von ihnen grimmig.
"Hast du dir das auch gut überlegt?", fragte der andere. "Wir können nicht zurück, wenn wir einmal geflohen sind."
"Was gibt's da zu überlegen! Du hast doch gehört, dass sie uns die Eier abschneiden werden wie diesem Schwabberwanst von einem Gesandten."
"Das ist Fahnenflucht. Denk nur an die Strafe."
"Wir sind Männer und keine Straßenkater! Das können sie mit uns nicht machen, dass sie uns kastrieren!"
"Wenn sie uns finden?"
"Sie werden uns nicht einmal suchen!"
"Ich hoffe, du hast recht."
"Los, rauf mit dem Zeug auf dein Pferd!"
Woi zückte seinen Dolch, als er hörte, dass sie mit dem Satteln ihrer Pferde beschäftigt waren.
"Was willst denn du?", flüsterte Baldeina.
"Ich will sie gefangen nehmen. Das ist Fahnenflucht, sagen sie doch selbst."
"Aber es sind zwei ..."
"Wir doch auch!"
"Aber SIE sind Soldaten!"
"Aber keine richtigen!"
"Das sagst du nur, weil eure keine richtigen Uniformen haben!"
"Wir fallen ihnen in den Rücken!"
"Nein!"
"Nein?"
"Ich finde, sie haben recht."
Woi schwieg verdutzt.
"Sie haben eben Angst, dass die Kaiserlichen ihnen die - du weißt schon - abschneiden."
"Also, willst du sie fliehen lassen?"
"Ja, am liebsten ..."
"Dann mache ich es eben allein!"
"Es sind aber MEINE Soldaten!"
"DEINE Soldaten?"
"Ja, sie gehören mir und meinem Vater!"
"Wenn es Soldaten von MEINEM Vater wären, dann ginge es ihnen schlecht!"
"Es sind aber nicht deine, und bei mir sollen sie es gut haben. Jedenfalls darf man ihnen nicht die - wovon sie sprechen - abschneiden!"
"Du bist nur feige!", stellte Woi fest.
"Sie tun mir leid!", entgegnete Baldeina.
"Pahh!", sagte Woi verächtlich, aber Baldeina war aus seinem Rücken bereits wieder fortgeschlichen.
'Wie leise einer sein kann, der feige ist!', dachte Woi bei sich.
Als sie zu ihren Zimmern kamen, lauschte Baldeina. Wenig später hörten sie die Schritte der Soldaten, die ihre Pferde langsam über den Hof führten. Als sie am Tor waren, sprangen die Soldaten auf und ritten im Galopp davon. Es hatte den Anschein, als würden sie ihre Tiere recht sehr antreiben.
"Nicht jeder ist ein Feigling, der ein gutes Herz hat", sagte Baldeina zu Woi, als er sein Schwert abgürtete.
Chapter 51. Aufbruch mit Fürstin I
Die Fürstin I war eine kleine Person. Ihr Gesicht war faltig, als sei es geschrumpft. Die gelben Haare bedeckten ihren Kopf wie ein riesiger Helm. Alles an ihr war klein, nur die Haare waren für eine Hünenfrau gewachsen.
"Sie wird uns begleiten", flüsterte der Kaiserliche Gesandte den beiden Fürstensöhnen zu.
"Erst stirbt mein Mann", sagte die Fürstin unüberhörbar, "und nun ruft mich erneut das Schicksal!"
"Was meint sie?", fragte Woi leise.
"Ich weiß es nicht", antwortete Baldeina.
"Das Sterben des Kaisers, jeder spricht davon", deklamierte die Fürstin hohl. "Wie bei meinem Manne werde ich an seiner Seite stehen."
"Der Kaiser liegt im Sterben", flüsterte der Gesandte den beiden zu. "Sie hat mich unterrichtet, dass sie uns begleiten wird."
Die Fürstin war reisefertig. Sie besaß von der Familie ihrer Mutter her eine Art Jagdanzug, den sie nun trug. Er war ihr ein wenig groß. Nur der Hut verlor sich in ihrem Haar.
Baldeina und Woi saßen bereits wieder auf ihren Pferden. Das Essen, das bei der Fürstin gereicht worden war, hatte sie nicht sattmachen können. Wenn Baldeina zurückdachte, dann fiel ihm nichts ein, für das es sich wirklich gelohnt hätte, den Mund zu öffnen.
Der Wagen von Baldeina stand in der Mitte des Hofes. Das Tuch, mit dem er bespannt war, hatte die Reise unbeschadet überstanden. Der treue Wagen des Kaisers an seiner Seite hatte gelitten. Die Plane war an manchen Stellen zerrissen und hing als faltige Haut über den abgemagerten Knochen. In seinem Baucheingang saß der Gesandte und hielt sich den Magen und zählte fahljammernd die Widrigkeiten auf, die ihn erwarteten. Daneben saß Li und schwieg feindselig ihre Umgebung an.
"Nein", sagte die Fürstin. Der Hof kannte sie und gab ihrer Stimme Gewicht und Echo. "Nein, ich will in einem anderen Wagen fahren. In diesem dort!"
Sie zeigte auf den Wagen von Baldeina, welcher sich verdutzt umblickte. Vielleicht suchte er den Rat seines Vaters. Fürst Hanga, auch 'Gold-Hanga', wie er von Freunden oder Schuldnern genannt wurde, war nicht mitgereist. 'Das musst du allein durchstehen', hatte der Vater gesagt, 'du bist immerhin mein Sohn.'
"Das geht nicht", sagte Baldeina und erschrak, weil der Hof seiner Stimme kein Echo gab. "Der Wagen ist voll und gehört mir."
"Es wird sich etwas herausnehmen lassen", sagte die Fürstin. "Es sind doch nur DINGE!"
"Es sind meine Sachen", sagte Baldeina. "Sie gehören mir und meinem Vater."
"Wozu braucht ein junger Mann so viele Dinge", schnitt ihm die Fürstin das weitere Wort ab. 'Dinge, Dinge', sagte auch das Echo vorwurfsvoll.
"Haben sie denn keinen Wagen?", fragte Baldeina, nachdem sich sein Gesicht ausgerötet hatte. Er zeigte auf die Pferdestallungen. Woi grinste, weil er an das Gefährt im Staubkleid mit den drei Rädern dachte, das er gesehen hatte.
'Frechheit, Frechheit', sagte das Echo.
"Der Wagen, den ER meint, ist der Hofwagen meines Urgroßvaters, zu seiner Zeit ist er ... jedenfalls werde ich sein Ansehen nicht entweihen", erwiderte die Fürstin laut-laut.
"'Aussehen' meinen sie, nicht 'Ansehen'!", warf Baldeina ein. Er überlegte, ob das ein Scherz war. Dann lachte er. Aber niemand lachte mit ihm, auch das Echo nicht.
"Meine Familie" - 'Familie, Familie' sagte das Echo - "ist so alt", sie überlegte, ob ihr etwas einfiel, "wie - jedenfalls gab es Fürstentümer zu jener Zeit noch nicht zu KAUFEN!"
"Das ist unerhört!", sagte Gold-Baldeina ohne Echo.
"Da nun darf ich ihnen recht geben", entgegnete die Fürstin-Fürstin. "Wie stehen wir, die Fürsten I da, wenn wir uns umsehen?" Sie sah sich um und ihr Blick blieb schaudernd auf Baldeina liegen.
"Die Sachen - alle bleiben drin", sagte Baldeina. 'Nird, Nird', höhnte das Echo. Es klang wie ein Schimpfwort und war eindeutig beniedrigend gemeint.
"Ich setze mich nicht zu einem solchen", sie zeigte auf den Bauch des Gesandten, "und ebensowenig zu einem Mädchen, die ich wohl eine Dienerin nennen darf."
"Sie ist meine CHRONISTIN", sagte Woi streng.
"Und was ist eine CHRONISTIN ihrer Meinung nach?", fragte die Fürstin I spitz.
"Ja, eeh", Woi überlegte. "Sie schreibt Gedichte, das ist eine Chronistin."
"Ah, sie schreibt Gedichte", sagte die Fürstin spitz, sehr spitz.
"Sie hat keine Pferde", stichwortete Woi seinem Freund, weil ihm ein Themenwechsel geraten schien.
"Nicht EIN Pferd hat sie!", trompete Baldeina heraus.
"Wir", die Fürstin zeigte auf ihren hallenden Hof, "benötigen keine Pferde."
"Keine Pferde", sagten Baldeina und das Echo gemeinsam.
"Darum würde es uns nichts ausmachen, sogar zu laufen", sagte die Fürstin tapfer. 'Nicht laufen - nicht laufen', sagte das Echo.
"Unsere Familie ist sehr alt", sagte die Fürstin I. "Wir kennen den Kaiser und natürlich auch seine Töchter, die Prinzessinnen."
"Dann wissen sie vielleicht, dass wir die Prinzessinnen heiraten wollen - ich meine, dass ich - dass die Prinzessinnen uns - jedenfalls sind das alles Geschenke dafür, und alles kommt mit!"
"Ich denke nicht", sagte die Fürstin, deren Haar in feinen Wellen erzittert war, "dass eine DIESER Prinzessinnen jemanden wegen seiner Geschenke heiraten wird!"
"Das ist mir egal - jedenfalls, was meine Geschenke angeht", sagte Baldeina und warf dem Echo sein Schweigen zu.
Nach einer sehr verächtlichen Abwendung des Kopfes schritt die Fürstin zum Wagen des Gesandten und stieg hinauf, wobei sie erkennbar angewidert die Hand ausschlug, die ihr von oben zur Hilfe gereicht wurde.
Als sie durch das Tor ritten, grüßte Woi zu den beiden Häuschen herunter, obwohl sie verlassen waren. Ihnen voraus fuhr Baldeinas Wagen. Trotz seines Gewichtes und des schlechten Wegzustandes besaß er etwas Schwebendes. Hinter ihnen rumpelte der Wagen des Kaisers, der einer bäuerlichen Eskorte glich, die sie mit zerschlisssenen Kleidern, aber treuer Miene ein Wegstück begleiten würde.
Ein kleiner Windstoß entführte ein Lächeln von Baldeinas Gesicht. Er dachte, dass Woi ihn, so gut es ging, unterstützt hatte. Es war schön, einen Freund zu haben, wenn der Vater nicht dabei war.
"Mein Herr, ich sagen ihnen", die Fürstin hatte sich ihrem Nachbarn Gesandten zugewandt, "die Prinzessinnen werden keinen nehmen, der von gewiss niedriger Geburt ist."
"Woi, du glaubst gar nicht, wie arm manche Fürsten sind", sagte Baldeina und blickte sich nach der Fürstin um, die mit Haltung den Gegenschlag erwartet hatte. "Mein Vater sagt, wenn sie die Nase hoch tragen, dann nur, weil ihnen die Schulden ebenso hoch stehen."
"Wie schnell ist der Reichtum dahingeschmolzen", verkündete die Fürstin den Mitreisenden. "Was bleibt dem, der im Inneren keinen Reichtum erworben hat."
"Woi", flüsterte Baldeina, "mir fällt nichts mehr ein!"
"Mein seliger Mann pflegte zu sagen", setzte die Fürstin zum finalen Stoß an, "Wer seinen Stolz habe, wo solle dem ein Mangel sein? Er frage nicht nach einem Lohn."
"Mein Vater sagt, der Stolz sei ein abgestorbener Baum, wo die Vögel wohnen, die sich von Grillen nähren. Woi, hörst du zu? Mir ist doch etwas eingefallen!"
"Ja", sagte Woi und nickte. Aber er hatte nicht zugehört, sondern in die Ferne gesehen und sich gefreut, dass er allein auf einer großen Reise war. Wie stolz wäre Medith gewesen, wenn er ihn auf dem Weg zur Kaiserstadt gesehen hätte. So träumte Woi sich in die Ferne und war dankbar taub für den Streit und den Lärm der Räder.
Die Wagen der kleinen Gesandtschaft fuhren als schwere Kähne durch den Nebelsee, der sich zu beiden Seiten des Weges gebildet hatte. Die Sonne stand noch tief hinter den Bäumen. Aber der Himmel sammelte bereits die flachsten der Wolken zu einem Schild, das er den ersten Sonnenstrahlen als wie zum Kampf entgegenhalten wollte.
Chapter 52. Das Testament des Kaisers
Der Kaiser fühlte, wie das Fieber kam. Es war ein Bergfieber, ein kaltes, eines, das seine Spitze verbarg. Er sah viele Menschen, die ihn umringten, aber sie waren unscharf. So konnte er nur ihre Stimmen hören.Es waren wohl die Menschen von dem Dorf am Fuße des Berges, die sich versammelt hatten.
'Wo soll er liegen, dieser Mensch, der ein Kaiser ist?', riefen sie.
'Ihr kennt doch meinen Platz - dort, wo die sprechenden Bäume stehen', rief er unwirsch zurück.
'Ja, mit ihm werden die Bäume wohl sprechen. Schließlich ist er ein Kaiser! Tragen wir ihn also hin!', riefen sie eilfertig.
Er hörte einen Hund, der anschlug. Ein Flüstern, das immer näher kam. Wellen, die ihn trugen. Gedanken, denen nichts mehr zu denken übrig war. Worte, die sich ins Sterben gelegt hatten.
Zwischen den Kräutern suchten die Schatten nach einem Platz. Am Endes des Tragens stand das Bett der sterbenden Kaiser. Davor machten es sich die Bäume in den Moospantoffeln bequem.
'Wisst ihr, wer ich bin?', rief der Kaiser zu den Bäumen hoch.
'Du bist der, von dem der Bote der Bleichen heute sprach' - sie hatten helle Stimmen und sprachen im Chor - 'Nicht belauschen wollten wir ihn, aber ein trödeliger Wind hielt seinen Morgenschwatz bei uns. Alle haben wir es gehört, bis auf den, der dort hinten steht, und die Ohren bei den Wurzeln hat.'
'Ja', rief er und lächelte über ihre dünnhalsige Ängstlichkeit, 'ich bin der Kaiser, von dem er gesprochen hat.'
'So wollen wir warten mit dir. Es ist so ein Tag, der sich gut verwarten lässt.'
Und so warteten sie zusammen. Die Bäume wollten etwas singen, aber sie kannten nur ein paar Worte, und keiner wusste, wie es weiterging.
'Er hat Durst. Bestimmt hat er Durst. Wenn einer stirbt, dann hat er Durst, die ganze Zeit!', rief ein Baum mit schreller Stimme.
Der Kopf des Kaisers knickte sich nach vorn für den flüssigen Speer, der in den Mund einen Schlund brannte und in seinem Magen zu Rauch verblies.
"Schreiber", sagte er, "ich bin wach." Das Papier erschrak und verhustete sich.
Aber dann war der Kaiser doch wieder bei den Leuten im Dorf. Eine Frau sah zum Himmel empor, und ein Mann sprach zu den spielenden Kindern: 'Spielt nicht so laut! Im Zimmer drinnen liegt der Kaiser und ist sehr krank. Er war immer gut zu euch und hat oft nach euch Kindern gefragt.'
'Wirklich, nach jedem Kind, hat er gefragt?'
'Er ist ein Kaiser und kümmert sich um jedes Kind!'
'Hat er denn keine eigenen Kinder, um die er sich kümmern muss?'
'Eigene Kinder hat er auch, aber weil er ein Kaiser ist, seid auch ihr seine Kinder!'
'Dann hat der Sohnkaiser ihn nicht allein für sich?'
'Nein, der Sohnkaiser muss ihn sich mit allen Kindern teilen.'
'Wir haben zwei Väter, und er hat keinen, da ist er bestimmt ein bisschen traurig.'
'Darum, Kinder, nennt man den Sohnkaiser auch den Kaiser der Tränen.'
'Weil er immer weint?'
'Er weint nicht, das ist nur sein Name.'
'Haben die Vaterkaiser auch einen Namen?'
'Ja, sie heißen Kaiser des Blauen Drachen.'
'Das ist bestimmt ein lustiger Drache, wenn er blau ist und nicht rot ist.'
'Der Große Fluss ist der Blaue Drache. Von ihm hat er diesen Namen.'
'Ist es schwer, für den TränenSohnKaiser ein GroßerFlussKaiser zu werden?'
'Nein, wie ein Apfel am Baum wächst - es braucht nicht viel dazu. Irgendwann ist er reif und fällt zu Boden, und ein neuer Baum wächst daraus hervor.'
'Dann sind die wenigen Tränen ein großer Fluss geworden?'
'Ja, das ist so, aber nun spielt und stellt mir keine Fragen mehr. Seht wie eure Mutter mich anschaut, dass ich mich so lange aufhalte.'
Die Kinder spielten, dass der Kaiser ihnen zusah. Dann stritten sie sich und warfen mit Steinen, weil jeder von ihnen der Kaiser sein und zusehen wollte.
"Schreiber", sagte der Kaiser, "ich bin wieder wach."
'Schreiber!', riefen die Leute vom Dorf. 'Schreiber, es ist etwa Wichtiges! Unser Kaiser will etwas sagen!'
"Ich will verfügen", sagte der Kaiser, "dass mein Sohn - den einzigen den ich habe - dann Kaiser werden soll, wenn er ein Apfel ist, der vom Baum fällt."
'Apfel?', riefen die unklaren Dorfleute. 'Wie meint er das? Wer ist ein Apfel? Von welchem Baum fällt ein Apfel?'
"Verstehen sie denn nicht, Schreiber?", fragte der Kaiser unwirsch.
"Die Sache mit dem Apfel verstehe ich nicht", flüsterte das Papier auf den Knien neben seinem Bett.
"Lassen wir den Apfel weg", sagte der Kaiser. "Schreibt, dass mein Sohn Kaiser werden soll, wenn er gereift ist - in die Reife gelangt - ausgereift ist - na, eben irgendetwas!"
"... zur Reife gekommen ist?", schlug das Flüsterpapier vor.
"Schreibt das und damit gut!"
"Ich schreibe also: 'Ich, der Kaiser des Blauen Drachen, verfüge, dass mein einziger Sohn mir nachfolgen soll, wenn er zur Reife gekommen ist."
"Ja, so geht es", sagte der Kaiser ungnädig. Der Zorn hatte sich auf seine Stirn gesetzt. Er sah grimmig drein. Grimmig wie das Bergfieber, wenn die Tage nicht mehr an ihre Kraft glauben wollten, wenn die schweren Wolken keinen Weg mehr gehen wollten, und niemand der Menschen kam, weil sie drinnen im Warmen voreinander saßen.
Chapter 53. Ankunft in der Kaiserstadt
Als sie auf die Kaiserstadt zuritten, hatte der Kaiserliche Gesandte den Fürstensöhnen erlaubt, ja darum gebeten, dass sie ihn mit seinem Namen ansprechen sollten. Aber Woi hatte ihn wieder vergessen, so schwieg er im Gespräch. Baldeina wusste den Namen und stellte munter seine Fragen. ZungSsung war der Name des Gesandten, mit Titel Kund ZungSung - keine Schwierigkeit für Baldeina.
Der Gesandte hatte angeordnet, dass Woi und Baldeina die Uniformen der geflohenen Soldaten anziehen sollten. Sie wollten zumindest den Anschein erwecken, nicht schutzlos gewesen zu sein.
Die Federn vom Helm kitzelten Woi im Nacken. Der Helm verrutschte ständig im Reiten, weil er ihm zu groß war. Da gleichzeitig die Knieschoner zu eng waren und zwickten, war er ungeduldig, dass die Sache zu Ende ging.
Es wäre ihm unverständlich, äußerte sich erneut der Gesandte, und er frage sich, ob es der wahre Grund ihrer Flucht sein könne, dass die Soldaten der Entmannung mit Bangheit entgegengesehen hätten. Manche Dinge, sagte er, würden nur grausam dadurch, dass man sie der Vorstellung überlasse. Ein kleiner Schnitt sei es, mehr nicht. Ein Ziehen, eher als ein Schmerz. Bei guter Pflege sei alles schnell vergessen.
Das letzte Stück führte sie der Fluss. Die Stadt lag in seiner Armbeuge. An ihren Rändern hatte sich breit Sumpfiges angesammelt. Hier war der Körper des Flusses fett und ungesund aufgedunsen, so schien es.
Es begleite ihn, sagte der Gesandte, diese Frage. Dies bitte er ihm nachzusehen. Er habe einen gekannt, der habe sich seiner Mannheit gerühmt und sie kaum verborgen aufgetragen. Und doch wäre er arm gewesen und habe kein Weib gefunden. So sei er Schäfer geworden. Hoch in den Bergen habe er an einem letzten schiefgewachsenen Baum gelehnt und trübe über die Ländereien seines Herrn geschaut.
"Spürst du es, Woi", fragte Baldeina leise, "dieses Kaiserliche und irgendwie Erhabene?"
Es lag in der Luft. Woi sah sich um. Im Fluß schwamm Trübes und atmete den Geruch von Verwesung. Es war nur gut, dass ein leichter Wind aus ihrem Rücken wehte.
Sie ritten über eine kleine Holzbrücke auf einen Weg, der sie zu den Stadtmauern brachte. Woi stellte fest, dass diese nicht aus Stein gemauert waren, wie er gedacht hatte, sondern aus bemaltem Holz und in leichtester Bauweise gezimmert waren, als habe man die Absicht, sie bei Bedarf zu versetzen. Für einen wirklichen Schutzwall schien der Kaiser keine Notwendigkeit zu sehen. So wie in seinen Uniformen oft keine richtigen Soldaten steckten, gaben sich die Mauern mit dem Anschein des Schutzes zufrieden.
Es beschäftige ihn die Frage, sagte der Gesandte, ob die Flucht der Soldaten nicht voreilig gewesen sei. Wenn er nur denke ... er habe einen gekannt, der sei im Besitz dieses Dinges gewesen und eines Weib dazu. Munter hätte er sich seine Lebenszeit einteilen können, wenn nicht sein Weib einen Beweis seiner Liebe - der Liebe seiner Seele - sich auserbeten hätte. Da sei der arme Mann in Nöten gewesen. Er habe gegrübelt in einem fort, was es sein könne, wonach sie verlange. Gallig sei er geworden und schließlich ein Komischer. So könne es kommen, sagte der Gesandte, wenn man sich versteife.
Vor ihnen fuhr ein Wagen, der sie zwang, die Pferde dicht hinter ihm zu halten. Es saßen zwei Jungen hinten drauf. Der Größere saß behaglich im Schaukeln, der Kleinere aber war ein Frecher, der überlegte, was er sich trauen durfte.
"Seid ihr Soldaten?", rief er mit heller Stimme.
Baldeina nickte ganz ernst und brachte seinen Körper in eine gestraffte Form. Woi setzte den Helm gerade.
"Ich glaube, es sind falsche Soldaten, Vater!" rief der Kleine nach hinten durch.
"Nein, Kind, es sind bestimmt richtige Soldaten!", rief der Vater von vorne.
"Sie sehen aber komisch ein bißchen aus. Der eine ist ein Dicker" - Woi quieckte vor Vergnügen, während Baldeina in eine ungestraffte Weichform zurücksackte - "und der andere hat einen schiefen Helm und macht sich lustig über den dicken Soldaten."
"Es sind Soldaten. Es ist nur, wenn du nah bist, sehen sie manchmal komisch aus!", rief der Vater zu seinem Jungen.
"Was ist denn in eurem Wagen drin?", fragte der Junge.
"Da sind Geschenke drin", sagte Baldeina stolz. "So herrliche Geschenke, wie du sie noch nie gesehen hast."
"Für wen sind die Geschenke? Hat jemand Geburtstag?"
"Er will eine von den Töchtern des Kaisers heiraten", sagte Woi bissig. "Dafür braucht er die Geschenke."
Baldeina war ganz rot geworden und sah sich hilfesuchend nach ZungSung um, aber dieser hörte nicht auf den Jungen, sondern führte mit sich leise eine Erörterung fort.
"Weil er ein Dicker ist, muss er der Prinzessin viele Sachen schenken?", fragte der Junge.
Woi nickte und blickte vielsagend auf die Hüften von Baldeina, die sich wie zusätzliche Satteltaschen ausnahmen.
"Sei doch still", sagte der ältere Junge zu seinem Bruder. "Wenn du frech bist, sage ich es dem Vater!"
Dankbar sah Baldeina ihn an: "Willst du eine Feder?", fragte er ihn und nahm seinen Helm ab.
Der Junge suchte sich die größte blaue Feder aus und zeigte sie stolz seinem Bruder. "Trau dich nicht, sie zu knicken!", warnte er den Kleineren.
"Willst du eine Feder von meinem Helm?", fragte ihn Woi.
"Nein", sagte der Junge, "ich will genau eine Feder wie mein Bruder - eine blaue, und du hast nur die blöden gelben. Das ist gemein!"
"Von mir bekommst du keine Feder!", sagte Baldeina verärgert. Aber als der Junge zu heulen begonnen hatte und ihn nicht aus den tränenschweren Augen ließ, da tat er ihm doch ein bisschen leid, und Baldeina gab ihm eine blaue Feder wie seinem Bruder. Sie legten die Federn nebeneinander. Beide waren gleich groß, eine so blau wie die andere.
An einem Marktplatz hielt der Wagen mit den beiden Jungen an, und sie konnten passieren. Der Gesandte sah sich aufmerksam und unruhig um. Er zeigte auf einen Stand, der sich dicht am Weg aufgebaut hatte. Dort tauschte der Händler den grauen gegen einen schwarzen Wimpel.
"Meine Herren, bitte nehmen sie die Helme ab", sagte ZungSung und griff sich ans Herz, "es war unvorhersehbar, gleichwie habe ich daran gedacht."
Als sie ihn ansahen, schlug er die Augen im gesenkten Kopf nieder, um zu sagen: "Der Kaiser ist tot. Der Blaue Drache führt kein Wasser mehr in seinem Lauf. Der Weiße Berg wird all seinen Schnee verweinen."
Chapter 54. Tesla bei Nadim
An der Tür zum Schlafgemach der Kaiserin klopfte eine Frau, erst leise, dann unüberhörbar laut mit dem Knöchel. Schließlich hieb sie mit der flachen Hand gegen das schwere Holz. Hinter ihr stand ein verschleiertes Mädchen und eine Viererkette von Soldaten, die keinerlei Anstalten machten, sie an ihrem Tun zu hindern.
Der Diener, der alles mitangesehen hatte, erschrak auf das Furchtbarste. Sogleich rannte er los und warf sich zwischen die Tür der Kaiserin und die Hand dieser Frau, die Einlass begehrte, wo es keinen geben konnte. Entrüstet sah er die Kaiserlichen Soldaten an, die sich wie eine Eksorte dieser Frau aufführten.
"Sie will niemanden sehen", flüsterte er aus Sorge um das Befinden seiner Herrin.
"Das kann ein Diener nicht wissen", sagte die Frau wegwerfend. "Ich bin Tesla, die Fürstin der Nachtstadt, und will von der Kaiserin selbst wissen, dass sie mich nicht sehen will."
Der Diener bemerkte, dass sie tatsächlich eine Blinde war, wie er es von dieser Tesla gehört hatte. Außerdem gebärdete sie sich so herrisch, dass er nicht weiter zweifeln wollte. Es erklärte ihm auch das Verhalten der Soldaten, aber er wollte lieber nicht seine eigenen Schlüsse daraus ziehen.
"Die Kaiserin ist in Trauer", flüstert er. "Habt ihr keinen Anstand ..."
"Was trauert sie?", fragte die Frau grob. "Ein Fremder ging fort. Wie kann sie um ihn trauern?"
"Aber bitte, es ist eine Sitte am heutigen Tag des Todes", flehte der Diener.
"Was denn, Sitte?", fragte die Frau scharf zurück. "Der Kaiser hatte einen letzten Wunsch an mich. Den kam ich zu erfüllen. Sein Wille ist mein Recht!" Wieder schlug sie mit der flachen Hand gegen die Tür.
"Vielleicht die Prinzessin ...?", schlug der Diener vor. "Wenn es ein Wunsch ihres Vaters ist, kann ich euch zu ihr bringen." Er glaubte, Wein im Atem der Frau riechen zu können.
"Dann bringt mich!", verlangte Tesla und bedachte die Tür der Kaiserin mit einem verächtlichen Blick.
Langsam ging es vorwärts, weil sich die Blinde umhören wollte. "Groß ist es hier und leer", sagte sie. "Ich erkenne das Echo in seiner Stimme, wenn er zu mir kam."
Der Diener zuckte zusammen, weil sie etwas gesagt hatte, das er nicht wissen durfte, im Beisein dieses Mädchens, einer Zeugin, und der Soldaten, die es wer-weiß-wie aufnahmen. Er hoffte nur, dass alles ohne Aufsehen zu Ende ging.
"Dort ist ihr Zimmer", sagte er. "Prinzessin Nadim wird euch empfangen. Sie ist nicht so - ich meine, sie ist eine Prinzessin, keine Kaiserin."
Er entfernte sich schnell durch eine kleine Tür, um nicht wieder das Klopfen und Schlagen dieser Frau hören zu müssen.
"Klopf du!", sagte Tesla sanft. "Sie ist ein Mädchen und wird dein Klopfen eher mögen als meines."
Das Mädchen im Schleier trat vor. Sie klopfte vorsichtig und kein zweites Mal.
"Ich habe geklopft", sagte sie, als die Prinzessin erschien. Es war völlig überflüssig, dies zu sagen, aber Nadim nahm ihre Auskunft an, als verlange sie nichts anderes von ihr zu wissen, Name nicht und nicht Begehr.
"Und ich bin Tesla!", stellte sich die Blinde vor. "Die Nachtstadt hat mir euer Vater zum Geschenk gemacht. Und sie, die Kaiserin, kennt mich und weiß das wohl!" Die Frau hatte eine schwere Figur. Sie trug ein Kleid, dass ihre kräftigen Arme bis zu den Schultern offen zeigte. Ihr Gesicht war aufgedunsen, aber es strahlte Gewissheit aus und eine verglommene Wärme.
"Ich weiß nichts von solchen Dingen, wirklich nicht!", sagte Nadim freundlich.
"Ihr müsst entscheiden, hört mich also an: Die Geliebte eures Vater bin ich. Auch in den Tod hinein. So hat er es gewollt!"
"Ich kenne euch nicht", sagte Nadim etwas hilflos. Sie fand es unerträglich, einer Blinden beständig in die Augen blicken zu müssen. Es machte sie hilflos und traurig.
"Euer Vater wollte, dass ich in der ersten Nacht seines Todes an seiner Seite bin."
"Wenn es der Wunsch meines Vaters war, dann will ich es gestatten", erwiderte Nadim und sah das Mädchen an, versuchte vergeblich, durch den Schleier in die Augen des Mädchens zu blicken.
"Geht!", sagte Tesla zu den Soldaten. Sie gehorchten ihr und traten ab.
"Wie stellt ihr euch vor, was ihr verlangt?", fragte Nadim, weil sie erst jetzt verstand, was sie gerade erlaubt hatte.
"Kommt mit!" Tesla wandte sich zum Gehen, und Nadim war froh, dass die fremde Blindheit nicht mehr auf ihren Augen lag.
Während sie Tesla langsam folgte, konnte Nadim immer wieder einen Blick auf das Mädchen werfen, das ihr zur Seite schritt. Sie war gewiss jung, trug keinen andere Trauerkleidung als diesen Schleier, als wolle die Blinde, dass jeder nur in ihre eigenen leeren Augen sah.
Die Tür zum Sterbezimmer stand offen, um den Vorbeiziehenden einen Blick zu gestatten, aber Nadim zog sie hinter ihnen zu.
Hier waren all die Kostbarkeiten des Kaisers versammelt worden, die ihm persönlich waren. Sogar ein Sattel lag hier, den Nadim noch nie gesehen hatte. Von einem Ding, das aussah wie eine Spindel, wusste sie nicht einmal die Bestimmung. Der Vater, einmal auf einem Bild dargestellt, war auch in einen Steinkopf gemeißelt worden. Die beiden Männer sahen sich. Es kam Nadim vor, als würden ihre Augen sich niederringen.
Sie mussten durch eine Tür nach draußen treten, um dem Aufgebahrten selbst zu sehen. Dort, wo sonst den Festen die Feuer brannten, unter einem Vordach mit einem riesigen Abzug, lag der Vater.
Tesla ging zu ihm und nahm zu Nadims Erschrecken die Hand des Toten auf."Ich bin bei dir", sagte sie, als erkenne sie seinen Tod nicht an. "Die Kaiserin wollte mich nicht zu dir lassen, aber deine Tochter hat mich zu dir geführt. Sie ist eine gute Tochter. Du hättest mir von ihr erzählen sollen."
"Wer ist das Mädchen?", fragte Nadim sie leise von der Seite.
"Sie ist mein Mädchen", antwortete Tesla ihr fast spöttisch, "einfach mein Mädchen."
"Wie ist ihr Name?"
"Was braucht sie einen?"
"Sie hat keinen Namen?"
"Ein Mädchen eben ist sie."
"Ist sie nicht eure Tochter?"
"Ich nahm sie als Kind auf, vielfragende Prinzessin."
Nadim hätte gerne noch Fragen gestellt und geredet, aber Tesla lauschte, als höre sie jemand anderen sprechen.
"Kalt ist es", sagte sie zu dem Toten. "Ich hätte nicht gedacht, dass mich friert, wenn wir uns an deinem Hofe treffen. Es war nicht dein Wille hier zu liegen, nicht wahr?"
Tesla hatte eine gewaltige Ausstrahlung. Sie machte Nadim ebenso stumm wie das Mädchen. Obwohl blind, füllte sie die Augen der anderen mit ihrer Erscheinung bis an den Rand aus.
"Ich bin gekommen, dass du mit jemandem sprechen kannst, und werde bleiben. Wir werden reden, und was du nicht verfügen konntest, das lass mich machen."
Nadim machte einen Schritt zurück, wo das Mädchen stand. War sie wirklich so schön, dass sie nicht angeschaut werden durfte? Nadim hatte nur das Wort einer Blinden dafür.
"Geh, Prinzessin!", sagte Tesla. "Lass uns allein mit deinem Vater. Es gibt Dinge, die er vor dir nicht aussprechen will."
Nadim schüttelte den Kopf. Die Frau nahm doch nicht etwa an, dass sie ihr diese Dinge glaubte! Mit ihren dunklen Worten übertrieb sie ein wenig. Nadim zog den klaren Verstand dem Erschauern vor.
"Was stehst du noch da?", fragte Tesla ungehalten.
"Sie braucht einen Namen!", sagte die Prinzessin Nadim mutig.
Tesla lachte nur: "Jeder, mein Kind, hat etwas, das ihm fehlt: Ich habe mein Augenlicht nicht, das Mädchen keinen Namen, und dir fehlt ein Mann!"
Chapter 55. Woi als Kaisertochter
Woi und Baldeina hatten Zimmer nebeneinander bekommen. Li war dem Hofdichter zugeordnet worden und mit einer Dienerin verschwunden. Der Kaiserliche Gesandte, dessen Namen Woi sich nicht merken konnte, hatte jedem von ihnen einen schwarzen Fächer gegeben und sie ermahnt, diesen in der Gesellschaft bei sich zu führen. Ebenso war das Kleid zu tragen, das sie auf ihrem Bett finden würden. Dann war er in eiligen Geschäfte losgeeilt.
Woi saß auf seinem neuen Bett, hatte sich das weiße Kleid über die Knie gelegt, spielte mit dem Fächer und hatte Langeweile. Da die Kaisertöchter trauern mussten, blieb nichts als Warten.
In seiner Vorstellung betrat eine der Prinzessinnen das Zimmer. Sie hielt sich den schwarzen Fächer vor das Gesicht, und zehn Dienerinnen kicherten in ihrem Rücken. Welchen Eindruck würde er auf sie machen, wenn er mit eiserner Miene schweigsam blieb? Er stellte sich vor, wie Baldeina an seiner Stelle den Bauch einziehen würde, um aus hohlen Wangen lange und kunstvolle Sätze zu bilden.
Da hatte Woi eine Idee: Ihn würde doch jeder für eine Kaisertochter halten, wenn er das weißen Kleid trug und sich einen dieser schwarzen Fächer vor das Gesicht hielt! So verkleidet konnte er an Baldeinas Zimmertür klopfen, sich als Prinzessin ausgeben und sich die große Rede selbst anhören.
Diese Idee fand Woi so gut und hatte ihr so wenig entgegenzusetzen, dass er beschloss, sie sofort in die Ausführung zu bringen.
Im Zimmer nebenan lag Baldeina auf seinem Bett und war hungrig. 'Der dicke Soldat' hatten die Kinder ihn genannt, und Woi hatte seine rücksichtslose Freude gehabt. Bei ihm zu Hause sagte niemand, dass er zu dick war. 'Dem Jungen geht es gut', sagte die Mutter, 'das sieht man doch!' - 'Jawohl', stimmte der Vater ein, 'ihm schmeckt es. Das braucht er für seine Stimme.'
Alle waren sie nett zu ihm gewesen und hatten sich gefreut, dass es ihm so gut schmeckte. Und wenn er sang, dann waren sie ganz still. Doch nun lag er auf seinem Bett und hatte Hunger und war zu dick. Das hatte er nun davon, dass es soviel zu essen gab zu Hause.
Wenn er weniger aß, dann bekam er schlechte Laune. Dabei kam es darauf an, lustig zu sein, wenn die Kaisertöchter sich einen von ihnen aussuchten. Außerdem würde er nicht Singen können, weil die Musik aus dem Bauch kam. Und beim Tanzen würde ihn die Schwäche schwindeln lassen.
Er hatte gehofft, dass er auf der Reise ein wenig schlanker werden würde. Aber mit Zungsung, dem Kaiserlichen Gesandten, hatte er so manch süßes Geheimnis geteilt, dass dieser in seinem Wagen versteckt hielt.
Baldeina fühlte seine Hüften, die Backen, seinen weichen Bauch und kniff sich in die Brust - alles war eindeutig zu dick. Nur gut, dass der Kaiser tot war, da mussten sie alle fasten, und niemand durfte lustig sein. Wem würde es auffallen, dass einer nicht mit dem Herzen trauerte, sondern mit dem Bauch? Baldeina lag matt auf seinem Bett und ließ seinen Bauch zur leeren Decke hochklagen.
Vielleicht war eine der Prinzessinnen ja ein bisschen dick, gerade so, wie er es mochte. Dann würde sie ihn lieben, für das, was er sagte. Wenn er sang oder zum Tanz sich stellte, würde sie nicht auf seinen Bauch sehen. Ein bisschen wollte Baldeina natürlich abnehmen, gerade soviel, dass er nicht immer Hunger hatte und sie ihn noch mochte.
Das Haus verharrte still, als versuche es, herauszuhorchen, wo diese unbekannten gnäuenden Geräusche herkamen. Es klopfte leise, so zaghaft und vorsichtig, dass Baldeina zuerst dachte, es komme aus seinem Magen. Dann klopfte es wieder, fast zärtlich, jedenfalls nicht, wie ein Diener für eine Nachricht klopft oder zum Essen ruft.
Baldeina ahnte etwas, aus irgendeinem Grund, den er selbst nicht hätte benennen können, sagte er leise, fast heimlich, ja singend: "Ich komme gleich sogleich, ein wenig noch, da bin ich schon."
In der Tür stand eine Frau, die sich den schwarzen Fächer vor das Gesicht hielt und ihr langes, weißes Kleid für die Trauer trug. Sie war kleiner als Baldeina, aber von Statur nicht eigentlich puppenhaft zierlich. Sie sprach mit einer hohen, vom vielen Weinen wohl angerauhten Stimme.
"Darf ich zu euch hinein?", bat sie und mahnte: "Niemand darf, nicht eine Seel' wissen, dass ich bei euch bin. Nicht lang bleib ich, aber sehen wollt ich, wem ich - mag sein - versprochen werde."
"Ja, ööh, bitte, hmm ..."
"Ich kam doch nicht, um zu stören?"
"Aber bitte nein, ääh, ich habe sowieso nichts zu tun. Ich meine, es ist mir eine Ehre, natürlich, eine Freude, eine plötzlich eintreffende ..."
"Oh bitte, die Schwester, sie weiß von nichts, ist bei Vaters Aufgebahrtem."
"Oh, die Sache mit dem Vater, dem Kaiser, tut mir leid. Vergaß das zu sagen."
"Ich schau sie mir an, die beiden Fürstensöhne, die für die Heirat kamen. So sprecht von euch, dass ich die Wahl vor meiner Schwester treffen kann."
"Ich bin Baldeina, so mein Name ... ja wie? Soll ich mich jetzt beschreiben?"
So hatte es sich die Prinzessin gedacht und nickte zierlich.
"Also, ich ... über mich zu sprechen ist mir ein wenig ungewohnt."
"Sprecht! Ich weiß, dass ihr nicht unbescheiden erscheinen wollt."
Baldeina gab sich eine leichten Ruck: "Nun, ich kann gut singen, treffe einen runden Ton. Beim Tanze habe ich Geschick, sagt man. Ich bin ein guter Freund gewiss und will der Prinzessin, so ich ihr versprochen werd', ein guter und treuer Mann wohl sein." Mit einem Mal ging ihm das häufig Vorgedachte leicht von der Zunge. "Im trauten Gespräch will ich ihr eine Schwester sein, im Troste ein Mutter, in der Fürsorge ein Vater und in der Liebe ein rechter ..."
"Ja, sagt, nun seht ihr mich gespannt! Was wollt ihr in der Liebe sein? Wo versteckt ihr das Wort?"
"In der Liebe ein ... eben ich ... wie ein Baldeina ..."
"Die Zeit hat es eilig. Wer weiß, wielang die Schwester heute trauert? So will ich sie nutzen und frag' nach dem andern, Woi mit Namen. Er gefiel mir wohl, war ernst, von bleicher Farbe die Wangen, sehnig kräftig die Gestalt. In seinem Blicke schien er mir ein Mann vom großen Rollenfach, schweigsam eher als geschwätzig."
"Also", setzte Baldeina zögernd an, "da er ja sozusagen ein Freund ist, wie kann ich da anders als gut über ihn sprechen ...?"
"Nun, redet, wo ihr schweigen müsstet. Was muss ich wissen? Die Zeit eilt mir davon!"
"Nun, eeh, er ist natürlich irgendwie ein netter Kerl, wenn er nicht gerade mürrisch ist." In Baldeinas Gesicht wogen Freundes- und Wahrheitsliebe sich aus. "Und wenn er nicht mürrisch ist, dann macht er sich lustig über andere und denkt sich Späße aus, die keine sind. Aber er ist ein guter Mensch ... wenn man ihn in Ruhe lässt und sich für die Jagd interessiert und für Pferde und Waffen, dafür wie man Tiere jagd und sie mit dem Messer zerlegt. Schlaft ihr gern des Nachts im Freien? Esst ihr gern vom Hasenknochen das rohe Fleisch? Mit den Bäumen und dem Pferde sprecht ihr wie er, bei den Menschen seid ihr stumm? Dann ist er wohl der Richtige für euch, und ich will gern den Kranz euch schenken ..."
Ehe Baldeina zu Ende sprechen konnte, hatte die Kaisertochter einen schnellen Schritt auf ihn zugemacht, ihn am Hemd gepackt und in einer wuchtigen Umdrehung über die Schulter zu Boden geworfen.
Als er dort zappelnd lag und versuchte, sich zurechtzufinden, sagte die Kaisertochter mit Wois Stimme: "Ein schöner Freund bist du! Wenn man dich mal allein machen lässt, dann ziehst du jedem Freund gleich die Haut ab!"
Baldeina wollte sich wehren, aber er lag weiter auf dem Rücken und konnte sich nicht rühren.
"Erst gibst du auf, bevor ich dich loslasse!" verlangte Woi.
"Gut", sagte Baldeina, "ich gebe auf, aber das ist kein gerechter Kampf!"
"Das sollte auch keiner sein!"
"Ich wollte doch nur ...", sagte Baldeina. "Ich habe doch gewusst, an der Stimme gewusst, dass du es bist."
"Ja, ja, nichts glaub ich davon! Sie können aufstehen, Herr Ehrlos! Wie sehen sie denn aus, Herr Feigherz?"
"... also wollen wir uns wieder vertragen", bot Baldeina kläglich an und hielt sich dabei den Rücken.
"Wollen wir!", sagte Woi und ließ den Knopf verschwinden, den er Baldeina abgerissen hatte.
"Ich habe Hunger", gestand Baldeina. "Ich habe einfach einen riesigen richtigen Hunger."
"Komm", sagte Woi, "ich werd uns in der Küche was schießen. Ich kann doch nicht zulassen, dass der beste Freund, den ich im Augenblick habe, verhungert."
"Das, was ich eben gesagt habe ...", versuchte Baldeina zu erklären, "im Ernst, ich würde nicht ... es war ein Spaß!"
"Du würdest! Du hast nur einen Freund, deinen Bauch!"
"Weißt du denn, wo die Küche ist?"
"Merk dir, eine Küche brauchst du nicht lange zu suchen, einen echten Freund schon!"
Chapter 56. Li in der Nachtstadt
Niemand gab Li Auskunft darüber, wo sie LoBe, den Hofdichter, finden konnte. Erst der Hofmarschall selbst wusste Bescheid. Der Dichter LoBe suche seine Inspiration. Das sei - er dürfe LoBe in seinen Worten wiedergeben - nicht eine Frage des Ortes.
Als alle in seiner Umgebung lachten und Li nichts verstand, rief er eine alte Dienerin zu sich und flüsterte mit ihr. Die Alte sah Li durch einen Vorhang von niederhängenden grauen Wimpern starr an und sagte nichts. Schließlich schlürfte sie voraus und brachte Li zu einer jüngeren Diener, mit der sie sich leise besprach. Ohne sich umgeblickt zu haben, verschwand die Alte wieder.
"Ich bin eure Führerin und bringe euch zu ihm", sagte die Dienerin.
Li musste sich beeilen, um ihre neue Führerin nicht aus den Augen zu verlieren. Die Dienerin schritt schnell und wegkundig aus. Jedes Hindernis, dem sie geschickt ausgewichen war, stellte sich Li sofort wieder in den Weg.
Kaum dass sie den Hof verlassen hatten, wurde es so schlimm, dass Li sich beinahe verloren glaubte. Grobe Menschen, die mit Ellenbogen stießen, versuchten sie von ihrer Führerin zu trennen. Der Kot der Tiere lag überall, wo man nicht hinsah. Große, schwere Wagen fuhren ihr blind in den Weg. Das Geschrei kam von allen Seiten, und niemand fühlte sich angesprochen.
Es war nur gut, dass die Dienerin an ihrem langen Haar zu erkennen war und sich ruhig und sicher ihren Weg bahnte, während Li mal selbst vom Weg abkam, mal schlicht gestoßen wurde, mehr im Strom verschwand als schwamm, mehr Treibholz war als Ruder.
Die Dienerin schien nicht zu bemerken, dass um sie herum jeder gegen jeden kämpfte. Sie steuerte auf eine Straße zu, die vor einem Tor endete und dem Strom der Menschen und Wagen ein blinder Arm war.
Mit allerlei Schriftzeichen waren die Wände beschmiert. Vieles war abgeblättert von der Trockenheit oder vom Regen abgewaschen. Doch Li konnte lesen, dass die Verfasser kleine Gedichte geschrieben hatten. Sie war sich nun sicher, dass dies der Ort war, wo Lo Be seine Inspiration holte. Einer der Dichter schrieb:
Goldregen und Milchtau -
Im Staub meine Knie
Dein Lachen nicht wert.
Ein anderer hatte eine spitze Schrift:
Hab dich reich gemacht, Seidenfrau
Und wart als Armer nun
Bis dein Preis mein Groschen ist!
Sogar geritzt war eine Inschrift:
Mein Mond füllt eine Schale Milch
Dem Katzenmäulchen buckelschwarz.
Die Sonne ist mein Golddukat
Den ich zum Schaum ins Bad dir warf!
"Das ist der Ort, wo er ...?", flüsterte Li, als das sich öffende Tor sie mit tiefem Stöhnen unterbrach.
"So kommt nun endlich, ihr Zwei, dass ich mir nicht zulang die Nase zuhalten muss vom Gestank der Stadt!", rief ein grober Mann und zog sie beide mit einem Ruck herein, als greife er in der Luft ein paar leichte Tücher.
"Wir wollen zu Lo Be, dem Hofdichter", sagte die Dienerin fest. Von nahem besehen, war der Mann eine Frau und nicht sehr grob.
"Ihr müsst zum 'Weißscham' und einen Fährmann rufen", sagte die Torwächterin und wandte sich ab, weil erneut jemand gepocht hatte.
"Sag nichts, wundere dich nicht!", sagte die Dienerin. "Die Häuser der Sünde schwimmen dort draußen. Der Bootsmann vom Gelben Haus wird uns hinbringen. Alle Häuser sind nach Blumen benannt - das Haus, wo wir deinen Dichter treffen werden, nach dem 'Weißscham'."
Nun erst wusste Li, an welchem Ort sie den Hofdichter aufgesucht hatte. Das erklärte den seltsamen Blick des Hofmarschalls, die Belustigung der Zuhörer, den grauverhangenen Blick der alten Dienerin.
Aber die Umgebung war so absonderlich, dass Li keine Mutlosigkeit befiel. Zu beiden Seiten des Weges standen breite, mit Wasser gefüllte Vasen. Kleine Vögelchen, die wunderschön anzusehen waren, flogen reihum, von einer Tränke zur anderen. Ihr Farbkleid war immer neu gemischt. Keines glich darin dem anderen, aber alle waren sie von gleicher Größe, besaßen dasselbe schwarze Schnäbelchen mit roter Spitze, als hätten sie in derselben Marmelade genascht, und sangen sämtlich nur die eine Weise: "Tosiroi - Toisi, Tosiroi - Toisi, Tosiroi - Toisi!"
Plötzlich wurde von hinten ein Tuch über Li geworfen. Sie wurde für einige grause Momente zu Boden gedrückt, dass sie sich nicht wehren konnte. Das Tuch war aus feinem Stoff, kein grobes Leinen, aber das half ihr wenig. Schließlich wurde sie mehrmals gedreht und erst dann schwindelig wieder freigegeben.
Vor ihr stand eine stämmige Frau, die sie auslachte: "Wolltest dich wehren, Kitzchen!? Fühl mal, was ich mit mir rumtrag."
Li musste der Frau in den gewaltigen Oberarm kneifen. Die Dienerin stand dabei und hatte ihr nicht helfen wollen.
"Sind wir Freude nun, Kindchen, ja!?", fragte die Frau.
Li nickte mit großen Augen, die sich das Wundern nicht trauten.
"Musst du wissen, dass die zweite Dame von Silbertraum keine sehen darf, die schöner ist als sie. Haben wir drei Stunden gebraucht, ihr die Haut zu glätten, das Haar fest zu machen und die schlaffen Teile rund zu klopfen. Aber wenn sie eine sieht wie dich, dann fällt alles zusammen - die Haut wie brechendes Eis in der Sonne, die Augen gelb vor Neid, der Atem, wie wenn der Magen sich sauer beschwert. Die ganze Arbeit umsonst von vielen Händen, als wär sie geradewegs aus dem Bett gestiegen! Sagt man nicht: Wenn die Vase ist richtig hingefallen, was ist zu retten da noch? Da warf ich mich auf dich und tat gut daran."
Nachdem sie das Tuch knallend in der Luft ausgeschlagen hatten und 'die kleine Portion' ihr auch in den anderen Oberarm gekniffen hatte, ließ sie die beiden gehen.
Es war nicht weit, dann sahen sie das Gelbe Haus. Die Boote lagen als Paare davor und streckten ihre Füsse zum Bade aus. Der Abend kam langsam herangeschwommen, trieb umher wie ein zurückgekehrtes Boot, das auf einen freiwerdenden Platz wartete.
Sie waren an einem Flussausläufer, den hohes Weidengras von den Blicken abgrenzte. In der Tiefe glaubte Li, die Häuser der Sünde zu erkennen. Zwischen den Gräsern suchte sich ein bläuliches Licht einen Platz und trat sich dabei immer wieder im löchrigen Nebel fest. Nicht weit davon fand sich ängstlich ein grünes von ärgerlichen Schatten umstellt.
Das Boot, welches sie zum 'Weißscham' brachte, war unbeleuchtet und glitt als Schatten über das stille Wasser. Der Fährmann grunzte ungehalten, wenn Li sich nach ihm umsah. Er fuhr sie ganz nah an einen Pavillon heran und wartete, ohne etwas zu sagen oder ihnen eine Hilfe zu geben. Mit seiner langen Stange klopfte er ärgerlich gegen eine kleine Holzleiter, bis erst die Dienerin, dann Li zum Steg heraufgeklettert war.
Eine gewaltige Stimme ertönte aus dem Inneren des Hauses: "Ich habe keine Schulden bei euch! Ihr seid mir nicht bekannt! Es ist alles bezahlt, und was nicht bezahlt ist, war es nicht wert!"
In der Tür erschienen zwei Mädchen, die ihre Kleider in den Händen hielten, und erschrocken Li und die Dienerin anschauten. Doch als sie erkannten, dass sie nur Mädchen, nicht anders als sie selbst waren, kicherten sie und verschwanden mit ihren Kleidern hinter dem Haus.
Der Mann, der gebrüllt hatte, steckte in einem Käfig, in den er kaum hineinpasste, weil er sehr dick war. Darin lag er auf dem Rücken und war völlig nackt. Sein ganzer Körper glänzte schwitzig und quoll an allen Stellen zwischen den Stäben hervor.
"Sie wurde euch zugeteilt, ist eine Dichterin", sagte die Dienerin, indem sie sich zwischen Li und den Anblick dieses Mannes stellte.
Chapter 57. Woi sieht den Herzraub
"Du hast gesagt, du weißt, wo die Küche ist", sagte Baldeina vorwurfsvoll.
"Wart's nur ab, ich find sie schon!", gab Woi zurück. Sollte der Hungerbauch doch froh sein, dass ihm einer half!
Baldeina jammerte weiter. Mehr und mehr war er überzeugt, dass Woi nicht einmal wusste, wo sie waren. Niemanden konnte sie fragen, weil alle schliefen. Nicht einmal die untersten Diener waren um diese Zeit auf. Mal schien der Mond von vorne, dann von hinten. Sie gingen also beständig im Kreis!
Mit einem Mal war es ganz dunkel. Sie tasteten sich an einem Geländer entlang und eine kurze Treppe hinab. Baldeina hörte Geräusche, als würden Pfannen auf das Feuer gelegt.
Vorsichtig öffnete Woi die Tür, die er abgetastet hatte. Er konnte auf den freien Hof sehen. Vor der Bahre des Kaisers standen zwei Frauen. Die eine war jung und führte der Älteren die Hand. Er machte Baldeina ein Zeichen, dass er etwas gesehen hatte.
Voller Hoffnung tastete sich dieser heran und war tief enttäuscht, als er nur ins Freie blickte.
"Sieh nur, sieh, was sie da tun!", flüsterte Woi.
"Ich gehe zurück", zischte Baldeina. "Du führst mich nur in die Irre. Ich höre die Küche. Da, hörst du sie auch, die Pfannen?"
"Das sind die Pferdeställe. Ihre Hufe hast du gehört, mehr ist es nicht! Bleib noch, wir wollen uns das ansehen!"
Aber Baldeina wollte davon nichts wissen. Ihm schien es, als habe Woi ihn absichtlich im Kreis um die Küche herumgeführt. Das mochte auch die Geräusche erklären, die er beständig vernahm. Sein Magen hatte ein besseres Gespür für diese Dinge als ein Freund, der gerne Streiche spielte!
"Ich suche die Küche selbst", sagte Baldeina. "Du bist sowieso keine Hilfe!"
Woi kümmerte sich nicht um Baldeina. Zu sehr hatte ihn die Szene, die er sah, in Bann geschlagen. Da es nun ganz still war, konnte er hören, wie die Ältere zu dem aufgebahrten Kaiser sprach.
"Einen seltsamen Wunsch hast du, aber ich will den Grund nicht erfragen", sagte sie und gab sich keine Mühe besonders leise zu sprechen.
Als das Mondlicht das Gesicht der Jüngeren streifte, sah Woi, dass sie einen Schleier trug. Sie stand bei der Alten, als führe sie nur deren Willen aus.
"Es soll nicht umsonst sein, dass ich mir zeigen ließ, wie zu verfahren ist", sagte die Alte.
Sie gab dem Mädchen ein Zeichen, welches darauf unter dem Gewand ein Messer hervorzog, das von der Art war, die Jäger benutzten, um ihre getöteten Tiere zu zerlegen. Es war kurz und hatte einen gezackten Rücken. Solche Messer gab es in keiner Küche! Wozu führten die beiden Frauen ein solches Jagdmesser mit sich herum?
Die Alte deckte das Totentuch beiseite, öffnete das Oberkleid des Kaisers und dann sein Hemd. All das führte sie wie eine zärtliche Gewohnheit aus. Die Jüngere gab ihr das Messer in die Hand und zog mehrere Tücher unter ihrem Kleid hervor.
"Sie sagten, es sei bei Lebenden leichter zu finden, weil man es schlagen hört. Pah, als hätte ich vergessen, wo es schlug! Werde seinen Platz wohl noch kennen!"
Sie wandte sich der Jüngeren zu. "Schau weg! Du bist noch jung, ich will dir die Augen nicht mit totem Schrekken füllen."
Das Mädchen wandte sich ab, und Woi tat es ihr gleich. Er hörte die Geräusche, die er vom Zerlegen der Tiere her kannte. Wirklich schnitt die Frau den Körper des toten Kaisers auf, um dessen Herz herauszuholen!
Als Woi wieder hinsah, legte sie das Herz bereits in die Tücher, die ihr das Mädchen hinhielt. Anschließend zog sie das Hemd über die offene Stelle des Leichnams und deckte das Kleid darüber. Das Totentuch ließ sie liegen, wie sie es vom Körper gezogen hatte.
Dann ließ die Alte sich fortführen, indem sie das Bündel mit dem Herzen des Kaisers vor sich hertrug. An der Art, wie die Alte sich von der Jüngeren führen ließ, erkannte Woi, dass sie eine Blinde war.
Die beiden Frauen gingen nicht in Richtung Tor, sondern in den Schatten zur Mauer. Dort rief die Alte dreimal wie ein Elendskäuzchen. Von draußen wurde ein Strick geworfen. Sie band den Ballen daran fest und schickte ihn mit einem weiteren Ruf über die Mauer zurück. Erst jetzt setzten sie ihren Weg langsam in Richtung Torwache fort.
Nach dem Schrecklichen, das er mit angesehen hatte, sagte sich Woi, dass es auch für ihn besser war, nicht gesehen zu werden. Er schlich sich auf sein Zimmer zurück, zog seine Sachen aus und legte sich auf das Bett.
Vielleicht hatte er bereits geschlafen, als plötzlich die Türe aufgerissen wurde, und Baldeina hereingestürzt kam.
"Hier bist du!", rief er völlig außer Atem. "Komm, es ist etwas passiert. Sie sind alle draußen. So komm doch!"
Baldeina stand in seinem Nachthemd vor ihm. Darauf waren eine Menge aufgerissener Augen zu sehen. Als Woi sich nicht rührte, wurde er von Baldeina aus dem Bett gezerrt.
Die Gänge waren erfüllt mit Menschen, die Nachtkleider trugen und aufgeregt in alle Richtungen rannten. Zwei Soldaten hatten sich verlaufen und riefen nach ihrem Oberen. Sie trugen Fackeln, während die Näherinnen mit Kerzen vor ihren Zimmern standen und alles betrachteten.
"Was ist passiert?", rief eine Köchin, deren Kleider beinahe von einer der Fackeln in Brand gesetzt worden wären.
"Der Kaiser ist nicht mehr da!", rief eine Näherin die am Fenster stand. "Sie haben seine Leiche geraubt! Auf der Bahre liegt keiner mehr! Alle reden davon!"
Voller Erstaunen blickte Woi sie an. So etwas hatte er nicht erwartet! Er hatte das Geschehen doch nicht etwa geträumt?
"Unsinn", rief eine andere Näherin, "ich habe gehört, er ist gar nicht tot. Hat etwas gesagt und ist aufgestanden!"
"Du meine Güte", rief eine dritte. "Der Soldaten, den ich kenne, hat mir gesagt, es liegt ein ganz anderer auf der Bahre. So hat er gesagt und weiß es wohl besser als ihr alle!"
Baldeina stellte sich vor die Mädchen hin und rief: "Ich war dabei. Ich habe hinausgeschaut und - was schaut ihr mich denn so an! Ich WAR es nicht, ich habe sie doch nur GESEHEN!"
Statt aber diesem Zeugen für sein Zeugnis dankbar zu sein, starrten all die Mädchen mit nicht minder aufgerissenen Augen auf sein Nachthemd.
"Ein Seher, er ist ein Seher!", rief eines der Mädchen dem Gelächter der anderen zu.
"Ohne Nachthemd ist er ein Blindling!", kreischte eine.
"Ein Blindding, ein Blindding!!", quieckte eine andere.
"Woi, was haben sie denn?", fragte Baldeina.
"Sie machen sich lustig über dich!"
"Über mich?" Baldeina zog sofort seinen Bauch ein.
"Über die Augen auf deinem Schlafkleid machen sie sich lustig." Für die Sache seines Freundes trat Woi vor die Näherinnen: "Junge Dame, was ist denn dabei? Überhaupt nichts ist dabei. DIESES Nachthemd darf sie nicht in Erstaunen setzen. Sie sollten sein ANDERES Nachthemd sehen! Alles voll von Dingelings! Keine Stelle, an der nicht in irgendeiner Form und Größe ein Dingeling drauf ist. Vorne, hinten, überall ist es so bemalt, dass eine Dame, und ein Mädchen zumal, nicht wissen würde, wo sie hinschauen sollte vor lauter ..."
Da waren die Mädchen aber schon kreischend fortgelaufen, und sie blieben allein im Dunkeln zurück.
"Du bist gemein", sagte Baldeina.
"Das hast du völlig falsch verstanden", verteidigte sich Woi.
"Ich könnte allen von deinem Fluch erzählen", sagte Baldeina böse. "Denk du nur an die Fee, was sie gesagt hat!"
Nun aber kam ein Trupp Soldaten mit Fackeln den Gang entlanggeschritten. Sie hatten ihren Oberen und ihre Ordnung wiedergefunden und wiesen alle auf ihre Zimmer: "Aus dem Weg - Aufregung für nichts - die Kaiserin hat sich beschwert - die Trauer ist Pflicht - jeden Tumult werden wir unterbinden - den Gang hier frei - Schlaf ist befohlen!"
Chapter 58. Zungsung und die Kaiserin
"He, he, Gesandter Kund!", riefen die Männer.
"Auf da, auf die Tür", polterten sie.
Gerade noch hatte ZungSung Zeit, sein Schächtelchen vom Stuhl unter die Decke zu ziehen und das halbgeöffnete Auge wieder zu schließen, als sie bereits vor seinem Bett standen und: "He da, he da, auf da!" riefen.
"Der verstellt sich!", sagte einer der Soldaten.
"Nein", entgegnete ZungSung, ohne ein Auge zu öffnen, "ich verstelle mich nicht. Allein, ich bin nicht gewohnt, mich im Beisein von Soldaten anzukleiden. Nicht einmal die Augen werde ich öffnen, wenn man mich überfällt!"
Der Obere hatte die freundlichste Stimme. "Es ist ein Befehl. Die Kaiserin hatte alle zu sich gerufen." Er rief seine Männer und sie verschwanden.
Kund Zungsung war sehr erschrocken. Etwas Schreckliches musste passiert sein. Fremde Männer, Soldaten, waren geschickt worden, um in seinen Schlaf einzudringen. Es war nur ein Gutes, dass er nichts von seinem Naschwerk hatte liegenlassen. Sie hätte es zertreten können.
Schon rumorten sie im Nebenzimmer beim Hofmarschall, dem 'Getrockneten', wie ZungSung ihn heimlich nannte, weil er so lang und dünn wie eine Blume war, die zwischen Buchseiten gelegen hatte.
Draußen hörte er die quakende Stimme von Warzgeiz, der für seinen Geiz mit einem Gesicht voller Warzen gestraft war. Ausgerechnet über ihn, einen Arzt, war die Warzenkrankheit hergefallen und ließ sich nicht vertreiben!
Doch nun war es Zeit, den Grund für diesen Aufruhr zu erfahren, und damit vor allem war es Zeit, den Trauerfächer zu suchen. Ohne diesen war es ihm unmöglich, hinauszutreten.
Er sah ihn nicht, neben dem Bett nicht, nicht bei den Kleidern, nirgends! Wollten die anderen seinem Ruf schaden, ihn bloßstellen? Nun da der Kaiser tot war, nun entbrannte der Kampf um die Macht. Er spürte, wie diese Vorstellung in seinen Magen boxte.
Der Richter hatte auf diese Gelegenheit gewartet. Von ihm wurde gesagt, er wolle der einzige Vertreter des Hofmarschalls sein. Doch er war nicht beliebt, bei keinem, und besonders nicht bei den Eunuchen.
Neulich hatte er gesagt - offen und vor allen gesagt - es wäre nun Zeit, dass die Eunuchen eine andere Rolle zu spielen hätten, als Süßigkeiten zu verstecken und Ziervögelchen zu sein. ZungSung selbst hatte Kühles entgegnet, ZartZitter aber war so erbost gewesen, dass er vor lauter Wut in seine Locke gebissen hatte. Der Kaiser habe ihn vertraut und ihn gemocht, nicht anders, als wie er gewesen sei. Die anderen lächelten über ihn, den sie heimlich die 'Dritte Tochter des Kaisers' nannten.
Da war der Fächer ja! Er hatte auf ihm gesessen und ihn nicht sehen KÖNNEN!
Seine Näherin klopfte, die gute Seele. Sie verbeugte sich und bekam eine Leckerei.
"Oh, sie sind kein Kostverächter, Herr Zungsung", rief sie, "kein Kostverächter, nein, aber bitte nur noch diese eine. Oh, wie die schmeckt!"
Doch nun war es gut. Sie brachte eilig seine Kleidung und half ihm. Wenn sie sich nur schnell machen wolle mit dem Anziehen, bat ZungSung. Männer hätten ihn aus seinem Schlaf gerissen, grobe Soldaten. Es müsse einen ebenso schrecklichen Anlass geben!
Die Eunuchen am Hofe des Kaisers waren vorderseitg bekleidet und hinterseitig geschnürt. Wie diese Näherin verstand es keine, die Schnüre zu ziehn, dass sie nicht schnitten, aber nicht zu locker saßen. Bis zu den Beinen musste eine gleichmäßige Spannung sein.
Bald war es vollbracht. Ein Riegelchen Zeit nur war verbraucht. Die Dienerin bekam noch ein Leckerchen, eins mit einer Flüssigkeit, die sie zum Kichern brachte.
"Ich habe meine Dienst an euch getan", sagte sie und ging mit letztem prüfenden Blick um ihn herum.
"Sodann, meine Allerwerteste, sind sie zufrieden?"
"Sodann, mein allerwunderbarster Herr Zungsung, ich bin zufrieden, es ist alles recht."
Ein Diener klopfte an der Tür: "Herr Zungsung, man ruft nach ihnen, kommen sie, kommen sie!"
"Hören sie, meine Gute, ich werde gerufen."
Sie erschreckte sich: "Guterlieberbester Herr, ich halte sie auf! Eilen sie!"
Für sie machte er eine Drehung auf dem Fuß und rief ihr zu: "Vorzüglich der Sitz des Halben! Ich fühle mich wie ..."
Sie schlug sich die Hand vor den Mund, als er einen Hopser vorführte, einen Tanzschritt mit der Tür und fast dem wartenden Diener in die Arme gefallen wäre.
Es war ohne Einwand ein schöner Morgen geworden, in der Art einer getoppten Schaumweincreme mit Kirschglacée und einem Krönchen herabweinender Schokolade!
"Das ist der schwärzteste Tag unseres Haus", sagte der Hofmarschall, der vor einer Sichtwand stand, die einen weißen Berg mit weggeschmolzener Spitze auf schwarzem Grund zeigte.
"Ich schicke meine Männer!", grobte der General.
"Ins Gefängnis mit dieser Frau!", rasselte der Richter.
Der Hofmarschall schwieg sein klügstes Lächeln.
ZungSung schlich sich in den Kreis der Anwesenden.
"Das erzeugt ein großes Aufsehen", sagte der Arzt, der bei der Bahre stand, vor sich den Kaiser, in den er kummervoll hineinsah.
"Wir machen es nachts", sagte der General mit großer Geste, die ZungSung an der Schläfe traf. "Oh, sie müssen entschuldigen", bellte er.
"Wir laden sie ein, dann haben wir sie", schlug der Richter vor.
"Mit verkleideten Soldaten!" Der General schüttelte die Faust und schwitzte. ZungSung war sich sicher, dass der General ausgiebig und bis in den Morgen hinein mit Birnenschnaps zusammen gewesen war.
"Wir wollen nicht, dass etwas bekannt wird", sagte der Hofmarschall, der nun sicherer wurde. "Lasst uns diese ärgerliche Geschichte vergessen. Sie will uns herausfordern, weil sie ein Nichts ist. Wir wollen sie nicht in unseren Rang als Feindin heben. Wem wäre dadurch mehr als ihr gedient?"
"Nichts tun wir, einfach nichts!", schlug ZungSung vor. Alle sahen ihn überrascht an. Hatten sie nicht bemerkt, dass er doch noch gekommen war?
"Wir müssen etwas hineintun", warf der Arzt ein. Keiner verstand ihn. "Wo das Herz war, muss etwas hinein, meine Herren. Erst dann kann ich ihn zumachen", erklärte er.
"Wir begraben ihn ohne sein Herz?" Der General war fassungslos. "Den Kaiser? Ohne sein Herz?" Wo war die Ehre? Selbst die restlichen Stücke von gemetzelten Soldaten setzten die Ärzte wieder zusammen. Und dieser, ein Kaiser, SEIN Kaiser, ohne das Herz, welches ihm geschlagen hatte.
"Ich schlage gerührtes Harz vom Knüppelbaum vor", sagte der Arzt, "weil es nicht zusammenzieht."
"Niemand darf etwas erfahren", sagte der Hofmarschall. "Es ist ja nur etwas vom Körper ... Soll sie es behalten, wenn sie Freude daran hat!"
Der General hatte eine Leere im Kopf. "Ist es ein Befehl?", fragte er heiser und würgend.
"Was hat er gesagt?", fragte die Kaiserin, die allen unsichtbar hinter der Sichtwand gesessen hatte. Ihre Stimme hatte eine Eishaut gebildet.
"Er verlangt, dass es befohlen wird", sagte der Hofmarschall. "Ich denke, er versteht nicht ganz -"
"- ich sehe NICHTS, was sich befehlen ließe", schnitt die Kaiserin in seine Ausführung. Die Eisfläche war glatt geschliffen. Lichthalme und Nebeldickicht suchten sich einen neuen Platz an den Rändern.
Dem General war schwindelig. Ihm schien, dass die Menschen schwankend von ihm abrückten, als erwarteten sie seinen Fall.
"Soldaten", rief der Hofmarschall. "Nehmt euren General mit. Ihm ist nicht wohl."
Chapter 59. Tesla mit dem Herz
Jeden Winkel ihres Hauses kannte Tesla, und doch musste sie an diesem Abend alles wie zum ersten Mal berühren. Mit der flachen Hand fühlte sie den feuchten Abend dem Fenster ab. Baute sich drohend vor dem Schrank auf, um dessen verstiegenen Geruch einzuatmen und dachte dabei, dass sie ihn zur Strafe für seinen Stolz zerkratzen sollte. Sie streichelte das Wandtischchen, das dem Gelackten treu nicht von der Seite weichen wollte.
"Wenn er vor Schmerzen schreit", sprach sie es an, "wirst du ihn trösten. Aber sieh dich vor, er ist ein Böser und meint es nicht gut mit den Tröstern."
Sie suchte etwas, aber es war nicht das Glas. Sie ging im Zimmer umher. Der Geruch des Weines war noch so flüchtig, als sei er dabei, sich wieder hinauszustehlen. Sie ging umher und eigentlich im Kreis und hatte vergessen, was sie suchte.
Das Mädchen stand nur, hielt in den Händen das kristalline Herz und starrte mit den Augen darauf, als könne es ihr aus seiner Schale bersten.
Die Alte fasste die Weinkaraffe und goss sich das Glas voll, obwohl sie etwas anderes gesucht hatte. Dann trank sie aus und setzte es laut auf den Tisch. Das Mädchen kam und legte ihr das Herz in die Hände.
"Sie werden nicht kommen, sich das Herz zurückzuholen. Warum kümmert es sie nicht? Was sind ihre Gründe? Das frage ich mich! Welchen Plan verfolgen sie?"
Das Mädchen nahm das leere Glas vom Tisch und füllte es nach. Sie legte der Alten eine Decke um die Schulter, weil sie wusste, dass sie die Kälte nicht spürte, wenn sie weitertrank.
"Ich finde keine Antwort!", rief die Alte erregt, nahm aber das Glas entgegen, ohne etwas zu verschütten. "Ich schneide dem Kaiser das Herz aus dem leblosen Leib, und niemand kommt, es zurückzufordern. Das ist, als würden sie sagen: 'Worin besteht sein Wert? Solch ein wertloses Ding, was sollen wir es uns zurückholen? Sein Herz war dem Kaiser im Leben nicht von Gewicht und Wert, wieviel weniger noch im Tod. Soll sie es haben, die schrullige Alte, wenn ihr daran liegt!' Frag mich, Kind, was ihre Absicht ist!"
"Was ist ihre Absicht?" Das Mädchen hatte eine neue Flasche Wein geöffnet, diesen in eine Karaffe gegossen und auf den Tisch neben das Herz gestellt.
"Sie fordern mich heraus", setzte die Alte fort. "Sie lassen mich allein mit seinem Herz und fordern mich heraus. In ihren Augen habe ich mir das Falsche aufgegeben. Sie sagen mir: 'Das ist nichts gegen das, was du tun könntest!'? Sie warten, ob ich die Kraft dazu finde. Das ist ihre Strafe für meinen Raub. 'Ist die Tesla zu alt, die Schwarze Fürstin?', fragen sie untereinander, 'dass sie nicht Großes mehr unternimmt. Erfüllt sie dem Kaiser nicht den wahrletzten Willen, den wir in seinen Augen lasen, als er starb?' Frag mich, Kind, was sein letzter Wille war!"
"Was war sein letzter Wille?", wiederholte das Mädchen. Sie war an die Tür getreten und lehnte mit dem Rücken dagegen. Ein feiner Luftzug tastete mit kühlen Fingern ihre Fersen ab.
"Der Kaiser, obwohl er tot ist, verlangt von der Mutter, dass sie den Sohn zurückholt. Hätte der Kaiser es nicht selbst tun können? Nein, dazu war er zu feige vor seinen Schranzen am Hof! Wie ein Kind, das kein Sagen hat, trug er mir, MIR, den Wunsch vor.'Was hält sie ab?', fragen sie. Frag du es auch, Kind!"
"Was hält Tesla ab?" fragte das Mädchen. Irgendwo verlor sich die Frage in Tesla Nachbrüten. Der Wein hatte ihr die Stirn gerötet und die Haare feucht werden lassen. Wie bei einer Sehenden bewegten sich die Augen vor den Bildern, die ihr erschienen.
"Ich habe bereits einen Sohn!", schrie Tesla heraus. "Es drängt mich, dass ich ihm treu bleibe. Als sie den einen Sohn der Mutter aus den Händen nahmen, da trug sie den anderen Sohn weiter in ihrem Herzen. Dort wuchs er heran. Immer, wenn der Kaiser zu mir kam, ist er auch ihm, dem Herzenssohn, begegnet. Er kannte den im Herzen versteckten Sohn besser als den anderen, den gestohlenen Sohn. Was fordert der tote Kaiser nun mehr als der lebende Kaiser! Ihm genügt wohl drüben nicht, was hier er kostbar hielt!"
Das Mädchen hörte draußen die Wellen gegen den Steg schlagen. Sie hatten einander Zeichen gegeben und waren herbeigeschlichen. 'Nun horchen sie', dachte sie. 'Bis eben haben sie noch nicht gelauscht.'
"Mädchen, hol mir ein großes Glas und mach es voll, ganz voll, dass es herunterläuft ... nicht zu wenig, voller sollst du gießen! Jetzt ist es gut, und wisch nicht gleich herum! Gieß ein wenig auf das Trinkerherz ... mehr, gieß drauf! Ich versteh dich nicht: Holst ein Herz noch warm aus einem Toten, weich wie eine Muschel im Sud, und eckelst dich es im Quarz zu sehen! Ist es nicht gut geworden!? Liegt im Rotwein und fühlt sich wohl in seiner Schale, mag ich denken, und stört sich nicht an meinen losen Mund, das Muschelkaiserherz!"
Als der Rotwein sich über den Tisch ausgebreitet hatte und gegenüberliegend zu Boden tropfte, füllte das Mädchen noch einmal die Karaffe. Dann trat sie leise zur Tür und verschwand. Tesla hatte bemerkt, dass die Tür bewegt worden war, aber es war ihr keine Pause wert.
"Ich trink den Wein jetzt allgänzlich leer", rief sie, trank und setzte platschend ab. "Das geschenkte Herz soll in der gleichen Pfütze schwimmen wie mein Entschluss, dem Kaiser den Sohn zu befreien, wie er es will, und mir, wie ich es nicht will. Von jetzt an steh ich zu meinem Pfützenwort und halte mir taub die Ohren zu. Soll der eine Sohn nicht Rede führen gegen den anderen. Keine Kopfschmerzen sollen mich hindern, den Schwur zu suchen, wo ich ihn liegen ließ in dieser verfluchten Zweisohnnacht!"
"Sie ist betrunken", sagte der Tisch streng. "Eine alte Frau, die sich festhalten muss im Sitzen."
"Es ist mir widerlich", so das Glas, "wenn sie mich speichelnd an ihre Lippen nimmt."
"Nie roch ich schlechteren Atem", dazu die Weinflasche.
"Es ist unwürdig, in ihrer Gesellschaft zu sein", sagte der Schrank, obwohl er nur dabeistand und sich eigentlich abgewendet hatte.
'Sie hat es schwer', dachte der kleine Wandtisch, aber er traute sich nicht, vor dem Großen etwas zu sagen.
"Gleich wird sie aufstehen wollen", riefen die schlanken Stühle. "Macht uns Platz, dass wir ihr ausweichen können."
"Sie wird auf uns fallen", klagten die Dielenbretter. "Wir werden sie die ganze Nacht tragen müssen, wenn das Mädchen nicht kommt und sie hochnimmt."
"Das arme Mädchen", bebten die Fenster, "wenn sie uns ansieht, dann ist sie so schön. Dabei sprechen ihre Augen von soviel Traurigkeit."
"Lasst mir die Tesla in Frieden", schnarrte der Korkenzieher. "Gehören wir nicht alle hierher und sind ihr Eigentum."
"Sogar das Mädchen ist ihr Eigentum", gackerten die Gabeln.
"- und hat es schlechter als wir", klapperten die Messer.
"Sie bewegt sich", rief der Tisch aufgeregt. "Der Traum geht ihr abhanden. Der Atem fällt ihr aus dem Schlaf!"
Tesla stemmte die Hände auf den Tisch und drückte sich in die Höhe. So stand sie schwankend und blickte böse um sich, als habe sie alles mitangehört.
"Es ist besser, eine Blinde hat in ihr drin keinen Sohn. Wie kam sie zu ihm? Warum zeigt sie ihn nicht? Welcher ist der Vater? Was ist in ihrem Bauch anders als roter Wein?"
So wischte Tesla wütend die Weinlache vom Tisch, dass Tropfen noch den Schrank an seinem Bein trafen. Ein Regen von Spritzern ergoß sich über die Stühlen.
"Wer ist ein besserer Vater als der Kummer? Nennt ihr mir einen, ihr Antworten! Wer sorgt sich mehr um sein Liebstes als eine Schrullige? Sagt schon, ihr Klugschrauben! Wer war mir treuer je als das WÜNSCHEN? Seid verdammt, wenn ihr nur meinen Frieden wollt!" Tesla drohte mit der Gabel, bohrte sie in den Tisch, und fiel rücklings ihren Schlafsitz zurück.
Chapter 60. Li als Nadims Freundin
Prinzessin Nadim sah dieses Mädchen zum ersten Mal. Es stand und betrachtete eines der Bilder. Nadim stellte sich hinter sie und betrachtete mit ihr das Bild. Das Mädchen bemerkte sie nicht.
Nadim hatte noch nie dieses Bilder betrachtet. Eigentlich hatte sie immer gedacht, dass es albern war, eine Blüte und einen Vogel zu betrachten, der auf eine Wand gemalt war.
Schließlich, als ihr das Betrachten zu lang geworden war, sprach sie das Mädchen an. "Wenn du eine Dienerin bist, warum arbeitest du nicht? Wenn du aber keine Dienerin bist, wer bist du ihr dann?"
Erschreckt wandte sich das Mädchen um. "Ich bin keine Dienerin, das bin ich nicht!" Sie schien nicht einmal zu wissen, dass Nadim die Prinzessin war.
"Ich kenne dich nicht", sagte Nadim streng.
"Ich bin die Li", sagte das Mädchen und wurde rot.
"Ich kenne keine Li, genausowenig wie diesen Vogel, den jemand auf unsere Wand gemalt hat."
"Ich bin mit einem der Fürstensöhne gekommen, als seine Chronistin."
"So, so", sagte Nadim spöttisch. "Hat er schon ein so bedeutendes Leben, dass er eine Chronistin braucht?"
Li lächelte und legte den Finger auf die Lippen. "Er weiß nicht, was eine Chronistin ist. Er denkt, dass eine Chronistin Gedichte schreibt. Es wäre mir lieb, wenn du mich nicht verrätst."
"Ich bin die Prinzessin Nadim und verrate niemanden, den ich mag!"
"Du bist ... ihr seid eine der Prinzessinnen?", fragte das Mädchen erschrocken. "Das wusste ich nicht."
"Sehe ich nicht wie eine Prinzessin aus?", fragte Nadim und war eigentlich empört.
"Irgendwie nicht", sagte Li. Eine Prinzessin hatte sie sich anders vorgestellt. Nun war es zu spät, die Unwahrheit zu sagen.
"Wie sehe ich denn aus?"
Das Mädchen betrachtete sie so eindringlich, wie sie eben den Vogel auf dem Bild betrachtet hatte.
Weil sie wieder sehr lange zum Betrachten brauchte, fragte Nadim ein weiteres Mal: "Sehe ich wie jemand aus, zu dem man 'du' sagt?"
"Ich habe wirklich gedacht, ihr seid ein Mädchen wie ich", sagte Li mutig. "Ich habe mir sogar vorgestellt, wir könnten Freundinnen werden."
"Was ist eine 'Freundin'? Was bedeutet dieses Wort?"
"Ihr wisst nicht, was eine 'Freundin' ist?"
"Nein, weiß ich nicht. Wenn eine 'Freundin' nicht eine Dienerin, eine Kaiserin oder eine Schwester ist, dann weiß ich nicht, was eine 'Freundin' ist."
"Ich habe mich doch nur vertan", beeilte sich Li zu sagen. "Wenn ich gewusst hätte, dass ihr eine Prinzessin seid, wäre mir das mit der Freundin doch nicht eingefallen!"
"Also ist man entweder eine 'Prinzessin' oder eine 'Freundin', nicht wahr?"
"So ist es", sagte Li erleichtert.
"Und was IST nun der Unterschied?" Nadim dachte nicht daran, Li entkommen zu lassen.
"Eine Prinzessin sprechen alle mit 'Sie' an, aber eine Freundin ist ein 'Du'. Das wäre ein Beispiel."
"Also befehle ich dir, mich mit 'du' anzureden, damit ich eine Freundin bin", sagte Nadim kurzentschlossen.
"Ja, natürlich, dann ... bist du eine Freundin", bestätigte zögernd Li und gestand der Prinzessin: "Weißt du, ich hatte noch nicht viele Freundinnen ... eigentlich nicht eine einzige."
"Und ich hatte immer nur eine Schwester. Wir, Prinzessinnen sind manchmal sehr einsam."
"Ich habe davon gehört", sagte Li.
"Kennst du noch andere Prinzessinnen?"
"Ich kenne viele Prinzessinnen. Mein Vater und meine Amme haben mir als Kind Geschichten von ihnen erzählt."
"Ach, die mag ich nicht. Wer sich so etwas ausdenkt, hat keine Ahnung, wie wir Prinzessinnen wirklich sind!"
Da musste Li nun lachen. Der kleine Vogel vom Wandbild hüpfte ihr übermütig auf dem Kopf herum.
"Was lachst du denn?", fragte Nadim. Fast wurde sie böse. Schliesslich stand eine echte Prinzessin vor Li, da hätte sie zuhören können statt zu lachen.
"Es ist nur", erklärte Li und war wieder ernst, um Nadim nicht zu kränken, "weil es Märchen sind. Die Prinzessinnen haben sie sich nur ausgedacht ... eben jeder kann eine Prinzessin sein, in einem Märchen."
"Ich jedenfalls mag keine Märchen! Wer wirklich eine Hexe ist oder eine Fee, eine Prinzessin und ein Prinz, der mag keine Märchen, glaube ich."
Li überlegte. "Da hast du wohl recht. Ich mag wohl nur den, der sie erzählt. Dann stelle ich mir vor, dass ICH die Prinzessin bin ..."
"Sei froh, dass du keine bist", antwortete ihr Nadim. "Manchmal ist es schwer als Prinzessin."
Li betrachtete den übermütigen, kleinen Vogel und dachte, dass er in einem Käfig sicherlich unglücklich wäre.
"Helfen sich Freundinnen auch?" Nadim hatte einen plötzlichen Einfall.
"Freundinnen sind füreinander da", sagte Li ernst.
"Dann musst du mir etwas über den Fürstensohn erzählen, den du kennst. Oder ist er auch deine Freundin?"
"Nein, er ist keine Freundin", sagte Li lachend.
"Magst du ihn? Ich meine, würdest du ihn heiraten?"
"Nein, heiraten würde ich Woi auf keinen Fall!"
"Und den anderen?"
"Auch nicht - noch weniger!"
"Aber einen von ihnen MUSS ich heiraten", sagte Nadim traurig.
"Woi ist ganz nett", sagte Li. "Ich kann mir nur nicht vorstellen, dass er verheiratet ist. Er ist irgendwie noch ein Junge!"
"Ich bin auch ein Mädchen. Wenn ich verheiratet bin, dann bin ich eine Frau, sagen sie."
"Vielleicht, wenn er mal kein Junge mehr ist, wird Woi ja genauso nett wie sein Vater. Der Fürst ist wirklich ein sehr lieber Mensch."
"Siehst du", sagte Nadim glücklich, "nun kannst du dir doch vorstellen, dass er mit mir verheiratet ist!"
"Magst du das Bild?", fragte Li plötzlich.
Nadim sah sich das Bild noch einmal genau an. "Nein", sagte sie schließlich. "Ich mag Vögel und auch Blüten. Aber warum malt einer etwas, von dem es genug gibt?"
"Siehst du", sagte Li. "Genau das hätte Woi auch gesagt - oder jedenfalls gedacht!"
Erst strahlte Nadim, dann überlegte sie. "Das würde doch JEDER sagen!", sagte sie unwillig.
Li blickte heiter fragend zurück.
"Du meinst, nicht JEDER denkt so, sondern nur wir, ich und der Woi?"
"Von allen, die ich kenne, seid ihr die einzigen!", bestätigte Li feierlich.
"Freundinnen sagen einander immer die Wahrheit?"
"Freundinnen dürfen sich nicht lügen!", sagte Li.
Nadims Blick verlor sich in der Ferne, während Li zum Himmel emporsah, der mit dunklen Wolken den Abend nicht erwarten konnte.
"Komm", sagte Li, "es wird kalt ... Kennst du das Märchen von der Prinzessin, die einen fürchterlichen Schnupfen bekam, und niemand konnte sie erlösen, und der König war ganz unglücklich, und statt der schönsten Prinzen lud er die tüchtigsten Ärzte ein."
Nadim hielt ihr lachend den Mund zu. Dann verließen sie den Garten. Es hätte nicht viel gefehlt und sie wären Arm in Arm gegangen.
Chapter 61. Woi im Sündenviertel
Von den äußeren Mauern der Nachtstadt hingen Lampions herab. Im Gehen betrachteten sie sich: erst Baldeina schlank wie ein Baumjährling, Woi groß wie ein Hüne - dann Baldeina breit wie ein Haus, Woi kleiner als ein Kellertier.
Das Viertel der Sünde war von einer so niedrigen Mauer umgeben, dass Baldeina darüber blicken konnte und begeistert ausrief: "Da ist es, Woi! Ich sehe, ich sehe es!"
Am Eingang standen alte Frauen, die aus zitternden Händen Blumen und aus zahnlosen Mündern Geflüstertes anboten. Manche der Ankömmlinge hatten die Hand voll Blumen, andere lehnten ab, sahen die alten Frauen verächtlich an.
Baldeina nahm sich eine Blume. Die alte Frau ergriff seine Hand und flüsterte ihm etwas zu. Sie zog ihn durch das Tor, bellte und hustete die anderen Frauen weg. Baldeina wollte sie abschütteln, aber sie löste ihre krallige Hand nicht von seinem Arm.
Als Baldeina um Hilfe rief, kam ein Mädchen und vertrieb die Alte, indem sie drohte, ihr die Blumen in den Mund zu stopfen. Baldeina wollte sich bei seiner Retterin bedanken und ihren Namen erfragen, aber sie war stumm und deutete ihnen knapp, welche Richtung sie zu nehmen hatten.
Auf beiden Seiten war der Weg von aufgestellten Pechfackeln beleuchtet, die in ein kleines Wasser gesteckt waren, das links und rechts des Weges floß. Hinter jeder dieser Fackeln stand ein Mädchen, drehte sich mit dem Umhang für jeden Blick.
Eine war ganz dick. Die Fettwulste tanzten auf ihren Knochen. Der Mann, der vor ihnen ging, rief ihr etwas zu. Sie rief zurück. Als er auf sie zukam, warf sie ihren Umhang wie ein Netz über ihn und zog ihn auf die Wiese in die Dunkelheit hinter den Fackeln.
Baldeina starrte ihr nach. "Auf der Wiese, auf dem Boden, unter diesem schwarzen Umhang, hörst du sie? Woi, da sind noch mehr!", rief er.
Tatsächlich hoben und senkten sich in der Dunkelheit weitere schwarze Hügel, die zweierlei Stimmen besaßen. "Gutja, Gutja, Gutja", riefen die hellen. "Ummhach, Ummhach, Ummhach", antworteten ihnen die dunklen.
Ein Hügel, der stillgelegen hatte, gab nun einen Mann frei, der sich ängstlich nach allen Seiten umsah und mit gesenktem Kopf in die Dunkelheit steuerte.
Als er fort war, tauchte der Kopf von einem Mädchen auf. Sie hatte ein Geldstück zwischen den Zähnen, das sie sich in die Backen schob, wo es auf andere stieß. Als sie Woi und Baldeina bemerkte, die ihre Blicke nicht lösen konnten, lachte sie ihnen zu, dass es in ihren Backen klickte und klackte.
Das Mädchen schlenderte zum Bach, machte eine schwungvolle Kehrtwendung und hockte sich darüber, indem sie mit einer Hand aufreizend den Umhang hob, während die andere Hand verschwand. Am Plätschern hörten sie, dass sie sich wusch. Bei ihrer Verrichtung sah das Mädchen Baldeina saugend an und hatte sich ein Geldstück auf die Zunge geschoben.
"Heißt das, wieviel es kostet?" fragte Baldeina zur der Seite, wo niemand stand. Sie lachte, dass es nur so klirrte in ihren Backen.
Woi zog ihn nun mit Gewalt weiter. "Das ist nicht wichtig", flüsterte er, "wir haben ja doch kein Geld!"
Der Weg schlängelte sich zwischen den Fackeln hindurch. Während die Mädchen immer jünger und hübscher wurden, waren die Hügel diesselben und machten mit zwei Stimmen nichts anderes als "Gutja!", und "Ummhach!"
Überall blieb Baldeina stehen, bekam nicht genug davon, zu sehen und zu horchen. Als er wieder stehen blieb, wandten die Mädchen sich ab.
"Was ist denn?" fragte Baldeina erschreckt.
"Sie wollen dein Geld. Für schöne Worte kannst du hier nichts kaufen", erklärte Woi leise.
"Aber wie können sie wissen, dass wir nichts haben?"
"Sie riechen, wieviel du dabei hast", sagte Woi. "Das wissen sie genauer als du selbst. Also komm, sonst werden sie böse."
"Werden sie böse?"
"Was meinst du, wofür die Pechfackeln sind?", flüsterte Woi ihm ins Ohr. "Damit du besser sehen kannst, dass sie nichts anhaben??"
"Wirklich, du meinst, sie ...?"
"Ja, sie stecken dir die Fackeln in die Hose."
"Brennend?", rief Baldeina und fasste mit beiden Händen seinen Gürtel.
"Meinst du, sie löschen sie erst im Wasser? Das wäre ja dann eine Riesensauerei."
"Du machst einen Spaß, nicht wahr!?", sagte Baldeina. Aber er zog Woi jedenfalls eilig fort. Sein Gang wirkte steif, solange sie nicht die letzte Pechfackel hinter sich gelassen hatten.
Nach einer scharfen Kehre des Weges wurde der Untergrund fest. Häuser wandten ihnen den Rücken zu, bis sie vor einem Haus standen, dessen offene Tür sie einlud, einzutreten.
Auf einer kleinen Bühne saßen zwei Mädchen und spielten eine Musik. Eine Geige warf ihre verweinten Klänge an die Decke, eine Harfe schwebte auf durchgeschlissenem Rock über den Boden.
Im Inneren herrschte großes Gedränge. Als der Gesang der Männer über die Musik herfiel, wurden sie an einen Tisch geschoben und hingesetzt. So wild die Männerkehlen auch gegen die Musik vorgingen, diese erhob sich immer wieder, fand irgendwo eine Lücke, um im Armenkleid hervorzublinzeln.
Die Stühle, auf denen sie saßen, waren wackelig. Am Tisch war kein Halt zu finden. Der ganze Raum war so von umherschwappenden Männergesang erfüllt, dass es sie hin- und herwarf.
Ein schwerer Mann, der auf Baldeina gefallen war, schüttete Woi mit seinem Getränk voll. Traurig zeigte er sein leeres Glas und begann, seine Geschichte zu erzählen. Baldeina versuchte, ihn von seinem Schoß herunterzubekommen, aber der Mann war beladen mit einem schweren Schicksal und hatte die Kraft nicht und wollte auch nicht, solange das Glas leer war und das Leben ihn für Übeltaten ausgesucht hatte, und das Trinken ihm den Durst so groß hatte werden lassen, und die Frauen ihm das Geld abnahmen, für das er so hart gearbeitet hatte, anständig und schwer, nicht wie diese Huren, die soviel verdienten, dass einem schwindelig wurde.
"In einer Nacht, in einer Nacht, in einer Nacht" rief er und klopfte mit dem leeren Glas auf Baldeinas Kopf, "wenn ich nicht selbst zugesehen hätte, wenn ich nicht selbst zugesehen hätte, selbst, selbst zugesehen hätte!"
Es gelang Baldeina, mit dem Stuhl umzukippen, was den schweren Mann mit seinem schweren Schicksal an einen andern Tisch beförderte. Immer wilder drehte sich der Raum. Sie wurden in Ecken gedrückt, gegen völlig leblose Körper gepresst, duckten sich unter wüststen Flüchen, streiften einen Streit um ein herrenloses Getränk und saßen mit einem Mal auf der Straße auf dem Pflasterboden, griffen nach einem Tisch, wo keiner war, und sahen verdutzt, dass sie heil geblieben waren.
Im Licht der Türöffnung hatte Woi gerade noch den Umriss eines Mannes gesehen. Er war klein gewesen, fast wie ein Zwerg. Nun war er fort, eingetaucht ins Schwarz der Mauern. Die Häuser hatten keinen oder einen geheimen Eingang. Nirgendwo war eine Tür zu sehen. Die Fenster waren mit bemalten Stoffen abgehängt. Manches Mal ließen sie einen kleinen Spalt frei.
Immer wieder stellte Woi sich auf die Zehenspitzen. So erhaschte er einen Blick auf ein Mädchen, dass in durchsichtigster Seide aus einer Kanne Tee eingoß. Auf dem Kissen lag faul ein gelber Fuß und ließ sich bedienen.
In einem anderen Haus saß ein nacktes Mädchen auf dem Schoß eines angezogenen Mannes und spielte mit etwas, das aussah wie ein Zinnsoldat. Im nächsten Fenster wurden einem Mädchen die Lippen rot angemalt. Sie band sich die Haare hoch, dass man den schwarzen Flaum in ihren Achsel sehen konnte. Ein Fenster weiter war der Spalt größer. Als Woi hineinlugte, blickte er in das Gesicht eines Mädchens, das hinausgeblickt hatte und nun mit einem Ruck den Vorhang zuzog.
"He, ihr beiden", rief sie ein alter Mann an, auf dessen poliertem Schädel die Lichter der Lampions tanzen, als sei der Kopf ein kleiner Hügel der Sünde. "Ich kenn' euch. Ihr wohnt beim Kaiser an seinem Hof. Seid gar von hoher Geburt."
Schnell sammelten sich die Mädchen und machten einen Kreis von Mündern. Baldeina war nicht wenig stolz und machte eine Verbeugung. Er strich sich über den Bauch, eine Angewohnheit, die er hatte, wenn ihm keine rechten Worte einfallen wollten.
"Ihr habt nichts?", krähte der Mann.
"Geld meinen sie?", fragte Baldeina höflich.
"'Geld meinen sie?'", äffte der Mann.
"Ganz wahr, die Herren", schrillten die Mädchen, "hier tun sie's für Geld."
"Das ist nun leider, dass wir nicht vorbereitet waren ...", sagte Baldeina. "Sag' du doch auch etwas, Woi!"
"Ich hab' gleich gesagt, dass sie es nicht mögen."
Da begannen die Mädchen zu singen, schrill, aus schnappenden Mündern:
Hihi, haha, Hihi
Kein Held ohne Geld
Kein Tanz ohne Glanz
Keinen Blick ohne Klick
Keine Hur für 'nen Schwur
Keine Musch für 'nen Tusch
Keinen Ritt für 'ne Bitt
Hihi, haha, Hihi!"
"Sehr schön", sagte Baldeina. "Ich hätte nicht gedacht, dass sie auch singen ... ich meine, dass sie so schön auch singen können."
"Was sind sie, Hochgestellte!?", rief eine. "Ei, die hab ich jeden Tag ein Dutzend, die sich hochstellen!"
"Was sind sie, Wohlgeborene!?", rief eine andere. "Ei, im Saustall kommen die Schweine mir alle gleich!"
"Was sind sie, Herrschaften!? Sind das die Herren, die mit dem Schaft mich reihnach grüßen?"
"Kommt, Mädchen", rief der Mann, "wir zeigen ihnen, wo die Feinen zwischen Pflaum und Birnen wählen, wo die Edlen im Schwarzhaar baden und der Hohe seine Ernte läßt. Wo's für die feinen Herrschaft umsonst was gibt!"
Zwei Umhänge wurden nach vorne gereicht und mit merkwürdig faulem Geruch über sie geworfen. Woi hörte, dass Baldeina: "Aber, meine Damen!" rief, was uferlose Heiterkeit hervorrief.
"Nehmt den anderen, lasst mir diesen!", hörte Woi eine Stimme mit Schärfe sagen. Für kurze Zeit war es still. Jemand egriff Wois Hand, riss mit einem Ruck den Umhang herunter und zog ihn aus dem Kreis heraus in die Dunkelheit.
In der Entfernung hörte Woi die Rufe Baldeinas und das Gelächter der Mädchen, den Ansporn des Mannes, aber er ließ sich von der Hand führen, bis sie an einem Ufer zu stehen kamen, wo Woi flache Häuser buntbeleuchtet auf dem Wasser liegen sah.
Der Mann, der Woi entführt hatte, rückte seine Gestalt ein wenig ins Licht.
"Erkennst du mich?", fragte er.
"Sie sind der ...", sagte Woi.
"Ja, der Zwerg!", vollendete der Mann. Das Wort schien ihm nichts anhaben zu können.
"Was machen Sie mit meinem Freund?", fragte Woi.
"Soldaten kommen und nehmen in mit. Es passiert ihm nichts."
"Und warum nicht ich?"
"Das ist einfach so", sagte der Zwerg. "Ich wollte, dass wir uns kennen."
Chapter 62. Li beim alten Schreiber
Als der alte Mann Li seine Hand entgegenstreckte, zitterte sie, wie seine Stimme bebte. "Sieh mal, wie alles ist, mein Kind. Bin für einen Schreiber unbrauchbar. Wie freue ich mich, wenn jemand kommt. Wie freue ich mich, wenn der Hofpoet LoBe eine Schreiberin von Gedichten schickt."
Die Tasse Tee in seiner Hand schlug solche Wellen, dass er sie schnell wieder absetzten musste, um nicht alles zu verschütten.
"Soll ich euch helfen?", fragte Li. "Ich kann die Tasse halten und sie euch zum Mund führen."
"Nein, da will ich lieber verdursten. Was ist das für ein Dasein? Kein Leben, dass ich leben möchte. Ein Schreiber, der nicht schreiben kann. Ich werde Tusche trinken, soviel, dass ich mich vergifte, wie es sich für einen Schreiber gehört, der nicht mehr schreiben kann. Meine letzten Tränen zeichnen schwarz ein Wort, mit dem ich Abschied nehme."
"Das solltet ihr nicht sagen", bat Li ihn. Der alte Mann hatte nur den Stuhl, auf dem er saß. So musste sie stehen und er zu ihr aufsehen.
"Ich kann nicht einmal den Tee allein trinken. Wie könnte ich mit Tusche vergiften? Nicht einmal das ist mir vergönnt. Ich werde dich beizeiten um einen kleinen Dienst der Freundschaft bitten."
"Ich soll euch helfen, dass ihr euch mit Tusche tötet? Das kann ich nicht!"
"Muss ich also siechen und warten. Zitternd steh ich in der Reihe und zeig den Schreibern des Todes mein Recht ... Wenn ich dir sage, im Bett heute morgen, als ich den Blick hob und mein Fuß die Decke abstreifte, da zitterte auch er, ein etwas wackeliges, sagen wir 'unsicheres' Zittern, nennen wir es ruhig 'Vorzittern'. Das sollen alle sehen, die sich in der Reihe zum Tod nach vorne drängen!" Hier unterbrach er sich, nahm Lis Hand und gab ihr von seinem Zittern ab.
"Eigentlich möchte ich etwas über die Verbannung wissen." Vorsichtig zog Li die Hand fort, die er vergessen hatte, ihr zurückzugeben.
"Die dort sind, musst du fragen! Wer nicht dort war, weiß nicht, wie es ist. So darf sich jeder seinen Schrekken aussuchen."
"Der Dichter sagt, dort findet jeder die wunderbarsten Gedichte, wenn er sich nur nach ihnen bückt."
"Aus welchem Munde weiß dein Dichter das? Nicht wahr, darüber schweigt dein guter Dichter!"
"Kam niemand je zurück?"
"Um zu berichten? Die Strafe ist, dass niemand weiß, wie es dort zugeht. Die Verbannung gleicht dem Tode darin. Hörtest du je von einem, der von DORT zurückkehrte?"
"Das ist schrecklich!"
"Für uns schrecklicher als für die, die dort sind. Denk an den Tod! Der Mensch DARIN lebt ohne Angst."
"Wie kommt man aber hin."
"Sieh mich an. Ein Fädchen noch, dann bin ich ruhig ..."
"Die Verbannung meine ich. Wie kommt man dahin?"
"Sie kommt von außen wie der Tod und kommt zu dir, nicht du zu ihr!"
"Dann muss ich ein Verbrechen begehen?"
"Weiß nur zu sagen, dass die Verbannung nicht sehr in Gebrauch ist. Der Mensch zeigt sich vor dem, was gewiss ist, ängstlicher als vor dem Ungewissen. Die Furcht packt ihn vor dem Gesehenen. Dagegen das Ungesehene raubt ihm keinen Schlaf. Die Krätze fürchtet er, das Zittern, den Hunger, aber nicht den Tod. Das Verlies, die Zwangsarbeit, die Ketten fürchtet er, aber nicht die Verbannung. Fast wie der Tod ist sie vergessen worden."
"Für die Verbannten ist es eine doppelt ungerechte Strafe, wenn niemand an sie denkt!"
Als er sah, dass die Hand des Kindes von allein gezittert hatte, war der alte Schreiber gerührt.
"Ach, mein Kind, will lange ist es, dass du am Hofe bist?"
"Tage sind es."
"Also eine ganze Reihe von Stunden, eine schier endlose Kette von Minuten und Sekunden, die man zu zählen aufgegeben hat."
"Es ist wegen meinem Vater", begann Li. "Das ist der wahre Anlass, wegen dem ich euch besuche."
Dem alten Mann war es recht. War es wenigstens eine Sache, die ihn nützlich machte.
"Er wurde vor langer Zeit verbannt. Fast am Anfang meines Lebens war es! ... Ich dachte, weil ihr so alt seid, wisst ihr vielleicht den Grund dafür."
"Weiß nichts von diesen Dingen", sagte der alte Schreiber. "Da wurde nichts geschrieben, nur geredet im Geheimen."
"Selbst ihr wisst nicht, warum es geschah ...", sagte Li hoffnungslos.
"Der Grund und alles, was sich fassen lässt, ging mit deinem Vater in die Verbannung. Ich sagte schon, das ist die Strafe."
"Dann gibt es niemanden, der mir helfen kann?"
"Kind, die alte Zeit ist längst in jungen Köpfen tot!"
Um sie aufzuheitern, setzte sich der alte Schreiber die betrübten Augen des Mädchens auf, lieh sich von ihren Lippen den dünnen Unterstrich der Ratlosigkeit, wollte sich am Rot ihrer Ohren versuchen, als die Tür zu Seite fegte, und ein Junge mit beiden Beinen in das Zimmer sprang, als sei sein eigentliches Ziel, durch den Boden zu stoßen, um in das Zimmer darunter zu gelangen.
"Meister", rief er, "stellt euch vor - Wer ist denn die hier? - Kenn ich die? - Verstehe, soll die nicht kennen! - Also ich gehe, wie ihr gesagt habt -"
"Nimm diesen Lappen hier, Li", rief der Meister dazwischen, "und stopf ihm schnell den Mund. Es ist mein Lehrling, die Schande meines Alters, der Ruin meiner Gelassenheit, das Verderben meiner - "
"- Meister, Meister, hört mich erst an! Es ist so schrecklich viel passiert auf meinem Weg. Ja, wo beginn ich denn, ach ja, ich sollte doch - was war es noch? - für euch suchen. Fand sie aber nicht und verlor sie aus meinem Kopf, weil ich mich so sputete, mit langen Schritten über den Gang eilte und suchte. Es wird mir einfallen, was ich suche, dachte ich, wenn ich nur kräftig ausschreite. Mit einem Mal sind alle gerannt, und ich dachte, wo sie hinrennen, kann es nicht mehr weit sein. Wird auch für mich richtig sein, genau dort, nur dort zu suchen. War also das Beste in eurem Sinne sicherlich, mitzulaufen und Ausschau zu halten, dass mir wieder einfällt, was ihr zu suchen mir aufgabt. Hört doch, hört! Sie riefen alle in meinen Kopf hinein, dass die Kaiserin eine Versammlung halte. Da rannte ich, weil alle rannten, für euch, der ihr wegen eurem Zucken nicht mehr laufen könnt, dass wenigstens ich an eurer Stelle bin und euren Ohren bringe, was die Kaiserin auch euch zu sagen hat, und habe hingemerkt, dass mir nichts entgehe, denn gesehen habe ich nichts, weil vor mir alle größer waren. Aber einer der Kopfhöchsten hat gesagt: 'Da ist die Kaiserin, sie spricht, aber man sieht sie nicht.' Nun, dachte ich, auch wenn ich größer wär, hätt ich sie nicht gesehen, ist die Größe also recht. Nun lauscht ihr gespannt, nicht wahr!? Es ist die Kaiserin, hab ich gedacht und war richtig froh, dass sie mich nicht sieht und nicht denkt, dass ich nicht hören soll, was sie sagt, und mich wegschickt und gar nicht drauf hören will, dass ich nur für euch da bin, weil ihr ja den Knochenrappel habt und euren Lehrjungen schickt, dass er euch alles besorge und sich merke und genau hinschaue, dass er für euch und für sich was lerne ... was sie gesagt hat? Die Kaiserin? Ja, was! Natürlich hat sie nicht gleich angefangen, stiebenstubenstill waren sie alle, man hätte die Knochen von euch klappern hören, so still waren sie alle ... bitte, ich sag, wie sie's gesagt hat. So also hat sie gesprochen: Weil wir ihre Lieben, ihre Wackeren, ihre Guten, ihre Eifrigen seien, habe sie uns mitzuteilen, dass in der Nacht der Kaiser in die Flammen gebracht worden sei, dass er brenne im Kreise seiner Geliebten, wie er es sich gewünscht habe. Man solle ihm seine Ruhe lassen, ihn nicht weiter stören mit Belangen. Auch mit den Gerüchen habe es nun ein Ende, weil an dem Kaiser nichts gefehlt habe, als dass er in die lohernden Flammen komme. Wer sich gesagt habe, dass der Kaiser kein Herz habe, der sei ein nachtfinsterer Schurke und das Brot nicht wert, das er aufgegessen habe. So hat die Kaiserin gesagt, geweint hat sie, weil ihr alles sehr nah gewesen war. Und viele habe geweint, weil es so unausgesprochen schrecklich war. Der Dicke hat immer geheult und die Nase hochgeschneuzt, da habe ich nicht mehr alles so genau verstanden. Der Kaiser sei nun in Asche verwandelt und bleibe so, weil ein Korken auf der Urne ist. Das sei eine Angelegenheit, der er sich nicht schämen müsse, sondern er solle alles mitmachen, was die anderen Kaiser da oben so den ganzen Tag machten, damit er nicht so einer werde, der welcher keine Zähne hat und ihm die Spucke aus Mund läuft, und er ins Bett macht und am Morgen nichts von nichts mehr weiß, weil er in seinem Kopf einen Haufen von Scherben hat und das Schütteln in jedem seiner Glieder und das Zittern -"
Der Schreiber hatte sich erhob, tat einen sicheren ersten und einen schnellen zweiten Schritt und gab seinem Lehrjungen eine in Ansatz und Ausführung völlig ungezitterte Ohrfeige.
Chapter 63. Geschenke der Prinzessin
Woi schwitzte, während Baldeina gähnte, was beides in gleicher Weise die Dienerinnen in Empörung versetzte.
"Meine Herren", rief die, welche die weiße Paste angerührt hatte, "sie machen Risse, wenn es sich härtet. Es wird aussehen, als wäre ihnen das Gesicht zersprungen. Was sollen die Prinzessin von ihnen und unserer Arbeit denken!?"
Woi gähnte. Dafür zupfte ihm die Dienerin die Augenbrauen zur Strafe, dass es schmerzte. Eine Träne lief ihm aus dem Auge und wurde mit einem Wattestäbchen unschädlich gemacht.
Beide trugen sie die völlig gleiche, völlig weiße Kleidung. Eine Halskrause, weiße Bastschuhe und Handschuhe aus Seide, die für Woi so lang waren, das sie vorne umknickten, während er Baldeinas wohlgestaltigem Fingerspiel zusah.
Als alles fertig war, fühlte sich Woi so unwohl, dass er am liebsten fortgerannt wäre. Baldeina war neben ihm in der kurzen Zeit einen Kopf gewachsen. Eine fette Fliege umsummte ihn achtungsvoll.
"Meine Herren, es ist soweit", sagte der Diener. "Wir können nichts mehr für sie tun. Wir wünschen ihnen Glück und Gedeih."
Von den Dienerinnen wurden sie in einen hohen Raum geführt. Leise flüsterte eine in ihren Rücken: "Bedenken sie - das Zimmer der Kaiserin!"
Als Woi die Soldaten neben der Tür sahen, die Haltung angenommen hatten, überließ er die Fluchtgedanken sich selber.
"Hinter dem Standbild - die Prinzesinnen!", teilte ihnen die Flüsterdienerin mit.
Vorn auf dem Bild turnte ein kleiner Singvogel kopfüber an einem blühenden perlschnurdünnen Kirschzweig. 'Hier steigt mir keine Katze nach!', lachte es frech aus seinen Schwarzbeeräuglein. Darunter schritt sittsam und ernst eine Frau durch einen kleinen Park. Die Mauern, die ihn umgaben, waren vom selben Grau wie ihr langes Kleid. Sie war wohl in Gedanken bei sich und wandte dem Betrachter den Rücken zu, als habe sie niemanden bemerkt.
Auf Baldeinas Gesicht lag ein Lächeln in den letzten Zügen, während Woi an einem vertrockneten Husten schluckte. Erst als die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte, bemerkten sie die Kaiserin.
Sie schlenderte und sah sich nicht um, als durchgehe sie einen leeren Raum, übertraf die Standbilddame mühelos an Innigkeit und Seelenverlorenheit. Überrascht schlug sie die Augen auf, als sie vor Baldeina zu Stehen kam.
"Bitte", sagte sie. Nichts als ein 'Bitte', das keine Bedeutung in Besitz nahm. Mit leichtem Schritt-Schritt trat sie zurück, als wolle sie sich nicht von den wild pochenden Herzschlägen des jungen Mannes treffen lassen.
Kurz streifte ihr Blick den anderen jungen Mann, der ihr trotzig entgegensah und ihr äußerlich ungelenk und innerlich ungestalt zu sein schien. Hatten sie sich verabredet, dass der eine von ihnen Reiz und Nehmeherz besitzen durfte, während der andere Verzicht übte? Konnte es sein, dass 'Alles' und 'Nichts' wie Freunde nebeneinander standen?
"Sie", sagte die Kaiserin, "haben Geschenke für sie."
"Bitte", sagte Baldeina. Auch dies nur ein 'Bitte', das Bedeutungen umherstieß. Als ihm das auffiel, war es zu spät und den Augen der Kaiserin nicht mehr zu entreissen.
"Dort", sagte die Kaiserin und trat zur Seite.
Das Silberbesteck funkelte. Baldeina nahm es in die Hände und betrachtete es lange verzückt.
"Ein Geschenk ... meiner kleinen Dessa", erklärte die Kaiserin.
Woi war neben Baldeina getreten und warf einen dumpfen Schatten.
"Ich kann das nicht spielen", sagte er. In den Händen hielt er ein Spiel mit Figuren, die aus Elfenbein waren.
"Nadim, du hörst doch, was er sagt?", tupfte die Stimme der Kaiserin.
"Es ist einfach so!", sagte Woi. Er nahm das Spiel mit den Figuren hoch, um sie wenigstens anzusehen.
'Aus Zahnbein gefertigt, gelb, scheckig, glanzlos - stumpf wie sein Gemüt', dachte Baldeina und freute sich an seinen Worten.
Da fielen die Figuren alle um und klackerten auf dem Boden umher. Woi murmelte etwas, was das bisher Gesagte an Unfreundlichkeit übertroffen haben dürfte.
Mit seinen Handschuhen war es ihm unmöglich, die Figuren zu fassen. Sie flutschten immer weg und rollten weiter. Der graubehangenen Dame auf dem Standbild hatte sich Weh auf die Schultern gelegt, während Woi immer weiter den Figuren nachkroch.
"Oh ...", hauchte die Kaiserin, als er ihr zu nah kam.
"Es ist seine Art", flüsterte Baldeina ihr zu.
"So ...?", kam ihm anvertraulich von der Kaiserin zu. Wieder so ein Wort, dass seine Bedeutung mit dem Bild von Wois knieendem Jammer füllte!
Als Baldeina seinen Blick und sein Silberbesteck in das Licht der Kaiserin hielt, rannte einer der ungesehenen Prinzessinen hinaus. Der kleine Vogel mit den Schwarzbeeraugen flog nicht einmal auf.
"Soll ich ... muss ich ihr nach?", besorgte sich Baldeina.
"Wie es ihnen ...", hauchte die Kaiserin Unfertiges, aber ihre Hand berührte bittend die Hand von Baldeina. Beide sahen sie auf den umherkriechenden Woi herab und waren sich einig, dass Baldeina ritterlich genug war, eine schöne Frau in einer derartigen Situation nicht allein zu lassen.
Woi sprangen immer noch die Figuren aus den Händen. Eine letzte rollte unerreichbar unter einen Schrank, als die zweite Prinzessin rannte. Erstaunt sah Woi, dass das Standbild der Prinzessin am Boden lag. Er blickte sich nach seinem Freund um.
"Er hat nichts bemerkt!", stellte Baldeina beeindruckt fest. Die Kaiserin dachte lächelnd, dass Rohheit und Ungeschick oft ein glückliches Paar sind. Ähnliches mochte auch Baldeina gedacht haben, denn sein Lächeln ging aus dem ihren hervor und lag ihm spiegelgleich.
Woi stellte eine weitere Figur auf das Brett, zog die Handschuhe aus und legte sie dazu. Dann ging er ohne Wort und ohne Blick hinaus.
"Wenn sie möchten, dass ich ... auch ich will, muss nun...", wandte sich Baldeina an die Kaiserin und war rot geworden.
Die Kaiserin trat an das Fenster und sah hinaus. "Kommen Sie", sagte sie, ohne sich nach ihm umzusehen. "Treten sie für einen Moment an meine Seite."
Baldeina tat, wie ihm geheißen war. Weil sie ihm nichts sonst aufgetragen hatte, sah er hinaus. Es war bereits Abend. Der Tag war wohl warm gewesen, denn ein Diener wischte sich den kahlen Kopf.
"Berichten sie mir", begann die Kaiserin leise, "von gewissen Dingen, die sich zutrugen."
"Kaiserin, sie meinen ...?"
"Ja, diese Dinge! Sprecht, wie es geschah! Eure Worte will ich hören."
"Kaiserin", begann Baldeina tonlos, "ich bekenne, ich beichte!" - 'Die Kaiserin musste erfahren, dass er nicht allein gewesen war!' - "Es ist uns, ich spreche für mich und meinen Freund, ihm und mir eine Sache widerfahren, die sich als ein schrecklicher Irrtum herausgestellt hat" - 'Warum hatten die Soldaten nur ihn, Baldeina, ergriffen? Wie hatte Woi sich unsichtbar machen können?' - "Was als eine Erkundung begann, ortsunwissend wie wir sind, führte uns in einen Strudel von Mißverständnissen, entführte uns gewissermaßen dahinein." Die Kaiserin berührte das Fenster, als wolle sie sich von seiner Wirklichkeit überzeugen. "Wo wir Opfer waren, da wurden wir auch schuldig, muss ich gestehen. Es ist unsere Unerfahrenheit, die Rede führen soll wider unsere Schuld. Kaiserin, es fällt uns - mir schwer, ihrer angesichtig, die richtigen Worte zu finden, aber seien sie gewiss, dass uns nichts trieb als die Neugier, die aufgestachelt wurde von der Unerfahrenheit, der die Gelegenheit eine Falle stellte, und nun stehen wir - ich hier, tue Abbitte dafür, dass der Anschein gegen uns spricht. Lassen sie sich nicht täuschen, wie wir uns täuschen ließen! Lassen sie nicht den Schein für sich sprechen, sondern fordern sie von ihm die Wahrheit! Lassen sie nicht Gnade walten, die wir nicht annehmen dürfen, sondern Verstehen! So ich nun vor ihnen stehen, Kaiserin, sollen sie über mich richten!"
Die Kaiserin betrachtete den Himmel, der sich mit Röte überzogen hatte, als hätte sich die Hitze unter Baldeinas weißer Paste einen anderen Weg gesucht, ihr vor die Augen zu treten.
"Aber ich verstehe", sagte sie. "Ihr sollt wissen, dass ich verstehe."
Als sich Baldeina ihr voller Dankbarkeit zuwandte, zeigte sie auf das Bild, dass sie und er spiegelnd vor dem Abend in der Scheibe des Fensters abgaben: "Seht ihr es? Das Bild von ihm und ihr? ... Ihr müsst wissen, die Frau sah ich oft, aber nie sah ich einen bei ihr. Immer sah sie mich traurig an. Aber es kam niemand, und was hätte ich dieser Frau versprechen können?"
"Auch ich verstehe, glaube ich ...", sagte Baldeina mit verhängter Stimme.
Eigentlich aber bestand sein Verstehen aus purem Nichts. Es war sozusagen nur eine Ahnung, dass ein Verstehen ihm nicht würde helfen können.
Chapter 64. Der Adjudant bei Tesla
Das Mädchen zog den Vorhang einen Spalt auf, trug einen Lichtstrahl vorsichtig durch den Raum und legte ihn der schlafenden Tesla auf die Augen.
"Herrin, ihr wolltet geweckt werden. Die Boote stoßen von den Stegen ab. Am Ufer, hört ihr, fegen sie die Blumen von den Wegen."
Sie räumte bei den Cremes und Salben auf, legte das Morgenkleid zurecht, stellte die Schuhe an das Bett. Die Puderdose und die Bürste legte sie nebeneinander auf das Tischchen, damit Tesla sie leicht finden konnte.
Es war eine wunderbare Bürste. Das Mädchen strich mit der Hand über den Griff und stellte sich vor, dass die Bürste durch ihr eigenes Haar glitt. Es würde knistern und glänzen, den ganzen Tag.
"Hörst du nicht?", rief Tesla in ihren Rücken. "Träumst du wieder? Da ist jemand. Es ist keins von unseren Booten. Gleich wird es anlegen. Geh hinaus und sieh nach, wer es ist."
Als das Mädchen aus dem Zimmer getreten war, hörte sie jemanden rufen. Sie beugte sich aus dem Fenster und sah einen Mann, der ihr erst zuwinkte. Er trug sehr hohe Schuhabsätze und etwas bedeckte seinen Kopf, das aussah wie ein kleiner Gong.
Der Herr hatte sich mit einem seiner hohen Absätzen verknickt. Er hielt mit den Händen das Geländer umklammert, weil das Gitter am Steg seinen Schuh mit eisernen Zähnen gepackt hielt. Eine halben Absatz hatte er schon verloren.
"Bitte", sagte der Mann, "du muss mir helfen. Ich kam wohl in den falschen Schuhen hierher."
Schweißbahnen glänzten auf der Stirn des Herren. Seine Augen flehten das Mädchen an. Bevor er ihre Hand richtig zum Halt nahm, drehte er sie, als müsse er erst sehen, welche die richtige Seite war. Als das Mädchen ihm auch ihre zweite Hand gab, ging alles ganz leicht. Der Absatz, der verloren schien, war nur ein wenig verschrammt. Es waren die Schuhe eines hohen Hofbeamten, und er hatte recht, dass sie nicht zum Klettern geeignet waren.
"Du hast mir das Leben gerettet. Das Wasser hätte mich sicher verschlungen. Dank schulde ich dir, das ist gewiss", sagte er.
Seine Stimme war auf eine besondere Art weich. Sie war wie von Jade, die so oft geschliffen worden war, dass die Hände nicht glauben wollten, einen Stein zu berühren. So weich und glatt wie der Griff von Teslas Bürste, die sie gerade gehalten hatte.
"Wisst ihr denn, wer euch den Dank schuldet?" fragte er.
"Ich schuldet mir keinen Dank und keinen Namen", sagte sie und sah den Mann an.
Etwas hatte ihn traurig gemacht. Er sagte nun nichts mehr zu ihr. Aber als seine grünen Augen sie wieder ansahen, war es, als zerfielen sie in lauter Splitter. Dann wandte er sich zum Haus. Fast stieß er sie zur Seite und stöhnte dabei, als habe er sich doch verletzt.
Tesla stand in der Tür und hatte alles in sich aufgenommen. Sie hatte aufmerksam, fast angestrengt gelauscht, wie sie es selten tat. Etwas war eingetreten, dass sie erwartet hatte.
"Ich kam für ein kleines Gespräch mit der Fürstin der Nachtstadt", sagte der Mann. Seine Stimme hatte sogleich ihr Lächeln wiedergefunden. "Niemanden habe ich mehr nötig, als eine kluge Frau, die ich als Freundin weiß."
"Ich freue mich den Adjudanten des Kaisers empfangen zu dürfen", sagte Tesla würdevoll.
Der helle Tag sah verwundert, dass Teslas Erscheinung einem ungemachten Bett ähnlich war, wiewohl sie in der Haltung einer großen Dame zum Besuch empfing.
"Geh hinauf in dein Zimmer", sagte Tesla zu dem Mädchen. "Bereite uns einen Tee. Lass dir ruhig Zeit. Ein Gespräch mit einer klugen Frau ist keine Treibjagd."
Der Mann geleitete Tesla am Arm, obwohl sie jeden Winkel ihres Haus kannte. Jede seiner Bewegung schien nun kostbar und brachte den, der sie annahm, in seine Schuld.
Im Zimmer, wo das Mädchen den Tee kochte, waren seine und Teslas Stimme fern. Irgendwo stießen Steine gegeneinander, wie bei einem Kugelspiel, dass alte Männer zu beenden vergessen hatten.
Während das Teewasser aufstand, hatte das Mädchen Zeit. Sie sah die grünen Augen des Mannes, die Sprünge, wie ein zerbrochenes Glas. Das war, als er sie angesehen hatte. Tesla musste einmal sehr schön gewesen sein, wenn sie solche Dinge wie diese Bürste besaß. Das Teewasser verlangte sein Recht ein wenig lauter, als es angebracht war.
"Es muss vor Ort entschieden werden, wie es geschehen kann", hörte sie den Mann sagen. "Ich rate, jemanden auszusuchen, der seinen Kopf hat und eigene Wege geht."
Das Mädchen ging behutsam die Treppe hinunter. Die Unterteller fragten leise, ob die Tassen wüssten, mit wem sie heute die Bekanntschaft machen würden. Natürlich wussten die Tassen das, aber es gehöre sich nicht, darüber zu sprechen. Die Untertassen waren sich uneins, ob die Neunmalklugen wirklich etwas wussten.
"Seien sie gewiss, dass ihr Sohn Unterstützung finden wird, wenn es gelungen ist, ihn ..."
Der Mann unterbrach seine Rede, um aufzustehen, als er das Mädchen auf der Treppe sah. Sofort setzte er sich wieder. Ein schneller Blick zu Tesla überzeugte ihn, dass sein Verhalten von ihr nicht bemerkt worden war.
"Auf wen immer ihre Wahl fallen wird", setzte er äußerlich ruhig seine Rede fort, sah das Mädchen nicht an, als sie ihm die Tasse reichte, "bedenken sie, er muss von Adel sein, wenn er das Vertrauen des Generals gewinnen will. Mit Gewalt allein wird sich nichts erreichen lassen."
Der Mann spürte, dass das Mädchen auf seinen Blick wartete. Der Tee war gerade so erkaltet, dass er ihn schnell trinken konnte. Er blickte unter dem Tisch auf ihre Füße, die weißen Knöchel, den schmalen Spann.
"Sie ist meine Ziehtochter", sagte Tesla.
"Wer ist ihr Ziehtochter?", fragte der Mann hastig. Die Frage war schneller gewesen als das Erkennen, dass er die Blinde nicht hatte täuschen könne.
"Ich bin ihre Ziehtochter", sagte das Mädchen ruhig und hätte fast den Blick des Mannes eingefangen.
"Geben sie ihr einen Namen!", verlangte Tesla von ihm.
"Einen Namen? Ich? Warum ich?", fragte der Mann und wagte nicht, das Mädchen anzusehen.
"Sie sind der erste, der vor ihr erschrickt", sagte Tesla. "Von ihnen soll sie den Namen bekommen!"
"Ich verstehe nicht ..." Der Mann nahm die Tasse auf, obwohl er sie ausgetrunken hatte.
"Ich habe keine Namen", sagte das Mädchen. "Das meint sie."
"Wie findest du den Namen 'Dahima'?", fragte der Mann, indem er in seine Tasse sah.
"Sie soll nichts FINDEN!", sagte Tesla grob. "Das ist ihr Name und damit gut!"
"Dahima ist ein sehr schöner Name", sagte das Mädchen sanft und berührte seine Hand, als sie ihm die Tasse aus der Hand nahm.
"Dahima", sagte der Mann, "nun weiß ich, wem ich Dank schulde - doch ich muss gehen - komme wieder." Seine Stimme war heiser geworden und hatte vergessen, was der Hof sie gelehrt hatte.Er stand auf und ging, ohne zu warten, dass sie ihn begleitete und schloss allein die Tür in seinem Rücken.
"Stell die Tassen hin", sagte Tesla. "Wir wollen reden. Setz dich her."
"Worüber wollen wir reden?"
"Über die schlechte Nachricht, die du für mich hast."
"Ich weiß wirklich nicht ...", sagte Dahima schnell, aber wie bei dem Mann war das Gesprochene dem Verstehen vorausgeeilt.
Tesla wartete. Hatte das Mädchen vergessen, dass die tiefen Bilder, die sich eine Blinde machte, die Wahrheit waren! Die Bilder draußen, die keine Ordnung hatten - wem waren sie leserlich!?
"Dahima, sag die schlechte Nachricht", forderte Tesla sanft ihr Mädchen auf.
"Ich bin schön geworden", sagte Dahima. "Ich sah meine Schönheit in den Augen des Mannes."
Sie hatte begonnen, die Tassen einzusammeln. Leise ging sie die Treppe hinauf, als wolle sie nicht hören, das Tesla schlecht über ihre Schönheit sprach.
"Es wäre besser, Dahima sähe ihre Schönheit nicht", sagte Tesla zu sich. "Eine Blinde hat es leichter mit der ihren."
Chapter 65. Woi bei Paschmann
"Dich treibt es wieder in die Nachtstadt?", fragte eine Stimme.
Woi schreckte herum. Er sah niemanden in der Dunkelheit, aber er hatte die Stimme erkannt.
"Ich habe auf dich gewartet", sagte der Zwerg und blieb im Dunkeln stehen.
Woi sah zu den Wachen, die die Köpfe zusammengesteckt hatten. Sie beobachteten die Szene, konnten aber nicht sehen, mit wem er sprach. Noch waren sie sich unschlüssig, ob sie kommen und nachsehen sollten.
"Mach schnell!", sagte der Zwerg. "Sie sollen mich nicht sehen."
Also trat auch Woi ins Dunkel und ging dem Zwerg nach, der es nun eilig hatte. Auf einem dunklen Platz, wo sich die Straßen trafen, blieb er stehen und horchte in alle Richtungen. Dann nickte er zufrieden.
"Wusstest du, dass ich komme?", fragte Woi, als sie ruhiger gingen.
"Ich habe mir gedacht, dass es sein könnte", antwortete der Zwerg. Mehr war ihm nicht zu entlocken.
Die Wirte schauten aus den Fenstern und blickten jedem traurig nach, der nicht einkehrte. Offenbar kannten sie den Zwerg, aber sie waren nicht neugierig, wen er mit sich führte.
"Wir suchen eine Taverne ohne Namen", sagte der Zwerg.
"Sie hat keinen Namen?"
"Er ist heruntergefallen. Es geht niemand mehr hin. Nicht einmal ich, weiß wo sie ist!"
"Hey", rief ein tonnendicker Mann sie an, "kommt her! Wollt ihr nicht trinken." Er kam auf sie zu und schlug den Mantel auf. Darunter hatte er sich ein Fass umgebunden. Er drehte an einem kleinen Hahn in Bauchhöhe und leckte sich die Finger sauber.
"Der Ausschank in Gläsern ist mir verboten, aber wenn ihr euch bückt ... Es ist ein guter Preis."
"Nein", sagte der Zwerg.
"Wir suchen eine Taverne ohne Namen", sprach Woi ihn an.
"Ich bin eine Taverne ohne Namen", sagte der Mann lachend, "aber es gibt eine andere." Er zeigte ihnen den Weg und ging schwankend davon, als sei er heute noch nichts von seiner Last losgeworden.
"Was fragst du ihn?", knurrte der Zwerg zur Seite.
"Was ist dabei?", fragte Woi erstaunt.
"Er redet. Überall redet er."
"Und warum gehen wir ausgerechnet in diese Taverne?"
"Weil wir jemanden treffen."
"Ich dachte, es geht niemand mehr hin!"
"Du wirst sehen", grummelte der Zwerg, "dass welche da sind."
Der Mann hatte ihnen den Weg gut beschrieben. Einem Haus würden sie begegnen, welches unten neu und oben alt war. Neben dem Haus zweige eine Gasse ab. In der Mitte des Weges sei ein Rinnsal und an seinem Ende befinde sich die Taverne ohne Namen.
Sie fanden alles so vor, wie er gesagt hatte und betraten den Schankraum. Die Türe waren seit langem niemand mehr bewegt worden. Ihre Scharniere saßen nachgebend im morschen Holz der Fassungen.
"Wirt!" rief Woi laut in den Raum hinein.
Es waren zwei Tische besetzt. An einem saß mit dem Rücken zu ihnen ein alter Mann und spielte mit sich selbst Würfel. Er hatte statt eines Getränkes ein großes Stundenglas vor sich stehen, das er dann und wann hob und drehte. An dem anderen Tisch saß einer, der ihm ähnlich sah. Nur waren seine Haare grau und wuchsen ihm auf die Schultern, während der erste eine glänzende Glatze hatte.
"Ei, der Wirt ...", sagte der Grauhaarige und wurde nachdenklich. "Vor langer Zeit war hier einmal ein Wirt. Es war ein guter Mensch, aber seine Gäste waren schlechte Menschen. Von solchen kann ein Wirt nicht leben. Ist er also weitergezogen. Ohne Wirt mögen die Gäste - und seien sie noch so schlecht - nicht in der Taverne hocken. Sind also auch sie weitergezogen. Ja, so war das."
"Und warum hockt ihr hier?" fragte Woi. Er sah sich nach dem Zwerg um, ob es wieder erlaubt war, Fragen zu stellen. Aber der Zwerg war fort. Woi war allein mit den beiden seltsamen Gestalten.
"Sobald mein Spiel zu Ende ist, bin ich hinaus!", rief der Glatzköpfige. "Hörst du, Tischmann? Das kann er sich doch denken, dass ich mein Spiel zu Ende spielen." Er rieb heftig kreisend eine Stelle auf seiner Glatze.
"Ei, sei ihm nicht gram, Paschmann. Was weiß er von unserem Spiel."
"Seht her, ihr zwei!" rief Paschmann und hielt sein Stundenglas hoch, das er schüttelte. "14 Tage habe ich heute gewonnen schon. Die Würfel fallen gut. Nun lasst mich in Ruh!"
"Setzt dich her", sagte Tischmann. "Kümmere dich nicht um Paschmann."
"Hat die Taverne keinen Namen?" fragte Woi.
"Woher weißt du, dass sie keinen Namen hat?"
"Ich kann keinen lesen vorne auf dem Schild", antwortete Woi.
"Ei, ei, es hat dir jemand gesagt, dass sie keinen Namen hat. Niemand sieht hinauf und liest die Schilder. Was fände er dort für seinen Durst? Also hat es dir jemand gesagt. So ist das!"
"Ja, ihr habt mich", gab Woi zu. "Ich kam mit dem Zwerg, doch nun ist der fort."
"Ich hab gewonnen! Er bringt mir Glück! Wahrhaftig, er bringt mir Glück!", rief Paschmann. "Soviel Tage habe ich noch nie in einem Spiel gewonnen."
"Was macht er mit seinen Tagen, die er gewonnen hat?" fragte Woi leise.
"Er setzt sie wieder ein" antwortete Tischmann leise.
"Ich setze sie wieder ein! Allesamt! Das du es weißt!" jubelte Paschmann. "Ich werde der Erste sein, der sein ganzes Leben zurückgewonnen hat! Der Erste werde ich sein! Fünfzig Jahre bin jetzt 3 Tage und 23 Stunden und habe mir 10 Jahre, 267 Tage und 6 Stunden zurückgeholt." Er hielt ihnen eine dicke Rolle hoch, auf die er seinen Gewinn notiert hatte.
"Ich staune", sagte Woi und war sicher, dass Paschmann ein völlig Verrückter war. Langsam, als sei er in Gedanken, legte Woi sein Messer auf den Tisch.
"Lass ihn nur", bat Tischmann ihn leise. "Er ist so am glücklichsten. Ich kannte ihn noch, als er versuchte, ohne Schlaf auszukommen, um sein Leben zu verlängern. Das hat ihn damals arg mitgenommen. Eigentlich ist er harmlos."
Wenn Paschmann den Becher schüttelte, dann schüttelte er gleichzeitig seinen kahlen Kopf. Wenn er den Becher verborgen hielt, dann konnte man denken, dass die Würfel in seinem Kopf waren.
"Wegen dem Schlaf hat er sich nicht einmal mehr hingesetzt. Wir dachten schon, er sei tot", berichtete Tischmann leise. "Im Stehen gestorben. Er war ganz steif. Wir waren uns sicher, dass er nicht mehr lebte. Da sprang er uns an und schrie, wir sollten mit unserer Zeit nicht in die Nähe der Paschmann-Zeit kommen."
Ein Lichtstrahl war auf das Messer gefallen und irrte im Raum umher. Schließlich fand er ein Ziel und ruhte auf Paschmanns Hinterglatze, auf der Stelle, die er kreisend gerieben hatte.
"Der Zwerg sagte, ich solle hier jemanden treffen."
"Du siehst ja, es ist niemand hier außer uns", sagte der Nachbar. "Es wird auch niemand kommen. Es ist schon lange her, dass jemand kam."
"Wen hat der Zwerg bloß gemeint?", sagte Woi nachdenklich. Dabei blickte er zu Paschmann, der sich dort, wo das Licht tanzte, wieder auf seiner Glatze juckte. Er rückte näher an Paschmann heran und ließ nun, als diene er diesem Manne zu dessen Besten, das Licht aus nächster Nähe auf der Glatze zur Wirkung kommen.
"Manchmal denke ich", sprach Paschmann in den Raum, "dieses Spiel brennt mir den Verstand weg. Ihr versteht?! Ich gewinne zwar, aber in meinem Kopf wird es heiß."
Woi sagte, dass ihm das unerklärlich sei. Paschmann stelle ihn vor ein Rätsel. Tischmann beobachtete interessiert, was Woi mit Paschmann anstellte.
"Stimmt das wirklich, dass es in dieser Taverne seit langer Zeit keinen Wirt gibt?" fragte Woi.
Er wollte mehr wissen, aber Tischmann hatte bereits seine Holztaler hervorgeholt und sah Woi an, als habe er ihr Gespräch bereits vergessen. Er türmte die Holztaler auf, bis sie schwankend zusammenfielen.
"Warum seid denn ihr hier?", fragte Woi. "Ihr seid doch nicht wie er so ... " Auf Paschmanns Glatze stiegen hautnah Dampfschwaden auf, wie von einer frisch aufgegossenen Tasse Tee.
Tischman zeigte auf seine Holztaler. "Das bin ich dem Wirt für Speis und Trank schuldig. Ehe ich meine Schuld nicht beglichen habe, muss ich hierbleiben."
"Aber der Wirt ist doch lange fort. Das habt ihr doch selbst gesagt!"
"Junger Mann", sagte Tischmann stolz, "es ist dies nicht eine Frage, ob der Wirt fort ist oder nicht. Es ist eine Frage der Ehre. Versteht ihr das?"
"Ich glaube nicht", gab Woi ehrlich zu.
Paschmann hatte die Arme erhoben. Langsam, als zwinge ihm jemand einen Willen auf, setzte er sich aufrecht. In den Händen hielt er sein Stundenglas. Er schien es mit unmenschlichen Kräften gepresst zu halten. Da fiel sein Kopf dumpf auf den Tisch, mit der Stirn auf die Rolle, wo sein Wettstand notiert war. Die dünnen Arme blieben weiter in die Höhe gestreckt.
"Es wirkt! Das mit dem Messer wirkt", sagte Woi.
"Ihr könnt jetzt gehen. Es ist spät geworden für ihn", sagte Tisch und zeigte auf Paschmann.
"Ich dachte, es kommt noch jemand, den ich treffen soll."
"Uns solltet ihr treffen!"
"Euch? War das geplant?"
Tischmann nickte ernst. "Wir sollen herausfinden, ob ihr der richtige seid."
"Und bin ich das, eurer Meinung nach?", fragte Woi, fast ein wenig ärgerlich, dass sie ihm nichts gesagt hatten.
"Für das Abenteuer, das ihr bestehen sollt, seid der Richtige. Aber nun geht, ihr hört noch von uns!"
Paschmann hatte immer noch die Hände erhoben, als wolle er fortdauernd gegen die Spielunterbrechung protestieren. Tischmann lächelte und streichelte mit der Hand die glattpolierte Glatze seines Nachbarn. Er legte die Würfel in den Becher, wendete das Stundenglas, entriegelte Paschmanns Arme und legte sie fürsorglich vor ihm auf den Tisch.
Chapter 66. Gespräch über Woi
"Ihr müsst wissen, Herr Baldeina, dass wir Prinzessinnen nur ZUSAMMEN heiraten. Das müsst ihr wissen!" Die Worte ihrer Schwester hatte Dessa unterstrichen, indem sie gänzlich fortgeblieben war.
"Das wusste ich nicht", bekannte Baldeina. "Ein bitterer Stoß dem Herzen, das noch hoffte!"
"Leiht euch nicht fremde Worte! Sprecht aus, was mit ihm ist!" Nadim stand in der Tür und gab sich keine Mühe, ihre Stimme zu dämpfen.
"Woi ist mein Freund. Wie kann ich über ihn sprechen!"
"Ihr müsst wissen, HERR Baldeina, Nadim und ihre Schwester Dessa versprachen sich, Glück und Unglück zu teilen. Ist Nadim unglücklich, dann nicht minder ihre Schwester Dessa! Bedenkt wohl, was das heißt. So ratet uns mit gutem Verstand!"
"Woi eignet sich nicht für eine Heirat, das ist es! So wäre mein Rat."
"Wie sprecht ihr über euren Freund. Er ist doch euer Freund?"
"Nicht so laut, ich bitte euch'! Ein Freund ist er - eeh - von früher, ein guter - gewiss - damals ..."
"Was spricht gegen ihn?"
"Eehm, also ich bin kein Sachverständiger in diesen Dingen, und was wird er sagen, wenn er es erfährt?"
"Ihr wisst doch etwas! Sagt es heraus!"
"Das würde er niemals verzeihen, schlimmer noch, er würde mir etwas antun."
"Huch, ist er so arg!?"
"Übellaune ringt in ihm mit Zorneswüte!"
"Denkt euch für ihn etwas aus. Mir aber sagt alles, wenn euch die Heirat lieb ist!"
"Kommt herein und haltet euch versteckt!"
"Verstecken soll ich mich, sagt ihr?"
"Er kann ganz plötzlich kommen, tritt gegen Türen, wenn sie sich nicht öffnen!"
"Und wo verstecken sich Prinzessinnen?"
"Im Bett", schlug Baldeina vor.
"Das ist nicht schicklich und darum Pfui!"
"UNTER dem Bett?"
"Da ist es schmutzig und darum ebenfalls Pfui!"
"Dann weiß ich nichts!"
"Im Schrank, das wäre der Ort", sagte die Prinzessin.
"Bedenkt, da sind meine Kleider!"
"Die müssen raus, allesamt!"
"Sie würden knittern. Es sind meine besten. Für die Hochzeit, von meinem Vater ausgesucht -"
"- es gibt keine Hochzeit, wenn ihr die Kleider unserer Bitte vorzieht."
"Aber - ummn - also gut, die Kleider auf das Bett."
"Nun sprecht, ihr seid sicher, und ich bin es auch."
"Was soll ich sagen?"
"Was ist mit Woi? Gehört haben wir, dass er oft fort ist und auch nachts. Nichts sollten wir davon erfahren!"
"Ich bin nicht unterrichtet."
"Von euch war auch die Rede: Ihr hättet einen Streit gehabt mit Soldaten, in einer frühen Morgenstunde."
"Gekämpft habe ich mit ihnen, jawohl!"
"Gekämpft, so ernst war es!?"
"Sie wollten nicht glauben, dass ich der Sohn eines Fürsten bin. So musste ich das Schwert mit ihnen kreuzen!"
"War er dabei?"
"Nein, er war plötzlich fort, der Freund, als der Kampf begann!"
"Und ließ euch allein, vermuten wir."
"So war es! Einen Freund will ich ihn dafür nicht nennen."
"Denkt an die Hochzeit, Freund oder nicht Freund! Was ist es, das ihn unstet macht?"
"Es ist diese ... also ich habe gehört, wie ... aber ich kann nicht sagen, ob es Wirkung hat."
"Was ist es, dessen Lücken ihr so in die Länge zieht?"
"Ein Fluch ist es!"
"Wie?"
"Ein Fluch, Woi ist verflucht worden."
"Erzählt!"
"Ich war dabei. Es war in einer Nacht. Da stand sie plötzlich vor seinem Fenster."
"Wer ist SIE?"
"Ihscha heißt sie. Eine Kundige sei sie, sagte man mir. Woi glaubt, dass sie eine Fee ist. Ich verstehe nichts von diesen Dingen. Ich weiß nur, dass sie singen und tanzen konnte und von großer Schönheit war ... wenn man nicht tiefer blickt, als wo das Wesen einer Frau beginnt."
"Sprecht weiter von dieser Nacht!"
"Er hatte ihr wohl am Abend davor die Haare alle abgeschnitten. Da stand sie nun, mit den Haaren in der Hand und sah zu seinem Fenster hoch. Als er es öffnete - ich war grade wach, weil ich im Fremden einen leichten Schlaf habe - belegte sie ihn mit ihrem Fluch und schleuderte ihre Haare in die Nacht."
"Was waren ihre Worte?"
"Niemals solle er gewahr werden, so ihr Fluch, wenn eine Frau ihn liebt. Und rief es. Und schrie es. Dreimal in der Folge. Es war schrecklich und furchtbar."
"Aber was trieb ihn, ihr die Haare abzuschneiden?"
"Es war eine Sache zwischen ihnen wegen seines Dolches, der Dolch von seinem Vater und dem Fürstentum."
"Den gab er ihr?"
"Den nahm sie sich, sagt er!"
"Er ist ein Mann und sie nur eine schwache Frau!"
"Sie hätte so eine Macht gehabt, sagt er. Er hätte ihn gegen ihren Willen nicht einmal anheben können, den Dolch."
"Da schnitt er ihr die HAARE ab??"
"Er sagte, sie hätte die Macht durch ihre Haare gehabt. Sie waren wunderschön ... also jedenfalls lang. Den Dolch bekam er zurück, aber dafür auch diesen Fluch. Er lastet schwer auf ihm. Wie wäre an eine Heirat zu denken!"
"Ein Fluch, das ist doch ein Unsinn!"
"Er weiß nicht, wie er sich dazu stellen soll."
"Was treibt ihn in der Nacht umher?"
"Ich bin nicht dabei! Was denkt ihr euch!?"
"Hat er nicht davon gesprochen?"
"Es gibt Dinge, darüber ist eine Mann verschwiegen."
"Ist es eine Frau, auch mit Haaren oder anderweitig 'wunderschön'? War das nicht euer Wort?"
"'Wunderschön', das sagt man eben so."
"Er, Baldeina, hat dieses Wort gebraucht, nicht Woi!"
"Es ist ein Wort wie jedes! Gebt mir ein anderes, so nehm' ich es gerne in Gebrauch dafür!"
"Was die Augen sprechen, das braucht keine Worte!"
"Bin ich nun schuldig, dass sie solche Haare hatte!?"
"Er mag vielleicht an anderen Mädchen viele Dinge? In seinem Sinne ohne Schuld!"
"Aber nein ... aber wieso?"
"Braucht es da WORTE!"
"Das ist nicht fein: Ich berichtete wahr über einen Freund, legte die Verschwiegenheit ab, bringe mich in Gefahr, um Herzen zusammenzuführen ... also jedenfalls, dass es ihnen nicht so schwer ist -"
"- erst verriet er einen Freund und dann sich selbst, nicht wahr!?"
"Nie wieder werde ich -"
"- dies eine Mal war weit genug. Ich möchte gehn, damit seinen Kleidern nicht länger ein Leid geschieht."
"Erst - bitte - gehe ich hinaus. Folgt mir nach, wenn ich nicht klopfe, in zweimal zehn Schritten Zeit."
"Ich frage mich, wenn - wie er sagt - er nächtens seine Klinge kreuzt: Wo ist sein Mut am Tage?"
"Um MEIN Leben hab' ich keine Furcht, die Sorge gilt nur EUCH."
"Ritterlich sind seine Worte, das ist gewiss wie unser Dank."
Chapter 67. Puppentest bei der Prinzessin
"Ich glaube, ich würde ein Abenteuer nicht erkennen können?", sagte Baldeina. "Vielleicht bin ich schon an einem vorbei gegangen, ohne es zu merken, was denkst du?"
"Ich glaube, es ist anders. Das Abenteuer kommt und sucht sich jemanden aus. Dann geht es zu ihm hin und schüttelt ihm die Hand, redet vielleicht solange auf ihn ein, bis es erkannt wird."
"Du meinst also, nicht ICH bin an den Abenteuern vorbeigegangen, sondern DIE sind an MIR vorbeigegangen? "
"Uhum, so ungefähr."
"Ganz schön eingebildet sind sie, deine Abenteuer, sage ich! Ich kann sehr gut ohne sie auskommen! Vielleicht trauen sich deine Abenteuer auch nur nicht, mich zu fragen, weil sie eine Antwort bekommen würden, die sie -"
Woi war plötzlich aus dem Bett gesprungen, weil er ein Geräusch gehört hatte, das wie das Zischeln einer Schlange war. Als er auf den Boden sah, entdeckte er, dass unter ihrer Türe langsam ein Papier hindurchgeschoben wurde. Schnell fasste er den Türgriff, aber die Tür war von außen verschlossen. Und sie hielt stand, obwohl er sich dagegen stemmte.
"Die Tür hat jemand von außen gut zugemacht", stellte er fest. "Vielleicht steht was auf dem Zettel. Lies du mal, Baldeina, er ist ja für uns beide."
Baldeina besah sich den Zettel lange: "Es ist ein Plan für den Weg, den wir einschlagen sollen. Aber was dort ist, steht nicht drauf. Es wäre besser, wir wüssten es. Mir wäre wohler dabei."
"Das ist das Abenteuer!", rief Woi. "Du merkst auch gar nichts! Kannst du den Plan lesen?"
"Doch", sagte Baldeina, "glaub' schon, aber wenn die Tür zu ist, kommen wir nicht raus, da kann ich den Plan lesen, wie ich will."
"Die Tür ist wieder auf!"
"Das kannst du doch gar nicht wissen!"
"Ich weiß es eben, weil ich Abenteuer kenne."
Und so war es, stellte Baldeina fest. Die Tür war nicht mehr abgeschlossen. Woi gürtete sich bereits seinen Dolch um und zu nochmaligem Zögern tat es ihm Baldeina nach.
Mit dem Plan in der Hand suchten sie ihren Weg, ließen sich von anhänglichen Augen und von offenen Mündern nicht abdrängen, fanden ihren Weg durch viele Fragen hindurch und hatten schließlich alle Verfolger abgeschüttelt.
"Hier ist es", sagte Baldeina und zeigte auf die schmale Treppe, die tat, als ginge sie das alles nichts an.
Mit jedem ihrer Schritte hinauf bedeutete ihnen die Treppe, dass sie völlig falsch waren, beklagte sich über die doppelte Beschwernis, protestierte laut, weil Baldeina ihr fast das Geländer abbrach, und schwieg endlich drohend, als die beiden sie nicht weiter beachteten.
Weil die Tür am Ende dieser Treppe nur angelehnt war, wusste Woi, dass sie richtig waren. Im Raum, den sie betraten, drängten sich ihnen Kleiderpuppen in allen Größen und Damengewändern entgegen, schubsten sich kräftig, wo sie nicht auf Angenähtes achtgeben mussten, und arbeiteten sich mit den Schultern nach vorne, sofern es die anderen zuließen. Alle wollten sie in der ersten Reihe stehen.
Die vorn Stehenden wollten nicht glauben, was sie sahen. Schnell sprach sich nach hinter herum, dass die Neuankömmlinge junge Männer waren, die sich wohl verlaufen hatten. Einige der Jüngeren begannen, albern zu kichern, hier und dort stießen Schreie mit ihren Spitzen zusammen. In einer Ecke brachte sich ein leises Lied in Erinnerung, was wieder andere leise zischend beendet sehen wollten, weil es ein wenig unanständig war.
Als Woi einen Schritt nach vorne machte, wichen sie zurück, selbst die Frechsten hatte gänzlich der Mut verlassen. Auch Baldeina war neben seinen Freund getreten.
"Nein", sagte er, "hier sind wir falsch. Wir mussten bestimmt eine Treppe runter, nicht rauf. Lass uns umkehren!"
"Ich sage dir, sie können nicht einmal einen Plan richtig lesen", sagte eine Stimme, die aus dem anderen Ende des Raumes kam,
"Sei nicht ungerecht", sagte eine zweite Stimme, "sie haben uns doch gefunden. Es war gewiss nicht einfach."
"Zwei von den Puppen können sprechen", sagte Woi und fügte hinzu: "Eine redet sehr schlau daher."
"Sind wir also doch richtig!", stellte Baldeina erleichtert fest.
"Meinst du, sie sind sehr schüchtern?" fragte eine Stimme.
"Nun hör auf sie zu ärgern! Wir werden sie noch vertreiben", wies die zweite Stimme sie zurecht.
"Ein richtiges Abenteuer", sagte Woi, "nicht wahr, Baldeina, so wie wir es gerne haben. Zieh deinen Dolch! Gewiss wird es zum Kampfe kommen! Wir werden sie mit Waffen zwingen, uns ihr Geheimnis zu verraten. Sie haben einen Schatz versteckt, der bald uns gehören wird."
"Vielleicht haben sie zwei Prinzessinnen in ihrer Gewalt", sagte Baldeina.
"Ich hoffe nicht, dass du Recht hast", sagte Woi.
"Wie er das bloß gemeint hat?", fragte eine Stimme in den Raum hinein.
"Ich glaube, ein Schatz wäre ihm lieber", erklärte Baldeina vorlaut.
"Wir werden es nie erfahren", stieß Woi ihn an, "wenn wir nicht mit ihnen kämpfen! Also los, Rücken an Rücken wollen wir stehen und ihre hundertfachen Schläge parieren."
"Ich glaube", sagte die eine Stimme, "wir müssen ihnen sagen, dass wir sie nicht zum Kampfe gerufen haben, sonst werden die Tapferen uns die Puppen zerhauen."
"Du ärgerst sie immer", hielt ihr die zweite Stimme vor. "Es soll doch ein Spaß sein."
"Also gut, kommt herüber, ihr Fürstensöhne. Nein, wartet noch, bis wir euch erklärt haben, was ihr zu tun habt."
"Es war ihre Idee", entschuldigte sich die zweite Stimme.
"Aber du hast gesagt, sie gefällt dir!"
"Baldeina, du hattest recht. Es ist kein Schatz, bloß Prinzessinnen" flüsterte Woi.
"Schschtt, Woi, wir wollen sehen, was sie vorhaben."
"Wir sind die beiden Prinzessinnen, aber ihr werdet uns nicht erkennen, weil wir uns verkleidet haben. Das heißt, eure Augen werden uns nicht unterscheiden können. Ihr müsst uns dennoch erkennen. Hört auf das, was euch eure Herzen sagen. Wir wollen sehen, ob ihr uns danach unterscheiden könnt."
"Ist das aufregend", sagte Woi und blies sich die Backen auf.
"Ihr könnt jetzt kommen", riefen zwei Stimmen gleichzeitig.
Woi und Baldeina gingen nach vorne, durch die Reihen der Kleiderpuppen hindurch , die ängstlich nach ihren Dolchen sahen.
An der Wand auf einem kleinen Podest standen zwei Mädchen. Sie waren beide gleich groß, hatten denselben weißen Rock, den sie der Länge wegen hochgerafft hatten. Ihre weißen Füße standen im Schühchenquartett zueinander. In ihrer starren Aufstellung waren auch von Kleiderpuppen nicht zu unterscheiden.
"Du kannst zuerst wählen, Woi", sagte Baldeina.
"Nein, mach du. Als mein Freund darfst du zuerst wählen."
Baldeina zeigte auf die linke von den beiden: "Diese dort ist die Richtige!", rief er
Woi kniff die Augen zusammen und sah scharf hin. Erst sah er die eine an, dann die andere. Er war sich sicher, dass es unmöglich war, einen Unterschied zwischen den beiden zu entdecken. Baldeina hatte bestimmt zufällig seine Wahl getroffen!
"Ich kann das nicht", sagte er achselzuckend. "Ich finde, sie sind sich völlig gleich. Ich ... nein, ich geb es auf. Ein blödes Spiel ist das!"
Die Starrheit der beiden Puppen gefror und klagte an.
"Tut mir leid", sagte Woi, nachdem er sie noch einmal ins Visier genommen hatte, "für mich sind sie beide gleich."
Die Puppe, die rechts gestanden hatte, sprang nun vom Podest und rannte zwischen ihnen hindurch. Schnell rannte die andere Puppe ihrer Schwester nach. Verdutzt sahen ihnen die Kleiderpuppen und die Fürstensöhne nach.
"Wie schaffst du es nur" fragte Baldeina, "dass sie immer wegrennen?"
"Das kann man nicht lernen", antwortete Woi.
"Warum hast du dich nicht für die entscheiden, die übrig war? Es war doch so einfach!"
"Ich war mir nicht sicher. Sie waren sich zu ähnlich. Ich glaube, das mit dem Fluch stimmt doch."
"Aber wir hatten doch ausgemacht, dass ich zuerst aussuche."
"Ich habe gedacht, du hast geraten. Wie hast du das bloß gewusst, welche die richtige ist? Sie waren sich doch völlig gleich!"
Baldeina war nicht wenig stolz: "Es ist einfach in mir drin! So etwas kann man nicht lernen."
"Ich verstehe, das ist wie bei Abenteuern. Die lassen sich ja auch nicht lernen", sagte Woi und war eigentlich mit seinem Schicksal zufrieden.
Chapter 68. Abschied bei Tesla
Tage waren vergangen. Tesla wusste, die Zeit zu verabreichen wie ein Medikament. Als ihm die Ungeduld nicht mehr erträglich war, traf ihre Nachricht ein. Das Mädchen sei krank, ob er komme, sie zu pflegen.
Als liege alles hinter ihm, brach er auf. Nahm einen Umweg, um den Menschen nicht in Augen sehen zu müssen. Als ein Spion schlich er sich den schmalen Pfad entlang, als Verworfener, als Glücklicher. Das Stofftier, das er Dahima schenken wollte, trug er wie eine Kette um den Hals. Er ließ zu, dass es in seine Haut schnitt.
Die Luft zitterte, die Häuser würden auf ihn herabfallen, die Schreie der Vögel ihn begraben, wenn sein Herz so wild pochte. Er watete durch die Wärmelachen des Abends auf den Gassen und hielt die Luft an, um nicht erstickt zu sein, ehe er zu ihr gelangte.
"Sie ist oben", sagte Tesla, "und hat nach ihnen verlangt."
Er ergriff die Hand der Blinden, küsste sie, wusste nicht, wofür. Und schämte sich nicht, dass sie gewahr wurde, wie krank er geworden war.
Jeder Schritt die Treppe hoch musste erobert werden. Als kleiner Junge hatte er sich ausgedacht, wer die Stufen zählt, ihre Höhe nicht zu fürchten braucht. Seitdem hatte er sich angewöhnt, sie zu zählen. Jede Treppe am Hof kannte er und wusste ihre Zahl. Doch diese Stufen hatte er vergessen zu zählen!
Wie konnte er die Tür öffnen, ohne anzuklopfen? Wie sprach er die Schlafende an, wenn er in ihr Zimmer tritt?
Dahimas Gesicht wandte sich der Wand zu. Das schwarze Haar war sich selbst überlassen. Ein Arm streckte sich nach ihm aus, der andere schlief fest bei ihr unter der Decke. Neben ihrem Bett stand ihr Nachttopf. Der Anblick erschreckte und erregte ihn.
Weil sie krank war, räumte er ihre Sachen auf. Er legte sie schön gefaltet vor das Fußende ihres Bettes. Ihre waren einfache Kleider. Die schönsten und kostbarsten Stoffe würde er ihr dafür schenken. Niemals hatte sie solche gesehen und musste stumm sein vor Entzücken.
Er nahm sein kleines Stofftier vom Hals und setzte es auf ihre Kleider. Fast fröhlich betrachtete es die Füsse seiner neuen Besitzerin.Er setzte sich vorsichtig an ihre Seite, damit ihr Schlaf keine Druckstelle bekam.
"Töchterchen", sagte er leise. Warum hatte er so etwas gesagt? Und doch fühlte er, dass es aus seinem Herzen kam. Dann war es gut. Es war, wie es war. Er wollte nicht darüber nachdenken.
"Töchterchen", sagte er noch einmal. Er strich über ihr Haar. Wie fremd diese Hand ihm war, wie vertraut das fließende Schwarz! Er berührte ihre Wange so vorsichtig, so inniglich.
"Ich bin schwach", sagte sie. "Wirst du deinem Kind die Haare kämmen wollen."
"Ja, das will ich gerne für mein Kind tun, dass es schön ist, schöner, als seine Mutter je war."
Als sie sich aufsetzte, berührte ihre Wange sein Gesicht. Fast hätte ihn dieses Nichts vom Rand des Bettes gestoßen. Eingeladen, sich betäuben zu lassen, floss nun ihr herrliches Gift in seinen Adern.
Schwer lag die Bürste ihm, dem Ungeübten, in der Hand. Mit jedem Strich wurde ihr Haar schwärzer, bis es mit Menschenhaar nichts mehr gemein hatte. Sagten die Menschen in seiner Heimat nicht, dass die Haare der Liebesgöttin so schwarz sind, dass die Nacht darüber zum Tage wird.
"Wie gut du mir bist. Die Nacht lag dein Mädchen wach. Die Dunkelheit hat ihm Fieber gemacht. Wirst du ihm den Körper waschen?"
"Das will ich wohl. Verlange von mir, was du willst."
Dahima stieg aus dem Bett wie ein Schwache, sah den Nachttopf, sah, dass seine Blicke sich dort brachen. Sie hob sich das Kleid und setzte sich darauf. Er war wie erstarrt. Während sie ihr Wasser plätschern ließ, sah sie ihn mit großen Kinderaugen an. Als sie ein gehauchtes Tönchen hören ließ, füllten sich ihre Augen mit Scham.
Er kniete vor ihr, als er mit einem Schwämmchen über ihre Beine strich. Immer wieder machte er ihn feucht, und immer wieder hob sie das Schlafkleid für seine sich sorgenden Hände. Keine Stelle ließ er aus. Nur einmal musste sie die Hand ihm führen.
"Du warst gut zu mir" sagte Dahima. "Zu schwach bin ich, um lauten Dank zu sagen. Hinlegen will ich mich nun. Wie wunderbar schliefe ich ein, wenn ich den Vater bei mir wüsste. Trag mich ins Bett nun, willst du? Decke mich zu und streichle mich, dass ich wieder einschlafe."
Er tat, wie ihm aufgetragen war. Er würde sich an ihren Rücken schmiegen, wie sie es verlangt hatte. Seine grobe Kleidung, die den Staub der Straße gesehen hatte, legte er ab. Sein Untergewand war vom selben Stoffe wie ihr Schlafkleid.
Er nahm das mitgebrachte Stofftier vom Boden auf und legte es ihr in die Hände, weil er wusste, wie Kinder sich beruhigen ließen. Ihre Hände befühlten das Stofftier und nahmen es freundlich an.
Dahima drehte sich - als achte sie nicht darauf - in ihre Decke. Er starrte auf ihren Rücken, der kaum zur Hälfte bedeckt war. Sie bohrte ihren Fingernagel in den Leib des Stofftieres, riss die Naht auf und zog etwas heraus. In den Händen hielt sie eine Spange. Sie hatte die Form und den weißen Glanz des halben Mondes, und war schöner als alle Monde in allen Nächten zusammen.
"Ich träumte davon, dass ich etwas sehr Verbotenes tue", flüsterte er in ihr Ohr. "Nun fürchte ich mich davor ..."
"Schsch, still", kam es leise zurück. "Was wissen denn Träume von Verboten?"
Dann weinte Dahima, ganz für sich, weil die Spange, die sie in ihren Händen hielt, so ohne jedes Maß schön war.
"Ich habe geglaubt, ich könnte es ertragen", sagte er leise.
"Darf ich die Spange behalten?", fragte sie.
"Du darfst nicht an mich denken, versprichst du das?"
Sie hatte ihn nicht gehört, hielt die Spange hoch, gegen das Fenster, durch das ein schmaler Mond hineinsah, und dachte, dass die Nacht für ihr schwarzes Haar keine schönere Spange besaß als die, welche Dahima in ihren Händen hielt.
Leise schloss der Mann die Tür. Die Stufen, die hinabführten, machten ihn schwindelig. Er begann sie von oben zu zählen. Wie leicht war es, hinabzustürzen, wenn man ihre Zahl nicht wusste.
Tesla saß an ihrem Tisch und hatte ihr Wissen in den Händen liegen.
"Was raten sie mir?", fragte der Mann.
"Sie können Dahima nicht besitzen", antwortete Tesla. "Es würde ihnen nicht anders ergehen als einem Dieb, der im Tempel stiehlt."
"Ich verstehe", sagte der Mann. Er war ein Diener und konnte nur einen Traum besitzen, nichts als einen Traum, wenn er ihn heimlich hielt.
"Sie sind mir einen Rat schuldig", sagte Tesla
Der Mann stand und hatte kein Leben in sich.
"Sprechen sie", forderte Tesla ihn auf. "Sie wissen, worüber sie sprechen sollen."
"Ich höre Dinge ...", der Mann zögerte, gab sich dann aber einen Ruck: "Wenn es stimmt, was geflüstert wird - ich bin geneigt, es zu glauben - dann hat er bestimmt, dass nicht seine Frau ihm als Kaiserin nachfolgen soll!"
"Das KANN nicht sein!"
"Es sind die Zeichen: Das Testament bleibt ungeöffnet, der Hofmarschall trägt sein grimmigstes Gesicht, der Richter ist zu jedem freundlich. Besorgnis lese ich in den Blicken der Eingeweihten."
"Ihr meint, er hat IHN, meinen ... unseren Sohn bedacht?" Dies eine Mal nur hatte Tesla die Stimme gesenkt.
"Wenn nicht die Kaiserin, wen dann, frage ich!"
"Weiß sie es?"
"Ich denke, erst wenn sie die Macht fest in den Händen hält, werden sie das Testament vor ihr verlesen."
"Dann ist es Zeit, Vorsorge zu treffen."
"Das wäre mein Rat", sagte der Mann und verbeugte sich.
Als er ging, trug er an einer neuen Schwere. Sie saß wieder auf seinen Schultern, aber mit ihr war die Angst in sein Herz eingezogen, tiefer als jede Sehnsucht.
Chapter 69. Krönung der Puppe
"Bist du nicht einer von den Fürstenjungs", fragte der Wachsoldat. Sein Gesicht war mit Pocken übersät, die sich im Licht der Nacht wie Löcher in seiner Haut ausmachten. Ein Stück von seiner Oberlippe fehlte.
Er war ein Riesenkerl, einen Kopf größer als Woi, und hatte sich direkt vor ihn hingestellt, aber Woi wich keinen Schritt zurück.
"Ja, du bist einer von den Fürstenjungs", stellte der Soldat nach der atemnahen Durchsicht von Wois Gesicht fest. "Ich habe dich mit deinem Freund gesehen. Das ist doch so ein ziemlich Fetter, nicht wahr?"
"Bei uns zu Hause sind die Wachsoldaten nicht so geschwätzig", sagte Woi und sah ihn streng an.
"Alle Wachsoldaten schwatzen gern. Das weißt du nicht, weil du nichts weißt. Was machst du überhaupt hier? Haben sie vergessen, dich ins Bett zu bringen? Es muss ja so anstrengend, den ganzen Tag nichts zu tun!"
"Lass ihn", sagte der andere Wachsoldat. "Du kriegst nur wieder Ärger. Was legst du dich immer mit solchen an?!"
Der Pockennarbige führte sein Gesicht ganz nah an das von Woi. "Ich lass ihn ja in Ruh. Der macht sich doch gleich nass!"
"Wer hat dir denn die Lippe angebissen?" fragte Woi freundlich. "So etwas würde ich nie machen. Du redest zwar dumm daher, aber ich finde, das ist kein Grund, dir ein Stück von der Lippe abzubeissen?"
Dem Wachsoldat zuckte vor Wut das Kinn. Sein Kollege zog ihn an der Schulter von Woi fort und gab ihm einen knappen Befehl. Sie zogen sich beide in den Schatten des Tores zurück.
Woi war zufrieden, dass ihm das mit der Lippe eingefallen war. Eine Moment lang war er doch sehr überrascht gewesen, dass der Wachsoldat ohne Grund einen Streit mit ihm gesucht hatte.
Er war noch früh. Eine Zeitlang würde er noch warten müssen. Deshalb stellte er sich so, dass die Wachsoldaten ihn nicht sehen konnten.
Im Haus gegenüber zeigte sich ein junges Mädchen. Sie trug die Haare offen zur Nacht, wollte nur kurz nach den Blumen sehen. Heute war der pockennarbige Soldat, der sie immer so beobachtete, nicht da. Noch niemals hatte er ein Wort zu ihr gesagt. Vielleicht durfte er nicht sprechen. Es war ja immer einer dabei, der auf ihn aufpasste. Schnell verschwand sie wieder im Haus. Geräuschvoll schob sie den Riegel von innen vor.
Eine alte Frau kam die Straße entlang. Sie schüttelte den Kopf, während sie ihre Füße über das Pflaster zog. Alle paar Meter nahmen ihre Füße und ihr Kopf eine Pause. Dann setzte sie schlürfend und kopfschüttelnd ihren Weg fort.
Während Woi ihr nachsah, trat ohne jeden Laut eine kleine Gestalt an ihn heran. Zuerst erkannte Woi ihn nicht, weil der Zwerg ihm sein Lächeln zuwandte. Auf seine Zähne hatte Woi noch nicht geachtet. Sie waren nach unten spitz zugeschliffen. Sein Gebiss sah dem eines kleinen Raubtier ähnlich. Er musste unmenschliche Schmerzen beim Abschleifen erduldet haben.
"Ist das dein kleiner Bruder?" fragte der Wachsoldat mit dem Narbengesicht von hinten. Es war wieder eine Frechheit von ihm, denn Woi und der Zwerg sahen sich überhaupt nicht ähnlich!
"Lass ihn", sagte der Zwerg, als Woi auf den Soldaten zugehen wollte. Er hielt ihn mit der Hand am Arm zurück. Der Soldat trat auf sie zu und sah gebannt auf die Hand des Zwerges, der sie schnell zurückzog.
"Was ist das auf deiner Hand da?" fragte der Soldat.
"Ein Hand eben. Ein bißchen Tinte", antwortete der Zwerg, ohne ihn anzusehen.
"Komm, es ist Zeit zu gehen", sagte er zu Woi.
"Ich habe gefragt, was das auf deiner Hand ist" kam es böse von dem Soldaten. Als er keine Antwort bekam, sagte er: "Ich habe es gesehen. Ich kenne das. Es ist der gespaltene Drachenkopf."
Der Zwerg zog Woi auf den Weg zu den Häusern.
"Halt", rief der Soldat, "so leicht kommst du mir nicht davon!"
Sie waren schon zwischen den Häusern, als Woi bemerkte, dass der Soldat ihnen folgte. Er stieß den Zwerg an und sagte: "Er geht hinter uns her. Was wollen wir machen?"
Der Zwerg lächelte sein spitzgeschliffenes Lächeln. "Wenn er es nicht besser weiß ... Er wird uns nicht lang folgen können."
"Warum nicht?" fragte Woi.
Der Zwerg antwortete nicht, sondern setzte ohne besondere Eile seinen Weg fort. Als sie an einem Haus vorbeikamen, das unbewohnt schien, machte der Zwerg an einem Fenster ein Klopfzeichen. Dann ging er weiter, ohne zu warten, dass jemand herauskam.
Der Zwerg schritt nun kräftiger aus, als sei ihm dieser Weg vertraut. Er führte sie in völlig freies Gelände. Als der Mond ein paar Wolken beiseite schob, um nach ihnen zu sehen, hielt der Zwerg an. Mit der Dunkelheit setzte er seinen Weg fort.
Am Fuße einer kleinen Anhöhe hielt der Zwerg an. Er holte zwei Maske aus seinem Umhang, und sah zu, wie Woi die seine über das Gesicht zog.
"Niemand soll uns beide zusammensehen", erklärte er, indem er auch seine Maske überzog. "Vergiss für ein paar Stunden, dass du einen Namen hast. Steh einfach nur da. Es ist das Beste."
Woi sah sich um, ob der Soldat sich nicht versteckte, um sie zu belauern. Er wollte nicht glauben, dass dieser sich so leicht hatte abhängen lassen. Doch ausser ein paar Bäumen, denen alle Äste angeschnitten waren, und einer schräg stehenden Steinplatte war nichts zu sehen.
"Du darfst nicht sprechen", erklärte der Zwerg. "Deine Stimme könnte dich verraten."
Sie mussten warten, bis es stockduster geworden war. Dann erst zog der Zwerg Woi mit sich fort. Sie gingen in Richtung der Steinplatte und betraten so plötzlich eine Treppe, dass Woi vor Überraschung beinahe gestolpert wäre. Es ging ein paar Dutzend Stufen hinunter. Am Ende wurden die Stufen breiter. Kleine Fackeln an den gemauerten Wänden beleuchteten den türlosen Zugang zu einer niedrigen, aber breiten und langen Halle.
Dort hatten sich bereits viele Zuschauer versammelt, die sich in drei Gruppen von jeweils einem Dutzend Personen teilten. An der Stelle, wo sie selbst sich aufstellten, löschte der Zwerg das Kerzenlicht an der Wand. Niemand sah sich nach ihnen um. Keiner im Raum sprach eine Wort.
Vorne stand eine Art Thron, der in dunklen, im Licht bläulich schimmernden Stoff gehüllt war. Armlehne und Beine waren mit Silber beschlagen. Die Rückenlehne reichte bis unter die Decke. Das Kopfteil stellte einen Drachenkopf dar, der gespalten war, als sei ihm gerade der Kopf mit einer Axt in zwei Stücke gehauen worden.
Ein Mädchen betrat den Raum mit einer Puppe im Arm, sie sie auf den Thron setzte. Anschließend begann sie, die prachtvollen Kleider der Puppe zu ordnen. Als sie auch die Haare glattgestrichen hatte, trat das Mädchen zur Seite. In den Händen hielt sie jetzt eine silberne Krone, die einen einzigen schweren schwarzen, funkelnd geschliffenen Stein trug.
Da erst erkannte Woi das Mädchen wieder. Es war diesselbe, die er in der Nacht mit der blinden Frau an der Bahre des Kaisers gesehen hatte! Damals hatte sie einen Schleier getragen, aber ihre Haltung, die Bewegungen wie nach einer Musik, die sie allein für sich hörte - dies alles ließ sich nicht verwechseln.
Während der ganzen Zeit sah Woi das Mädchen an. Er versuchte, sich ihr Äußeres einzuprägen, damit er sie wiedererkannte. Aber es war ihm nicht möglich. Wenn er ein Bild von ihr abnehmen wollte, fiel es zu Boden und zerbrach.
Langsam ging das Mädchen auf den Thron zu. Dort verneigte sie sich tief. Alle anderen verneigten sich mit ihr und hielten die Köpfe gesenkt. Der Zwerg stieß Woi an, weil er immer noch das Mädchen anstarrte, ohne sich verbeugt zu haben.
Dann setzte sie der Puppe vorsichtig die Krone auf. Einer nach dem anderen traten die Anwesenden vor und küssten der Puppe den Fußsaum. Das Mädchen stand so ohne Regung neben der Puppe, dass man denken konnte, die beiden seien ein Paar.
"Wir brauchen nicht nach vorne", flüsterte der Zwerg. "Komm, wir wollen als erste hinaus! Sie sollen uns nicht nachsehen können."
So schlichen sie sich fort, heimlicher noch, als sie gekommen waren. Sie gingen den Weg zurück. Diesmal betraten sie das verlassene Haus. Dort zeigte der Zwerg auf ein Zimmer, das Woi öffnen sollte.
"Hinter der Tür wartet eine Wiedersehensfreude auf dich", flüsterte er. "Du hörst von mir, wenn etwas soweit ist."
Als Woi die Klinke drückte, fiel ihm die Tür ins Gesicht und der völlig betrunkene, pockennarbige Soldat hinterdrein in die Arme.
"Sie", lallte er, "haben mich so gemacht, deine Freunde, schöne, die du hast ... ich kann selber laufen, du und dein wenn-ich-den-seh, ich brauch euch nicht."
Woi sah sich um, aber der Zwerg war verschwunden und hatte ihn mit dem Betrunkenen allein gelassen.
"Bist du nicht der, wer mir in meine Lippe abgebissen hat?", jammerte der Soldat. Dann ließ er sich von Woi am Arm fassen und langsam aus dem Haus steuern.
Der Soldat hatte keine Waffen mehr. Seine Uniform war aufgerissen und überall mit Schnaps bekleckert. Er glotzte sein Bild in einem Fenster an und war nicht fortzubewegen.
"Ich bin euch gefolgt, aber, nicht wahr, hab euch fast erwischt, da war was und ihr wart fort und habt mir eine Falle gestellt, ihr Gemeinen!", jammerte er weiter.
In den oberen Fenstern zeigten sich müde Gesichter, während vor den unteren überall die Holzblenden herumgeklappt wurden.
"Niemand macht mir Angst, hört ihr! Niemand von euch und niemand von den anderen!" Er polterte mit den Fäusten gegen die Holzblenden, und Woi musste ihn immer wieder stützen, damit der Soldat dabei ihm nicht umfiel.
"Kann ich helfen?", hörte er hinter sich eine Stimme, die einem Unteren gehörte, der Woi beiseite zog, und dem Soldaten seinen Arm reichte.
"Ja, da endlich seid ihr da!", jubelte der Soldat und fiel dem Unteren in die Arme.
"Kommt, kommt mit!", rief er, als die beiden anderen Soldaten ihn emporgezerrt hatten. "Ich zeig euch meine Falle, wo die mich gemein betrunken machten, weil ich sie verfolgt hab, ich zeig sie euch. Kommt mit, da werdet ihr staunen, werdet ihr, staunen ..."
"Ich staune auch so", zischte der Untere und fasste zusammen: "Eigenmächtig von der Wache entfernt, betrunken wie eine Fassratte, die Waffen verloren oder verkauft, ein Aufruhr vor allen Leuten und handgreiflich werden gegen unsereinen."
"Den gespaltenen Kopf, kenn ihn doch!", protestierte der Soldat.
"Warum säufst du dann so einen billigen Fusel?", knurrte der Untere.
"Ich mein' dem Drachen sein Kopf, mit der Axt mittendrin!" Der Soldat wollte zum Schlag ausholen, um seinen Kameraden zu zeigen, was er meinte, aber der eine Soldat packte seinen Arm von hinten, und der andere klemmte seinen Kopf ein. Als der Pockennarbige etwas von einer Falle rief, bekam er vom Unteren einen jaulenden Tritt in die Seite.
Chapter 70. Ken und die Prinzessinnen
Die Stallungen waren riesig. Ohne Ende reihten sich die Pferdeboxen aneinander. Weil die Tür hinter ihnen zugefallen war, fassten sich Nadim und Dessa, mutlos geworden, an den Händen. Es roch für die Nasen von Prinzessinnen ausgesprochen unfein. Überall raschelte es, und sie hofften, dass es nur die Pferde waren und keine Tiere, vor denen sie sich fürchten müssten.
"Hallo?", rief Nadim.
"Hallo?!", riefen Nadim und Dessa gemeinsam.
"'Hallo' ist hier und hat zu tun", antwortete ihnen eine Pferdebox.
Sie traten heran, aber sahen nichts, als das gewaltige Hinterteil eines Pferdes. Es besaß einen seidig gepflegten Schwanz und begrüßte sie, indem es mit dem Huf gegen das Gatter der Box schlug, dass es zitterte.
"Was wollt ihr von mir", sagte das Pferd mit hoher Stimme. "Woher wisst ihr, dass ich sprechen kann. Hat euch mein Stalljunge, der gute und tüchtige Ken, das gesagt?"
"Nein, nein", sagte Dessa eilig. "Niemand hat uns etwas verraten. Wir wussten nicht einmal, dass ihr sprechen könnt, und ein Ken ist uns gänzlich unbekannt."
"Für ein so großes Pferd hast du aber eine sehr hohe Stimme", sagte Nadim und stellte sich vor ihre Schwester.
"Das ist", sagte das Pferd und schien zu überlegen, "weil ich einen Mund zum Essen habe und einen Mund zum Sprechen. So ist das."
"Ah, so. Ich verstehe. Und wo bitte ist dein Mund zum Sprechen."
Das Pferd schlug mit seinem Schwanz hoch. "Habt ihr ihn gesehen", fragte es. "Unter meinem Schwanz ist er. Während ich vorne Hafer kaue, kann ich mich hinten unterhalten."
"Baah! Pfui!", schimpfte Nadim ihn aus. "Du bist ein Spitzbube. So etwas erzählt man Damen nicht. Und wir sind die Prinzessinnen, dass du es weißt."
"Oh", sagte die Stimme, "das wusste ich nicht. Wisst ihr, ich kann mit meinem Hinterteil nur sprechen, nicht sehen. Da werdet ihr mir sicher verzeihen können."
Dessa kicherte, als sie einen Jungenkopf zwischen den Beinen des Pferdes hervorkommen sah. Nadim wollte sie fortziehen. Sie war immer noch böse, aber Dessa hielt sie zurück. "Wäre der nicht richtig für uns, Nadim? Überleg doch mal!", sagte sie.
"Wenn ihr die Prinzessinnen seid, dann bin ich Ken", sagte der Junge. Seine schwarzen Haare wuchsen wie undurchdringlich rauhes Moos auf seinem Kopf. Seine Augen glitzerten frech, als er ihnen seine Hand zur Begrüßung ausstreckte.
"Meine Hand bekommst du nicht", sagte Nadim. "Du willst wohl, dass sie so schmutzig wird wie deine?"
"Nun lass ihn doch", beschwichtigte sie Dessa. "Wir müssen ihn ein wenig saubermachen und ihm Kleider anziehen."
"Spielt ER denn gerne Streiche?", fragte Nadim.
"Er, Ken, spielt gewiss gerne Streiche, aber es hat sich ausgespielt, hat der Meister gesagt. Noch ein Streich, hat er zu Ken gesagt, und er kann die Kühe hüten gehen. Und Ken hat zu sich gesagt: Es hat sich ausgespielt, Ken, nur dass du es weißt!"
"Was würde er dazu sagen, wenn aber ein Streich erlaubt wäre?"
"Er würde denken, dass es ein Streich ist, den man IHM spielt. So ist Ken eben, ich kann nichts daran machen!"
"Aber ihr könntet doch mit diesem Ken sprechen und ihm ein Ehrenwort geben, dass es kein Streich ist."
"Hmm, tja", überlegte er. "Er ist klug dieser Ken, aber neugierig eben auch, da könnte ich schon mein Wort bei ihm für euch einlegen."
"Ich habe mir diesen Streich ausgedacht", erklärte ihm Dessa. "Wir wollen dem Woi, das ist der Sohn von einem Fürsten, einen Streich spielen, weil er meiner Schwester einen Streich gespielt hat. Wir brauchen aber die Hilfe von einem erfahrenen Streichespieler."
"Hm,hm", sagte der Junge. "Wenn dieser gewisse Ken euch hilft, ist er dann ein Ritter?"
"Ein Ritter für einen Streich, ja", sagte Nadim.
"Ritter reiten aber ...", kam es von Ken.
"Ja, sie reiten", sagte Dessa.
"Also, dann reite ich in meinem Streich?", fragte Ken. "Ich darf nämlich nicht reiten ... nur heimlich."
Nadim und Dessa sahen sich an. Dann nickten sie beide.
"Natürlich wirst du reiten", sagte Nadim. "Wenn du gewaschen bist und wir dir Kleider angezogen haben, dann suchen wir dir ein Pferd aus."
"Nehmt ihr dann dieses?"
Nadim sah sich das Pferd von der einen Seite an, ihre Schwester von der anderen.
"Ein schönes Pferd", sagte Nadim.
"Ein prächtiges Ritterpferd", sagte Dessa.
"Hast du gehört, Pferd", rief Ken und gab ihm einen kräftigen Klaps, "wir spielen zusammen einen Ritterstreich! Was sagst du jetzt?"
"Oh, Ken", sagte das Hinterteil des Pferdes, "das ist ja großartig. Wie ich mich freue?"
Nadim sah ihn dafür böse an. Ken sah schuldbewusst drein. Er schüttelte den Kopf. Solche Späße waren nicht Rittterart. Er hatte verstanden. Sie brauchte es ihm nicht zu erklären.
"In unserem Streich bist du der Sohn von einem Fürsten", sagte Nadim.
"- und kommst von weither an diesen Hof", ergänzte Dessa.
Ken gab seinem Pferd einen Klaps.
"Und wo kommt er her?" fragte Nadim ihre Schwester. Dessa schüttelte den Kopf, weil sie sich noch nichts überlegt hatte.
"Reitervolk!", schlug Ken vor. "Wir leben in Zelten, die wir aus den Häuten unserer Feinde machen und trinken nur aus Schädeln. Jeder von uns hat mindestens drei Frauen. Wenn sie nicht gehorchen, dann schlagen wir ihnen mit den herumliegenden Knochen unserer Feinde auf den Kopf."
"Bisher hat er nicht EINMAL etwas Vernünftiges gesagt", sagte Nadim vorwurfsvoll zu ihrer Schwester. Dessa stöhnte leise auf. Auch das Pferd schüttelte traurig den Kopf.
"Wenn ich nicht viel sage, dann könnte es klappen", sagte Ken und überlegte. Vielleicht könnte er der taubstumme Sohn eines blinden Fürsten sein, der aber unermesslich reich war, weil er - als er noch sehen konnte - die einzige Tochter eines Sultans geheiratet hatte. Das wäre dann Kens Mutter. Er würde einen schwarzen Turban tragen und mit seinen Goldzähnen lächeln. Sein Pferd würde er 'Wüstenwind' nennen.
Nadim nickte. "Wenn er anfängt zu reden, dann ist es aus. Es bleibt nur, dass er nichts sagt."
"Keeenn", brüllte eine Stimme den Gang entlang. "Keeenn! versteckst dich wieder, was? Denk an die Kühe, lang seh ich nicht mehr zu!"
"Seid ihr wirklich ehrlich die Prinzessinnen? Ich muss mich darauf verlassen können", flüsterte Ken. "Gebt mir euer Wort drauf!"
Nadim drückte ihm die Hand. Dann fiel ihr ein, wie schmutzig seine Hand war, und sie wischte sie an seinem Pferd ab.
"Ich habe zu tun!", rief Ken in den Gang.
"Das will ich hoffen", rief der Gang zurück. "Sag nur: Ist es das, was ich gesagt habe, oder ist es das, was ich denke?" Die Stimme gehörte zu einem Mann, der die gelben Zähne von einem Pferd besaß und auf einem Strohhalm kaute.
"Was ist das denn für ein Besuch?" fragte er erstaunt. Er trat nah an Nadim heran, weil er nicht gut sah und im Stall war es noch schlechter. Er schnupperte an ihr und an ihrer Schwester.
"Es sind nur die Prinzessinnen", sagte Ken. "Es geht da um eine Sache, über die ich am besten nicht spreche."
"Das ist in der Tat das Beste", sagte Nadim.
"Und wir sind wirklich die Prinzessinnen", beschied ihn Dessa.
"Und das hat sich dieser Frechbeutel nicht ausgedacht?" fragte der Mann misstrauisch.
"Wir sind wirklich die Prinzessinnen und möchten, dass Ken uns hilft", sagte Nadim mutig.
Der Mann schnupperte noch ein bißchen, dann gab er sich zufrieden. "Mir war er noch nie 'ne Hilfe", brummte er, "da glaub' ich nicht, dass er euch eine ist."
"Es ist aber eine spezielle Sache", sagte Dessa.
"Der Bursche kann nicht mal einfache Sache. Je nachdem ist er zu dumm oder zu faul!"
"Aber es ist abgemacht, wenn wir es wünschen?", fragte Dessa.
"'türlich ist es das. Bin ja nur überrascht. Habe so oft geträumt, dass ihn einer wegholt ... nun endlich ist einer gekommen!"
"Er meint es nicht so", sagte Ken leise und war froh, dass ihm die Prinzessinnen ihr Wort gegeben hatten.
Chapter 71. LoBe mit Gedicht
"Li", rief LoBe und kam gerannt, die Hände auf dem Rücken haltend. Sein Bauch tanzte den Gang hinunter, und sein restlicher Körper versuchte vergeblich, den Takt zu finden. "Dein Hofpoet hat ein Gedicht geschrieben! Wirf dich vor seine Füsse und bettle darum! Sag, dass du zu allem bereit bist. Kein Versprechen zu heilig, kein Plan zu verderblich, kein Vorhaben zu niedrig, kein Boden zu schmutzig, wenn du es nur lesen darfst!"
Li sah sich um. Es war niemand da. Sie hätte sich hinknieen und in LoBes Worten um sein Gedicht flehen können, aber dieser würde den Spaß nur immer weiter treiben, bis er genügend Zuseher hatte.
"Also gut", sagte sie schließlich und ernst, "zeigt mir, was ihr bei euch habt."
LoBe streckte seine Hände aus. Sie waren leer. Traurigkeit zerdrückte ihm das Gesicht.
"Liebste Li, komm mit auf mein Zimmer", bat er. "Du musst mir das Gedicht mit deinen feinen Fingern aus der Flasche herausholen."
"Was für ein Gedicht, das sich vor euch in einer Flasche versteckt. Das war nicht klug von ihm. Da findet ihr es leicht."
"Bitte, Li, ich ertrage keinen Spott. Wenn du sagen willst, dass ich ein Trinker bin ... ich ließ die Flasche stehen! Denn schade wäre es um das Gedicht, wenn ich sie leerte."
LoBe führte Li durch einen Gang, der zum Ende hin so niedrig und schmal wurde, dass sie gebückt gehen mussten. Sein Zimmer war gerade so hoch, dass es für einen in die Breite gewachsenen Menschen zum Stehen reichte.
Auf einem Stehtisch stand eine halbvolle Flasche Wein, darin, in den Hals gerollt, ein Stück Papier. Das Bett befand sich in einem aufgelösten Zustand. Die Bettdecke hätte sich nicht dünkelhaft über eine gebrauchte Tischdecke erheben dürfen.
Ein beindickes Rohr lief an den Wänden hoch, quer über die Decke, die Seiten herunter, schien verwirrend aus allen Richtungen zu kommen, um sich in LoBes Zimmer zu treffen und auszutauschen.
Vorsichtig reichte Lobe die Flasche. Im oberen Teil hielt sich das Papier fest. An seinem Ende leckte bereits der Wein.
"Ich bekomm es nicht heraus", sagte er und zeigte Li zum Beweis den tauglichsten seiner dicken Fingern. "Versuch es mal, Li. Du hast feine Finger. Wenn ich mal tot bin und kein Fleisch mehr an mir ist, dann werd ich auch so weiße, feine Fingerlein haben wie du."
"Ihr macht euch lustig", antwortete Li und hatte das Papier mit Leichtigkeit herausgeholt. "Hier habt ihr euer Gedicht zurück. Ich will es nicht lesen."
"Nein, meine Li, abgemacht und ausgemacht - du das Papier und ich den Rest der Flasche."
Während Li las, trank LoBe aus der Flasche, legte sich mit gefalteten Händen auf sein Bett und machte ein bekümmertes Gesicht. Wenn das Gedicht schlecht war, sah er sein Ende gekommen und die Schar der Knochenritter mit den Sensen erhoben über ihm zum Schlag.
EIN SCHWEIN FRISST MEINE WOLKEN
Im Blaugras lieg ich augenfern
Und geh der weißen Herde nach.
Zu Kopf am Himmel steht ein Schwein
Es scheuch ich fortschweinwegdichsonst ...
Es rülpst für einen Donner gut
Und ist ein Schwein, ein rosa Schwein.
Die Schnauzenflinte schwenkt den Lauf
Es schleckt sich meine Wolken faul.
Und treibt zu Boden mit dem Bauch
Der vorne kaut und hinten drückt.
Wo ich die Stunden zotteln sah
Jagt nun der Wind den Winterfuchs.
"Hast du es gelesen?", fragte er tonlos.
"Aber ja doch! Es ist nur ein wenig fremd. Wenn ich ein Gedicht schreibe, dann male ich dazu. Es gehört zusammen und -"
"- dann male mein Gedicht!", rief LoBe und sprang aus seinem Bett. "Mein Gedicht bittet dich, es zu malen, bietet dir seine weiße Haut an, die Schenkel, die Brust ... vielleicht den Rücken?"
"Ich kann ein solches Gedicht nicht malen. Wie soll ich ein Schwein malen, dass den Bauch voll Wolken hat, weil es den Himmel leergefressen hat!?"
"Bist du ehrlich? ... Ja, sie ist ehrlich! Dann versteht es niemand! Wenn es nicht gemalt werden kann, werden sie sagen: 'Wozu dann sollen wir es lesen?' Weißt du, was ich mache? Ich esse mein Gedicht auf! Dann ist es auf und fort und hat mich ein Stücklein satt gemacht!"
LoBe riss von seinem Bogen ab und stopfte ihn sich in den Mund: "Iihh, bah, es malt sich nicht und schmeckt sich nicht, bahiih! Es ist ein schreckliches Gedicht. Zu nichts nütze, dieses Gedicht!"
"Ich will es schön aufschreiben mit meiner Schrift. Es ist ein ... ungewöhnliches Gedicht. Ich heb es auf, bis ich wirklich gut malen kann."
"Li, ein gutes Kind bist du, und verständig wiewohlalsgleich. Hier, nimm es, ich vertraue dir. Sei meiner Gedichte Wächterin!"
Das Rohr in seinem Zimmer ließ ein bauchiges Knurren hören, dass knatternd in einem stoßartigen Angriff überging. Dann tönte ein hohles Pfeifen nach, das in zweiter Reihe gestanden hatte. Das Rohr musste sich sicher sein, dass niemand ihm zuhörte.
"Dieses Rohr läuft in jedes Zimmer", erklärte LoBe, sich im Kreise drehend, "in jeden Raum. Ohne dass jemand es gewahr wird, kann ich alles, alles, ich sage alles, hören. Jedes flüsterleise Geheimnis, jeder scheue Handgriff, jede noch so verborgene Tätigkeit. Nichts verbirgt sich vor mir! Ich weiß alles, es kommt zu mir, ich kann mich nichts dagegen tun ..."
Aus dem Rohr kam ein gurgelndes Geräusch, das im Zimmer umherirrte, und sich mit einem entlaufenen Pfeifen zu einem knotigen Kichern verband.
"Ich will nicht mehr jeden ihrer Fürze hören! Versteht du das? Und wenn sie nicht furzen, dann scheissen sie. Und wenn sie nicht scheissen, dann schnarchen sie! Ich, ein Mensch, ein Dichter, ein Unsterblicher, muss mir dies alles anhören!" Aus dem Rohr kam ein dumpf aufsetztendes 'Jampff' und ein höhendes 'Lichlicher stirbirb!'.
"Ich werde eine Reise antreten, allein oder in Begleitung einer jungen Dichterin. Sie wird uns in das Land der Verbannten führen. Dort werden wir weilen, wo über dem Vergessen die Erinnerung als ein Leichtes schwebt, wo die Sonne im immerwährenden Abschied steht, wo der Todesbaum in unsterblich weißer Blüte steht, wo die Menschen meine Worte trinken und ich ihren Wein."
"Meint ihr das ernst? Wovon werden wir leben auf unserer Reise?"
"Wovon wir leben? Das sag ich dir! Ich besuche meine Dichterfreunde, von Stadt zu Stadt, von Hof zu Hof, von Hurenhaus zu Hurenhaus werden wir eilen. In der letzten Kaschemme werden wir sie aufspüren, die Mannen des Durstadels! Sie waren alle schon bei mir, ihrem Hofpoeten, ihrem Obersten, und haben ihre Seele freigeschwommen. Nun komme ich, begehe den Weg der letzte Ehrung, ich, der König der Dichter ... und du bist meine Tochter! Aber nein, das glauben sie nicht! Du bist mein Königlicher Lehrling, ein junger Mann, den sie dann nicht weiter beachten werden. Das ist wohl gut so, machen sich doch manche von ihnen gerne einen groben Spaß mit den Schwachen und den Schönen."
"Wie gern würde ich euch auf dieser Reise begleiten! Ihr findet dort für euch die wunderbarsten Gedichte und ich für mich meinen Vater. Wenn ihr es nur wirklich ernst damit meint ..." Ihre Blicke flüchteten vor seinem Selbstspott, der sich Worte suchte.
"Ernst, sagst du, soll es gemeint sein? Denkst du, dass der Ernst sich in meine Nähe wagen würde? Denkst du das? Ich bin ein alter Mann! Sieh nur an die dicken Hände! Sieh nur an das Grau meiner Augen, wie es schwimmt im trüben Gelb! Wärst du nicht eine Dame, ich könnt dir Dinge zeigen, um die es noch viel schlechter steht!"
"Dann komme ich nie in dieses Land zu meinem Vater!", stellte Li enttäuscht fest und hatte sich, ohne es zu bemerken auf das Bett gesetzt.
"Li, ich sag heraus, du kennst die falschen Leute! Der Dichter, der ein freier Geist ist, hat keinen Körper, der für eine Reise taugt, die Sohlen gegen Blasen tauscht. Die Prinzessin, deine Freundin, hat Reisefüße, aber Hochzeitsschuhe an! Warum machst du nicht Freundschaft mit einem Seemann? Einem Hünen, der dich in seinen Sack steckt, zu den Broten, dem Schmalz und dem Schnaps, als Notportion. Warum nicht Freundschaft machen mit einem Kaufmann? Dem gibst du Gedichte, und er tauscht sie in Seide. So wird er reich und liebt dich wie einen Schatz! Wärst du dreißig Jahre früher gekommen, ungeboren sozusagen - du hättest auch in mir den Mann gefunden, den du suchst." LoBe klappte mit der Hand das spaßmacherische Auge zu.
"Ich finde euer Gedicht nicht schön", sagte Li ganz plötzlich. "Es tut nur so, als wäre es ein Gedicht. Aber in Wirklichkeit, ist es keines. Ein Spott will es sein und trägt bloß die Kleider von einem Gedicht!"
LoBe überlegte er, ob er ihr gewortete Empörung entgegenwerfen oder sich ihren Mut gefallen lassen sollte. Letzteres sei vorzuziehen, fand er und so fügte er sich in klaglose Kläglichkeit und trank, in sich gekehrt, den Rest vom Weine aus.
Chapter 72. Woi bei den Drachenzähnen
Vorsichtig bewegte Woi den Griff der Tür. Ohne ein Geräusch zu machen, schlüpfte er in den Raum. Er stand still, die Tür in seinem Rücken. Durch das Fenster blickte ein halber Mond auf die Reihe der weißen Betten rechts und links. Ansonsten war es dunkel.
'Schleich dich durch den Schlafsaal der Näherinnen. Sie werden sicherlich schlafen', hatte der Zwerg gesagt.
Woi war sich sicher, dass die Mädchen NICHT schliefen. Im Schlaf bewegte sich das Mädchen, vor dem er stand. Sie drehte sich, bis ihr die Decke von den Beinen geglitten war. Sie lag auf dem Bauch und hätte ihm wohl mehr gezeigt, wäre er nur nicht weitergegangen. Die anderen lagen still und belauschten den Atem des Eindringlings.
'Tu so, als sähst du sie nicht', hatte der Zwerg gesagt. 'Sie wissen, wohin dich dein Weg führt.'
Eines der Mädchen lag ihm mit dem Kopf zugewandt. Er sah, dass sie wie ein Kind am Daumen lutschte. Ihre Lippen glänzten feucht. Ihm war, als lächele sie. Aber es war nicht das Lächeln eines Kindes.
'Sie wissen, wer wir sind', hatte der Zwerg gesagt. 'Sie verraten uns nicht.'
Ein Mädchen stöhnte leise im Schlaf, als sein Blick auf ihr lag. Sie begann zu flüstern, als spreche sie zu ihrem Traum, der wach neben ihr lag.
Woi versuchte, zu hören, was sie sagte. Aber statt weiter zu flüstern, ließ sie ihre gespreizten Finger den Stabrand ihres Bettes entlanggleiten.
'Sie schlafen, die Mädchen', hatte der Zwerg gesagt. 'Wir wählen diesen Weg zu unserer Sicherheit.'
Das Fenster seufzte tief, als Woi es öffnete. Wieder hörte er ein Geräusch. Diesmal war es in seinem Rücken. Es erinnerte ihn an das Knistern eines anglimmenden Kohlefeuers.
'Geh zum Fenster und greif den Sims ab. Fasse das Tau. Unten wartet ein Pferd auf dich', hatte der Zwerg gesagt.
Woi fand alles so vor, wie der Zwerg es gesagt hatte. Als das Pferd ihn oben sah, stellte es sich so unter ihn, dass er es direkt besteigen konnte. Der Sattel war noch trocken, als habe gerade jemand davon abgesessen.
Das Pferd schien seinen Weg gut zu kennen. Als sie die Mauer verlassen hatten und er den Fluß nicht mehr roch, hatte Woi jede Orientierung verloren.
Der Boden war weich. Woi musste sich an den Hals des Pferdes ducken, sonst wären ihm die Äste ins Gesicht geschlagen. Es war ein wenig benutzter Pfad, weitab von jeder Straße. Auf einer kleinen Anhöhe sah er im Mondlicht die ersten Baumkronen.
Als schwarze Wolken zogen sie über ihn hinweg. Einen Augenblick war er sich nicht sicher, ob er nicht alles nur träumte. Er strich dem Pferd über den Hals und fühlte seinen feuchten Schweiß.
Mit einem Mal stand das Pferd still und wartete auf etwas. Da fiel Woi ein, dass der Zwerg ihm aufgetragen hatte, wie ein Käuzchen zu rufen.
Als er dieses Zeichen rief, hörte er in der Nähe das Klopfen eines Spechtes. Er dachte noch, dass ein Specht nicht zu den Nachtvögeln gehörte, als er einen Reiter neben sich bemerkte, den er nicht hatte kommen hören.
"Komm", sagte dieser mit einer rauhen Stimme. "Sie warten bereits." Als er sich zeigte, sah Woi, dass sein ganzes Gesicht bis zum Hals von weißlich schimmernden Narben entstellt war, so wie Woi es noch bei keinem gesehen hatte.
Wegen der Narben war es unmöglich, in seinem Gesicht ein Gefühl zu lesen. Als er mit der Hand über sein Gesicht fuhr, als wolle er die Blicke entfernen, bemerkte Woi auf seinem Handrücken den auftätowierten gespaltenen Drachenkopf, den er auch bei dem Zwerg gesehen hatte.
"Hier ist es", sagte der Narbige. Auf sein Zeichen stiegen sie von den Pferden, denen er einen Klaps gab. Sie trabten los und schienen zu wissen, was er von ihnen erwartete.
Woi sah nichts als einen mächtigen Baum, an dem der Narbige hochsah. Die Rinde war glatt, und die ersten Äste waren unerreichbar hoch. Der Narbige machte mit dem Griff seines Messers ein Klopfzeichen.
Kurz darauf sauste eine Strickleiter herunter und pendelte ihren Fall aus. Der Narbige nahm die unterste Holzstufe auf und ruckte kräftig nach oben.
"Du zuerst", sagte er. "Ich halte die Leiter fest, damit sie nicht schwankt. Dann ist es nicht schwer."
Woi sah nicht nach unten oder oben, sondern achtete darauf, voll auf die Stufen zu treten. Er spürte, dass der Narbige jeden seiner Schritte mit einem Zug von unten begleitete.
Als er leicht mit dem Kopf gegen eine Luke stieß, öffnete sich diese und ließ ihn hindurchkriechen. Unter dem Dach des Baumes war eine Astebene durch Bretter verbunden worden, sodass eine Hütte entstanden war, deren Existenz man von unten nicht vermutet hätte.
Auch der Narbige war hinter ihm durch die Luke gekrochen. Sofort wurde die Leiter eingeholt und der Boden wieder verriegelt.
Am Boden im Rund saßen drei weitere Gestalten, zu denen sich der Narbige setzte. Sie hatten sich in den Schatten gesetzt und verbargen so ihre Gesichter vor Woi. Alle hatten sie die rechte Hand auf das Knie gelegt, sodass Woi im Mondlicht auf jeder von ihnen den gespaltenen Drachenkopf erkennen konnte.
"Er sagt", fing der Narbige an und deutete auf den Zwerg, der den Kopf hochnahm, "du hast Mut bewiesen."
"Wir hören, du bist der Sohn von einem Fürsten", sagte ein anderer, ohne sein Gesicht zu zeigen.
Woi nickte. Als er sich setzen wollte, schüttelten sie die Köpfe. Also blieb er stehen. Sie schienen ihm nicht feindlich, aber auch nicht freundlich gestimmt. Er stand in ihrer Mitte, weil eine Entscheidung über ihre Gesinnung noch zu treffen war. Woi konnte nichts tun als abwarten.
"Auch wir", sagte ein anderer, "sind die Söhne von Fürsten, die falschen Söhne von Fürsten." Die anderen lachten. Woi lachte nicht.
"Unsere Väter sind Fürsten wohl, aber unsere Mütter sind Huren", wurde er von einem anderen belehrt. Die anderen lachten wieder.
Woi setzte sich einfach auf den Boden und brachte das Lachen zum Verstummen. Er sah nun in ihre Gesichter. Sie waren alle nicht viel älter als er. Nur das Alter des Narbigen hätte er nicht sagen können.
"Damit ihr es wisst", sagte Woi, "mein Vater ist ein Fürst - das darf so gelten - aber meine Mutter habe ich nie kennengelernt, und mein eigentlicher Vater ist ein Soldat."
"Den Huren, unseren Müttern, ist es verboten, mit den Herren vom Hof, Kinder zu haben. Verboten, hörst du? Es ist ein Verbrechen, und die Kinder werden ihnen abgenommen. Da gibt es keine Soldaten als Ammen!"
"Sind die Herren vom Hof denn allesamt Fürsten?" fragte Woi unschuldig.
"Nein, sind sie nicht! Aber ihre Macht ist so groß wie die von Fürsten. So schlau sind wir auch, dass wir das wissen!" Der ihm das erregt erwidert hatte, besaß eine fast vorspringende Stirn, sprach hastig und mit störend hoher Stimme. Seine Augen schienen zu brennen. Ihm gab Woi für sich den Namen 'Schädel'.
Sein Nachbar zog Schädel die Kapuzze über den Kopf und lachte. Er war kräftig gebaut und größer als die anderen. Woi sah in ein freundliches Gesicht. Seine Augen lagen in tiefen Schatten, als habe er lange kein Bett mehr gesehen.
"Von denen werde ich 'Tatze' genannt", sagte er und schüttelte Woi die Hand. "Einen richtigen Namen haben wir nicht." Seine Hände waren so behaart, dass sie seine Tätowierung fast verbargen.
"Du bist schon eine ganze Zeit am Hof des Kaisers", sagte Schädel. "Sag uns, was du da machst!"
Von seinem Nebenmann Tatze bekam er einen Stoß.
"Er soll es sagen", zischte Schädel zurück, "oder kann er nicht sprechen?"
"Was ich da mache, das frage ich mich selbst", sagte Woi. "Ich soll eine der Prinzessinnen heiraten, aber das wird nichts. Wir verstehen uns nicht sehr."
"Nichts zu tun den ganzen Tag und zum Schlafen keine Müdigkeit", stellte Tatze fest, als wisse er, wovon er redete.
"Weißt also nicht, was du anstellen sollst?", fragte der Narbige.
Woi nickte. Das stimmte, und es stimmte nicht. "Ich überlege noch, was ich machen soll. Aber lange bleibe ich nicht mehr da."
"Vielleicht findet sich was", sagte der Zwerg.
Die anderen, auch Woi, sahen ihn erstaunt an.
"Ich denke immer, es wird sich schon etwas finden", schwächte der Zwerg ab. In seinem Blick aber konnte jeder lesen, dass er mehr wusste, als er sagen wollte.
"Ich möchte wirklich wissen, was sie an DEM findet!" entfuhr es Schädel.
"Halt deinen Mund", wies ihn der Zwerg zurecht. "Und es noch ist nichts entschieden. Nichts, gar nichts, hörst du?!"
Der Narbige stieß Woi von der Seite an. "Geh jetzt", sagte er. "Es ist genug geredet." Er öffnete die Luke und warf die Leiter hinunter.
Chapter 73. Prinzessinnen mit Baldeina
Nadim und Dessa hielten sich noch an den Händen gefasst, als sie vorsichtig klopften, Nadim mit dem Knöchel, Dessa kaum hörbar mit dem Weichen der Fingerkuppe.
"Wer ist da?" rief Baldeina hinter der Tür. Als er nichts hörte, wiederholte er seine Frage in Gesangsform mit HEHE und HIHI und einem HEUJUHI als gesungenem Fragezeichen.
"Wir Prinzessinnen", sagte Dessa leise und verschwand hinter einer Säule.
"Wihir", sang Nadim ihre Antwort.
Baldeinas Kopf erschien in der Tür. Er trug einen dichten Schnäutzer aus weißem Schaum. Schnittwunden und Schaumreste zeigten sich in etwa gleicher Menge über sein Gesicht verteilt.
"Oh!", sagte er und wurde rot. Er hatte Woi erwartet und deshalb gesungen. Nun hatte Nadim einen völlig falschen Eindruck von ihm bekommen. Sie hatte die Augen, durch sein Gebaren beschämt, niedergeschlagen und war einen Schritt zurückgewichen. Ihm kam es vor, als denke sie bereits darüber nach, was sie ihrer Schwester über ihn zu sagen habe.
Da war noch etwas, was nicht richtig war? Ihm fiel dieses Etwas nicht ein und so bat er sie, einzutreten, halbrasiert und wundverkrustet, wie er war.
Nadim fasste vorsichtig seine Hand und zog ihn auf den Gang und hinter einen Vorsprung.
"Hältst du zu uns oder zu Woi?", fragte sie leise.
"Ich glaube zu euch", sagte er. "Aber verratet es ihm bitte nicht."
"Er glaubt, er hält zu uns", zischelte Nadim ihrer Schwester hinter der Säule zu. "Wir machen es trotzdem mit ihm, oder?"
"Er hält zu uns, Nadim. Sei sicher!", flüsterte Dessa. Baldeina erstarrte. Sie war nicht ferngeblieben, ließ ihn ihre Stimme hören, war näher als jemals, stand hinter einer Säule, ohne sich zu zeigen! Als wäre es vereinbart zwischen ihnen, tat sie den Schritt nicht vor seine Augen, bevor sie sich nicht seines Herzens sicher war.
"Wir können uns bestimmt auf ihn verlassen!" drängte Dessa ihre Schwester. Sie war beinahe ein wenig böse mit Nadim, weil diese sich über Baldeina lustig machen wollte, der doch an Wois Verhalten schuldlos war.
"Baldeina, hör zu", sagte Nadim. "Weil du dich bestimmt gleich weiterrasieren willst, mache ich es kurz."
Baldeina fuhr mit der Hand zu seinem Gesicht hoch. Ihm war eingefallen, was er vergessen hatte! Ärgerlich mit sich betrachtete er den Rasierschaum auf seinen Fingerkuppen. Es wollte ihm nun als glückliche und hohe Fügung erscheinen, dass Dessa und er noch im Zustand der Herzen waren.
"Wir haben Besuch morgen", setzte Nadim lächelnd fort. "Es ist der Sohn von einem Fürsten. Er kommt auf einem Pferd, aber er spricht kein Wort, weil er aus einem fremden Land kommt. Er ist gar prächtig gewandet. Erzähl du weiter, Dessa!"
"Er soll um Nadim freien", half Dessa ihrer Schwester aus.
"Er SOLL?" entfuhr es Baldeina.
"Sag du es ihm, Nadim. Ich mag nicht mehr." Dessa hatte keinen Spaß mehr an der Sache. Sie war sich nicht einmal sicher, ob Nadim mit Woi so umgehen durfte.
"Er kommt angeritten, aber er darf nichts sagen", erklärte Nadim hastig. "Wenn er etwas sagt, ist alles aus!"
"Was ist AUS?" fragte Baldeina.
"Wir wollen Woi ein bißchen eifersüchtig machen", erklärte Dessa hinter ihrer Säule.
"Nein, so ist es nicht", widersprach Nadim entschieden. "Ich will ihn nur ärgern, weil er mich geärgert hat. Es ist mir egal, ob er eifersüchtig ist, ganz bestimmt!"
"Wir wollen wissen, wie er es aufnimmt", erklärte Dessa. Fast war ihr um Nadim mehr bang als um Woi.
"Ich verstehe", sagte Baldeina. "Keine Sorge, die Sache liegt in guten, fühlsamen Händen." Er verbeugte sich auf eine sittsame Art, sah die Säule einen Moment länger als Nadim an und verschwand in seinem Zimmer.
Während er mit seiner Toilette beschäftigt war, dachte er an Dessa. Manchmal war ihm, als sei sie ganz eigentlich keine Prinzessin. Ein anderer Junge als Baldeina hatte einen reichen Fürsten zum Vater und ein anderes Mädchen als Dessa war eine Prinzessin. Er stellte sich vor, dass er und sie in einem Wald waren. Dessa stand hinter einem Baum. Die Herzen waren vereint, es war der Moment der Augen!
Als er sich vorstellte, wie sie sehr leise und verschämt auf ein erstes Wort wartete, hörte er, dass Woi im Nachbarzimmer die Tür hinter sich zuschlug. Wenn er sie zuschlug, als wolle er sie zerstören, konnte dies nur bedeuten, dass er schlechteste Laune hatte!
Die Prinzessinnen wussten nicht, wie unberechenbar Woi in seinen Stimmungen sein konnte. War es klug, ihn dazu eifersüchtig zu machen? Aber weil er im Wort bei Dessa war, würde er hinübergehen, um seinen Auftrag ausführen.
Er klopfte bei Woi an und stellte fest, dass die Tür nur lose in der Angel hing.
"Hallo", rief er. "Woi, bist du da? Ich habe dich gehört, wie du die Tür ..." Baldeina schob sie vorsichtig auf, die unüberhörbar den Gewalttäter anklagte.
"Hast du etwas gegen diese Tür?" fragte Baldeina. Er streichelte sie. Die Tür wimmerte noch ein wenig, aber der Trost tat ihr hörbar gut.
Baldeina setzte sich auf den einzigen Stuhl im Raum und sah Woi zu, wie dieser mit wilden Bewegungen versuchte, sich ein zu enges Hemd über dem Kopf auszuziehen. Man konnte sogar Wois Bauchmuskeln erkennen, so wenig Speck hatte er auf seinem Körper. Nur ein bißchen Haut und darunter Muskeln. Baldeina formte die Fettschicht auf seinem Bauch zur Rolle und wackelte an ihr.
"Da du ja ein wenig Zeit für mich hast", begann Baldeina vorsichtig. "Es ist, weil ich gehört habe, dass ... ich habe es nur gehört, verstehst du?"
Baldeina fand, dass es Zeit war, eine Entscheidung zu fällen. Entweder musste er eilig fliehen, oder er musste etwas sagen. Ob sich die Prinzessinnen auch alles gut überlegt hatten? Wenn es daneben ging, würde Nadim sich schnell einen Schuldigen aussuchen.
"Du kennst doch Nadim? ... eeh, ich meine, du kennst natürlich Nadim. Also, es ist so ... Es ist noch jemand da, der Nadim heiraten will. Also eigentlich ist er noch nicht da, sondern er kommt auf einem Pferd. Aber dann ist er da und spricht nicht unsere Sprache, wenn du weißt, was ich meine. Er soll sehr in Nadim verliebt sein, habe ich gehört. Ich wollte dir das nur sagen und jetzt gehen."
Baldeina spürte, wie sein Gesicht rot wurde. Er hatte plötzlich ein sehr schlechtes Gewissen seinem Freund gegenüber bekommen und war froh, dass Woi wegen dem Hemd über seinem Kopf nichts sehen konnte. Ehe es dazu kam, dass Woi sich aus seinem Hemd befreien und etwas erraten konnte, stand Baldeina ohne ein Wort auf und ging.
Draußen war ihm richtig übel. Ihm war, als müsse er sich übergeben, so schlecht ging es ihm, weil er seinen Freund belogen hatte.
Aber er hatte den Auftrag der Prinzessinnen ausgeführt. Mehr war nicht von ihm verlangt worden, und es war auch vielleicht zu Wois Bestem.
Da fiel ihm ein, dass er das Wichtigste vergessen hatte! Wegen dem Hemd hatte Baldeina nicht sehen können, wie Woi die Botschaft aufnahm - ob er eifersüchtig wurde oder nicht. Das aber war doch gewesen, was die Prinzessinnen von ihm hatten wissen wollen!
Er ging noch einmal zu Wois Tür. Aber bevor er klopfte, überlegte er. Davon, was Woi sagen würde, hatte Baldeina eine genügende Vorstellung - nichts würde Woi sagen, keine Miene und kein Wort würden ihn verraten! Nun war es sowieso zu spät, und womöglich hatte sich Woi noch nicht aus seinem Hemd befreit. Baldeina beschloss, sich etwas zu erfinden, dass so gut wie eine Wahrheit war.
Woi habe nichts gesagt, würde er den Prinzessinnen berichten. Er habe einen verschlossenen Eindruck gemacht, sei irgendwie uneinsehbar gewesen.
Er, Baldeina, habe den Eindruck gehabt, Woi wolle sich nicht anmerken lassen, dass ihn etwas berührt hatte. Nicht aufgeschaut habe er und Baldeina gebeten - mit so einer gewissen Stimme sprechend - ihn allein zu lassen.
Ja, so würde es Baldeina den Prinzessinnen sagen! Da würden sie sich etwas ausdenken können!
Sicherlich würden die Prinzessinnen fragen, was für eine Stimme es gewesen sei.
Eben so eine fremde, die anders gewesen sei als seine bekannte, würde Baldeina antworten.
Ja, das würde den Prinzessinnen genug zu denken geben!
Chapter 74. Woi mit Dahima
"Was willst du von ihr?" fragte das Mädchen. Ihr Blick sagte Woi, dass sie wusste, wer er war. Andere mussten es ihr gesagt haben. Sein Kommen war angekündigt worden.
"Von mir will sie etwas. Ich will wissen, was es ist." Woi versuchte, dem Mädchen ruhig in die Augen zu sehen. Sie konnte nicht wissen, dass er sie bei der Krönung der Puppe angesehen hatte. Es war nur in seinem Kopf gewesen, nirgendwo sonst.
"Sie ist nicht da", sagte das Mädchen. "Aber du kannst hereinkommen, wenn du willst."
"Du weißt, wer ich bin!" sagte Woi. "Du hast von mir gehört. Das merke ich. Sie haben über mich gesprochen." Ohne ihm eine Antwort zu geben, schloss sie die Tür. Ihr Lächeln ging an ihm vorbei, als gebe es ihn nicht.
"Wofür komme ich denn?", fragte Woi. Aber er war nicht zornig dabei und ging ihr nach.
Auf der Treppe wandte sich plötzlich um. Er musste zu ihr hochsehen. "Du gehst zu dicht hinter mir her. Das gehört sich nicht."
Er ging nun in einem Abstand von ihr die Treppe hoch und sah auf die Stufen.
"Hier wohnt sie, wenn sie da ist", erklärte das Mädchen. "Ich wohne dort."
Ihr Zimmer war klein. Es war nicht mehr als ein Bett darin. In der Ecke standen zwei aufeinandergestellte Stühle hinter einem umgekippten Tisch. Eigentlich konnte sich Woi nicht vorstellen, dass sie hier wohnte.
"Bist du ihre Tochter?" fragte er. Sie strich eine Strähne beiseite. Etwas in ihrem Lächeln stimmte nicht.
"Nein, ich bin nicht ihre Tochter. Aber ich bin bei ihr, seit ich ein kleines Kind bin."
"Hat sie keine eigenen Kinder?"
"Doch sie hat einen Sohn. Aber er ist fort."
"Ich frage mich, was sie von mir will ..."
"Ich heiße Dahima", sagte das Mädchen. "Wie findest du meinen Namen?"
"Ich heiße Woi. Wie findest du MEINEN Namen?"
"Du verstehst nicht", sagte sie traurig.
"Es ist ein seltener und schöner Name", sagte Woi, weil das Mädchen ihm leid tat.
"Du hast mich angesehen, als diese Krönung war, nicht wahr? Ich weiß das." Das Mädchen sah Woi fest an.
Woi tat, als habe er sie nicht verstanden. "Sie hat einen Sohn, sagst du?" fragte er. Das Mädchen hatte ihn also trotz der Maske bemerkt!
"Ich kenne die Augen wieder. Wenn sie mich angeschaut haben, vergesse ich sie nicht!" Sie öffnete den Seidenknoten ihres Haares und ließ es herabfallen.
"Bleib, wo du bist", befahl sie. "Du sollst mich nur von dort ansehen." Sie nahm eine Bürste vom Bett und strich ihr Haar.
Woi blieb stehen, wo er stand. "Ich möchte wissen, warum sie nicht da ist, wenn sie etwas von mir will?"
"Du findest mich schön", sagte das Mädchen. Sie wusste, dass es so war. Er brauchte es ihr nicht zu sagen. "Wenn du mich schön findest, wie fühlt es sich an? Ist es in deinem Kopf oder im Bauch?"
"Sie ist doch eine ...?" fragte Woi und zeigte nach draußen, wo man schon die ersten roten Laternen angezündet hatte.
Das Mädchen kam auf ihn zu. Sie nahm seine Hand und streichelte die Innenseite.
"Ich will wissen, wie es bei dir ist", sagte sie fordernd. "Du hast mich angeschaut, also trau dich, mich anzufassen." Sie öffnete ihre Bluse und führte seine Hand über ihre Brust.
"Wie ist es?", fragte sie, als seine Hand ganz still in der ihren lag. "Sag es! Kein Geld fordere ich von dir! Nur das Wissen sollst du mir geben!" Es war ihr ernst. Ihre Augen blieben fest.
"Jede hat eine Schönheit, die ihr gehört", erklärte Woi, "aber in deiner Schönheit sind alle Stücke zusammengefügt. Es ist, als hätte ich etwas gefunden, was nicht wirklich ist. So etwas wie einen Stein, der zu sprechen beginnt. Aber das ist Unsinn!"
Aufmerksam hatte sie zugehört. Dann nickte sie und öffnete ihre Bluse ganz. Er zog seine Hand sofort zurück, aber konnte den Blick nicht von ihr lassen.
"Denk nach! Erzähl mir keine Lügen!"
Nach einem Zögern sagte er: "Es ist, als sei ein Fremder ist in mir drin. Ich kann nichts machen. Er hat die Macht über mich. Ich weiß nicht einmal, wer er ist." Nach einem Rückblick entfuhr es ihm: " Es ist eigentlich nicht sehr schön!"
"Ich glaube dir", sagte sie. "Leg dich auf das Bett. Lass mich nur machen. Du musst nur immer weiter nachdenken. Alles will ich wissen! Wenn du mir etwas verschweigst, dann ist es aus!"
Als sich Woi auf das Bett gelegt hatte, setzte sie sich neben ihn. Ihr Haar war so lang, dass es seine Hand berührte.
"Als du mich gesehen hast, was war das Besondere an mir?"
Woi schloss seine Augen. Er spürte, wie sie zu ihm auf das Bett kam und sich auf ihn setzte. Er roch, dass ihr Haar ganz nah war. Es fiel auf seine Stirn.
"Hörst du? Du musst sagen, warum du MICH so angesehen hast? Mich, von all denen, die Mädchen sind?"
"Ich weiß nicht. Es war mir, als hätte ich dich schon einmal gesehen." Sie ließ ihn nicht über ihren Rücken streichen. Er dachte nach, obwohl in seinem Kopf das Fieber war. "Es ist, als hätte ich dich nur vergessen und dann wiedererkannt."
"Was du redest, verstehe ich nicht!" Sie glitt von seinem Körper. Die Haare streiften sein Gesicht. Es war kalt dort, wo sie auf ihm gesessen hatte.
"Ist es aus?" fragte er.
Sie stand in einer Ecke, unerreichbar, und kämmte ihr Haar. "Das hängt davon ab, was er mir zu sagen hat. Er redet so wirr. Wie kann er mich erkennen? Wir haben uns doch nie zuvor gesehen!"
"Wie meine Mutter", sagte Woi. Er wollte, dass sie wieder kam. Ihm war kalt und heiß zugleich. "Die kenne ich auch nicht, weil sie starb. Aber irgendwo in mir - sodass ich es selbst nicht finde - ist ein Bild von ihr. Du bist sie, in dir erkenne ich meine Mutter wieder."
Er hörte, dass sie wieder zu ihm kam. Als sie sich auf ihn setzte, hielt er die Luft an. Ihm war, als habe er etwas schrecklich Dummes gesagt, von dem er nur begriff, dass er sich schämen musste.
Sie beugte sich zu ihm herab, ganz nah an sein Ohr, während ihre Haare sein Gesicht bedeckten. "Kanntest du eine, die so war wie ich? Sag es! Jetzt!"
"Keine kannte ich, die so war wie du", sagte Woi und blinzelte durch den schwarzen Vorhang ihrer Haare.
"Eine gab es. Ich seh' in den Augen, dass es eine gab."
"Gut, eine halbe ..."
"Was war anders bei ihr?"
"Ich war nicht wehrlos." Woi berührte ihr schwarzes Haar, das ihn sehr an Ihscha erinnerte.
"Ich verstehe, was du meinst."
"Ich glaube, du verstehst es nicht völlig", sagte Woi und sah Ihscha vor sich, die ihr schwarzes Haar in die Nacht hinaufwarf.
"Denk nicht an sie!", verlangte das Mädchen und sah ihn forschend an.
"Sie ist sehr weit weg."
"Ist sie fort? Sag es!"
"Sie ist fort, nichts von ihr mehr da ..."
Sie hatte begonnen, sich auf ihm zu bewegen. Obwohl das Mädchen hatte nicht eines ihrer Kleider ausgezogen hatte, war sie doch nackter in ihm, als Ihscha es jemals gewesen war.
"Ich bin die Einzige?", flüsterte das Mädchen.
Irgendwie schaffte es Woi zu nicken. Sie war ein Bild. Ein heißer Wind. Ihre Augen die schwarzen Vögel in seinem Kopf. Ein erwachender Traum. Warmer Regen aus wolkenlosem Himmel.
Er nahm nicht wahr, dass sie ihn anschrie: "Ich habe es verstanden! Es gibt ein Bild von mir. In der Schönheit werde ich eins mit dem Bild. Dann in der Liebe verlischt das Bild - ICH, ICH bleibe übrig!" Sie schüttelte ihn vor Begeisterung. "Ich danke dir, Fürstensohn. Das ist er, der Schatz! Perlenketten, dass ich sie nicht tragen kann. Dienerinnen wie Ringe an den Fingern. Die Stunde des Tages, Hunden gleich zu meinen Füssen. Ich habe den Schlüssel, den es nicht geben soll. Da ist die Tür, durch die noch keine Liebe trat."
"Du bist verrückt", keuchte Woi. Es platzten bunte Bienen. Oder waren es Blumen? Oder waren es Sterne?
"Ist es schön?" fragte sie sein Ohr.
"Ja, es war schön", sagte sein Mund.
"Es WAR schön?"
""Es ist doch vorbei, oder?", sagte sein trockener Mund. "Aber, es muss doch bleiben! Wie mache ich, dass es bleibt? Sag mir das! Werd' jetzt nicht müde!"
"Eben, ganz ehrlich, habe ich es gewusst. Doch nun ist es fort, fällt mir nicht wieder ein ... Nein, es ist hoffnungslos, wir werden das alles auf ein nächstes Mal verschieben müssen." Woi schüttelte traurig den Kopf.
Sie hatte genug von ihm. Sie wollte aufstehen von ihm. Aber er hatte den Arm um ihren Nacken gelegt und hielt sie nun fest.
"Du bist verrückt, nicht wahr?" flüsterte er. "Was du redest und für Fragen stellst, das ist doch verrückt. Sag, dass es bei dir nicht stimmt. Nicht wahr, die anderen sind nicht wie du!?"
Sie wollte sich befreien, aber gegen seinen Griff kam sie nicht an.
"Die anderen nehmen Geld", keuchte sie. "Das nehmen sie und dann ...? Sie lassen sich kaufen, und es ist ihnen gleichgültig, wenn sie das Geld wieder fortgeben müssen. Verstehst du, warum ich nicht das Geld will? Wenn sie mich kaufen, was habe dann ICH? Sie sollen MIR gehören, verstehst du? Dann habe ich alles: das Ansehen, den Namen, das Geld und ... eben alles! Was sagst du, ist das verrückt?"
Woi gab ihr keine Antwort. Langsam lockerte er seinen Griff.
"Die anderen sind wie die Mägde vom Vieh", zischte sie. "Da gehst du hin, dass sie dich melken. Es ist gleich, welche es macht. Sie sind alle gleich. Sie kosten das gleiche. Sie tun das gleiche. In ihren Köpfen schwappt die Milch."
Er strich ihr die Haare aus dem Gesicht und blies ein letztes von ihren Lippen.
"Es sind die anderen, die verrückt sind!", sagte sie voller Haß. Allein war sie mit sich. Es gab nicht den, auf dem sie saß.
"Nun weiß ich, warum Tesla nicht da ist", sagte Woi. "Sie wollte nur sehen, ob ich komme."
Chapter 75. Li fragt den Kapitän
Li war am Morgen zum Hafen gegangen. Dort hatte sie einen Platz. Sie saß auf der Mauer einer kleinen Brücke und konnte alles übersehen, ohne bei der Arbeit auf den Schiffen, beim Beladen der Tiere im Wege zu sein.
Viele Menschen kamen an ihr vorbei. Jedem betrachtete sie gründlich das Gesicht. Es waren zu viele zuerst, doch nach einer Zeit ließen sie sich unterscheiden.
Die Gesichter der einen waren von Sonne und Wind verbrannt und zu Leder geworden. Ihre Augen verrieten, dass sie ein nachgiebiges Herz hatten. Sie sahen Li an und mochten wohl sehnsüchtig an ihre Familie denken.
Die Gesichter der anderen waren weich, die Körperformen rund, die Hände weiß, die Kleidung fließend, aber die Augen waren hart und flink, glitten an Li wie an etwas Wertlosem ab und suchten sich anderswo einen Halt.
Über die Brücke wurden zwei Männer geführt. Die Haare waren ihnen kurz geschoren. Auf ihre Backe war mit schwarzer Kohle ein Viereck gemalt und bedeutete wohl, dass sie Gefangene waren. Sie sahen elend und müde aus, überhaupt nicht gefährlich.
Ein Mann blieb auf der Brücke stehen und rief den Leuten etwas zu, die hinter den beiden hergingen. Er machte ihnen mit der Hand ein Zeichen, dass sie sich sputen sollten. Zwei Finger fehlten an seiner Hand. Er drehte sich zu Li um und sah ihr direkt ins Gesicht.
"Was schaust du so? Das war eine Hand, prächtig, wie es nur eine gab, mit fünf der besten Finger, die je zur See gefahren sind. Aber dann hat der Räuber sie mit dem Säbel ... oder war es der Fisch, den sie Hai nennen ... oder war es, weil ich nicht achtgab beim Essen?" Er schüttelte verwirrt den Kopf und schmunzelte.
Li musste lachen, obwohl sie an die beiden Gefangenen denken musste, die auf sein Schiff gebracht worden waren. Er war bestimmt der Kapitän.
"So ein Töchterchen, wie du es bist, habe ich zu Hause auch ... oder waren es zwei ... oder war es nur eine, aber dafür ein Sohn?" Wieder wusste er nicht weiter und kratzte sich an der Stelle, wo ihm zwei Finger fehlten.
"Worauf wartest du, mein Kind. Hast du gar einen Vater, der zur See fährt?" Er überlegte unter der grübeligen Stirn. Dann sah er sie an wie ein Schelm. "Bist du gar eine Tochter von mir? Das ist so lang her, da kann es jede sein!"
"Und so habt ihr mich doch erkannt!" rief Li in Erstaunen. "Meine elf Schwestern, die mich herschickten, dass ich auf euch warte, die sagten mir, ihr hättet uns alle vergessen."
"HaHaHa", lachte der Seemann. Er musste sich setzen, so lachte er. Wäre sie nicht so zerbrechlich gewesen, hätte er ihr auf die Schulter gehauen, wie es unter Seeleuten üblich war, dass es krachte und in die Füße ging.
"Na, du bist mir eine!" sagte er. "Schau, du bringst einem alten Seebären die Tränen in die Augen."
Schließlich wurde er ernst und fragte: "Was machst du denn hier? Das ist kein Ort, wo ein Mädchen sich aufhalten sollte."
"Ich warte auf jemanden, der mir etwas über die Verbannung sagen kann", sagte Li. Sie sagte es so leise, dass er es zuerst nicht richtig verstand.
In seinen Gedanken war der Seemann längst bei seiner Familie gewesen. Er dachte oft an sie. Immer wenn er an Land war und die Mädchen sah, dachte er an seine Tochter. Er war mit Leib und Seele Kapitän, aber irgendwann würde er damit aufhören und ein normales Leben führen wie andere Väter auch.
Die Tochter würde heiraten. Dann würden die Kinder auf seinem Schoß sitzen, und er würde ihnen von den Piraten erzählen, von den Stürmen und von den Nächten, wenn die Sterne in das Wasser fallen.
"Ich möchte wissen, wie ich in das Land der Verbannten komme", sagte Li wieder.
Nun sah sie der Kapitän genauer an. Was für ein seltsames Mädchen sie war! Sie war klein und wäre ihm kaum aufgefallen, wenn sie nicht auf der Kaimauer gesessen hätte, genau dort, wo er gestanden war, um Atem zu holen.
Sie gehörte zu den Menschen, die wie die ruhige See waren, wenn das Blau am Horizont ein grauer Streifen säumt, dünn wie ein Band, als liege es an den Augen, die müde geworden waren. Wer aber dies Zeichen nicht sah, dem konnte es schlecht ergehen mit seinem Schiff!
"Ihr kennt doch alle Wege und Häfen. Sagt, wie komme ich in das Land der Verbannten." Li hatte sein Zögern bemerkt und war nun ängstlich, dass er einfach aufstand, ohne etwas zu sagen. "Habt keine Angst, niemand achtet auf uns."
Er wischte den Gedanken an Angst mit seiner verstümmelten Hand verächtlich fort. "Euch Landleuten kann man mit Verboten Angst machen, aber die See hat ihr eigenes Gesetz."
"Wisst ihr, ich bin schon weit gereist - für ein Mädchen weit gereist!"
Der Kapitän wäre am liebsten aufgestanden und gegangen. Doch wie sie ihn ansah, da musste er wieder an seine Tochter denken. Es war ihre Traurigkeit, die er nicht einfach abschütteln konnte. Sie sah ihn mit den Augen seiner Tochter an, mit den Augen der zurückgebliebenen Töchter aller Seefahrer blickten sie ihn an. Wenn er jetzt ging, würde er sie alle mit auf sein Schiff nehmen. Gehörten sie da etwa hin?
"Kind, da kommst du nicht hin, verboten ist es und auch unmöglich! Denk einfach nicht dran und führ ein Leben wie alle anderen. Geh, heirate einen Mann und krieg Kinder, wie sie alle es tun. Was denkst du, wer du bist?"
"Ich denk immer daran. Ich kann nicht anders und bin krank davon. Wisst ihr, ich habe nur meine Träume, ihr aber habt ein Schiff. Wie leicht ist es für euch, zu sagen, dass es für mich zu schwer ist!"
Der Kapitän dachte daran, dass er Durst bekam. Es wurde bereits Abend, und er saß immer noch neben einem sittsamen Mädchen und seiner Traurigkeit. Dabei hätte er längst in einer Schenke sein können. Dort kannte er die Mädchen auch nicht, aber dafür stellten sie keine Fragen und waren lustig, wenn man ihnen vom richtigen Geld gezeigt hatte.
"Es ist ein schreckliches Land", sagte er. "Was ich von seinem Inneren weiß, ist nicht viel. Nur kann ich sagen, dass wir selbst im Hafen, wo wir die Verbannten abgeben, keinen Wein bekommt und keine Mädchen ... die einem die Krüge bringen. Nichts! Keine Stunde später, als dass ich sie dort abgeliefert habe, bin ich wieder auf See."
"Dann gibt es nur diesen Weg mit dem Schiff?", fragte Li.
Sie hatte sich vorgestellt, dass alle, die mit ihrem Vater das Schicksal der Verbannung erlitten hatten, mit schweren Füßen und krummm gebeugt über staubige Wege liefen, in einer Reihe, deren Anfang und deren Ende sie nicht sehen konnte. Ihr war es ein wenig leichter um das Herz, dass er auf dem Wasser in das Land der Verbannten gefahren war. Vielleicht konnte sie LoBe doch für diese Reise gewinnen!
Der Kapitän nickte. "Das Land liegt zwischen unpassierbaren Bergen und dem offenen Meer. Einzig mit dem Schiff kann jemand dort hinkommen. Doch denk nicht, dass es dir möglich ist. Nur Verbannten oder Soldaten liefern wir dort ab - und selbst verbannt werden willst du doch nicht oder?"
Was für eine Idee! Dieses Mädchen machte ihn so krank, dass er wirres Zeug redete. Dabei hätte er längst betrunken sein müssen. Er kannte hier doch eine ... hieß sie nicht 'Goldpuder'? Nein, das war sie nicht, das war woanders. Hieß sie nicht 'Weinwänglein'? Oder war ihr Name 'Liebzwei'? Nein, auch woanders, aber wo? Er kratzte sich, wo er seine beiden Finger verloren hatte.
"Es musste dir mal jemand sagen, dass es nicht geht", sagte der Kapitän gutmütig.
Sie sah ihn jetzt dankbar an und strahlte vor Glück.
Nun, auch er fühlte sich jetzt erleichtert, obwohl es ihn wunderte, wie sie es geschafft hatte, ihn solange festzuhalten. Jetzt wusste er, wie die Schenke geheißen hatte: 'Der volle Hafen'! Ja, das war ihr Name ... oder nein? 'Der tolle Kapitän' hieß sie ... 'Der tolle Hafen'? Oder doch, wie er am Anfang gedacht hatte: 'Der volle Kapitän'??
Chapter 76. Woi mit Tesla
Der Fährmann hatte bereits abgelegt, als Woi sich umblickte. Das Haus kam Woi verlassen vor. Es war kein Licht zu sehen, und Dahima hätte ihn gewiss gehört, denn das Boot war laut genug gegen den Steg gestoßen.
Die Tür war offen und pendelte leicht, als wolle sie ihn auffordern, einzutreten. Was war schließlich dabei? Der Fährmann hatte gesagt, dass Tesla da war, und auf das Haus gezeigt. Was konnte das anderes bedeuten, als dass er eintreten durfte?
Als Woi die Tür öffnete, sagte eine Stimme mit Singsang: "Niemand ist da, aber Tesla ist da." Unter der Stimme quietschte in tieferer Lage ein Lehnstuhl.
Vorsichtig, weil er nichts sah, ging Woi in den Raum hinein. Als hinter ihm die Tür zuschwang, war es stockfinster, und er blieb stehen, wo er war.
"Sind sie Tesla?", fragte er und fand, dass seine Stimme ängstlich klang.
"Das Mädchen ist nicht da", sagte sie. "Ich bin allein, aber das ist gerade recht."
"Beim letzten Mal kam ich umsonst", sagte Woi. Da war seine Stimme schon fester.
"Sie ist schön, nicht wahr!?"
"Sie meinen Dahima?" Es war noch viel Weiches in der Stimme.
"Sie sagt, du hättest keine Furcht vor ihr gehabt."
"Warum sollte ich vor Dahima Angst haben?"
"Ich kenne viele, die HABEN Angst vor der Schönheit."
"Angst vor einem Mädchen ...?"
Tesla lachte und wippte in einem Stuhl. Das Lachen hielt sie in einer leeren Flasche gefangen.
"Warum machen wir kein Licht?", fragte Woi.
"Weil ich blind bin und besser sehen kann, wenn du mich nicht ansiehst. Außerdem ist das Mädchen fort. Sie macht das Licht."
"Ich habe sie gesehen", sagte er, "sie und das Mädchen ... im Hof, in der Nacht beim toten Kaiser, als sie etwas genommen haben."
"Und du kommst trotzdem her?"
"Ja, warum nicht?"
"Recht hast du, niemand vermisst sein Herz. Sie meinen wohl, er hätte keins gehabt."
"Ich habe mich gefragt, was für einen Grund es dafür geben kann." Woi griff nach der Tür in seinem Rücken und hielt sie einen Lichtspalt offen.
Für einen Moment war es sehr still. Selbst ihren schweren Atem hielt Tesla für einen Moment an. "Der Grund ist, dass es mir jemand aufgetragen hat", sagte sie, als die Frage ihrem düsteren Schweigen nicht auswich.
"Dieser Jemand muss aber mächtig gewesen sein!"
"Ja, du sagst es, mächtig war er. Es war der Kaiser selbst, wenn du es wissen willst."
"Er wollte selbst, dass ihr -"
"- dass ich sein Herz nehme, jawohl! Aber nun Schluss damit, es sind Dinge, über die ich nicht sprechen darf."
Tesla sagte nichts mehr. Ihr Atem war schläfrig geworden. Das Schweigen dauerte eine lange Zeit, als sei Tesla schon eingeschlafen war, weil sie ihn vergessen hatte. Er glaubte, dass sie immer genau das tat, wonach ihr zu Mute war.
"Der Zwerg sagt, ich solle zu ihnen kommen", unterbrach er schließlich die Stille. "Hier bin ich, aber ich weiß nicht, warum."
"Ja, das ja ... Komm näher, trau dich, es steht nichts im Weg. Hier ist ein Stuhl, du stößt gleich dagegen, dort setz dich."
Woi tastete sich an den Stuhl heran. Tesla reichte ihm ein Glas. Erst fühlte er ihre Hand, dann fasste er das Glas. Freihändig schüttete sie sein Glas voll. Er trank und schmeckte, dass es Rotwein war. Sie trank ihr Glas aus und schüttete sich wieder nach.
"Du bist gekommen, weil der Zwerg es dir gesagt hat?"
"Nein, der Zwerg hat mir nichts zu sagen. Ich wollte einfach erfahren, was sie von mir wollen."
Tesla schenkte ihm noch einmal nach. "Hattest du eine Mutter?"
"Sie starb, als ich geboren wurde."
"Also hat sie dich nie enttäuscht ..."
"Enttäuscht? Nein, sie war ja tot."
"Ich habe einen Sohn, den nahm mir das Leben fort."
"Wo ist er denn?"
"In einem Kerker, seit er ein Junge ist."
"Werden Kinder eingesperrt?"
"Manchmal", sagte Tesla und schwieg düster.
"Aber wenigstens lebt er noch ..."
"So spricht einer, der es gut mit seiner Mutter hatte. Dieser Sohn lebt! Ein Toter bleibt immer gut ... weiß ich, wie schlecht ein Lebender sein kann?"
"Das verstehe ich nicht. Ehrlich, das verstehe ich nicht."
"Ich will ihn befreien, das verstehst du? Ich will, dass er bei mir ist."
"Ja, das verstehe ich."
"Zur gleichen Zeit, im gleichen Herz will ich ihn NICHT befreien. Ich will, dass alles bleibt, wie es war. Was ist, wenn er nur herauskommt, um mich zu enttäuschen?"
Wenn die Alte in ihrer schwarzen Schattengestalt saß, dann nahm sie an Mächtigkeit zu. Sie war schwarz wie ein Berg, der größer wurde, je tiefer die Nacht den Wanderer umfing.
"Er triffst die Entscheidung!", sagte Tesla plötzlich. Der Stuhl wippte nicht, als das Lachen sich knarzend entkorkte.
"Er? Wieso denn er?"
"Ich weiß nicht so und nicht so. Also ist es seine Entscheidung!"
"Ist seine Befreiung denn schwierig?"
"Er wird in einem Kerker gefangen gehalten, bewacht von den Soldaten einer ganzen Garnison."
"Ihr denkt dabei an mich, nicht wahr?"
"Du und die Drachenzähne werden dabei sein."
"Also deshalb ...
"Ja, es hat alles damit zu tun."
"Aber warum ich?"
"Du bist der Sohn eines Fürsten. Für dich ist es leichter. Es ist ein General dort. Du wirst dich in sein Vertrauen schleichen."
"Aber welchen Grund sollte es für mich geben, dabei zu sein?"
"Der Zwerg sagt, du kämst aus Langeweile mit."
"Ich überlege es mir", sagte Woi, um klarzustellen, dass er anders dachte. "Es ist schon so, dass ich im Augenblick eine Lücke in meinem Leben habe ... wir werden sehen."
"Lass dir von einer Blinden sagen: Du suchst nach dir in den Dingen. Die großen Dinge machen dich groß, die kleinen klein. Wenn nichts passiert, bleibt von dir ein leerer Fleck, wo anderen ihr Wesen beginnt."
"Das klingt fast wie ein Fluch!"
"Ein Fluch ist nichts als ein Spiegelwort!"
"Ach, so habe ich das noch nicht gesehen ...", sagte Woi nachdenklich.
"Du bist dein Fluch. Wer sonst sollte es sein?"
"Dann ist ein Fluch eigentlich nicht so schlimm!"
"Schlimmer noch als schlimm, wahrer noch als wahr!"
"Ist das schwierig!", stöhnte Woi. Gerade eben war er Tesla noch dankbar gewesen, weil sie ihm gegen Ihscha geholfen hatte, da warf sie wieder alles um.
"Meine Blindheit ist nichts als eine Laune. Geschlagen hat das Schicksal mich mit dem SEHEN!"
Woi schüttelte verständnislos den Kopf. Immerhin wollte er sich merken, dass ein Fluch nur ein Spiegelwort war. Das konnte ihm gegen Ihscha helfen.
"Ich denke manchmal", sann Tesla, "dass es an ihm ist, sogar den Zeitpunkt zu bestimmen. Er hätte es jederzeit und mit anderen vollbracht, doch nun hat er uns ausgesucht. Nicht WIR haben die Wahl, sondern ER!"
"Ich verspreche, dass ich es mir überlegen werden", sagte Woi. Es war Zeit, Abschied zu nehmen. In dem Berg vor ihm wuchs ein Beben heran.
"Es gibt nicht zu überlegen: Er ist mächtiger als du und ich und zwingt uns unter seinen Willen."
"Ihr Sohn, der im Kerker ist?"
"Kerker, was heißt das schon", schnaufte Tesla verächtlich. "Gerade der Kerker macht ihn so mächtig. Aber das verstehst du nicht!"
Nein, das verstand Woi nicht. Und der Wein schmeckte beim dritten Glas nicht besser als beim ersten.
"Denkst du manchmal über das Schicksal nach?"
"Nein", gestand Woi. Er war sich sehr sicher, dass er noch nie über so etwas nachgedacht hatte.
"Warum geschieht mit uns dies und das? Gibt es einen Grund, ein Schicksal? Warum bin ich blind? Warum die Mutter eines Kerkersohnes? Warum finde ich jemanden wie dich, der Dinge tut, weil sie Dinge sind?"
"Ich habe noch nicht zugesagt!", protestierte Woi.
"Geh", sagte Tesla rauh, "ich ruf dich, wenn es soweit ist!"
"Ich werde darüber nachdenken", sagte Woi.
"Lache!", verlangte Tesla mit einem Mal von ihm. "Lache! Verstehst du nicht: Du sollst lachen, LACHEN!"
"Es gibt nichts Lustiges! Worüber sollte ich lachen können?", hielt ihr Woi unwillig entgegen.
"Denke nach! Denke nach!", höhnte Tesla daraufhin. "Du sollst nachdenken, NACHDENKEN!"
Woi fand, dass Tesla eine lustige Art besaß, ihm Sachen zu erklären. Und vermutlich hatte sie recht: Das Lachen gehorchte ihm nicht, ebensowenig das Nachdenken. Es würde sich nicht von ihm rufen lassen, sondern erst kommen, wenn es zu spät war.
Chapter 77. Auftritt von Ken
Ken lag im Stroh und träumte, dass er auf einem Pferd saß und zwei Prinzessinen begegnete, die auf einer Wolken daherkamen. Sie riefen ihm zu, ob er sein Pferd gegen ihre Wolke tauschen wolle.
Das hatte er geträumt, als der Alte ihm einen Stoß gab, und Ken auf dem harten Bretterboden landete. Doch der Traum hatte ihm zugerufen, dass Ken sein Pferd nicht tauschen solle, unbedingt nicht und keinesfalls gegen eine Wolke, als er einen erneuten Tritt bekam, der ihn endgültig weckte.
"Geh früher ins Bett, wenn du lange schlafen willst! Für heute - weißt du doch!? - hast du den Mädchen vom Kaiser was versprochen. Mach schon los! Und dass ich mir nicht wegen dir was anhören muss, hörst du!?"
Der Alte warf die Kleider auf den Stuhl. "Und denk dran: Das Pferd kann nicht dafür, dass du solche Sache machst." Kurze Zeit später hatte er sich wieder in eine Ecke gelegt und schnarchte kräftig weiter.
Erst einmal betrachtete Ken ungestört und lange seinen neuen Sachen. So schöne Kleider hatte er selbst bei der Jagd mit den hohen Herren noch nicht gesehen! Er strich darüber. Weicher noch als das Fell von einem Fohlen waren sie.
Die langen Hosen konnten sich nicht entscheiden, ob sie blau oder schwarz waren. Die Stiefel waren silberverziert und machten einen schönen Krach auf dem Boden. Als er das Hemd mit den vielen Knöpfen zumachte, kam er ordentlich ins Schwitzen und legte die Jacke erst einmal über die Schulter. Dünn wie Papier waren die beiden weißen Handschuhe, die er sich in den Gürtel steckte.
Erst wollte er hinausschleichen, wie er es als Pferdejunge gewohnt war, doch dann trat er mit den Hacken ordentlich auf, dass der Alte sich an seinem Schnarchen verschluckte.
Früh musste der Alte heute aufgestanden sein, denn das Pferd war prächtig anzuschauen. Den Sattel zierten diesselben Beschläge, wie sie auf Kens Stiefeln waren. Die Mähne hatte der Alte mit Zöpfen verziert und mit bunten Perlen geschmückt. Dabei wird er wohl böse gelächelt haben über solche Mädchensachen.
Das Pferd hatte die Augen niedergeschlagen und einen Hinterhuf gehoben. So war es vornehme Pferdeart, die es wohl irgendwo abgeschaut hatte.
Ken verließ den Hof über einen Seitenausgang, um nicht von den Wachen gesehen zu werden. Das Pferd führte er an der Hand. Es hatte seinen Kopf tief gebeugt und stieß mit der Schnauze immer wieder gegen seinen Gürtel. Zu spät bemerkte Ken, dass es einen seiner weißen Papierhandschuhe gefressen hatte. Ihm fiel ein, dass der Alte dem Pferd wohl noch kein Stroh zu fressen gegeben hatte.
Als erstes ritt er zu einer saftigen Weide, die er kannte. Eine Magd, die dort ein gutes Dutzend aufgeregter Gänse hütete, erkannte Ken nicht. Sie, die sonst das lauteste Mundwerk von ihnen allen besaß und einmal mit einem Ei nach ihm geworfen hatte, ging für sich, als gehöre sie nicht zu den Gänsen. Das lange Haar träumte auf ihren Schultern. Sie machte einen weichen Mund, als kenne der kein böses Wort.
Als das Pferd neben ihr zu stehen kam, gestattete sie Ken von oben einen nabeltiefen Blick in ihren Ausschnitt. Sie lächelte, als er seine Augen für immer verloren gab. Ken fiel ein, dass er nichts sagen durfte. Er hätte auch nicht gewusst, was er sagen sollte. Weil er stumm blieb, sang sie ihm mit bewegter Brust ein Lied:
Der Morgen ruft zum weißen Haus,
Schwarz die Äuglein, schwarz das Glas!
Der Mittag ruht beim Schattenbaum
Wo Wasser fließt, da trinkt der Bursch.
Der Abend schenkt vom Weine aus
Rot die Wänglein, rot das Glas!
Die Nacht ist tausend Dächer schwarz
Wo Liebe ist, da liegt sie wach.
Mit ihrer Hand strich sie immerfort an Kens neuen Stiefel hinauf und hinab, dass Ken bald die Augen voller Tränen hatte.
Allein das Pferd zeigte sich teilnahmslos und trug seinen Reiter ohne Abschied fort. Ken rutschte auf dem Sattel hin und her, weil ihm die neue Hose ein wenig eng war. Sie ritten zu einer anderen Weide.
Dort legte er sich ins Gras. Sie hatte ihm, Ken, ein Lied gesungen, stellte er glücklich fest. Nun wohl, er steckte in schönen Kleider, aber war er deshalb weniger Ken? Er streckte sich zufrieden aus und schlief ein wenig, bis das Pferd ihn mit dem feuchten Maul weckte.
Dann ritt er durch die Stadt und schaute nicht, wie die Leute ihn angafften. Am Markt sah er einen Mann, der seinen Arm in einer Schlinge trug. Während sein Mädchen bediente, stand der Mann im Schatten und machte ein düsteres Gesicht. Ken ritt einmal um ihn herum, weil ihm das Aussehen des Mannes gefiel. Es war erdenklich vornehmer, einen Arm als zwei zu haben! Auch dachte er daran, dass das Pferd einen seiner Handschuhe aufgefressen hatte.
Also tauschte er Perlen von der Mähne des Pferde gegen ein sehr feines schwarzes Tuch. Dieses ließ er sich von dem Mädchen um den steif angewinkelten Arm binden. Das Mädchen hatte einen Glanz in den Augen und fragte Ken nach seinem Schicksal. Aber Ken biss sich stumm auf die Lippen, so ohne Worte und für sich war sein Schmerz. Da lief ihr eine Träne herab, so dick und glänzend wie eine Perle. Wie gern hätte Ken sie umarmt! Aber er fand, einarmig geworden, keinen rechten Ansatz und stand der Düsternis ihres Vaters sehr im Weg.
Als er am Hof zu den Wachen kam, saß er aufrecht zu Pferde und hielt den Zügel mit einer Hand. Der leere Ärmel schwang leblos an seiner Seite. Ken machte wegen seinem schweren Schicksal ein ernstes Gesicht. Der Hunger, der seit dem Morgen immer stärker geworden war, ließ ihn ein wenig bleicher dreinschauen und grimmiger als sonst.
Die Wachen versperrten ihm den Weg und warteten darauf, dass er sich erkläre. Sie konnten auch einen einarmigen Menschen nicht einfach passieren lassen. Sein Schicksal dauerte sie, und seine Haltung nötigte ihnen Respekt ab, aber sie mussten mit ihm verfahren, wie sie es gewohnt waren.
Ken überlegte. Dann sagte er langsam und dunkel: "Ich kommen, um zu freien die Hand der Prinzessin. Mein Vater ist Fürst KenKen vom Volk der Sagichen."
Die Wachen erschraken. Ein Fürstensohn hatten sie erwartet, doch hatten sie nicht gedacht, dass er bereits so jung einarmig geworden war. Zweimal waren die Töchter des Kaisers gestern bei ihnen gewesen und hatte ihn angekündigt. Immer wieder hatten sie gesagt, dass er kein Wort in ihrer Sprache spreche. Die ihn erklärenden Worte musste er auf seiner Reise gelernt haben.
Der eine der Wachen nahm Kens Pferd vorsichtig am Zügel und führte es über den Hof. Es war ein zutrauliches Tier, stupste ihn freundschaftlich mit der Nase und zupfte an seinem Hemd.
Die Magd, die Ken ein Lied gesungen und den Stiefel gestreichelt hatte, schaute aus einem Fenster heraus, aber Ken sah nicht dorthin. Der Alte stand in der Tür und kratzte sich den Rücken.
'Da sieh mir das einer an', dachte er. 'Aus einem Lausbub mach ich mir eher einen Fürsten als einen ordentlichen Stalljungen.' Als der Alte bemerkte, dass Ken seine Vorstellung einarmig gab, hielt er sich den Blechbecher vor den Mund, als trinke er.
"Sie speisen gerade", erklärte der Wache. "Soll ich sie trotzdem zu der Prinzessin bringen."
Ken nickte nachdrücklich. Obwohl er die fremde Sprache gerade kaum beherrschte, war er doch sehr hungrig.
Der Wache hatte ihn beobachtet. Wie die Augen des einarmigen Fürstensohnes leuchteten, darin erkannte er eine wahre Zuneigung. Das war gut, dass nun ein Ehrlicher kam, war doch der andere ein Missmut und, schlimmer noch, ein Herumtreiber gewesen.
Sie hatten den anderen Fürstensohn alle gesehen, wie er immer wieder loszog, kaum dass ihre Wache begonnen hatte. Man schwieg über den Vorfall mit dem Zwerg, war doch der Soldat, den man betrunken gefunden hatte, ein bekannter Raufbold gewesen. Doch konnte er sich seinen Teil denken. Dieser andere Fürstensohn hatte etwas mit dem Zwerg zu schaffen, das war gewiss!
Ken wurde in einen großen Saal geführt, die lange Reihe der Speisen entlang. Der Soldat und er selbst waren überaus beeindruckt von der Fülle der aufgehäuften Speisen. Weil viele der Diener an der Tür standen, wollte auch der Soldat dort stehen, bis die Herrschaften gegessen hatten.
"Ich will treten an Tisch, wo Prinzessin ist", verlangte Ken, und dies so entschieden und hohl, dass der Soldat ihn sofort weiterführte.
Hinter den Essensbergen verbarg sich ein langgestreckter Tisch. An seinen Enden saßen die Kaiserin, die nichts aß, und der Hofmarschall, der etwas schrieb statt zu essen.
Der Soldat führt Ken zu den Prinzessinnen. Nadim war starr, als sei ihr ein Schreckensbild erschienen. Dessa hätte am liebsten ihre Schwester in den Arm genommen, wenn es schicklich gewesen wäre und sie damit nicht alles verraten hätte.
"Wer ist der junge Mann?", fragte die Kaiserin.
Alle schauten von ihren Tellern auf und sahen Ken an. Er wies stumm auf Nadim, die für ihn sprechen sollte. Doch Nadim war die einzige, die auf ihren Teller sah.
"Hat er keinen Namen? Kennt ihn keiner?", fragte der Hofmarschall. Als niemand sich freiwillig meldet, wandte er sich an Ken: "Dann müsst ihr selbst für euch sprechen."
"Mein Name ist Ken, weil ich Sohn bin von Fürst KenKen", antwortete er. "Ich komme einen weiten Weg, weil ich gehört habe, Prinzessin ist ohne Mann."
"Aber wir haben zwei Prinzessinnen, die keinen Mann haben", warf die Kaiserin belustigt ein. "Will er sie nicht beide?"
"Nein, er nur will von ihnen diese!", sagte Ken und zeigte auf Nadim, die mit ihren Blicken den Teller durchbohrt hatte.
"Und er würde sie wirklich für immer mit sich nehmen?", fragte die Kaisern hoffnunsgvoll.
"Er sie nehmen für Leben bis Ende in Tod", verkündete Ken.
"Bitte", sagte die Kaiserin, "er soll einen Platz einnehmen - neben der Prinzessin Nadim."
"Er kann sitzen, wo ich gesessen habe", sagte Woi und erhob sich.
"Wenn er von einer weiten Reise kommt, ist er sicherlich hungrig", sagte die Kaiserin.
"Sehr weite Reise das war", sagte Ken, "so sehr lang wie Leben von ein Lamm." Würdevoll trat Ken an seinen Platz und ließ sich von Woi den Stuhl unterschieben. Dann hob er langsam den abgebundenen Arm auf den Tisch.
"Wie ist es passiert?", fragte die Kaiserin.
"Arm ist fort von Speer von Feind", sagte Ken und nahm sich ein Bratenstück.
"Sie sind uns willkommen", sagte die Kaiserin.
"Ich ...", sagte Ken kauend, "... großen Dank."
Chapter 78. Woi bei den Drachenzähnen
Die beiden Wachen sahen Woi gelangweilt an. Heute machten sie keinen frischen Eindruck.
"Na, dein Freund mit den Zähne nicht da", grüßte der eine ihn. "Wohl zum Nachfeilen gegangen, der Kleine ..."
Der andere gähnte und stampfte sich die Füße warm.
"Ich will mein Pferd!", sagte Woi.
"Wenn du mir mein Bett holst, besorg ich dir dein Pferd", bot der Soldat an.
"Nun habt euch nicht so", sagte Woi. "Die Ställe sind dunkel. Sagt mir wenigstens, wer die Schlüssel hat."
"Na ja, wenn es keinen Lärm macht, dein Pferd", sagte der sprechende Wachsoldat. "Geh, Schnör, zeig ihm das Häuschen vom Stallmeister, damit wir unsere Ruhe haben."
Der stumme Wachsoldat blickte Woi an, ob er kein Erbarmen hatte mit ihm oder wenigstens mit dem Pferd. Aber die Zeit auf Wache verging schneller, wenn einer etwas tat, als wenn einer nichts tat. Also schüttelte er seine Trägheit wie die Nässe von einem Pelz ab und winkte Woi mit dem Kopf, dass er ihm folgen solle.
"Danke", sagte Woi zum sprechenden Soldaten.
"Dich mag ich", sagte der Soldat. "Ist nur dein Freund, der Rattenzahn, den ich nicht mag. Dem Schnör ist alles egal."
Der eine Fuss des stummen Soldaten schritt aus, während der andere sich ziehen ließ, als sei er noch nicht geweckt worden. Sie gingen um die Ställe herum auf eine flache Hütte zu, die Woi bisher für die Behausung eines Wachhundes gehalten hatte.
Der Soldat nahm den Speer hoch und polterte mit dem stumpfen Ende gegen eine lose Tür. Von drei Scharnieren, die sich eisern in ihnen festgebissen hatten, wurden die Bretter daran erinnert, dass sie sich keine Hoffnung auf eine Freilassung machen brauchten.
Ein stoppelbärtiger, fetter Alter zeigte sich und kratzte sich verschlafen den kahlen Kopf. "Grümm nummm ehr wasnloswasn."
"Mein Pferd will ich", sagte Woi.
Der Soldat nickte. Dass der Stallmeister es nur glaubte und sich zu bewegen anfing. Betrunken war er, und faul war er, schon wenn er nüchtern war.
"Die Pferde sin' am Schlaf'n. Alles zu un' dunkel schon lang."
"Dann bitte geht und weckt mein Pferd", verlangte Woi. "Es ist wichtig!"
"Wichtig is', dass ich schlaf und wichtig is' ..."
Der Wachsoldat hatte seine behandschuhte Hand langsam ausgestreckt, und der Stallmeister musste mit sich weitenden und kreisenden Augen ansehen, dass seine Nase gepackt und langsam aus seinem Gesicht herausgedreht wurde.
"Jaul aul uihm uhmpf!"
Der Wachsoldat nickte der Nase zwischen seinen Fingern freundlich zu. Weich war sie und schien ihm recht biegsam. Es tat ihr nun weh genug. Sie würde nicht wollen, dass er ihr noch weher tat. Vielleicht war es nun wichtig genug, dass der Junge endlich seinen Gaul besorgt bekam.
"Ich mpfgeh schonmpf, ioua, meine Nase!"
Der Wachsoldat drehte die Nase so, dass sie wieder saß, wie sie gesessen hatte. Er war sich nicht sicher, aber er glaubte, dass das Gesicht so oder ähnlich ausgesehen hatte. Ein bisschen würde der Stallmeister noch drehen müssen.
Des Mannes gequetschte Klagen hörten sie im Stall. Irgendwo schlug sein Kopf dumpf vor, dann leistete Sattelzeug Widerstand. Schließlich kam er mit einem Pferd zurück und hielt sich die Hand vor das Gesicht.
"Danke", sagte Woi, als er Prinz in Empfang nahm.
"Umpf numpff", antwortete der Stallmeister und winkte ihnen zum Abschied mit der Hand, die nicht die Nase hielt.
Der Wachsoldat strich das Feuchte aus der Nase zwischen seinen Fingern am Rücken des Pferdes ab. Es bekam wie Woi einen Klaps, damit es nun endlich losging.
Woi sprang auf und ritt langsam, um keinen Lärm zu machen, über den Hof. Erst als das Tor in der Dunkelheit verschwand, ließ er Prinz freien Lauf.
Vor sich sah er bald die ersten hohen Bäume, die im Schatten aussahen wie die Stangen, auf denen die Soldaten ihre Helme ablegen. Eben ein wenig größer, mit Helmen für Riesensoldaten.
Sobald der Waldboden die Schritte von Prinz unhörbar machte, hielt Woi an. Es war zwecklos umherzureiten. Er musste sich etwas einfallen lassen. Irgendwo dort oben unter den Riesenhelmen schliefen die Drachenzähne, und weil sie sich sicher fühlten, schliefen sie fest.
Eigentlich hatte Prinz die Idee. Als er leise schnaubte, beschloss Woi, ihn die Pferde der Drachenzähne suchen zu lassen. Wahrscheinlich hatten sie für ihre Pferde ein Versteck in einer Senke des Waldbodens gebaut.
Prinz brauchte nicht lange, bis er von irgendwoher Witterung aufgenommen hatte, die Ohren drehte und immer weiter in den Wald hineinschritt. Dabei trat er vorsichtig auf, denn der Boden war mit feinhakigem Gestrüpp übersät.
Schließlich blieb Prinz stehen und begann, zu schnauben und zu scharren. Hier hatten sich die Ballen wie zufällig zu einer Platte verhakt. Die Rinde des Baumes wies von Pfeilen punktförmige Aufsprengungen auf. Woi sah hinauf, aber nichts verriet die Drachenzähne.
Woi stieg vom Pferd und schob das ballige Gestrüpp auseinander. Es ging ganz leicht. Unter ein paar Hölzern standen tatsächlich die Pferde der Vier und schnaubten.
"Es ist der Fürst", hörte Woi die Stimme von Schädel über sich zischen.
"Sicher ...?", grummte Tatze.
"Wenn er es doch sagt - glaubt es ihm einfach!", rief Woi hoch. "Habe ich euch geweckt?"
"Wir Drachenzähne schlafen nie", tönte Schädel. "Schlaf findet nur, wer ein Zuhause hat."
"Stell dein Pferd zu den anderen", rief Tatze.
Woi stieg die heruntergeworfene Leiter hoch, die heftig schwankte, weil niemand sie von unten festhielt. Er war froh, als er die Dachluke zu fassen bekommen und sich auf das Plateau gezogen hatte. Die Drachenzähne saßen in sich zusammengesunken. Ihr Schweigen war noch etwas schlaftrunken.
"Ich habe euch gesucht", sagte Woi und wartete, dass sie wach wurden.
"Ja", sagte der Zwerg heiser, "und nun hast du uns gefunden."
"Ja", sagte Woi. "Es ist wichtig, sonst hätte ich euch nicht geweckt ... ich meine, gestört."
"Nein ...", sagte der Zwerg.
"... hättest du nicht", vollendete Tatze.
"Grummnjum", der Narbige.
"Ich fange am besten vorne an", schlug Woi vor.
Schädel war dafür, den anderen war es egal, wo er anfing.
"Also vorne ..." Woi atmete tief durch. "Ganz von vorne!" Diesmal war es auch Schädel egal, wo er anfing.
"Ich will euch etwas fragen. Wollt ihr wissen, was es ist?"
Keiner von ihnen wollte sich so schnell festlegen. Tatze kratzte sich den Kopf, und der Zwerg gähnte wie ein Wiesel. Schädel setzte sich wieder, und der Narbige lehnte sich zurück.
"Warum macht ihr bei der Befreiung von Tesla Sohn mit? Das macht ihr doch oder?" Woi kam sich nun ziemlich blöd vor. Er hatte die Drachenzähne nur für diese Frage geweckt. Sie war ihm so wichtig vorgekommen, dass er nicht mehr hatte schlafen können.
"Ich mache mit, weil sie alle mitmachen", sagte Tatzte und war stolz, dass ihm zuerst ein Grund eingefallen war.
"Ist doch egal, warum", grummte der Narbige.
"Wenn Tesla es sagt", war die Begründung des Zwerges.
"Ich überlege noch", sagte Schädel grinsend. "Kommt überraschend, dass ich einen Grund brauche."
"Dann haben wir alle keinen richtigen Grund!", rief Woi triumphierend.
"Ich? ... wie? ... aber ich ...?", kam es aus Tatze.
"Du meinst, ich brauche mir keinen Grund zu überlegen, um mitzumachen?", fragte Schädel erleichtert.
"Wenn keiner von uns einen Grund hat, dann kann eigentlich nichts schiefgehen bei unserem Abenteuer, hab' ich mir gedacht."
"Ah hümm", gnalte der Narbige.
Es war ganz still bei ihnen hier oben. Der Wind war ausgesperrt, heulte und zog an dem alten Baum, der nur mürrisch knurrte und im tiefen Schlaf sein mächtiges Haupt wiegte.
"Meint ihr, ein Abenteuer ist es selbst wert, dass man es macht?", unterbrach Woi den Todschlaf des Gesprächs.
"Auf jeden Fall!", sagte Schädel, ohne nachzudenken.
"Schaden wird's nicht", bemerkte der Zwerg.
"Wie? Was hat er gesagt?", fragte Tatze ohne großen Wissensdrang.
Der Mond sprang zwischen den jagenden Wolken umher. In wechselnder Folge erschienen Woi die Drachenzähne heldenmutig, dann wieder brüterisch.
"Dann geht's also bald los?", stellte der Narbige fest.
Nun nickten sie alle. Nur der alte Baum schüttelte ganz langsam seinen Kopf. Ihm konnte niemand erzählen, dass es gut war, für ein Abenteuer fortzuziehen. Er würde bleiben, wo er war, da konnte ihn der Wind mit seinen wilden Gebärden nicht aufstacheln. Jeden Abend kam dieser angekrochen und heulte, weil er sich die Glieder verrenkt hatte bei seinem Umherjagen.
"Eigentlich", sagte Woi, "wollte ich euch nur sagen, dass ihr mit mir rechnen könnt."
Der alte Baum schüttelte immer mehr den Kopf, als der junge Mann, kaum war er gekommen, wieder die windige Leiter herunterkletterte. Als die Drachenzähne sie einziehen wollten, hielt der Alte sie fest, um die Burschen ein wenig zu ärgern, aber sie zerrten an dem Leiterding mit allen Kräften, und schließlich gab er sie frei. Eine Ast wollte er für ihre Narreteien nicht opfern!
Chapter 79. Li beantragt die Verbannung
Noch einmal schlug die Gerichtstür auf. Soldaten traten mit schweren Schuhen herein und schoben eine dicke, trippelnde Frau vor sich her. Zwei Bauersleute kamen ihr entgegen, die der Hunger so gezeichnet hat, dass man kaum sagen konnte, welcher der Mann und welche die Frau war. Die Soldaten schoben die Frau auf die Bank.
Dort saßen bereits ein Dicker mit einer Glatze und ein junges Mädchen, außerdem ein Langer und ein Kleiner in guten Kleidern. Aber solche kannte sie, würde ihnen nicht die Hand mit den Ringen daran reichen! Verächtlich machte sich die Frau noch dicker, sodass das junge Mädchen auf der anderen Seite fast heruntergefallen wäre.
"Ich hoffe, der Richter ist gerecht", eröffnete sie das Gespräch. "Wie einfach liegt mein Fall, wenn nur der Richter gerecht ist."
"Müde ist der Richter heute, Li. Ich weiß nicht, ob es gut ist, dass wir ihn behelligen", sagte der dicke Mann zu dem jungen Mädchen.
"- die Borstige, dieses Weibsstück!", setzte die Frau zur Ausführung ihres Falles an. "Hab ich doch nur gesagt, und das werd ich hier bezeugen, jawohl, dass sie aussieht wie eine Hexe, wie ein garstiges, böses, borstiges und altes Zauberweib. Und nun sagt sie, sie hätte einen Fluch auf ihrem Vieh und auf den Eiern und den Früchten, weil ich gesagt habe, sie ist eine Hexe. Dabei habe ich nicht gesagt, dass sie eine Hexe IST, sondern nur AUSSIEHT wie eine." Sie wollte niemanden von der Bank herunterstoßen, aber sitzen musste sie nun einmal, das war ihr nicht zu verwehren.
"Gleich bringen die Diener dem Richter die Decke", erklärte der dicke Mann. "Damit seine Füsse ihm nicht frieren, sagen sie. Aber ich höre sein Schnarchen, weil ich darüber wohne. Ich höre, wenn sie die Türen schließen, kurz darauf sein Sägewerk."
"Wie steht der Angeklagte sich vor dem Richter", fragte der Kleine den dicken Mann, "wenn er sagt, dass er hat einen Hunger am Leib gehabt und hat getan alles, was sie sagen, nur für das Brot", fragte der Kleine.
"Schlecht steht er sich bei ihm, würde ich sagen, schlecht. Der Richter beklagte die letzten Wochen eine Störung des Magens und des Abganges, wie er sagt. Ich würde vor ihm nicht von Essbarem sprechen. Ich höre in meinem Zimmer, wie es ihm geht in der Nacht, wenn er aufsitzt und für sein Stöhnen sein Schnarchen aufgeben muss."
"- doch die Borstige hat eine Tochter, die wo was man hört, einen wilden Busen hat und den Polizisten kennt, der vom den Präfekten weiß, dass er ein Haus hat, von dem niemand wissen darf, dass darin eine wohnt, die nichts zu tun hat, als dass sie sich die Haare kämmt und Sachen trägt, die wo jeder durchsehen kann!"
"Wie steht er sich vor dem Richter, wenn er sagt, dass die Schuld war keine Schuld und war nur Werkzeug von Zufall, das ihn hat gefangen damit?"
"Schlecht steht er sich", der Dicke schüttelte traurig den Kopf. "Ich saß und schrieb ein Gedicht über den Missmut - solche und andere Sachen - als ich, um mich von meinem Schicksal abzulenken, sein Urteil hörte in dem Falle zweier Matrosen, die in einer Schenke gewütet hatten, wo Soldaten sie inmitten ihrer Trümmer aufgriffen. Nichts zugeben wollten sie, als dass sie die Ersten waren, die angepackt hätten, um den Schaden zu beheben, worauf die Täter sich lachend davongemacht hätten."
"Nicht gut ...?" fragte der Kleine.
"Er fragte nicht einmal, wie das sein könne", sagte der Dicke mit der Glatze.
"- 'und wenn die Borstige eine Hexe ist', sagen mir die Leute, 'und fort muss, was sollen sie', fragen sie frech, 'saufen dann, um zu liegen auf der Straße in ihrem Dreck?' Also legen sie mich in Eisen und trinken von der Hexe weiter ihr Gebrautes. Aber die Gerechtigkeit will ich herbeirufen, dass sie kommt auch in unsere Stadt, damit sie sieht all die Leute, die Trinker, die Gauner, die Huren, die Hexen ..."
Ein Saaldiener stieß mit dem Fuß dreimal feste gegen die Bank, dass es alle durchschüttelte. Rechts an ihnen ging der Richter vorbei.
"Er trägt sein Kissen heute selbst", flüsterte der Dicke mit der Glatze. "Er wird müde sein. Ist in der Nacht viel aufgestanden, wie ich von meinem Bett gehört habe und hat gedrückt und gedrückt, aber es hat ihm keine Tröstung ins Wasser fallen wollen."
Der Richter sank langsam in seinen Sessel und in ein bleiches Schweigen hinein. Dann schreckte er auf, sah sich fremdelnd um und sagte schließlich mit dünner Stimme: "Wir werden heute gelegentlich kurz unterbrechen müssen, ich habe da eine schwierige Sitzung, die meine Anwesenheit erfordert."
Er wirkte bedrückt. Die einst wie Trauben sonnenprallen Tränensäcke unter seinen Augen waren eingetrocknet und mergelig. Er trank die halbe Karaffee Wasser leer und tauschte mit dem Saaldiener einen besorgten Blick.
"Zum Fall der Frau Hella", begann er wieder und sah müde auf vollgeschriebene Papiere.
"Bella ist es!", warf die Dicke gutgelaunt in den Saal.
Den Richter wurde Haut unter Haut fahl, als sie sich zu Größe und Umfang erhob.
"Gut, Frau Sella, eben ... der Fall der Frau Sella", sagte er und sah seinen Gerichtsdiener an.
"Nein, Herr Richter, sie machen es wieder falsch", lärmte die Dicke. "Es ist schon 'Sella', aber eben 'Sella Bella'. Das ist mein voller Name, und mein Vater, der die besten Würste gemacht hat in unserer Stadt, hat gesagt, das ist ein Name, wie zwei Würste hintereinander, dass man gleich sieht, dass das Ding zusammengehört."
Der Saaldiener trat mitleidig an die Seite des Richters. Er war ein großer Bursche, dessen kräftige Muskeln sich deutlich unter einem engen Ober- und Unterteil abzeichneten. Es war ein heimeliger Eindruck, ihn dort vorne stehen zu sehen, wie er die Hand des Richters hielt. Und es tat dem Richter Gutes. In seinem Gesicht zeigte sich Wölkchenrot über den Wangen, wanderte von den Backen zur Stirn, von dort zu den Ohren und sammelte sich auf der Nase. Schließlich schaffte es der Richter, seine ganze restlich verfügbare Kraft in einen Blick zu legen, mit dem er Sella Bella böse ansah.
Sie hatte derweil weitererzählt von den Würsten, die der Vater noch selbst mit der Hand herauszogen hatte, und vergaß nicht zu sagen, dass sie ihr, seiner Tochter Sella Bella, immer zu glitschig waren und irgendwie unappettitlich, natürlich nur, wenn sie roh aus der Presse kamen, dann glitschten sie, dass sie die nicht fassen konnten.
"Frau Sessel Bell oder so!", keuchte der Richter. "Sie stehen hier vor dem Gericht des Kaisers, halten sie den Mund, sonst werde ich eine Maulsperre anordnen."
Frau Bella erhob sich, setzte sich, und erhob sich wieder. "Herr Richter!", sagte sie und empörte ihre Augen.
"Halfi", sagte der Richter und ließ die Hand seines Saaldieners los, "nimm eine von den neuen. Sie lassen sich leichter anbringen." Der Richter hatte eine Schublade aufgezogen und reichte ihm ein starr geöffnetes Gebiss.
Halfi steuerte auf Frau Bellas Mund zu. Sie sah ihn fassungslos an, öffnete ihren Mund, schloss ihn wieder und als sie ihn wieder öffnete, schob ihr Halfi augenschlagschnell das Gebiss zwischen die Zähne, welches sich mit metallische Klang in ihrem Sprechorgan einrastete. Nun hatte Frau Sella Bella ein angestrengt ausdauerndes Lachen befallen.
Halfi war zufrieden mit seinem Werk und nahm den Richter wieder an der Hand.
"Frau Bellsell, ich verweise sie und ihren Fall zurück an den zuständigen Präfekten. Soll er nach seinem guten Dünken mit ihnen verfahren. Ich kenne diesen Mann, wohnte einst in seiner Stadt. Er hat ein reizendes kleines Häuschen dort, an das ich nur die angenehmsten Erinnerungen habe."
Frau Sella Bella lächelte breit und schwieg.
"Die beiden dort", der Kleine und der Große erhoben sich, "die missbräuchlich das Siegel des Kaisers für ihre falschen Prägungen benutzt haben, um den Menschen damit die Gewogenheit des Kaisers zu verkaufen, um auf die niedrigste Art zu betrügen - ich bin geneigt, sie auf das strengste zu bestrafen." Halfi nickte, als habe er nur dieses Urteil als das einzig gerechte erwartet.
"Ich sehe nicht, was Unrecht war daran", hob der Kleine an. "Die Menschen sind gekommen zu uns und haben abgegeben Taler. Die Menschen sind gegangen zum Hof und haben abgegeben Beschwerde. Ist kein Unrecht, was ich sehe. Ist nicht verboten, Taler zu geben. Ist nicht verboten, Beschwerde zu haben."
"5 echte Goldtaler in die Gerichtskasse zu Halfis Händen oder ein schreckliches Urteil, das ist mein letztes Wort", kam es aus der Tiefe des Richtersessels.
Der Große sah den Kleinen an. Dieser blies erleichtert die Backen auf. Auch sie fassten sich an den Händen und setzten sich.
"Halfi, was wollen diese beiden dort?", fragte der Richter ermattend und zeigte auf den Dicken mit der Glatze und das junge Mädchen, das seit einiger Zeit neben der Bank gestanden hatte.
"Kenne ich nicht. Weiß nicht, was die wollen", sagte Halfi. Unter den geweiteten Augen des Richters kratzte er sich im Schritt. Immer wenn er glaubte, irgendwie etwas Wichtiges vergessen zu haben, kratzte er sich dort. Es war eine ungetilgte Angewohnheit aus der Zeit, als er noch Gefangenenwärter gewesen war.
"Ich kenne sie", sagte der Richter und zeigte auf den Dicken. "Aber das Mädchen kenne ich nicht", sagte er und zeigte auf Li.
"Ich bin Dichter zu Hofe und trage den Namen LoBe", sagte der Dicke und trat vor. "Dieses junge Mädchen an meiner Seite heißt Li. Ich habe ihr versprechen müssen, den ehrenwerten Kaiserlichen Herrn Richter um eine Verbannung nachzusuchen. Falls sie also die Gnädigkeit haben, uns zu verbannen, wir wären zu jeder Zeit bereit, die Reise mit dem Schiff anzutreten"
Der Kleine sah den Großen an. Der Richter sah seinen Saaldiener an. Frau Sella Bella hätte gerne etwas gesagt, aber sie lächelte nur.
Der Richter erhob sich und lächelte nicht. "Herr Dichter LoBe, ich kenne sie als einen Mann des Spaßes und der Kurzweil, aber dies ist nicht der Ort, der auf ihren Auftritt gewartet hat."
"Wir bieten uns an - können tauschen mit jemandem, der ein wahres Unrecht begangen hat!", rief der Dichter.
"Ich habe nicht all die Jahre mein Bestes gegeben, Schuld und Unschuld zu wägen", sagte der Richter, "um mich von ihnen verulken zu lassen."
"Dann sprechen sie mich schuldig, dass ich meiner Spracher Gewalt zufügt habe, dass ich an meiner Gabe Betrug beging, dass ich meine Ideen mit den höfischen Räubern aufwachsen ließ", rief LoBe, der Dichter. "Ist nicht manch einer für viel weniger in Ketten aus diesem Saal geführt worden?"
"Das kann euch auch passieren! Nehmt euch nicht zu viel heraus!", sagte der Richter und hatte sich bleich und auf Halfi gestützt erhoben. "Ich habe dringlichere Geschäfte zu erledigen, als euren Unsinn anzuhören."
Der Dichter LoBe war nicht der Mann einem anderen - und sei er ein noch so dringlich bedrückter Richter - das letzte Wort zu überlassen, aber Li zog an seinem Ärmel. "So hört doch, was er sagt!", flüsterte sie. "Wenn er uns einsperrt, dann haben wir keine Hoffnung mehr."
Chapter 80. Das Abenteuer
"Dieser Ken ist erstaunlich", sagte Baldeina, "Er ist noch nicht einmal so alt wie wir und hat schon einen Arm im Kampf verloren."
"Der hat eben Glück!", sagte Woi, der auf seinem Bett lag und zur Decke sprach.
"Glück?", rief Baldeina entsetzt. Er hatte sich vorgestellt, wie der Arm auf dem Boden zappelte, als gäbe es für ihn noch etwas zu kämpfen.
"Mit dem Arm, das war Pech", erklärte Woi. "Aber er hat Glück, weil er bei einem Reitervolk aufgewachsen ist. Da findet er sie leicht, die Abenteuer."
"Also ich für mich bin froh, dass mein Vater kein Reitervolk hat. Es geht uns doch gut! Ehrlich!"
"Ihr passt sicherlich gut zusammen, du und dein Vater und euer Volk", fand Woi.
"Ich glaube, Nadim mag Ken weniger als dich", sagte Baldeina und wurde rot.
Es hatte draußen zu regnen begonnen, und der Wind hatte gedreht. Jetzt schlugen die Tropfen gegen die zwei kleinen Scheiben.
"Sind die Fenster zu?", fragte Woi.
"Ich habe extra nachgesehen", log Baldeina.
Woi lag auf dem Bett und sah zur Decke hoch. Baldeina saß auf dem Schemel über seinen Bauch gebeugt, um diesem anzuzeigen, dass er sich in den nächsten Stunden keine Hoffnung auf eine Mahlzeit zu machen brauchte.
"Ich glaube, die anderen mögen mich erst, wenn ich mich selber mag", sinnierte Woi zum Regen hinauf.
"Aber ich mag dich doch ... wie einen Freund", warf Baldeina ein. Er sah, dass sich an den Fenstern Wasser sammelte. Es war ein Rinnsal, jedenfalls sah es so aus. Vielleicht war es auch nur ein Riss. Der Regen trommelte gegen die Scheiben, als mache er sich Hoffnungen.
"Ich mag MICH nicht - das ist das Wichtige!", rief es ungnädig zur Decke hinauf.
Baldeina dachte darüber nach, dass Leute mit Abenteuern oft keine Zeit hatten, um zu essen. Manchmal waren sie auch gefangen und bekamen nichts - nicht einmal ein Bett, worauf sie mit ihrem Hunger schlafen konnten.
"Ich mag mich eigentlich genug", sagte Baldeina. Er sagte lieber nichts weiter, um vor Woi nicht als Feigling zu erscheinen. Da sie ja Freunde waren, würde er helfen, wenn Woi in seinem Abenteuer einen Freund brauchte. Das konnte er sich gut vorstellen.
"Ich glaube, Abenteuer gibt es genug", sagte Woi. "Nur die passenden Männer gibt es zu wenig!"
Baldeina nickte und beugte sich über seinen Bauch.
"Ein Abenteuer geht von einem zum anderen, glaube ich, bis es schließlich einen findet."
"Bestimmt sucht ein Abenteuer ziemlich lange", sagte Baldeina, aber das war irgendwie nicht, was er hatte sagen wollen.
"Wenn ein Abenteuer jemanden gefunden hat, weiß es noch nicht, ob er der Richtige ist ...", dachte Woi laut nach.
"Ich glaube, für ein Abenteuer ist jeder erst mal nur ein Anfänger, wie der Küchenjunge für den Koch."
"Nein, bestimmt nicht!" widersprach Woi. "Sonst könnte ja jeder Abenteuer lernen, wie jeder das Kochen lernen kann. Das stimmt aber nicht!"
Baldeina pflichtete ihm bei: "Du hast recht. Das Abenteuer, stelle ich mir vor, holt sich ein paar gute Leute zusammen -"
Das hörte sich schon besser an, fand Woi.
"- dann ziehen sie los, und am Ende ist einer übrig, eben der Beste. Das spricht sich herum bei den anderen Abenteuern, bis alle wissen, was für ein toller Mann er für solche Sachen ist. Natürlich kommen sie alle jetzt zu ihm und zu keinem anderen!"
Woi nickte. Dafür, dass Baldeina keine Lust auf Abenteuer hatte, konnte man gut mit ihm darüber reden.
"Du musst nicht denken, dass ich feige bin", sagte Baldeina.
Woi gab ihm zu verstehen, dass er überhaupt nicht so gedacht hatte.
"Es ist nur, wenn ich es mir aussuchen könnte, dann müsste es nicht unbedingt ein Abenteuer sein. Ich finde auch andere Dinge gut ... Aber wenn ein Freund bei einem Abenteuer Hilfe braucht, dann kannst du dich auf mich verlassen."
"Weiß ich doch", sagte Woi.
"Und was ist mit Nadim?" Baldeina sah zu den beiden Fenstern hoch, die von innen beschlagen waren. Der Regen schlug, als werfe einer aus der Hand Wasser dagegen.
"Ich weiß nicht", gestand Woi, "mal denke ich so, dann wieder so. Es hat keinen Zweck, über irgendetwas nachzudenken."
"Ist es der Fluch?", wagte sich Baldeina vor.
"Es war vielleicht nicht klug ... das mit den Haaren", gestand Woi.
"Tut es dir nun leid?", fragte Baldeina etwas verwirrt.
"Nein, es war nur nicht KLUG!"
Baldeina überlegte: "Ist es denn wichtig zu wissen, ob sie dich liebt. Es geht vielleicht auch mit Nadim, OBWOHL du verflucht bist!"
"Und wenn es nachher doch wichtig ist? Was würde Nadim sagen!?"
Baldeina überlegte, ob er sein Wissen über Nadim für sich behalten oder weitergeben sollte. 'Eigentlich', dachte er, 'habe ich Glück, dass es so einfach bei mir ist. Und Dessa hat natürlich auch Glück!'
"Ich würde gerne mit dir heiraten!", rutschte es Baldeina heraus. Er war gerührt, dass Woi wie ein richtiger Freund war. Vielleicht war es aber auch der Hunger, der ihn in eine Stimmung versetzte.
"Mit mir HEIRATEN?"
"Ich habe dir noch nicht gesagt, dass die Prinzessinnen nur zusammen heiraten wollen. Du verstehst doch? Dessa heiratet mich nur, wenn auch Nadim einen heiratet. Das ist für mich ziemlich schwierig. Ehrlich gesagt, wärst du mir zum Heiraten am liebsten, weil es wegen der Freundschaft ist!"
"Du kannst doch auch mit dem Ken heiraten!"
"Ich weiß nicht, ich habe so ein gewisses komisches Gefühl bei ihm", stotterte Baldeina und hatte sich fast verraten. "Ich meine, wenn ich seinen Arm sehe - also den, der noch dran ist ... "
"Aber das kann dir doch egal sein", unterbrach ihn Woi.
"Eben nicht! Die Prinzessinnen sagen, dass sie alles teilen werden, auch nach der Heirat ... Glück und Unglück meine ich, sonst natürlich nichts!"
"Wenn Nadim unglücklich ist, dann auch Dessa und du?",
fragte Woi amüsiert.
"Ich finde es nicht lustig", sagte Baldeina empört.
"Dann komm doch mit auf mein Abenteuer", schlug Woi vor.
"Das fände ich überhaupt noch weniger lustig!", antwortete Baldeina.
'Ein Abenteuer in der Küche, das wäre das Richtige für ihn!', dachte Woi verächtlich.
"Findest du nicht, dass auch eine Heirat mit einer Prinzessin ein Abenteuer ist? Ich meine, wenn man es mal andersherum sieht."
"Also wirklich", empörte sich Woi, "du willst es mir nur madig machen!"
"Was ist denn GENAU der Unterschied?", fragte Baldeina streitlustig.
"Wenn du es wissen willst - ein Abenteuer ist geheim und eine Heirat nicht."
"Das ist nicht viel an Unterschied!"
"Außerdem, wenn ich es bestanden habe, dann ist es vorbei und ich kann stolz sein!"
"Auch nicht viel an Unterschied!"
"Man muss dafür mutig sein - heiraten kann schließlich jeder!"
"Das ist es nämlich, was du wirklich denkst! Dass ich nur heirate, weil ich feige bin. Ich frage dich, ist es MUTIG, dass du einfach vor Nadim abhaust?"
"Du hast die Fenster nicht verschlossen!", stellte Woi fest und tippte mit dem Finger auf das Rinnsal. "Es ist deine Schuld, dass es hereinregnet."
"Gut", sagte Baldeina und stieg auf sein Bett, um die Fenster zu schließen. "Es ist meine Schuld, dass es hereinregnet, und wir sind wieder Freunde."
"Abgemacht", sagte Woi, "und außerdem kann ich nicht hierbleiben, weil ich schon versprochen habe, dass ich dabei bin."
"Wem versprochen?", fragte Baldeina erstaunt.
"Eben denen, über die ich nicht sprechen darf."
Chapter 81. Li und LoBe mit Papierregen
Lis Dichter war betrunken. Es half nichts, er hatte zuviel getrunken, als dass er nun aufhören konnte, und er hatte viel zuviel getrunken, als dass er es vor Li hätte verbergen können.
Nein, er hatte nicht nur getrunken, auch ein Gedicht war ihm eingefallen! Doch hatte er es wieder verloren. Es war schnell eingefallen und ebenso schnell wieder ausgefallen.
"Es war ein schlechtes Gedicht. Ein gutes Gedicht verliert sich nicht. Es war ein Hofgedicht, ein solches, wie sie sich leicht verlieren. Ein gutes Gedicht ist wie ein Mensch, ein wirklicher Mensch. Man bindet ihn auf einem Tisch fest und quält ihn solange, bis er mehr verraten hat, als er gewusst hat."
Er machte Anstalten, auf den Tisch zu steigen, um sich von Li quälen zu lassen. Es war ein schwächlicher Tisch, der nie mehr getragen hatter seine Hose hochziehen würde, die genug von seinem behaarten Gesäß zeigte, dass eine Dame sich zweifach schämen musste!
'Warum', dachte sie, 'trägt dieser Dichter Hosen, die besser etwas anderes wären, und klagt - derselbe Dichter klagt! - wenn mir beim Abschreiben seiner Gedichte ein Kleckserchen passierte?"
Der Dichter fasste seinen Bauch und seinen Gürtel und zog sie gegenläufig aneinander vorbei.
'Warum', dachte sie, 'trägt dieser Dichter Hosen, die besser etwas anderes wären, und klagt - derselbe Dichter klagt! - wenn mir beim Abschreiben seiner Gedichte ein Kleckserchen passierte?"
Der Dichter fasste seinen Bauch und seinen Gürtel und zog sie gegenläufig aneinander vorbei.
"Du sollst nicht nach den Unsterblichen fragen, Kind", sagte er und setzte die Arbeit an der Hose rückseitig fort. "Du machst mich trauervoll traurig."
Er ging um den Tisch herum und nahm einen Schluck aus der Flasche. "Ich will es dir erklären. Sie handeln vom Tod, den als Pfand die Liebe sich erbat, vom Glück und der Trunkenheit, von der Nacht, die mit ihren Sterne die schwarzen Kiefer schmückt ..."
Er schüttelte lose den Kopf: "Und nichts habe ich davon erlebt, dass ich es dichten könnte. Wie könnte die Liebe sich vor den Wachen am Tor ausweisen? Das Glück hier wird verteilt mit der Wurst, dem Bad und der Tusche. Zu sterben hat niemand ein Recht als der Kaiser allein."
"Was sollen wir tun", sagte Li und gab sich keine Mühe, ihre Traurigkeit zu verbergen. "Wir werden nicht verbannt und von ihnen, Herr Dichter, wird man andere Dinge in Erinnerung haben, als dass sie Gedichte schrieben. Die Menschen werden sagen: 'Das Zimmer dort oben haben wir seit seinem Tod nicht mehr in Gebrauch, so ging es dort zu. Er machte Spaß und trank. Schließlich trank er, um Spaß machen zu können. Irgendwann war sein Zimmer so voll leerer Flaschen ... vielleicht lebt er noch, wir wissen es nicht."
"Da deine Bosheit wie deine Schrift ohne einen Makel ist, will ich sie dir gern verzeihen ... Findest du ehrlich, es sieht so schlimm dieses Zimmer, so leervoll mein Leben aus?" Er sah sie freundlich an und lachte in Gedanken an ihre Rede.
Dann machte er ein ernstes Gesicht. "Ich könnte ... weiß, wie es geht ... Die unsterblichen Gedichte schreiben sich selber auf, in den Kopf hinein, ohne Papier. Was schlecht ist, fällt weg. Das Gute bleibt. Selbst das Trinken schadet ihnen nicht, hmm."
"Dann fangen wir damit an!" Sie nahm das Papier fort und füllte ihm ein Glas nach.
"Fangen wir wirklich an?" fragte der Dichter zaghaft.
"Ich HABE schon angefangen, es gibt kein Zurück mehr in die Sterblichkeit."
"Denk an mein Alter", jammerte der Dichter, "ich rief das Sterben schon, da kommst du mir mit der Unsterblichkeit!"
Der Dichter stand im Zimmer. Er sah sich traurig um, als gelte es Abschied zu nehmen von einem Bekannten. Er sah die Gegenstände an, als müsse er einem toten Freund das Zimmer leerräumen. Er nahm ein Blatt Papier auf und zerriss es langsam, als zerreisse er eine Urkunde, die ihm Besitz und Wohlergehen garantierte. Die Papierfetzen regneten feierlich zu Boden. Als er sie schweben sah, so wie ein Nichts eben schwebt, klärte sich sein Gesicht zu einer Helle auf.
"Hilfst du mir?" fragte er Li. "Wir wollen alle Papierschatten einsammeln, die leeren und die bekritzelten, und sie zerreissen. Wir machen einen schönen Regen. Jeder soll sehen, dass etwas geschieht."
Li suchte Papier. Überall fand sie es. Geknüllt und feucht, abgerissen und löchrig, voller Weinflecken, roten und weißen. Und immer wieder fand sie eins, das leer war, dass von Wein und Tusche vergessen worden war. Diese legte sie vorsichtig beiseite.
Die anderen gab sie LoBe, der sie zerriss oder sich damit den Schweiß von der Stirn wischte. Sein Gesicht sah bald wie eines der zerknitterten Papiere aus. Dort hatte Wein abgeschmiert, hier umgab ein Kranz von Tusche dem Mund. Und die Stirn, gekraust in der Breite, gefurcht in der Länge, schwitzend und schmierig, nahm unterschiedlos alles an, was ihr geboten wurde.
"Das ist ja Arbeit", keuchte Zaz. "Man wird an meinem Grab sagen: 'Als sein Geist sich aufmachte zur Unsterblichkeit, grad' da starb ihm das Fleisch. Er schlafe sanft und schnarcherlos. Schenkt ihm keine Träne. Seufzt, wenn ihr selber sterbt. Lacht über ihn, wenn er es wert war. Die Arbeit raffte ihn hin, als das Genie ihm die Hand zu keiner Hilfe bot.' Sie werden stehen und die Köpfe beugen und unverständig sein, dass niemand diesem Mann bei der Fron zur Hand ging. 'Hat niemand gesehen', werden sie fragen, 'dass er aus edlerem Stoffe, feinerem Schliff war und Schwielen nicht vertrug?' So werden sie Jagd machen auf die Schuldigen mit ihren Fragen wie die Jäger mit einem Rudel von schrecklichen Hunden."
Während Li nach und nach vom feinen Papier einen kleinen Stapel gebildet hatte, während der Dichter immer schneller und schneller redete, sahen von unten die Menschen hinauf, als hätten sie bereits eine Ahnung, dass es ihnen regnen würde.
Sie hörten die Stimme des Dichters, der sich aus dem Fenster gebeugt hatte und in den Hof rief, damit sie es alle hörten, denn so mühevoll war die Papierschnitzelei gewesen, dass es nicht unbemerkt vorüber sein durfte. "Seht!", rief er. "Blickt! Starrt! Merkt auf! Ihr Diener und ihr Herren, Bücklinge und Sitzlinge, der Dichterhimmel gibt euch ein Zeichen."
Sie hörten, dass eine Mädchenstimme ihn zurechtwies. Es folgte eine Wolke von Papierfetzen. Dann schloss sich das Fenster. Darauf verkündete sich den ratlos Beschneiten aus der Höhe eine antwortlose Stille.
"Höre, Li", sagte der Dichter. Er war ruhig geworden. Fast ohne Gier hatte er im Umhergehen die Flasche geleert und sich auf das Bett gelegt. Es verging eine Zeit, die mit nichts gefüllt war als dem atmenden Tappen seiner Hand auf der ausgewölbten Bauchdecke und dem zählenden Zucken des losesten und größten der Zehen.
Schließlich ächzte er laut und sagte: "Li, nimm eines deiner weißesten Blätter! Schreib dies Gedicht auf, dass wir es nicht bei der Geburt verlieren!"
Am Feldrand fasst er Gatter
In jedem Aug' ein Kreis.
Er ist so früh betrunken
Dass er zum Himmel ruft:
Ich bin der kleine Junge
Der einst dich schneien sah.
Ich sah hinauf und dachte:
Wie Asche ist der Schnee,
Wie Trauer und wie Staunen
fällt er auf Hand und Haar.
Ein Wagen kommt auf Wogen
Man wirft ihm zu den Ring.
Doch er ist sturzbetrunken
Und fällt zu Boden um.
Wenn ich bald sterb', ruft er,
und brenn, 'nen Jungen holt ...
- Der Wagen ist schon weiter
hört kaum mehr sein Geruf -
... dann schneit ihm meine Asche
auf Hände und auf's Haar.
Chapter 82. Woi nimmt Abschied
Der Narbige bedeutete Woi, dass sie zu Fuß zum Tor gehen sollten. Sie sahen den Soldaten zu, die sich den weg freigerufen hatten. Ihre Kleidung war staubig und knittrig. Die Gesichter mürrisch, die Augen sahen starr nach vorne. Sie hielten die Pferde so fest am Zügel, dass diese scheuten.
Als sie vorbei waren, sagte der Narbige: "Sie haben einen langen Weg ohne viel Rast hinter sich. Sind nicht aus dieser Gegend und das Pflaster nicht gewohnt." In seiner Stimme lag ein tiefer Hass, den er zu verbergen suchte. "Ich werde mich ein bisschen umsehen, während du deine Sachen zusammensuchst."
"Gut", sagte Woi. "Wann treffen wir uns wieder?"
"Ich werde da sein, wenn du gehst", sagte der Narbige. Er beobachtete angestrengt, wie die Soldaten am Tor in Empfang genommen wurden. Sie wurden durchsucht und mussten ihre Papiere vorweisen. Das alles war kein Spiel, wie die Soldaten es aus Langeweile trieben. Erschöpft und gereizt waren die Neuangekommenen. Unruhig, fast ein wenig ängstlich wirkten die Soldaten, welche sie in Empfang nahmen.
Woi fand einen Stall für sein Pferd und versorgte sich in der Küche mit Brot und Fleisch. Einem Koch, den er kannte, gab er ein wenig Geld. "Wenn einer kommt mit Narben im Gesicht - der gehört zu mir. Gebt ihm ordentlich zu essen."
Auf dem Weg begegnete ihm Baldeina, der sich mit einer kleinen Zwischenmahlzeit versorgt hatte. Baldeina erzählte kauend von Dessa. Für ihn war es eine Sache des Anstandes, den Freund über Dessas großartige Tugenden und Vorzüge in Kenntnis zu setzen.
Als er zusätzlich einen Stapel süßer Oblaten in seine Hand gebracht hatte, kam er auf Nadim zu sprechen. Das heißt, er schwieg einige Momente lang und sah Woi tief teilnehmend an. Der schien aber nicht verstehen zu wollen.
"Du und Nadim", begann Baldeina aus tieferen Lagen, "... wir sprechen oft über euch. Dessa ist ein so guter Mensch. Und sie liebt ihre Schwester so von Herzen ganz und sagt immer, wie traurig Nadim über alles ist."
Woi erbat sich einen der süßen Oblaten. "Ich werde sie vermissen, die Oblaten, die Pflaumenküchlein, die Sahnesäckchen, die Cremetaler, besonders die hellen, die du mit Sirup bestreichst. Wo ich hingehe, werde ich froh sein, wenn ich mit Brot satt werde."
Baldeina sah ihn entsetzt an. Nadim würde untröstlich sein! Wie sollte er ihr das beibringen? Wie würde es ihre Schwester, seine Dessa, verkraften? Das hatte Nadim nun von ihrem ganzen Schwindel mit diesem Pferdeburschen!
Woi umarmte Baldeina, dass diesem das Herz ganz weh wurde. "Wenn für mich eine Portion übrig ist, Baldeina, dann sollst du sie bekommen. Was immer es ist, du sollst es an meiner Stelle essen dürfen."
"Du macht einen Spaß", sagte Baldeina. "Ich habe es nicht geglaubt, als Nadim davon gesprochen hat, dass du fortgehen wirst. Sag ehrlich: In Wirklichkeit bist du gekommen, um mir zu sagen, dass ihr euch nun endlich verliebt habt, du und Nadim!"
Woi schüttelte den Kopf. Er sah Baldeina nicht an, sondern zur anderen Seite. Eine Tür war von selbst zugeflogen. Draußen sang eine der Köchinnen unter dem offenen Fenster.
"Ich werde euch verlassen", sagte Woi. "Ich mache keinen Spaß damit. Ich kam, um meine Sachen zu holen."
Er betrat sein Zimmer. Es war so ordentlich, als habe niemand darin gewohnt. Fast war er sich unsicher, ob dies sein Zimmer gewesen war. Nichts war hier, was ihm gehörte. Aber auf dem Schrank lagen die Sachen, die er mitnehmen wollte. Es war nicht viel.
Er hörte, wie Baldeina sagte: "Ich warte lieber draußen auf dich."
Woi sah sich ein letztes Mal um. Auf seinem Bett, oben im Schatten des Kissens, sah er eine Locke von schwarzem Haar liegen. An einem Ende war sie in rotes Siegellack gedrückt worden. Darunter fand er einen Zettel. Nur ein paar Worte waren es:
Wenn du gehst
Lass hier meinen Schmerz.
Wenn du lachst
Vergiss, dass ich wein.
Wenn du liebst
Sagt mir's der Wind.
Woi war wütend, weil er nicht wusste, was er tun sollte. Sollte er die Locke an sich nehmen oder so tun, als habe er sie nicht bemerkt? Es war eine verflixte Sache! Zum Abschied schnitt ihm Nadim von ihrem Haar ab und schrieb solche Worte!
Er fühlte sich schuldig. Dabei konnte er sich nicht verlieben, und sie wusste, dass er es nicht konnte!
Wenn er ging, dann machte er sie traurig, blieb er, dann war es ein ebenso großes Elend. Was er machte, sie hatte dafür gesorgt, dass es falsch war!
"Ich gehe", sagte er halblaut und voller Wut. Er packte seine Sachen in den Sack und nahm eine kleine Dose. In diese tat er ihr Haar und drückte sie fest zu.
Baldeina stand draußen und wartete. Er war eigentlich froh, dass er nicht solche Dinge in seinem Bett fand. Er stellte sich vor, er würde eine Locke finden, die nicht von Dessa war.
'Ich schwöre, dass ich nicht weiß, von wem sie ist!', so seine Rede.
Aber Dessa glaubte ihm nicht. 'Du lügst, ich hab es immer gewusst!', so ihre Entgegnung.
'Mit solchen Haaren kenne ich keine, ich schwöre!'
'Sag, wer sie ist, sonst bist du ein Treuloser, Baldeina, und ein Lügner dazu!'
'Ich lieb' doch dich nur, meine Dessa!'
'Das hört sie gern, deine Dessa, denkst du bei dir. Aber, pfui, sie glaubt ihm nicht, dem Baldeina!'
Ihn, Baldeina, brachte allein die Vorstellung, dem Fund einer unbekannten Locke ausgesetzt zu sein, den Tränen nahe, aber Woi lächelte und zeigte sich kalt wie der Griff von einem Schmiedetor.
"Was willst du tun?", fragte Baldeina. Er hoffte inständig, dass ihm nicht Botengänge zugedacht waren. Er wusste, wie Dessa ihrer Schwester zugetan war. Sie würde nicht verstehen wollen, dass Woi schlicht unfähig war, Nadim oder irgendeinem Mädchen sonst das einfache oder sonst irgendein Glück der Liebe zu schenken.
"Bitte", sagte Baldeina, als Woi nichts sagte, "du kannst alles von mir verlangen, aber, was immer es ist, lass mich aus dem Spiel. Ich habe mein kleines Glück gefunden, und -"
"Kann ich dich beruhigen", sagte Woi. "Das muss ich alleine mit mir ausmachen. Ich habe mir gleich gedacht, dass du nur für deine Dessa da sein willst. Außerdem sind wir schon vollzählig."
"Wovon sprichst du denn, bitte", verlangte Baldeina zu wissen.
"Von dem, was ich tun will. Von was sonst?"
Baldeina war wirklich erleichtert. "Du sprichst nicht von Nadim und dem allen?"
"Ach", sagte Woi, "du bist wirklich ein schlechter Abenteuerer! Du denkst nur an deine Bequemlichkeit und dass Dessa nicht böse wird mit dir. Pah, es gibt ja wohl noch etwas anderes als Mädchenlaunen."
"Und was wäre das bitte?", verlangte Baldeina mit Rauhbeinstimme zu wissen. Er hatte es nicht nötig, sich von Woi beleidigen zu lassen. Der wollte einfach nicht erwachsen werden, das war es doch!
"Darüber darf ich nicht sprechen", antwortete Woi ernst. "Ich kann nur sagen, dass wir eine Bande sind, deren Anführer ich bin."
"Eine Bande?" Baldeina griff sich an den Kopf. "Andere denken daran, ein Paar zu werden, und du wirst Anführer von einer Bande - ich begreife es nicht!"
"Das verstehst du nicht!"
"Das, gestanden sei es dir, verstehe ich wirklich nicht", süßelte Baldeina. "Dazu fehlt mir ... was immer es ist. Ich finde nicht einmal das Wort dafür, so sehr fehlt es mir."
"Ach, lass mich in Ruh! Du denkst, du bist besonders klug mit deiner Dessa, aber tauschen möchte ich nicht!" Woi überlegte kurz, gab dann Baldeina aber doch die Hand.
"So", sagte er, "ich gehe jetzt. Wir werden uns wohl nicht mehr sehen. Vielleicht hörst du ja von mir, wenn ich berühmt bin."
Baldeina war zugleich zum Lachen und zum Heulen zumute. Er umarmte den Verrückten ganz feste und wünschte ihm von Herzen alles Gute.
"Ich meine das nicht so, du weißt schon, das mit deiner Bande. Du wirst bestimmt ein ganz berühmter Anführer werden", sagte Baldeina.
"Ich meine es auch nicht so, das mit deiner Dessa und dem", sagte Woi und sah knapp an Baldeina verheultem Gesicht vorbei.
Chapter 83. Nadim entdeckt Wois Abreise
Wenn jemand kam und sich verwunderte, würde Nadim ihn sogleich mit träumerischer Stimme ansprechen: 'Wo bin ich hier? Ich habe mich verirrt. Manchmal schlafe ich schlecht und gehe umher.' Das würde sie sagen und sich zu ihren Gemächern zurückführen lassen.
Aber es kam niemand, und das war gut so, denn sie war am Ziel. Eigentlich wartete sie nur noch auf ein ganz wenig Mut. Sie musste sich sagen, dass alle schliefen und nur sie wach war. Das musste sie sich sagen und sich mutig stimmen!
Sie lehnte gegen den Türrahmen und sah sich um. Niemand war in der Nähe, nirgends ein Geräusch. Wenn sie glauben durfte, dass Woi abgereist und sein Zimmer leer war - warum hatte Baldeina sie so angesehen, als er es sagte? Wusste er etwas, oder war es nur seine übliche Art, mitleidig zu schauen?
Wie hätte Nadim Schlaf finden können, ohne zu wissen, ob Woi ihre Locke genommen hatte oder nicht? Sie konnte diese Dummheit nicht ungeschehen machen, aber sie musste wenigstens wissen, wie es mit ihr ausgegangen war!
Vielleicht war Woi nicht in sein Zimmer zurückgekehrt, und die Locke lag dort, wo Nadim sie hingelegt hatte? Dann war sie eine glückliche Prinzessin, die wieder schlafen konnte und nie mehr etwas so Dummes anstellen würde!
Sie legte ihr Ohr an die Tür und lauschte. Ganz still war es. Das Lauteste war ihr Herz, das ihren ganzen Körper mit seinem Pochen ausfüllte. Aber die Tür war kalt an ihrem Ohr und dahinter war nichts, was sich hören ließ. Also hatte Baldeina recht: Woi war abgereist!
Es versetzte ihr einen Stich. Fast wurde sie ganz mutlos. Doch dann sagte sie sich, dass sie nachsehen musste, um wieder schlafen zu können. Und schlafen musste sie, sonst würde es immer schlimmer mit ihrer Verwirrtheit werden!
Und wenn Woi doch im Bett lag, weil Baldeina sie belogen hatte, oder weil er wieder zurückgekehrt war? Wenn er nur gewartet hatte, dass sie sich ihre Locke wieder holen würde?
Aber nichts als Verwirrtheit war dies! Woi war fort, da war sie sich sicher. Es gehörte nur ein wenig Mut dazu, einen Blick in das Zimmer zu tun. Ein Moment, nicht mehr als ein Augenschlag, genügte, und sie wäre wieder fort mit ihrem Wissen.
Von alleine hatte sich die Tür einen Spalt geöffnet und war dabei so leise gewesen wie eine Freundin, die ihr zur Hilfe gekommen war. Es war ein Spalt, nicht mehr als ein Finger breit, und schon war es geschehen! Ein Blick hinein - da war niemand! Das Bett war gemacht - es lag niemand darin. Das Kissen lag darauf, als sei es unberührt. Und schon war sie hineingeschlüpft und legte die Tür leise hinter sich in das Schloss.
Atem anhaltend näherte sich Nadim dem Kissen. Die Locke lag nicht auf dem Kissen! Er hatte sie mitgenommen - nein, genauso war möglich, dass er sie UNTER das Kissen gelegt hatte!
'Du selbst hast dir diese Dummheit zuzuschreiben', sagte sie zu sich. 'Du allein bist schuld und machst es nur verwirrter!' Also fasste die linke Hand, die mutiger war als die rechte, das Kissen an und hob es vorsichtig hoch. Nichts lag darunter! Die Locke war fort, der Schlaf war fort, und es war entschieden.
... wenn sie nun aber eine der Mägde und nicht Woi gefunden hatte! Die hatte die Locke in Hand gehalten und nichts damit anzufangen gewusst. Und war erstaunt, dass der junge Mann sie vergessen hatte. Sah sie nicht wie ein Glücksbringer aus, diese Locke? Brauchte er kein Glück, der junge Mann? War es ihm nicht wichtig, dass es ein Mädchen gab, die ihm ihre Treue verhieß?
Traurig sah Nadim auf das leere Bett. Es war schrecklich: Jetzt, da sie wusste, dass auch unter dem Kissen keine Locke lag, war ihr die nächste Ungewissheit eingefallen!
'Arme Nadim', sagte sie zu sich, 'wenn du einen Mut findest, der mit dir einen Schritt tut, dann findet ihr auf eurem Weg nichts als weitere Löcher für deinen Schlaf.'
Das Zimmer machte ihr ein sehr trauriges Gemüt. Es war kalt und einsam darin. Weil es ihr sehr das Herz zusammenzog, musste sie sich setzen. Wie traurig war es, wenn ein Mensch für immer abgereist war! Das Herz ging im Abschied in einem leeren Zimmer umher und fragte sich, ob jemand darin gewesen war.
Da musste sie weinen, obwohl eine Prinzessin nicht weinen durfte. Aber heute in diesem Zimmer, das ganz verlassen war, weinte sie, weil die Tränen einem Mädchen schwer sind und nicht anders als herabfließen können, wenn das traurige Herz es ihnen befiehlt.
Nadim legte sich auf das Bett und weinte in das Kissen. Nicht um Woi weinte sie, nicht um das leere Zimmer, nicht um eine Prinzessin, die alles, nur nichts vom Glück besitzen durfte - nein, das war alles nicht! Immer wieder schüttelte sie den Kopf. 'Ich weine, weil ich weine', sagte sie sich. Immer wieder sagte sie es sich und wunderte sich, dass ihr Weinen kein Ende nahm.
Und so fand sie der Schlaf, der im Haus nach ihr gesucht hatte und den Spuren ihrer Gedanken bis hinauf in dieses Zimmer gefolgt war. Er entfernte ihr das trübe Salz aus den Augen und gab nur solchen Träumen Zugang, die schonungsvoll mit ihr umzugehen versprachen.
Und dergestalt fand eine Dienerin, als sie am nächsten Morgen das Zimmer richten wollte, die schlummernde Nadim im Bett des Fürstensohnes vor, sah geradewegs in den erwachend sich klarenden Blick der Prinzessin hinein, warf schnell und erschreckt die Tür ins Schloss, als könne ihr die Prinzessin das, was sie gesehen hatte, wieder abnehmen.
Eiligst entfernte sie diese Dienerin, um den Skandal fortzutragen, den sie mit ihren, den eigenen Augen gesehen habe. Die Prinzessin habe gelegen in Raten-sie-welchem-Bett ... Geradewegs von dort gekommen sei sie und wisse nicht einmal, ob sie darüber sprechen dürfe ...
Chapter 84. Woi bei der Wirtin
Es war zu spät geworden, als dass Woi die Reise über die Stadt hinaus hätte fortsetzen können. Ob er morgen oder heute ankam, war nicht wichtig.
So kehrte er in einer Schenke ein. Die Wirtin beugte sich über den Tisch und erzählte ihm, dass sie ihren Mann nicht vor dem übernächsten Abend zurückerwarte. Sie lächelte dem jungen Mann fraulich zu, als sie seine Augen in ihrem gut gefüllten Ausschnitt ertappte und fragte, ob es recht sei, dass sich sein Zimmer sozusagen Wange an Wange mit dem ihren befinde.
Ob sie schon gesagt habe, dass sie ihren Mann gewiss nicht vor dem übernächsten Tag zurückerwarte. Froh sei sie - in einer Zeit, da sie gewissermaßen schutzlos zu nennen sei - einen jungen, einfühlenden Mann als Gast begrüßen zu dürfen, der gewissermaßen ein wenig auf sie aufpassen werde.
Sie (hochgestimmt) sei früher einmal in der Sangeskunst tätig gewesen, bevor sie (tiefgestimmt) mit ihrem Mann zusammenstoßen sei.
Aber er, der junge Edelmann, sei doch sicherlich müde, und sie wolle nun eilen und ihm vorausgehen als Kundige des Hauses, welches ihr im übrigen von ihrer Mutter (dankvoll) her gehöre, inwiefern und inwieweit ihr Mann (dankleer) nicht besser als ein Gast sei.
Während sich ihre Hüften die Treppe emporschwangen, redete sie von Ab-, Zu-, Viel- und Andersneigung und verströmte einen süßlich nebelnden Duft, der Woi das Treppensteigen schwer werden ließ. Weil er sich auf einen Abstand hielt, der einer Dame gegenüber (Treppen steigend, rückseitig zugewandt) statthaft war, nahm sie ihn an der Hand und zog ihn flugs und warum-eigentlich-sollte-sie-nicht? die Treppe hinauf.
An ihre Hand genommen, wollte Woi nun nicht weiter bummeln und rannte mit ihr den Gang entlang zu seinem Wange an Wange liegenden Zimmer. Sie (Tür schwingend) und er (Hand windend) füllten den Raum, der übrig blieb, wenn man das üppige Bett und einen winzigen, ihm zu Diensten stehenden Tisch abzog.
Der junge Mann solle ihr verzeihen, dass sie so gern verwöhne. Von Herzen und mit allem gastfrei sei sie und wolle eilen, ihn mit einer Kleinigkeit zu befürsorgen. Schon eilte sie, schwang Hüften und Tür. Einen Blick (gastfrei) ließ sie zurück.
Woi zog sich die Schuhe aus, um das Fenster zu öffnen, das sich zur Decke hin jedem menschlichen Zugriff entzogen hatte. Es machte Geräusche, als geschehe ihm ein großes Leid. Als es einmal offen stand, entwickelte sich ein Gespräch mit der Tür und dem Bett über allerlei Kläglichkeiten und Ungeschmiertheiten und Alterssorgen.
Als sich Woi niederlegt hatte, um die Augen zu schließen, knarrten und gnierten und fienten sie über den jungen Gast und die Herrin des Hauses. Uneins waren sie sich, ob er so muntermännlich sei, wie sie dachte, oder so edelmännlich, wie sie sagte.
"Da ist sie wieder", meldete ihnen die Tür. "Sie eilt mit dem Tablett herbei. Die Wurst, noch in der Pelle neben dem Brot, schwankend im Glas, der Wein, der süßtraumende, der rotmundige, der ach-je-verführerische ..."
"Wisst ihr noch", erinnerte das Bett, "wie sie sich wälzten beim letzten Mal und im selben Takt kein Ende fanden. Ein Mann in den zweitbesten Jahren, den roten Kopf, den schweren Körper vom Schweiße beglänzt, und sie, die Worte suchende Wirtin. Den Händen gab ich letzten Halt und sah, wie seine Backen blähten und von Glas das eine Auge sich verdrehte. Ich hab es überlebt mit Glück, besitz einen rauhen Hals seitdem, bin taub, wo meine Federn halten und fühl es in den Leisten. Hat nicht der Boden auch gezittert und um seine Fassung gerungen?"
"Oh, sie wird mir gleich wieder den Mund verbieten wollen", vorahnte das Fenster. In der Tat war es so, dass die Hausherrin hereingekommen sich ihre Schuhe ausszog. Sie musste sich tief bücken dafür, und weil sie nicht wollte, dass er ihr dabei auf den Busen, aus der Form drängend, sah, drehte sie ihm, beugende Form bildend, ihr Hinterteil zu.
Durch ihre Beine schaute sie und hätte auch ohne Spähblick sagen können - war halt ein Gefühl, das jede im Gesangsfach Geübte für die Blicke der Zuschauer bekam! - dass er seinen Blick dort hatte, wo er ihn anständigerweise nur beiläufig oder im Versehen stolpernd hätte haben dürfen. Doch da war er, der Blick! Und ein Außenstehender hätte ihn kleinlicherweise als 'zudringlich', Sittenstrenge übertreibend, als 'eindringlich' bezeichnen müssen.
Sie achjahte kurz, als sie die Schuhe los war und huchjehte, als sie den Busen linksseitig und rechtsseitig wieder an seinen Platz schob. Als sie das Fenster schließen wollte, musste sie das Bett besteigen. Woi mochte sich nicht mehr mit der Rolle des Zusehenden begnügen und bot ihr zu Hilfe und zu Halt seine Hände, die sie sich sichernd unter das Hemd schob. Kalt seien seine Hände - Huch, huch! - niemand solle sagen können, er habe sich von wegen dem Fenster bei ihr verkühlt.
Doch nun, da ihm - wie sie sehe - warm werde, wolle sie etwas gegen seinen Hunger tun. Wenn er nur möge, wolle sie ihm gleich auf der Stelle eine kleine Mahlzeit bereiten. Sie setzte sich neben ihm auf das Bett, nahm die Decke vom Tablett und zeigte ihm ihre Appetittlichkeiten. Grad so nah rückte sie, dass er an alles gut herankam. Ein gutes Stück von der Wurst zeigte sie ihm, vom Laib Brot zwei feste Scheiben, gut mit fetter Butter beschmiert, ein wenig Salz, dass es ihm munde. Das könne sie ihm bieten und sehe mit Freude seine Gefallen daran. Es sei eine einfache Küche. Raffineriertere Dinge beherrsche sie nicht.
Sie nahm die Wurst und zog behutsam die Pelle herunter. Sie bereite zu, wie sie es kenne. Es mache ihr Freude, dass es ihm schmecke. Das lange Ende gab sie ihm und leckte sich die Finger. Er soll nur nicht lange warten und sich bedienen, wie er möge.
Sie wolle ihm den Vortritt lassen, an ihre Figur in ihrem Alter müsse sie ein wenig denken. Wie er fühlen könne, hier gleich hier, habe sie ein wenig zugenommen. Sei ihm das nicht aufgefallen? ... und diese Stelle? Er meine doch auch, dass sie auf die achten müsse - ach, er SAGE nur, dass es nicht so sei!
Nur mit den Augen dürfe sie vom Mahl sich nehmen. Beim Genuss wolle sie Gesellschaft sein und ihm so recht zu Diensten stehn. Das Brot sei doch nicht trocken schon? So recht wohl ausgehungert sei er! Ob er denn niemand habe als eine Frau in ihrem Alter? Liefen die jungen Dinger denn nicht, ihm nachzusehen?
Den Kennern der Birnen sei die Pflückzeit die beste, wenn sie saftig am Baume hingen, dazu süß und rund sich schüttelten. Doch stehe den Burschen der Sinn wohl meist nach den grünen, den zwischen Birne und Quitte unentschiedenen, die hoch am Baume nach Kletteraffen riefen.
Er tue recht daran, gleich zuzulangen. Schande sei es, wenn ein junger Mann der Natur Geschenk verschmähte! Wer so gestöhnt, dem sei die Sättigung grad zur rechten Zeit gekommen, nicht wahr!? Wer so geschwitzt, der habe mit Lust gespeist, nicht wahr!? Wer so sich strecke, der sei nun satt und froh, nicht wahr!? Sie gehe nun, dass alles wieder sauber werde und sich schön ausnehme für einen neuen Appetit.
Die Tür schwang ihr auf. Das Bett glaubte feststellen zu dürfen, dass das Schlimmste hinter ihm liege. Das Fenster schwieg nicht anders als mundverschlossen.
Woi wälzte sich auf den Rücken und atmete zur Decke. Erst dachte er an nichts, dann dachte er an Nadim. Er versuchte sich von ihr wegzudenken. Seinen Vater sah er in dem großen Saal. Klein war er und saß in einem Stuhl, der wackelig auf seinen Beinen stand. Der Vater wollte aufstehen, aber er besaß keine Beine. 'Woi', sagte er, 'wie geht es dir bei deiner Nadim? Seid ihr euch manchmal uneins? Seid ihr euch manchmal eins? Schlägt ihr Herz für dich?' Mit jeder Frage wurde er mit dem Stuhl kleiner. Woi sah, dass eine Elster auf seiner Schulter gelandet war, ohne dass der Vater es bemerkt hätte.
'Woi', rief die Elster, und ihre Stimme war ganz nah und hell. 'Eine Braut hat keine Flügel. Ich sah einen Garten und fand keine Blumen darin. Ich stahl dir etwas, aber ich weiß nicht, was es ist. Sag du das Wort aus deinem Fluch. Ich gab dir eine schwarze Locke, nicht wahr, und du mir einen bösen Traum. Das Wort muss sich schämen. Oder ich bin ein Vogel, der zu dir fliegt, weil eine Prinzessin immer weint.'
Der Schlaf verstellte den Worten den Weg. Er füllte mit ihnen die Kissen. Nur ein Wort wollte ihm immer wieder entwischen. 'Nicht wahr!?' teilte sich und floh, machte sich klein und entwich, wollte frech den Sack am Bande öffnen. Doch was kümmerte den Schlaf ein einziges Wort, wo er die anderen sicher wusste.
Lächelnde, wolkenleichte, in Herden ziehende Wortkissen trugen Woi in den Abend.
Chapter 85. Bärenmahl mit der Wirtin
Sie wisse nicht einmal, wie er heiße, sagte die Wirtin, als er zu Pferde wollte. Loslassen werde sie den Zügel erst, wenn sie seinen Namen wisse.
'Keil' heiße er, und sein Hengst höre auf den Namen 'Woi'.
Darauf drohte sie ihm scherzend mit dem Finger und hauchte auf die Wangen vom zärtlichsten Rot.
Ob Keil noch Lust habe auf eine kleine Mahlzeit, bevor es ihn in die Fremde verschlage.
Woi antwortete ihr, dass es Keil, so dürfe er sagen, an nichts gefehlt habe in ihrem Haus, aber Keil könne nicht länger den Woi herumstehen lassen. Das Pferd wolle los, das merke er.
Doch die Wirtin blieb unnnachgiebig, ja bettelnd gastlich. Eine kleine Mahlzeit, sozusagen im Stehen, was sei das schon. Woi, der schließlich ein rechter Hengst sei, würde diese seinem Herrn, dem Keil, sicherlich nicht abschlagen.
Doch Keil gestand ihr, ein Ziel zu haben. Es sei aber nicht, was sie denke. Ihre Hand nahm er und küsste eine Träne ihr von der Nasenspitze, die nicht wie die anderen in den Ausschnitt gefallen war.
Ein Picknick im Wald, welchen Traum er ihr damit erfüllen würde! Sie würde ihn ein Stück zehrend begleiten. Der Mann (bekanntlich fort) habe noch ein Pferd im Stall gelassen, über dass sie verfügen könne, wenn Keil nur wolle, dass sie verfüge. Das Picknick sei, seine Antwort vorausnehmend, schon fertig und gemacht.
Schnell war das Pferd aus dem Stall geführt, einem ängstlichen Fuß in den Bügel geholfen, der Rock über einem entblößten Bein in Ordnung gebracht, ein ausknickender Po gehalten und gestützt und in den Sattel gebracht.
Als sie die Straße herunterritten, wurden die Fenster rasch zugezogen. Haus nach Haus fielen die Türen verächtlich ins Schloss. Das Spielzeug auf der Straße war kinderlos. Eine Frau erklärte ihrem Hund, dass die Häuser allesamt anständig seien und ehrbar. Sie seien nicht von reichen Leute, aber mit ehrlichen Händen erbaut.
Als die Straße eine Krümmung machte, wurden die Häuser ärmlich und duckten sich gegen den Wind hinter die anderen, standen schief und eng gegeneinander gestellt, als vertrauten sie nicht mehr der eigenen Kraft. Der Weg wurde schlechter, aber breiter, und wenig später ritten sie in den Schatten von hohen Bäumen.
Welche Tiere es wohl gebe, fragte sie, die Wirtin im Wald.
Füchse, Biber, Rehe und wohl sicher ein paar Bären gebe es.
Sogar Bären gebe es.
Er sei einer von ihnen. Er sei ein Bär. Ein junger zwar, aber auf seinem Wappen sei er ein Bär.
Huch - eine Frau im besten Alter und ein junger Bär, nichts um sie herum als Wald, wenn sie sagen dürfe, tiefer Wald - huch.
An einem feinen Moosplatz, den sie sah und zeigte, stiegen sie ab. Ein Tuch breitete sie aus, stellte zwei Körbe darauf. Nein, helfen solle er ihr nicht, für nichts als für den Hunger solle er sorgen. Einen kleinen Korb knöpfte sie auf, zwei Vasen mit Korken stellte sie nebeneinander und deckte ein feines Tuch darüber, eine Schüssel mit Beeren, eine Schale mit Sahne in gläsernem Verschluss, die Scheiben Brot sittsam eingewickelt und das Ganze bedeckt mit einem dünnen Leinen.
Sie sagte leise, dass nur der nächste Baum es hörte: Er solle vom weißen Tuche zwei Streifen reissen und mit ihnen am Baume sie fesseln, grad so fest, dass eskeine Streifen auf der Haut gebe. Wenn der Bär komme, der hungrig sei und gute Sachen rieche, wolle sie nur zuschauen, und wenn es nötig werde, die Augen schließen.
Keil fesselte sie an den Händen und den Beinen, nicht fest, aber so, dass die Bänder nicht herunterfielen. Sie stand sehr atemstill und hatte im Körper ein Beben und auf dem Gesicht eine Röte, die ihren Platz nicht fand. Woi, der Hengst, stand dabei und sah seinem Keil, dem Bären, zu.
Der schlich herum und beguckte sich tatzentapsig ihr Lager, beschaute sich, den Bärenkörper wiegend, recht lang das gefesselte Weib. Da und dort schnupperte er an ihr und fuhr ihr leckend mit der rauher Zunge über das Gesicht. Er brummte und knurrte sie an, weil er der Starke im Walde war. Zeigte ihr seine Tatze und schaute verwundert auf die rotlackierten Lippen, die keine Sprache hatten.
Doch, was ist das? Unter dem Tuch verborgen, da sind wohl Sachen, die einem Bären gefallen können! Eine Tatze tastet, eine Nase wittert und hungrig grollt ein Bärenbauch. So hungrig ist der Bär, dass er das Tuch herunterreisst und alle Sachen wackeln lässt.
Mit weiten Augen starrte die Menschenfrau. Stand gefesselt und war stumm. Es wunderte einen Bären, dass die Menschinnen solange mit ihren weißen Augen starren können. Sie haben eine Angst, die keine Haare hat, weich und voll wie ihre Zitzen. Das wunderte einen Bären. Dann brach die Fresssucht seinen Blick. Er zerrte den Korb sich ran. Reißend sprangen die Knöpfe vor seiner Tatze Drohung auf. Er hörte noch, wie sie keuchend schrak. Sollte lieber froh sein, dass er genug zu Essen hatte!
Erst steckte sich die Schnauze tief hinein, dann kreiste die Zunge. Mit dem Tatzenschieber schaufelte er die Sahne sich in den Mund, quetschte die süßen Beeren mit der Zungen. Währenddem und mit jedem Teile anders wand das Menschenweibchen am Baume sich und irrlichterte mit ihren Augen umher.
Den kleinen Fläschen entzog er saugend kleinste Korken und beschlabberte sich den Mund. Von Brot konnte er nur das Weiche essen. Die Rinde schob er weg und fort und grummte und röhmte, weil er so satt war, wie es ein Bär im Wald nur eben selten ist.
Er tapste zu ihr, öffnete ihr die Fesseln, weil er nun satt war, satt eben, nichts mehr wollte! Schnell wickelte sie ihr Brot in ein Tuch und stammelte und wollte streicheln.
Was wusste sie von der Bären Sattheit? Der Bär war böse nun und stieß sie weg. Satt war er nun, das merkte sie doch! Dies Wirtinweib, was wollte sie noch? Stumpf sah er sie zu Pferde gehen. Und als sie ritt, legte er sich auf den Rücken und schickte ihr seine Bärenschnarcher hinterher.
"Nicht wahr, die feinen Damen haben allerlei Leckeres zu bieten", sagte eine Stimme. Eine alten Frau stand neben dem Baum und sah den Verschlafenen an. "Unsereiner ist arm, aber sage mir keiner, dass die Reichen keinen Hunger leiden, wollen satt werden und bekommen Apetit von allerlei und haben einen guten Magen, wenn ich es sagen darf."
Sie gab seinem Pferd eine Wurzel, die ihm krachend schmeckte. "Müde sind mir die Füße, ei, und ich muss laufen und laufen, dass ich mein Töchterchen finde." Die Frau zeigte auf ihre Schuhe, die zu fein für einen Fußmarsch waren. "Nun können die Beine nicht mehr, die Schuhe sind durchgelaufen, und die Füße schmerzen mir so."
"Ihr tragt die falschen Schuh' für einen solchen Weg?", sagte Woi gähnend und zeigte ihr die eigenen festen.
"Ich trag' die falschen Schuh' und trag gewiss das falsche Kleid, und nenn' fürwahr die eigene Tochter ein falsches Kind, dass ich ihr nachzulaufen muss."
"Ich will euch gerne helfen", sagte Woi. "Mein Ziel hat es nicht eilig mit mir." Er war wach und zweifach munter.
"Ei, wollt ihr das wirklich tun? Ich sah doch gleich, dass ich euch bitten darf. Eine ehrliche Stirn habt ihr, die Haltung von einem Edelmann und seid wohl reich genug, dass ihr als Lohn nur Herzensdinge nehmt. Es ist mein einzig Kind, und der Mutter Liebe verzieh ihm schon, was sie tat."
"Seid ihr im Wald zu Hause?"
"Ich wohne nicht weit. Es ist eine gute Hütte, aber ohne Kind bin ich allein und wag nicht weit mich fort."
"Ich such euch euer Mädchen. Mit dem Pferd ist es wohl leichter. Doch wird sie auf mich hören ...?"
"Ich kenn das Mädchen. Auf einen feinen jungen Bursch wie euch wird sie wohl gerne hören."
"Und wie erkenn ich sie?"
"Schön ist sie, das sagen alle. Sieht nicht aus wie falsch und treulos. Was soll sie sich verstecken, wenn IHR sie ruft? Hat Kleider weiß, als ginge sie zur Kirch und trägt das blonde Haar so lang, als ginge es zum Tanz."
"Wie sprech ich sie denn an, wenn ich sie treff."
"Lirla ist ihr Name, wie es die Vögel singen, und einem solchen gleicht sie mehr als einer Tochter. Hütet euch, ihr in die Augen zu sehen! Sie zaubert, und sie hext euch auf die Knie und reitet zu Pferde fort, eh euch wieder einfiel, wofür ihr kamt. Sie schämt sich für nichts und stahl, denk ich, einem guten Mädchen das Unschuldsgesicht."
"Nun sagt schon, welche Richtung sie nahm, dass ich ihr nachreiten kann", forderte Woi die gute Frau auf, die kein Ende mit ihm fand.
"Ei, ihr habt recht. Und recht. Und recht. Was steh ich hier und halt den auf, der ihr zur Rettung kam? Seht ihr den Baum, der traurig seinen Spitze neigt? Dem Weg zu seiner Rechten folgt und ruft sie beim Namen. Er gabelt sich, wo eine kleine Brücke seht, die Füssen in einem Wasserfall. Weit kann sie von dort nicht sein."
Chapter 86. Nadim und der gelbe Käfer
Prinzessin Nadim hatte an diesem Morgen schon wachgelegen, als der Hof unter ihrem Fenster noch ganz still gewesen war. Sie überlegte, was sie geweckt hatte, wenn es der Hof nicht war. Als es ihr wieder einfiel, atmete sie tief und hielt sich den Mund zu, solange es ging.
'Der Skandal', stummte ihr Mund, 'die Erinnerung an den Skandal war es gewesen, die dich geweckt hat. Erinnerst du dich nicht an deine Dummheiten? Erinnerst du dich nicht an den Skandal?'
'Die Prinzessin Nadim', flüsterte der Skandal, 'jawohl, unsere Prinzessin Nadim, hat träumend im Bett des Fürstensohnes Woi gelegen, jawohl, wie ich es gesagt habe ... aber nein, nicht MIT ihm! Wie ginge denn das, wo er doch schon abgereist ist? Allein lag sie darin, aber ganz und gar zugedeckt, bis sie dort von einer Dienerin entdeckt wurde, die eilig davonlief und erst wenig sagte, schließlich dann viel!'
Heiss wurde Nadim der Kopf, wenn sie nur daran dachte. Auf all die Dummheiten der letzten Tage, die sich kaum übereinander hatten halten können, war die letzte, die größte, die schauderhafteste der Dummheiten geklettert und hatte sich als als Gipfelbesteigerin offenbart.
Und nun war es Morgen, und was sollte sie tun? Erst einmal schloss sie die Augen und legte sich das Kissen über das Gesicht.
Schließlich war es so spät, dass die Mägde hereinkamen und fragten, was die Prinzessin zum Tage anziehen wolle.
Nichts, sagte die Prinzessin ihnen, sie sei krank und wolle niemanden sehen.
Schnell waren die Dummen gerannt, um die Kleider für das Krankenbett zu holen.
Deshalb hatte Nadim alleine die Kleider durchgesehen und sich von jedem etwas Unpassendes ausgesucht. Damit würde sie am heutigen Tag umhergehen, und jeder würde an den Skandal denken, wenn er sie in ihren Kleider ansah. Und wenn einer fragen würde, was sie anhabe, dann könnte sie erstaunt an sich heruntersehen und ihm laut vor den anderen antworten, dass sie nicht wisse, was sie tue. Sie sei sich in der eigenen Betrachtung unerklärlich, tue Dinge, von denen sie nachher nichts wisse, sage Dinge, als spreche eine fremde, kaum klug zu nennende Person aus ihr. Aufgestanden sei sie, aber mehr wisse sie nicht von diesem Morgen.
Nadim wählte einen Rock mit Ledernähten, den sie abscheulich fand. In die gelben Schuhe stieg sie, ihr so schrecklich wie unbekannt. Eine Bluse mit hohem Esskragen nahm sie und eine Perlenkette vom Abendkostüm. Als sie alles angezogen hatte, band sie sich die Haare streng nach hinten, ließ nur eine Locke frei, die ihr in die Stirn fiel und zwischen den Augen umherschwang.
Als sie langsam den Gang entlang ging und in den Hof hinein, wartete sie vergeblich, dass jemand sie ansprechen würde. Die Dienerinnen schauten mit großen Augen und sahen eilig wieder fort. Dann eilten sie sich, um außer Sichtweite zu kommen und sich im Flüstern auszutauschen.
Auf der Treppe begegnete ihr der Hofmarschal, der nichts sah und wie immer durch sie hindurchgrüßte. Von Baldeina, der schnell an ihr vorbeiging, hörte sie, dass er es eilig habe. Und sonst traf sie niemanden, außer dem Eunuchen, der sich allgemein und ausdauernd die Hände rieb.
Sie ging einfach so lange, ohne dass jemand sie fragte, bis sie im Garten war. Die Stille machte Nadim nichts aus. Außerdem hatte sie es gern, wenn sie allein mit sich war. Von weither trug der Bambuswind ihr einen Morgengruß zu. Die alten Weiden traten näher, um zu hören, was es gab.
"So traurig wie ihr bin ich", sagte Nadim, "und wohl in wenig trauriger noch." Worauf die alten Weiden allesamt nickten, und der Bambuswind nicht wusste, wie er Nadim trösten sollte.
Ein kleiner Käfer versuchte, auf ihre gelben Schuhe zu kriechen. Dabei fiel er jedes Mal herunter und versuchte es doch immer wieder auf's Neue.
"Siehst du nicht, wie dumm du bist?", fragte ihn Nadim, aber sie ließ ihn und stieß ihn nicht fort.
Hinter einer Hecke verschwand der Kopf eines Gärtners. Nadim wollte ihn rufen, aber da war er schon fort. Nun wurde sie endgültig traurig. Eigentlich gehörte es sich nicht für eine Prinzessin, traurig zu sein. Aber es gehörte sich ebensowenig für sie, allein im Garten zu sitzen, wo nur die Gärtner waren.
'Prinzessinen habe nicht soviele Freunde, dass sie nicht jeden von ihnen vermissen', dachte sie. Es war nicht anständig von Woi, dass er eine Prinzessin allein ließ. Das gehörte sich nicht. Sie sah auf ihre gelben Schuhe. Der kleine Käfer hatte aufgegeben und war fortgekrabbelt.
Nadim sah sich um, ob jemand sie sah. Dann weinte sie. Die Tränen tropften auf ihre gelben Schuhe. Sie liefen ihr über die Wangen und machten ihr den Hals eng. An ihren Vater dachte sie. Und weinte über seinen Tod. Dann weinte sie über ihre gelben Schuhe und auch über den kleinen Käfer. Sie weinte um jeden, dem das herz so eng wie ihr war. Und schließlich - fast war keine Träne mehr da - weinte sie um Dessa, die auch eine Prinzessin war.
Aber mit einem Mal war die Traurigkeit vorbei, hatte jedenfalls alle Tränen ausgeweint und tat nun sehr erstaunt, dass die Prinzessin sich hatte gehen lassen.
Der kleine Käfer krabbelte auf einen Stein und fiel von dort ebenso herunter wie von ihren gelben Schuhen. Was hatte er gelernt? Er würde sein Leben lang auf zu glatte Dinge klettern und herunterfallen!
Chapter 87. Lirla
Woi gab seinem Pferd einen lauten Klaps auf den Rücken und war froh, dass ihn nichts mehr aufhielt. Ein Stück folgte er seinem Weg und ritt dann auf den traurigen Baum zu, den die Alte ihm gezeigt hatte.
Er fand alles vor, wie sie es beschrieben hatte. Der Wasserfall sprühte und rauschte eine plötzlichen Abhang hinab, zwischen Bäumen hindurch, wurde eingesammelt, wieder ausgebreitet und setzte neu zu einem Sprunge an. Es war nicht zu sagen, ob es einer oder mehrere waren. Hier taten sich zwei zusammen, um zu entschwinden. Dort suchte ein Ängstlicher den Bäumen und Felsen auszuweichen.
"Lirla", rief Woi. Kein Echo kam von den Vögeln. Stumm saßen sie auf den Ästen, die Augen schaukelnd auf welligem Wind.
"Lirla", rief Woi noch einmal. Eine breite Ratlosigkeit bevölkerte die Äste der umliegenden Bäume.
"Lirla!" Ein kleiner Hund schwanzwedelte über das Brückchen und blieb in der Mitte stehen. Wuffend wies er darauf hin, dass der junge Reiter ihm nur folgen solle, wenn die Lirla sein Ziel war.
Woi musste sein Pferd an einen Baum binden, weil ihm die kleine Brücke arg wackelig erschien. Der Hund drehte ein paar Runden bellend um das Pferd, um seinen Sieg über diesen Riesen auszukosten.
"Nun komm aber auch", ermahnte ihn Woi. Der Hund sah kurz zu den Vögeln hinauf, um sich zu vergewissern, dass es niemandem entgangen war, wie wichtig er war. Dann trippelte er stolz, ohne sich hetzen zu lassen, über die Brükke. Während er das Geländer rechtsseitig mit einem Strahl bedachte, war ihm das linke Geländer nur ein paar Tröpfchen wert.
Woi folgte dem Hund und dem Weg, der immer schmaler wurde und endlich dort endete, wo eine kleine Senke war, die mit klarem Bergwasser gefüllt war. Der Hund schaute den steilen Anstieg hinauf, wuffte und wedelte.
"Lirla!", rief Woi, und schaute ebenfalls hoch. "Deine Mutter sucht dich! Sie ist in Sorge. Lirla, hörst du? Mich hat sie geschickt, dich heimzuholen."
"Lirla ist hier oben", rief eine Stimme. "Ganz oben ist Lirla und schaut, wer zu ihr will."
"So komm doch herunter", rief Woi. "Ich habe ein Pferd. Darauf wollen wir heimreiten."
"Erst will Lirla den Reiter sehen, eh sie zu ihm auf das Pferd will steigen. Zeig dich im Spiegel, der zu deinen Füßen ist. Wundere dich nicht, sieh hinein! Erst zeig du mir dein Gesicht!"
Woi blickte in die Senke. Sie verlangte sein Lachen zu sehen. Woi bemühte seine Fröhlichkeit. Dann sollte er betrübt ausschauen. Er bedeckte seine Gesichtszüge mit einiger Finsterkeit. Lirla erbat zu wissen, ob er kräftig sei. Woi zog den Ärmel hoch und zeigte der Senke grimmig seine Kraft.
"Ein Reitersmann bist du, wie er der Lirla gefallen will. Hinauf möcht' sie dich bitten. Dort nimmt sie grad ein Himmelsbad. Reitersmann, wenn du es wagst, dann steig herauf zu ihr!"
Woi lachte. "Vor dem Zauber deiner Augen hat die Mutter mich gewarnt, das du es weißt! Wenn diese mich behexen sollen, was muss ich fürchten erst, wenn ich dich beim Bade seh' ... "
Lirlas Lachen fiel glitzernd und sprühend den Bergquell hinab. "Lirla sieht dich, Mann von meiner Mutter. Nicht älter als ein Junge ist er, der freche Rede führt. Wenn dass die Mutter wüsste!"
"Lirla, ich komme!" rief Woi. "Ich hoffe nur, ich verkühl mich nicht bei dir im Himmelsbad."
"Lirla zieht das Kleid sich aus und taucht den Fuß hinein", rief es von oben. "Es ist nicht kalt. Ich bin schon drin. Die Wolken schwimmen drauf, als hätt' die Mutter sie zu Schaum gemacht."
"Woi kommt sogleich!", rief es von unten.
"Zieh dir die Kleider aus und wirf sie weg!", rief es von oben. "Hier ist das sittsam, was sich woanders schämt. Wirf weg das Zeug, dem Himmel zeige dich im Kleid der Vögel!"
"Nichts als Schuhe hat Woi an", rief es von unten und dachte sich zugleich: '... wenn das die Mutter wüsste!'
Ein kleiner Teich war auf dem kahlen Wipfel, gefüllt bis zum Rand mit azurblauem, reglosen Wasser. Ein paar Wolken schwammen darin, als hätte eine Rast von weitem Zug sie hergetrieben.
"Lirla!", rief Woi. Ihn fror ein wenig in seinen Schuhen. Er hielt seine Blöße mit beiden Händen bedeckt und versuchte, nicht daran zu denken, was für ein Jammerbild er abgab. "Ich bin es, dein Reitersmann! So zeig' dich doch!"
Während drei der Wolken weiter ruhten, kam die vierte auf ihn zugeschwommen, und Lirlas Kopf tauchte aus ihr hervor. Sie besaß langes, fast wolkenweißes Haar und in einem weichen Gesicht zwei fließende Himmelsaugen.
"Sind das die Augen, vor denen ich mich hüten soll?" fragte Woi. "Wieviele junge Männer mögen sie wohl schon verzaubert haben?"
"Der kleine Hund, der dich bebellte, die drei Wolken dort und diese hier, mehr sind es nicht und treu der Lirla seit diesem Tag."
"Dann hast du der Wolken genug und einen Hund zuviel", gab ihr Woi zu bedenken. Seit sie aufgetaucht war, hatte sich die Luft erwärmt. Wo sich ihm vorher vor Kälte die Haut zusammengezogen hatte, rannen die ersten Schweißtropfen.
"Hast du überlegt, was aus Woi werden soll?" Scherzend war es von ihm gesprochen, aber sie lachte nicht.
"Komm ins Wasser, neuer Mann, dann sollst du es wissen. Warm ist das Bad, wenn du es wagst. Erst die Füße, die es nicht glauben wollen, nun die Knie, nicht minder dein Handgehütetes ... Leg dich auf den Rücken jetzt. Lass die Hände dir zur Seite und schäm dich nicht dafür. Das Himmelswasser wird dich tragen. So ... nun zieht Lirla dich wie ein treibend Gut in des Himmelteiches Mitte, wo ihre warme Quelle ist."
Woi lag auf dem Rücken. Über sich den Himmel, eine grau hängende Wolke und Lirla, die mit geweiteten Augen seinen Blick leerzutrinken suchte. Woi fasste unter Wasser nach ihrem Körper, aber wo ihr Unterleib sein sollte, da war nichts. Er suchte sie am Hals zu berühren, aber er fand ihn nicht unter ihrem Kopf.
"Ich fühle deinen Körper nicht", sagte er leise und dachte an die Warnungen der Mutter.
"Lirlas Körper hat ihr die Elsterfrau gestohlen. Sie steht am Tor der Stadt und zeigt für Sündenstunden, welch schlanke Beine Lirla einst besaß. Und Lirlas schöner Körper, weißt du, schickt sie mit jedem fort, der Hurengeld besitzt. Ist die Nacht vorbei, dann flüstern die anderen Mädchen über die Diebische, flüstern, dass die Augen der schönen Hure sind die Augen einer Toten. "
Ein Rabe krächzte in den Himmel auf und drehte widersprechend seine Kreise über ihr. "Verrückt bist du!", krächzte er. "Sah es der Reiter nicht? Was liegt er da und rührt sich nicht? Es weiß ein jeder hier, dass der Kopf dir krank ist. Lass ab von ihm! Ertrinken wird er von deinen Händen und zappeln in deines Wahnes Netz."
"Wenn Lirla einen kriegt, der sie zur Sünde rief, dann weiß die arme Lirla schon, was sie tun hat. Mögen sie doch glauben, dass sie mit Seufzern Lirlas Tränen, mit Küssen Lirlas Träume fangen können! Mögen sie doch glauben, dass sie all dann viele Dinge dürfen! Lirla, Lirla, arme Lirla ... Lirlas Herz, dem man die Treue schwor ... Lirlas Antlitz im Tränenbad ... Lirla muss sich vorsehen ... Lirla darf sich nicht verlieren ... Lirla hat gelernt, was eine kluge Lirla tut! Lirla weiß, was SIE für welche sind! Schenkten Lirlas Schönheit einer Hure. Vergaßen ihren schlanken Körper am Tor der Stadt ... die ranken Beine zum gröhlenden Tanz ... die goldnen Haare im Schmuck der Gier ... der Busen so weiß für die Hände-Hände ... sie nahmen und trugen alles in die Nacht zu einer Hure."
Der Rabe krächzte, kreiste und krächzt: "Lass doch diesen, den die Mutter dir schickte! Der böse Bill, der für sein Fischweib dich griff, der ruht als Stiefel am Grunde. Der eilige Karl blieb als Stein für immer hier. Der Nol, der mit Geld nach dir warf, führt nun als Hund die Neuen her. Gibst du denn niemals keine Ruhe?"
"Treibe, mein Reitersmann, treibe. Hör nicht auf Rabengekrächz! Ein Treibebaum bist du. Dein Stamm, so schwer und mächtig gewachsen gegen Zeit und Wind, hat nun kein Gewicht. Wünschtest von Lirla, ein Treibgut zu sein. Wünschtest von ihr eine Liebe, die rein ist und treu wie der Himmel über uralten Bäumen. Nicht von Buben geschändet und zum Spott der Gassenjugend."
Warm umgab das Wasser Wois Körper, und Lirlas Stimme starb. Nur das Ferne hört ein Baumstamm, in der Nähe nichts. In den Fingern und Zehen harzte das Blut. Geöffnet blickten die Augen ohne Liderschlag. Es schmerzte nicht, dass sie trocken wurden. Die Farben gaben das Trennende auf, verschmolzen mit den Tönen zu Kreisen, die in den Wellen schwammen.
"Psst, hör zu! Lirla mag es nicht, wenn du von anderen sprichst im Schlaf. Psst, Lirla mag es nicht, wenn du in die Ferne lauschst. Such, was du suchst, in Lirlas Augen. Ruf, wenn du rufst, nach Lirla und Lirla bloß. Grüble nicht verlorenen Stunden nach und längst vergessenen Namen."
Der Rabe flog krächzend auf, spottete der körperlosen Lirla, deren abwehrendes Lächeln das Wasser kräuselte.
"Ra, ra, ra", rief er. "Ich sehe was, Lirla! Ist nicht auf Rabenjagd, kam nicht zum Fischen her. Denk' nicht, Lirla, denk' nicht, dass ein jeder bei dir bleibt. Ra, ra, ra. Es schleicht sich um und grinst, führt Schlechtes im Sinn und Verborgenes unter dem Wams. Ich seh dein Hundchen, gibt kein Tönchen von sich und nicht ein einziges Tröpfchen mehr."
Derselbe Zauber wirkt die Seeligkeit des Wassers und des Verstehens. Drei Wolken umschwimmen taub Lirla und den treibenden Baum. Kann das Unendliche die Schale der Hände füllen? Welche Lippen trinken den Himmel leer? In der leerblauen Tiefe sucht ein silberner Fisch einen schwarzen Vogel zu jagen. In einer Wolke verschluckt, die Libelle, die den Schatten eines Steines störte. An den Fäden des Abends baumeln früh die Mücken.
Die zwergenhafte Gestalt hatte die langen Schatten genutzt, um sich anzuschleichen. Er lächelte sich zu und schreckte mit dolchspitzen Zähnen die äugenden jungen Rehe. Grau belauerte er das himmelblau treibende Paar, dann zog er aus dem Wams ein gefaltetes Bündel und warf es aus.
Das hölzerne Treibgut hob blinzelnd die Augen unter der Rinde, drehte sich, Wasser schluckend und prustend, verwickelte sich in schlagende Hände, verfluchte die Tricks der Weiber, überhäufte eine Körperlose mit Racheschwüren, boxte verfehlend, beschimpfte körperloser Mädchen Kopfinhalt und suchte, als er keine Worte mehr fand, zur Unbeweglichkeit verknäult, seinen Trost in sich abdrehender Starre.
"Oh, Reitersmann", hub Lirla nun an. "Wie kannst du so über Lirla denken? Weh ihr, weh dir!"
"Psst", machte der zwergenhafte Netzfänger. "Psst", machte er leiser, den Finger vor dem Mund, und es klang wie das Zischen einer Schlange.
Hinter ihm traten weitere Finsterlinge in ihr Licht. Wie die Finger einer Schreckenshand lagen vier Schatten auf dem Wasser, machten den Baum zu ihrem Daumen.
"Wir wollen unseren Spaß mit ihr haben", sagte ein Schatten, und die anderen nickten.
"Nein", sagte der kleinwüchsige Netzfänger. "Zieht ihn ran. Los, er wird uns sonst noch versaufen."
Sie holten murrend ihr Paket ein, von dem Lirla nun lassen musste. Sie flüsterte Abschied und nässte die Augen.
"Was ist, wenn sie uns verrät?", fragte einer. "Wollen wir sie nicht wenigstens ersäufen?"
"Nein", sagte der Zwerg, "keiner hört auf diese Verrückte!" Lirla tauchte den Kopf unter Wasser. "Wir haben zu lang gebraucht. Macht den Sack auf, dann geht es los! Ich will Tesla nicht warten lassen."
Woi wurde genetzt, frierend und tropfend in den Sack gesteckt und geschultert.
"Einer liest seine Sachen auf und nimmt sie mit", sagte der Zwerg.
"Ich mache das", sagte einer anderer. Es war Schädel. Er stieß mit dem Knie gegen den Sack und flüsterte: "Werd's mir genauer ansehen, das Bündel vom Söhnchen."
Bäuchlings wurde Woi auf sein Pferd gelegt. Die Wärme des Tieres tat ihm gut. Sein Magen wurde tüchtig durchgeknetet und seine Füße waren wie Eis.
"Leg' eine Decke rüber", sagte der Zwerg. "Damit keiner was sieht."
Chapter 88. Woi im Sack
"Wir haben ihn mitgebracht", hörte Woi den Narbigen sagen. "In dem Sack ist er drin." Woi wurde auf den Boden gestellt. Dann war es still.
"Macht ihn auf!", befahl Tesla. "Ich habe gesagt, ihr sollt ihn bringen, aber doch nicht in einem SACK!"
Die Drachenzähne banden den Sack oben auf, und Woi konnte seinen Kopf herausstecken. Er stellte sich auf, hielt den Sack aber in Bauchhöhe fest, weil er darunter völlig nackt war. Von drei großen Fackeln war der Raum beleuchtet.
Er stand vor Tesla, die auf ihrem Stuhl saß und ärgerlich dreinschaute. Jeder von den Drachenzähnen hielt eines von Wois Kleidungsstücken in der Hand. Schädel hielt die Locke hoch und sah ihn finster an.
"Wo habt ihr ihn gefunden?" fragte Tesla streng.
"Er schwamm mit einem Mädchen in einem Waldsee", sagte der Zwerg. "Es war nicht schwer, sich anzuschleichen. Sie haben uns nicht bemerkt."
"Ich wollte nur hilfsbreit sein", bemerkte Woi.
"Die Arme, sie kam nicht alleine aus den Kleidern", zwitscherte Schädel und grinste.
"War er auf dem Weg zu uns?", fragte Tesla und würdigte ihn keines Blickes.
"Natürlich", sagte Woi vor den anderen, "aber ich bin aufgehalten worden. Es gab viel zu überlegen."
"Er hatte die Augen geschlossen", sagte der Zwerg knapp, "kann sein, er hat nachgedacht."
Schädel prustete. "Hat nachgedacht! Sehr lustig das! Ich hab gesehen, woran er gedacht hat. Sein Teil war doch nicht zu übersehen, im Wasser jedenfalls nicht!"
"Ruhig!", befahl ihm Tesla. "Streitet euch nicht! Ihr wartet ab, was ich euch zu sagen habe."
"Ihr schätzt diese Lirla völlig falsch ein", protestierte Woi dazwischen. "Sie hat mich mit ihren Worten betäubt. Ihr kamt gerade recht. Was wäre sonst mit mir geschehen!?"
"Ich schwöre", sagte Schädel, "das Teil, das wir aus dem Wasser ragen sahen - von Betäubung keine Spur."
"Er war jedenfalls vom Bauch hinauf zum Kopf recht willenlos", schlug der Zwerg schlichtend vor.
"Es könnte auch der Teil von einem Ast gewesen sein", meldete sich Tatze zu Wois Unterstützung. "Wenn etwas im Wasser ragt, kann es auch von einem Baumstamm sein. Ehrlich, das gibt es!"
"Habt ihr euch jetzt geeinigt?", fragte Tesla ungeduldig.
"Sie hatte gar keinen Körper" meldete sich Woi noch einmal. "Sie war eine Hexe, das müsst ihr mir glauben! Begebt euch bloß nicht in ihre Nähe! Ihr würdet euch in große Gefahr bringen."
"Dann sind wir ja dann gewarnt", sagte der Narbige bedächtig.
"Wir wollen ihn nun fragen, ob er dabei ist." Tesla hatte sich in ihrem Stuhl aufgesetzt und die Hand von Dahima gefasst.
"Jawohl, ich bin dabei!", sagte Woi. Eine gewisse Dankbarkeit wärmte ihn von innen. Wenn er es recht bedachte, dann hatte sie ihn aus den Fangstimmen dieser Verrückten befreit, und er musste ihnen dankbar sein.
"Können wir uns auf sein Wort verlassen?", warf Schädel ein. "Dem Mädchen hat er auch Versprechungen gemacht. Es sah nicht aus, als sei er auf dem Weg zu UNS gewesen."
"Nichts habe ich dem Mädchen versprochen", rief Woi dagegen. "Ihre Mutter hat mich gebeten, dass ich sie zu ihr zurückbringe. Der habe ich etwas versprochen, sonst niemandem!"
"Er ist eben ein Ritter", sagte der Zwerg.
"Ein schwimmender Ritter", ergänzte Schädel.
"Ich glaube ihm", sagte Tatze, weil keiner etwas sagen wollte. "Und ich freue mich sogar, dass er dabei ist."
"Es war da noch eine, von der er - eeh - aufgehalten wurde", berichtete der Zwerg. "Es war mitten im Wald."
"Was sollte ich denn machen?", protestierte Woi. "Sie war SEHR aufdringlich!"
"Er wehrte sich, solange er die Kraft hatte", kam ihm Schädel scheinheilig zu Hilfe. "Die Kleider ließen auf einen Kampf schließen."
"Bestimmt auch eine Hexe ...", bemerkte der Narbige.
"Nein, keine Hexe - eine Wirtin!" Woi winkte schwach mit der Hand ab. Es war zwecklos, ihnen widersprechen zu wollen. Sie hatten ihn die ganze Zeit beobachtet und beurteilten alles nur nach dem Augenschein.
"Das sind doch Sachen, die nicht von Interesse sind", unterbrach Tesla, die ungeduldig gewartet hatte. "Ihr werdet meinen Sohn befreien. Zusammen, so wie ihr steht, wird es euch möglich sein!"
Woi hüpfte in seinem Sack zu den Drachenzähnen, damit sie ihn nicht immer ansahen, als sei er ein Treuloser.
"Ich möchte nur noch wissen, woher er DIESE hier hat", sagte Schädel und streckte die Hand, in der er die Locke hielt, aus.
"Das geht dich nichts an!" Woi hüpfte auf ihn zu, um sich seine Locke zu holen.
"Was ist es denn?" fragte Tesla. "Was ist so wichtig, dass du wieder streiten musst mit ihm?"
"Es ist eine Locke. Das schwarze Haar von einer Frau. Das Mädchen im Teich und diese, die er Wirtin nennt, hatten anderes Haar." Schädel hielt die Locke so hoch, dass Woi nicht daran herankam, ohne seinen Sack loszulassen.
'Sie dürfen unter keinen Umständen erfahren, von wem ich sie habe', dachte er. Da fiel sein Blick auf Dahima. Ihre schwarzen Augen waren warm und boten ihm Hilfe an.
Als Woi ihr zunickte, sagte sie: "Die Locke ist von mir. Sie geht niemanden etwas an. Was schert ihr euch um seine Sachen!"
Die Drachenzähne sahen sie überrascht an. Dahima erwiderte fest ihre Blicke. Teslas Gesichtsausdruck war undurchdringlich.
"Gut", sagte der Zwerg, "es reicht. Schädel, gib ihm die Locke wieder. Wir haben Wichtigeres zu tun. Es ist seine Sache und ihre."
"Recht so", sagte Tesla. "Geht nun! Der Zwerg wird euch sagen, wann es soweit ist."
Als auch Woi sich erhoben hatte, um hinterherhüpfend an seine Kleider zu gelangen, sagte Tesla: "Der Fürst wird hier übernachten. Dahima zeigt ihm sein Zimmer. Nicht wahr, das tust du doch, mein Kind?"
Die Drachenzähne lieferte die Kleidungsstücke darauf einzeln bei Dahima ab. Schädel kniff ein Auge, der Zwerg war nicht bei der Sache, und das Gesicht des Narbigen blieb wie immer unleserlich. Tatze legte ihr den Mantel auf den Arm. "Also 'Gute Nachtruhe' sag ich mal", kam es freundlich von ihm.
"So sagt man doch ... oder?", wandte er sich unwillig fragend an Schädel, der wieder ein Gesicht gemacht hatte.
Chapter 89. Dahima und Woi
Tesla Haus war in die Jahre gekommen. Es nahm nicht mehr wahr, was das Wasser ihm flüsternd zutrug, sondern klagte nur leise daher, wie schwer ihm das Stehen im kalten Grund geworden war. Einstmals war es stolz gewesen, hatte vor Schiffen, die sich vorbeiarbeiten mussten, gebrüstet, etwas Besseres zu sein. Doch nun wollte es nicht mehr stehen. Es träumte von einem Altersteil an Land und wartete, dass es müde genug wurde für einen tiefen Schlaf.
Woi hatte Schritte vor seiner Tür gehört. Es konnte nur dieses Mädchen sein. Außer ihr war nur noch die Blinde im Haus. Als sie in der Höhe seines Zimmers war, machte sie ihre Schritte leise. Diesen Moment nutzte Woi, um ruckartig die Tür zu öffnen und sie in sein Zimmer zu ziehen.
"Ich bin es", sagte das Mädchen leise. "Lass mich los. Was willst du von mir? Bitte, sie wird uns noch hören!"
Als sie vor ihm stand, sah Woi, dass sie sich verkleidet hatte. Sie trug einen Hut mit einem Pelzbesatz, unter dem sie ihr langes Haar verborgen hatte, und die Kleider in der Art eines Schauspielers. Durchweg altmodisch waren sie, aber Woi verließ fast der Mut, so schön war Dahima darin anzusehen.
"Lass mich, ich habe dir nichts getan." Sie sprach sehr leise, als stände noch jemand hinter der Tür.
"Du hast mir etwas getan", sagte Woi. Sie sah ihn fragend an. "Du hast mir etwas Gutes getan! Ich habe es nicht vergessen. Aber sag' mir dann auch, warum du es getan hast. Was erwartest du dafür?"
"Ich kann nichts erwarten!"
"Vor den Drachenzähnen hast du gesagt, dass die Locke von dir ist. Damit hast du mir einen Gefallen getan!"
"Ich dachte wirklich zuerst, sie sei von mir", sagte sie."Als du mich angesehen hast, habe ich gemeint, dass du verliebt bist - in mich! Also ist es doch so, als wäre die Locke von MEINEM Haar, nicht wahr?!" Sie hatte ihm zuviel von sich verraten! Er würde nichts verstehen. Es war hoffnungslos.
Dahima trug ein Hemd, wie man es zum Tanzen trägt, eine Hose, die für die Jagd war und einen Degen in ihrem Gürtel, der bei jeder Bewegung auf- und abwippte.
"Sie will, dass ich die Sachen trage", sagte Dahima. "Tesla erwartet heute ihren Sohn."
"Sie macht einen Scherz, sicherlich einen Scherz!"
"Nein, das ist kein Scherz. Wenn sie betrunken ist, dann glaubt sie daran und wird böse, wenn ich es verderbe."
Dahima lauschte angestrengt. "Da, ich glaube, sie hat mich gerufen."
"Sie ruft die junge Mimim zum Ersten Akt. Es ist Zeit für die Trennung, Dahima." Woi öffnete ihr mit einer Verbeugung den gedachten Bühnenvorhang.
Doch Dahima war nicht nach einem Scherz zumute. Teslas Sohn hatte sich ihrer bemächtigt. Er ging langsam die Treppe hinunter, als müsse er das Gehen noch üben, durchquerte den Gang und drehte einen alten Messingteller mit unleserlichen Schriftzeichen, der an der Wand hing.
Dort, wor keine Tür war, tat sich eine auf. Sie war nicht hoch, und Dahima musste sich bücken. Woi schaffte es, gerade hinter ihr in den Raum zu schlüpfen. Ein Stück seines Hemdes und einen Ärmel aber bekam die Tür zu fassen und hielt sie erbarmungslos fest. Er hätte sich nur befreien können, wenn er sich das Hemd mit einem großen Lärm zerrissen hätte.
"Da bist du, mein Sohn", rief Tesla mit schwerer Stimme. "Ich freue mich, dass du deine alte Mutter besuchst. Hast einen Freund dir mitgebracht ...?"
Dahima sah sich mit erschrockenen Augen nach dem eingeklemmten Woi um. Als sie sich gesammelt hatte, zeigte auf ihn in Bühnenmanier und sagte mit verstellter Stimme: "Mutter, ich ... liebe Mutter, verzeih mir. Ich bat ihn zu warten, aber er ... wollte dich kennenlernen, weil ich ihm soviel von dir erzählt habe ... so ist er nun hier, wo Mutter und Sohn alleine sein sollten."
Die Trunkenheit konnte sich nicht entscheiden, ob sie Tesla vornüber oder nach hinten kippen sollte.
"Wenn es deine Freunde sind", lallte Tesla, "dann will ich sie alle kennenlerne. Sollen sie draußen stehen und sich mir vorenthalten? Hörst du? Deine Mutter will jeden von deinen Freunden kennen! Ja, das will sie, und ich möchte wohl sagen, dass sie ein Recht darauf hat. Vergiss nicht, dass sie deine Mutter ist. Du müsstest ihr dankbar sein und bist es nicht!"
Es roch stark nach Rotwein und flüchtig nach einem Gewürz, das Woi nicht zu benennen wusste. Die Decke hob sich, wenn Tesla redete und senkte sich, wenn sie schwieg und grübelnd ihre Balance suchte.
Der Sohn war auf seine Mutter zugeeilt und hatte auf den Knien kriechend ihre Hand gegriffen. Unsichtbare Träger waren Tesla zur Stütze gekommen.
"Oh, Mutter, nein", rief der Sohn mit Dahimas Stimme. "Undankbarkeit darfst du nicht von mir denken! Wie oft habe ich ihm von meiner Mutter erzählt und nichts ausgelassen!"
"Ist das wahr, junger Mann?" fragte Tesla streng.
"Es ist wahr", sagte Woi und hob die Hand so hoch, wie es ihm die Tür gestattete. "Sehr oft sprach sie - eeh - er von seiner Mutter. Nie sind mir Zweifel gekommen, so mit Leben und Herz erfüllt wurde mir die Liebe der Mutter zugeschildert."
"Dein Freund liebt die große Pose und eine Rede, die lose ist", stellte Tesla fest und grübelte dunkel auf das gesenkte Haupt ihre Sohnes herunter.
"Jüngst trat ich einer Schauspielschar bei und hoffe nun, meine Gabe fort für fort zu entwickeln." Was sie von Wois Verbeugung hielt, gab ihm die Tür zu verstehen, indem sie ihm für seine Ungezogenheit mit lautem Ratsch das Hemd aufriss.
"Ach, lass mich", sagte Tesla und stieß Dahima von sich fort. "Geh weg! Ich will allein sein. Du machst mir heute keine Freude. Kam hierher und war so guter Stimmung und bekomme von dir nichts als Schmerzen in meinem Kopf. Du bist kein gutes Kind gewesen!"
Tesla saß nun starr in ihrem Gleichgewicht. "Komm, komm her, zeig mir dein Gesicht." Sie hob mit beiden Händen Dahimas Gesicht hoch und beugte sich über sie.
Dahima krümmte sich vor Schmerzen unter Tesla Kuss. Als sie sich erhob und umwandte, sah Woi den blutunterlaufenen Abdruck von Teslas Zähnen auf ihren zitternden Lippen. So fest hatte sie zugebissen, dass in Dahimas Augen die Tränen überliefen! Mühsam fand sie ihren Weg, die Schultern gebeugt, als sei sie geprügelt geworden.
Woi drehte den Messingschüssel, fand aber, dass es ihm nicht recht gelingen wollte. Die Tür verschwand im Boden, statt sich zu öffnen. Ein zweites Drehen bewirkte ein andauerndes Quietschen, als bewege ein Wind rostig diese Tür in ihren Angeln. Wo sie gewesen war, war nun dieses Geräusch. Sie selbst aber blieb verschwunden.
Woi legte seinen freien Arm um Dahima und sah zu, dass sie den Kopf genug beugte, damit sie sich nicht an der niedrigen Türöffnung weh tat.
"Komm", sagte Woi, "es ist besser, wir gehen."
Als sie auf dem Gang waren, zeigte Woi auf die Schatten, die sich lang gemacht hatten und einander nah gekommen waren.
Doch Dahima war mit ihren Gedanken woanders. Leise sprach sie ihm vor: "Du verstehst nichts von uns. Siehst du nicht, dass du nichts verstehst?"
"Sprich nicht", sagte Woi. "Es tut dir sicherlich weh, nachdem, was sie getan hat."
"Wenn sie es NICHT getan hätte, wären die Schmerzen groß!", entgegnete Dahima heftig. "Was weißt du von ihr und von uns?"
Woi stellte sich zwischen sie und ihren Schatten. Er legte den Finger vorsichtig auf ihre Lippe, die vom Biss dick angeschwollen war. In ihre Augen zu sehen und dort zu verweilen, war ihm unmöglich. Der Schmerz hatte sie noch schöner gemacht. Also sah er ihr zwischen die Augen, um ihren Blick ertragen zu können, und hoffte, dass sie es nicht bemerkte.
"Was sie getan hat, ist nur von außen. Sie weiß, dass es nichts bedeutet, weiß besser als ich, was wirklich weh tut. Darum hat sie ein Recht, mir weh zu tun. Du aber hast kein Recht, mir weh zu tun, weil du nichts weißt!"
Dahima wandte sich ab und ging zu einem Fenster, gegen das von draußen der Regen schlug. Sie konnte nichts sehen, aber tat, als sehe sie hinaus. Von ihrem Atem war die Scheibe beschlagen.
Woi trat von hinten an sie heran und berührte ihre Schulter. Als sie sich nach ihm umwandte, konnte er sie wieder nicht richtig ansehen. Sie hob die Hand und berührte seine Wange. Hitze sammelte und staute sich in seinem Kopf. Vorsichtig führten ihre Hände seinen Kopf an ihren Mund. Woi konnte nichts denken, wusste vom Küssen nichts, vom Sprechen nichts.
Sie berührte seine Lippen, und er erinnert sich. Auf die seinen legte sie ihre wunden Lippen, als gehörten sie zum Heilen an diesen Ort. Wie verletzlich ihre Lippen waren und wie schön, gerade weil sie den Schmerz in sich trugen!
Als seine Lippen weich wurden und verletzlich wie ihre, biss sie zu, dass der Schmerz wie eine Feuerquelle aus Feuerquellen emporschoss, in eine heiße Wolkenwolke hinein, die an den Rändern langsam taubte und starb.
"So weh hat sie mir getan", flüstert Dahima und küsst die Tränen auf Wois Gesicht. "Ein Nichts, ein Geschenk - was sonst ist ein Schmerz?"
Schwarze Schlacke fiel vom Himmel zurück, bat den Regen, sie wieder grauzuwaschen. Ohne Grund weinte Woi, wie eine Wolke regnet, wie Steine grau sind.
"Siehst du", lehrte ihn Dahima, als spreche sie zu ihrem Kind, "die Tränen des Schmerzes sind nichts als die Tropfen, die draußen vom vorüberziehenden Regen am Glas ablaufen. Wie kann der Schmerz weh tun, wo er nur draußen ist?" Woi betrachtete nachdenklich ihre Lippe. Wenn es so schlimm um seine wie um ihre stand, dann würde er den Drachenzähnen wieder keine Erklärung abgeben können, die sie glauben würden.
"Du weißt nicht, was ich sage! Du kannst es nicht verstehen! Ein Spötter bist du, kein Schmerzensmensch!", schrie Dahima plötzlich heraus.
"Ich glaube, ich verstehe es", sagte Woi. Seine Oberlippe war angeschwollen. Der Schmerz ließ etwas nach. Er glaubte, dass es das war, was sie gemeint hatte. Die untere Lippe war völlig taub und gehorchte ihm nicht. "Ich verstehe, was du meinst ... mit den Schmerzen das und so", sagte er undeutlich.
"Wirklich?" Dahima schüttelte hinter vertränten Schleiern heftig den Kopf. "Dann verstehe, dass ich eine Prinzessin der Schmerzen bin. Ich befehle ihnen, habe Macht über sie. Mich haben sie ausgesucht, weil ich ein Mensch bin. Die Schmerzen brauchen mich. Ich gebe ihnen Gestalt und Wort, verstehst du? Ich bin schön und darf für sie sprechen. Nichts an ihnen ist wirklich, aber ich bin es. Ohne mich sind sie nichts, aber was wäre ich ohne sie? Sag mir ehrlich, was bin ich ohne sie!"
Woi nahm die Hand zur Abwehr vor den Mund. In seinen Finger mochte sie beissen, wenn es sie trieb - die Lippen hatten genug von ihr für dieses Mal!
"Du bist nicht hier, weil ich von dir die Antwort will", sagte Dahima und strich ihm plötzlich zärtlich über das Haar.
Da fand Woi, den Mut zu nicken. Es war schön, wenn sie zärtlich zu ihm war. Ihre Zärtlichkeit ging auf so schmalem Grade, dass er sie nicht anzutasten wagte. Nur seine Lippen lugten, misstrauisch geblieben, unter ihrer Betäubung hervor.
"Geh nun", sagte sie, "geh nun und denk, es war ein Traum. Nichts als ein Regen, den die Wolken nicht mehr tragen konnten. Ein Sonnenstrahl, der nicht zurückfand."
Chapter 90. Die Kaiserin bei Tesla
Wach auf, Woi. Schnell, wach auf!" Dahima schüttelte den Schlafenden, der keine Regung zeigte.
"Wie bekomme ich ihn bloß wach ...?" Sie wirkte verzweifelt und ratlos.
"Ich wüsste etwas ...", lallte Woi als ein Traumentrückter. "Wenn du näher kommst, sag ich es dir."
Dahima seufzte vor Erleichterung. "Steh' auf, Fürst, wenn dir dein Leben lieb ist." Sie schüttelte ihn an den Schultern und klemmte ihm mit den Fingern seine Augen auf.
"Aua", beklagte sich Woi. "Das tut weh. So schlimm kann es doch nicht stehen, dass du mir die Augen auskratzen musst."
"Schscht, Fürst. Hör erst zu!" In aller Eile begann Dahima zu berichten, was geschehen war. "Soldaten stehen unten. Sie warten, dass die Kaiserin kommt, haben gesagt, dass sie Tesla verhaften will. Du musst dich verstecken. Wir haben keine Zeit."
Nun war Woi mit einem Mal hellwach. In seinen Augen blitzte es. Er spürte, wie es durch seinen ganzen Körper ging. Nicht Dahima hatte ihn wachgerüttelt, sondern sein Abenteuer! Er war mittendrin und hätte es fast verschlafen! Das Abenteuer hatte mit einem Paukenschlag begonnen, direkt an seinem Ohr.
Als Dahima ihn so unternehmungslustig sah, verlor sie jede Beklemmung. Sie mochte Woi eigentlich nicht, weil er sich alles herausnahm, wenn man ihn ließ. Aber nun war sie doch froh, dass er kein Verzagter war.
"Wo kann ich mich verstecken?", fragte Woi leise. Was schaute sie denn so traumselig!
"Hinaus kann ich nicht mehr, also bleib ich drin. Aber wo kann ich bleiben? Schnell, Dahima, denk nach!", drängte er sie.
Dahima dachte nach. Sie dachte sich Zimmer für Zimmer durch das ganze große Haus. "Vielleicht ganz unten im Vorratsraum?" schlug sie vor.
"Wo ist Tesla jetzt?" fragte Woi, ungeduldig geworden. "Dahima, sag' mir, wo sie jetzt ist."
"Sie ist in ihrem Zimmer", antwortete Dahima. Im ganzen Haus fiel ihr kein gutes Versteck ein.
"Ist jemand bei ihr?"
"Bei Tesla?"
Woi schüttelte sie an den Schultern. "Natürlich bei Tesla, davon spreche ich doch!"
"Bei Tesla im Zimmer ist niemand. Aber vor ihrer Tür steht ein Soldat."
"Nur ein Soldat?"
Dahima nickte abwesend. "Ich weiß kein Versteck", sagte sie.
"Ich aber!", sagte Woi. "Komm, wir haben keine Zeit. Du lenkst den Soldaten ab, und ich versteck' mich in Teslas Zimmer und warte."
"In ihrem Zimmer?"
"Sie haben es doch schon durchsucht?" erkundigte sich Woi.
"Ja, das haben sie. Weil sie dachten, dass sie nicht allein ist."
"Da versteck' ich mich! Sie werden nicht denken, dass sich jemand wieder hineingeschlichen hat." Woi schnipste vor ihren Augen mit den Fingern.
"Nein", sagte Dahima langsam. "Das werden sie nicht. Dann machen wir es so ..."
"Na, dann los!" gab Woi sein Kommando. "Schleichen wir uns an!"
Dahima nickte. Er hatte wirklich wenig Angst. Alles für ihn war ein Spiel. Das war der Grund, warum er so mutig war.
Woi sah kurz in den Gang hinaus. Der Soldat an Teslas Tür gähnte. Er war jung und hatte die Nacht womöglich gefeiert. Sonst war niemand da, und er würde sich langweilen und ein Gespräch suchen.
Ganz leise flüsterte Woi ihr in's Ohr: "Lock' ihn irgendwie von der Tür weg."
"Ich weiß schon, wie", flüsterte Dahima. Sie löste ihr Haar und drückte Woi eine Spange in die Hand. "Ich geb' sie dir", flüsterte sie, "für deine Locke." Und musste lachen über das dumme Gesicht, das er machte.
Sie trat auf den Gang. Als der Soldat hinschaute, schaute sie weg und fuhr sich gähnend durch das Haar.
"He, du!" rief der Soldat. Als sie nicht schaute, noch einmal: "He, du, Mädchen!"
"He, du, Soldat, meinst du mich?"
"Ja, dich, wen sonst? Komm' her. Oder hast du eine Angst vor mir?"
Langsam ging Dahima auf ihn zu. Die Augen des Soldaten wurden immer größer. Sie ging auf ihn zu. Kam ihm ganz nah, und ehe er etwas sagen konnten, war sie an ihm vorbeigegangen.
"He, du", rief der Soldat heiser, nun seiner selbst nicht mehr so sicher.
"He, ich?" fragte Dahima, ohne sich nach ihm umzuschauen.
"Ja, du ... mit dem schönen Haar. Das hast du doch?! Dich meine ich."
Dahima hatte sich umgedreht nach ihm. "He du, Soldat mit den schönen Worten. Grad' bin ich aufgestanden und will es kämmen, das schöne Haar, dort in der Badestube. Ich lass' die Tür ein wenig auf und seh' nicht nach, ob jemand schaut."
Der Soldat hielt nun Wache an der Tür der Badestube. So konnte Woi unbemerkt über den Gang huschen und leise das Zimmer betreten.
Tesla saß auf einem Stuhl und hatte ihn bemerkt.
"Ich bin es, Woi, der Fürstsohn. Dahima lenkt den Wachen gerade ab. Ich muss mich verstecken!"
Tesla zeigte auf den Schrank. "Da versteck' dich. Sie haben ihn schon durchsucht."
"Ändert sich was?" fragte Woi, bevor er die Schranktür zuzog.
"Was sollte sich ändern?" fragte Tesla hart zurück. Sie hatte sich gekleidet wie eine Königin. Saß auf ihrem Stuhl, als gebe sie eine Audienz.
"Leg' dich hin", sagte Tesla leise. "Wenn du stehst, wird es knarren."
Woi tat, was sie verlangt hatte und deckte seinen Körper mit zwei Decke zu.
"Denk' nicht daran, dass du dich versteckst", sagte Tesla. "Die Soldaten sind dumm, aber die Kaiserin könnte deine Angst wittern wie eine Hündin."
Woi hörte Dahimas Stimme von irgendwoher. Er dachte an sie. Sie war anders als die Mädchen, die er kannte. Viele waren es nicht. Er kannte Li gut und Nadim nicht sehr gut. Aber er konnte sich beide als alte Frau vorstellen. Die Augen würden diesselben sein, aber der Körper krumm und das Gesicht voller Falten. Dahima war anders. Er konnte sie sich in schönen Kleidern vorstellen, mit Juwelen beschmückt, in einem großen Saal mit vielen Dienern. Er konnte sie sich sogar als Kaiserin vorstellen, aber nicht als Greisin. Er glaubte nicht, dass sie einen Mann haben und Kinder bekommen würde.
Woi hörte, dass die Tür aufgegangen war. Jemand war in den Raum getreten. Er spürte, dass es die Kaiserin war. Sie sagte nichts, und er gab sich nun alle Mühe, nichts zu denken.
Lange Zeit sagte keine der beiden Frauen etwas, dann entfuhr es der Kaiser: "Du bist ja eine Blinde!" Sie hatte lange gebraucht, um zu verstehen, was sie sah. "Ich habe nicht gedacht, dass du eine Blinde bist ... Ich verstehe nicht, wie konnte er sich eine Blinde nehmen!?"
"Es war nachts. Da sah er weniger als ich", sagte Tesla ruhig und fast ein wenig amüsiert.
"Wusste er nicht, dass du blind bist", verlangte die Kaiserin zu wissen.
"Ich glaube, er wusste es nicht", sagte Tesla. Es war nicht wichtig, und sie hatte nicht darüber nachgedacht.
"Schämst du dich nicht, es ihm verheimlicht zu haben?", sagte die Kaiserin. Verachtend hatte sie sprechen wollen, es sogar für sich geübt, aber die Eifersucht ließ sich nicht verbergen.
"Er hat nicht danach gefragt, ob ich mit den Augen sehen kann", entgegnete Tesla ruhig. Ihre Stimme trug die Dinge, die sie tragen sollte. Weisheit war darin, und Herablassung.
"... ist vielleicht nicht wichtig, wenn man es nur auf das Eine abgesehen hat", giftete die Kaiserin.
Tesla schwieg. Wie jemand, der eine Lüge hört, die furchtsam ist.
"Wie schade, dass du mich nicht sehen kannst", sagte die Kaiserin mit Bedauern. Sie hatte sich schön gemacht, hatte ihren Auftritt vor sich gespielt. Was für eine Enttäuschung es war, dass diese Tesla blind war!
"Warum ist mein Sehen wichtig?" fragte Tesla gleichgültig.
Es war aussichtslos! Wie konnte die Blinde wissen, wovon die Kaiserin sprach. "Hat er nicht gesagt, wie schön ich bin?" entfuhr es ihr.
"Ich kann mich nicht erinnern", sagte Tesla. Der Hass der Kaiserin konnte ihr nichts anhaben. Sie hatte die Kaiserin überschätzt. Eine machtkluge Frau, die vor nichts zurückschreckte, hatte sie erwartet. Aber eine Getriebene stand vor ihr, die von wirklicher Macht nichts wusste.
"Du solltest dich klüger verhalten vor einer Kaiserin! Willst du nicht wissen, was ich mit dir mache?"
"Ich warte es ab", sagte Tesla und zeigte, dass das Gespräch sie müde machte.
"In unser Gefängnis kommst du. Ich sperre dich ein. Ja, das werde ich!"
"Eine Blinde willst du einsperren?" sagte Tesla. "Welchen Schrecken hätte ein Gefängnis für sie?"
"Dann lasse ich dich töten!"
"Das kannst du nicht", sagte Tesla ruhig. Zum ersten Mal verriet ihre Stimme etwas von ihrer Kraft.
"Ich kann dich nicht töten lassen?" fragte die Kaiserin. Einen Augenblick lang war sie unsicher geworden.
"Danach würdest du nicht lange zu leben haben. Das weißt du. Und da du am Leben hängst, wagst du es nicht. So einfach ist das."
"Soldaten", rief die Kaiserin. "Nehmt sie gefangen. Führt sie aus meinen Augen fort. Ich will dieses Weib nicht mehr sehen!" Die Soldaten trampelten eilig in das Zimmer.
"Vorsicht, Soldaten. Ich bin eine alte Frau", mahnte Tesla. "Wenn SIE sich vor mir fürchtet, wie müsst IHR euch erst vor mir fürchten", fügte sie vernehmlich hinzu.
Die Soldaten taten, als hätten sie die Worte nicht gehört, waren aber in der Ausführung des Befehls erstarrt.
Die Kaiserin war unschlüssig geworden. Was wollte sie mit der alten Frau? Sicher, sie war die Fürstin der Nachtstadt, aber welche Bedeutung hatte das noch!? Und was konnte eine Blinde einer Kaiserin anhaben? Wenn die Soldaten sie durch die Stadt abführten - würde die Kaiserin ihr damit nicht mehr Ehre antun, als ihr zustand?
"Sollen wir auch sie mitnehmen?" hörte Woi Dahimas Soldaten fragen.
"Niemanden nehmt ihr mit!", befahl die Kaiserin plötzlich. "Sie sind es beide nicht wert, dass wir uns mit ihnen befassen."
Sie wies drei Soldaten an, die restlichen Räume des Hauses zu durchsuchen. Ohne ein Wort, mit schnellen Schritten verließ sie Teslas Zimmer.
Überall klopften Soldaten nach Verborgenem. Plötzlich war es still. Dann hörte Woi einen Soldaten laut rufen. Wieder war es still. Dann sangen die anderen und johlten. Sie hatten etwas entdeckt. Ganz offenbar war ihnen Teslas Weinvorrat nicht verborgen geblieben. Woi stellte sich darauf ein, dass es spät werden würde, bis er sein Versteck verlassen konnte.
Chapter 91. Woi stößt zu den Drachenzähnen
Als Woi den Marktplatz erreichte, hatte der Abend die Luft bereits abgekühlt. Das Haus, welches er suchen sollte, hatte ihm Tesla beschrieben, nicht den Weg zum Markt, wenn er man vom Flussufer her kam.
Das Haus erkannte er nach ihrer Beschreibung sofort. Es hatte viele Fenster, unten waren sie groß und oben klein wie Schießscharten. Kein Fenster war erleuchtet, als sei das Haus unbewohnt. Schmaler als die anderen war es und hatte zwei Eingänge. Er solle sich nicht sehen lassen, wenn er es betrat, hatte Tesla gesagt.
Woi stand abseits des großen Platzes und schaute hinüber. Die Stände wurden abgebaut. Die Händler hatten nichts im Sinn, als ihre Sachen einzupacken und ihre Stände für die Nacht einzurüsten.
In einer Ecke sah Woi zwei Soldaten, die dabei waren, ihre Tieren zu besteigen. Drei kleine Jungen standen davor und sahen ihnen zu. Die Soldaten machten wichtige Gesichter und versuchten nicht zu zeigen, wie stolz sie waren, dass man ihnen zusah. Ein vierter Junge kam angelaufen und rief etwas. Er war ganz aufgeregt, während die Soldaten sich viel Zeit ließen. Sie nickten, aber es war ihnen nicht wichtig, was er sagte.
Zwei Markthändler waren in Streit miteinander geraten, weil die Fuhre des einen über einen Sack des anderen gefahren war. Die vier Jungen liefen auf die Gruppe zu, die sich um die Streitenden gesammelt hatte. Die beiden Soldaten folgten ihrem Vorauskommando langsam nach.
Im Rücken der Aufmerksamkeit überquerte Woi den Platz. Er half einem dicken Mann sein Fuhrwerk zu steuern und schlüpfte im Schatten der hohen Ladefläche in den kleinen Eingang des Hauses. Ehe das Fuhrwerk vorbei war, hatte sich die Tür kurz für ihn geöffnet und wieder geschlossen.
"Na also!", sagte der Zwerg und gab Woi einen Puff. "Ein Fürst braucht eben etwas länger."
Er führte Woi durch ein kaltes Haus, das feucht und unbewohnt roch und nur Licht von außen aufnahm. Das Pflaster des Marktplatzes bildete auch den Bodenbelag dieses Hauses. Kleine Pfützen von Feuchtigkeit hatten sich gebildet. Sie gingen eine kleine Treppe hoch, die immer schmaler wurde und in einer Leiter endete.
"Verrücktes Haus, nicht wahr?!", sagte der Zwerg. "Ist so eine Sache von Tesla, dient zu geheimen Treffen, aber nicht zum Wohnen."
Er stieg die Leiter hoch und zog an etwas, was unter der Decke hing. Es klang, als falle über ihnen ein Blecheimer zu Boden. Kurz darauf öffnet sich eine kleine Lucke und der Kopf des Narbigen erschien.
"Ist er da?", fragte er.
"Kommt gleich", sagte der Zwerg und zog Woi durch die Lucke nach oben.
Sie waren auf dem Speicher. Die anderen Drachenzähne saßen auf dem Dielenboden und schauten Woi an. Nur Schädel stand am Dach. Er hatte einen Dachziegel beiseite genommen und sah hinaus.
Woi sah die anderen an, aber keiner schien merkwürdig zu finden, was Schädel trieb. Niemanden schien zu fürchten, dass sie von Nachbarn beobachtet wurden.
"Ist er wieder aufgehalten worden?", fragte Schädel.
"Soldaten waren in Teslas Haus", sagte Woi ärgerlich. "Ich konnte es erst verlassen, als sie gegangen waren."
"Er meint es nicht so", sagte der Zwerg und sah Schädel streng an. "Ist so eine Sache ...", sagte er nachdenklich. Woi wusste nicht, ob er sich dabei auf Schädel bezog oder auf ihre Situation.
"Ich habe zwei von den Oberen belauscht", kam es langsam von Tatze. "Der eine hat den anderen gefragt, was es denn mit dem Alarm auf sich hat. Aber sie wussten es beide nicht." Tatze machte eine Pause und wartete, dass die anderen etwas sagen würden.
"... meist erfinden sie einen Alarm oder hören was falsch", sagte der Zwerg. Dabei sah er Tatze nicht einmal an.
Jetzt wandte sich Schädel von seinem Ausguck weg nach ihnen um. "Ich glaube, es ist nicht irgendein Alarm. Wenn es das ist, was ich sehe, dann sind viele Soldaten hinzugekommen. Sie haben Zelte aufgebaut, die sicherlich Platz für eine halbe Garnison bilden."
"Die meisten von ihnen sind Soldaten, die von der Grenze kommen. Sie sehen müde aus, als hätten sie es eilig gehabt, von dort hierher zu gelangen", erklärte ihnen der Narbige. "Aber es sind richtige Soldaten, gut trainiert, nicht so wie die Soldaten am Kaiserhof."
"Dann können wir nicht einfach aufbrechen. Wir müssen überlegen, wie wir fort kommen", gab Woi zu bedenken.
Als auch Schädel sich zu ihnen gesetzt hatte, saßen die Drachenzähne im Kreis um das erste Wort, das niemand sagen wollte.
"Wollen wir hören, was der Fürst sagt", schlug Tatze vor.
"Kalt hier", sagte Woi. Nur Tatze lachte.
"Ihm fällt nichts ein. Siehst du, deinem Fürsten fällt nichts ein", bemerkte Schädel giftig in Tatzes Richtung.
Der Narbige sagte nichts. Er fand es dumm, dass einer etwas sagen sollte und sich nichts Richtiges überlegt hatten. Wenn sie festsaßen, dann saßen sie fest, das war so. Er mochte das Warten nicht, weil es ihn mürrisch machte.
"Wie sieht es denn draußen aus?", fragte Woi in den Kreis. Keiner gab eine Antwort.
"Nun sag ihm schon einer, wie es aussieht", forderte Tatze laut. "Er soll etwas sagen, aber er weiß nicht, wie es aussieht."
Der Zwerg warf ein kleines Staubknäuel in die Mitte. "Also, es sieht so aus: Die Stadt ist voll mit Soldaten, die jedem ins Gesicht sehen ... Wir kommen nicht raus, so sieht es aus. Es ist, als warten sie nur drauf, dass wir uns raustrauen. So ist es."
"Dich würden sie mit deiner dicken Lippe vielleicht nicht erkennen, aber uns ...?" Das war Schädel, der das Necken nicht hatte lassen können.
Ehe Woi etwas erwidern konnte, war Tatze schon darüber hinweggegangen. "Jetzt weiß er alles. Nun soll er sagen, was er denkt."
"Ich hätte eine Idee", sagte Woi und schnippste mit dem Finger das Staubknäuel aus der Mitte heraus. "Wir verkleiden uns, dann ist es ganz leicht. Wenn wir uns Uniformen nehmen, könnten wir die Stadt als Soldaten verlassen."
Alle waren still. Selbst Schädel sagte nichts dagegen, sondern dachte mit den anderen über Wois Vorschlag nach.
"Ihr sagt selbst, die Stadt ist voller Soldaten", führte Woi aus. "Ständig kommen und gehen welche. Keiner weiss von dem anderen. Als Soldaten fallen wir am wenigsten auf und können sogar unsere Pferde dabei haben."
Als erster lächelte der Zwerg, dann einer nach dem anderen, bis auch Tatze über das ganze Gesicht strahlte. Weil er eine Anspannung hatte, knackte der Narbige mit seinen Gelenken.
Schädel hatte einen roten Kopf bekommen. "Wenn das so einfach wäre, wie ein Fürst es sich vorstellt", sagte er böse. "Ausdenken kann sich jeder alles!"
"Wo bekommen wir die Kostüme her?", fragte Tatze, ohne ihn weiter zu beachten.
"Die Kostüme zu beschaffen ist nicht schwer", sagte der Zwerg.
"Im Heißbad", schlug der Narbige vor. "Da stehlen wir die Uniformen. Wenn die Soldaten von den Mädchen kommen, dann sind wir längst fort."
"Ich mache das", sagte der Zwerg. "Dort sind Fenster, da komme ich leicht rein. Und der Narbige hilft mir dabei."
Tatze kicherte. "Wenn wir ein kleines Feuer machen, merken sie nichts ..."
Der Zwerg nickte, während Schädel böse an seinen Worten schluckte. Alle waren sie unruhig geworden auf ihren Plätzen.
"Schnell muss es gehen", sagte Woi. "Noch dürfen sie zu den Mädchen gehen. Wenn es erst verboten ist ..."
"Aufbruch!", befahl der Zwerg.
"Es geht los", sagte der Narbige und knackte laut mit den Fingern.
Chapter 92. Erste Nacht im Wald
In dieser Nacht heulte ein einsamer Hund. Irgendwo, sehr weit weg war er und rief nach anderen Hunden. Der Mond schob eine schwere Wolke vor einem Guckloch zur Seite, um nachzuschauen, warum ihm die anderen Hunde nicht antworteten.
Die Drachenzähne waren betrunken. Der Zwerg hatte fünf 'Soldaten-Kostüme' und ein kleines Fass Wein gestohlen. In den neuen Sachen saßen sie im Kreis und tranken. Es war ein merkwürdiger Wein, der süss schmeckte. Keiner von ihnen hatte solch einen schon einmal probiert.
Der Wein machte schnell betrunken, da war es nicht wichtig, seinen Namen zu wissen. Sie hatten flache Schalen dabei, aus denen sie ihn schlürfend tranken. Der Zwerg fragte, ob ihnen der Wein schmecke. Es sei doch eine gute Idee gewesen, den Wein mitzunehmen.
"Eine dumme Idee, eine äußerst dumme Idee, ihn mitzunehmen", sagte Schädel. "Nun wissen sie, dass es ein Diebstahl war und kein Brand."
"Aber trinken tust du von unserm Fässchen doch", sagte der Narbige und betrachtete verächtlich Schädels dünnen und faltigen Hals. Reichte es nicht, dass Schädel so hässlich war? Musste er auch noch die Haut von einer Schildkröte haben?
Der Mond wich vorsichtig einem kahlen Baum aus, immmer darauf bedacht, sich von dessen Zweigen nicht die blanke Oberfläche zerkratzen zu lassen. Ein Herr war auf Reisen war er heute und schaute zwischen den Wolken hervor als wie aus einer Kutsche.
Die Drachenzähne hatten kein Feuer gemacht, aber die Luft war eine Decke und der Boden ein altes Bett. Im Bauch war der Wein und gab dem Kopf von seiner Wärme im Tausch für ein paar wertlose Gedanken.
"Was ist", fragte der Zwerg, "trinken wir den ganzen Wein?"
"Is' doch keine Frage das", murmelte der Narbige. "... is' schade wirklich eigentlich, dass man 'n Feuer nicht mitneh'm kann. Hab'n gebrannt die Soldaten-Fummel, ich sag euch! Ich mein, so'n Wein is' gut, aber so'n Feuer is' so was anderes..."
"Habt ihr eigentlich mal darüber nachgedacht", fragte Schädel, "was wird, wenn wir ihn befreit haben."
"Mach kein' Stunk wieder", warnte der Narbige.
"Hab ich eigentlich darüber nachgedacht, was wird, wenn er weiter so Fragen stellst", zischte der Zwerg und lachte verglühende Funken.
"Meinst du, ich habe Angst vor dir?!", fauchte Schädel, aber eher leise als laut.
"Hast du nich', kannst du als Vorschlag nehmen", sagte der Narbige für den Zwerg.
Woi dachte, dass alles an Schädel runzelig war. Die Hände hatte er wie von einer alten Frau. Nur die Augen brannten in die Dunkelheit ein Loch. Wie es wohl war, wenn schlief? Vielleicht war dann seine Haut ganz glatt. Konnte sein, dass die Haut immer runzelte, wenn die Augen soviel Wut verbrauchten.
"Hei", sagte Tatze, "wisst ihr, dass wirklich alles gut gegangen ist, wie der Fürst gesagt hat."
Woi hatte sich auf den Rücken gelegt und hörte ihnen zu. Sie waren weit weg und ganz nah. Wie er ihre Stimmen hörte, waren es die Stimmen von wirklichen Menschen. Trotzdem musste er an die Räuberbande im Wald seines Vaters denken. Wie Blätter von den Bäumen trudelten die Stimmen herunter und sammelten sich dort, wo er lag.
Die Nacht lag auf dem Rücken und war betrunken. Der Mond sah ängstlich zu ihr herunter, als müsse er fürchten, dass sie mit ihm, dem Nüchternen und Unbescholtenen, einen Streit anfing.
"Hee", sagte eine tiefe Stimme ganz leise neben Wois Ohr, "... war ein toller Plan, mein ich wirklich, kannste glauben."
Woi nickte und schloss die Augen.
Chapter TEIL 3
Chapter 93. Das Ende der Trauerzeit
Fünf mal fünf Tage lang hatte die Kaiserin das Sterbekleid für ihren Mannes getragen. So verlangte es der Brauch. Darauf hatte der Kaiser vor seinem Tod öffentlich bestanden. Von allen Kleidern hatte er ihr DIESES ausgesucht, als wolle er sie strafen.
Sie hatte das Kleid kürzen, taillieren und sein Grau herauswaschen lassen, aber es blieb eine Strafe und war ärgerlich, es bloß ansehen zu müssen.
Zum Ende des heutigen Tag, mit der Stunde, da ihr Mann gestorben war, hatte die Kaiserin das Trauerkleid ablegen dürfen. So war der Brauch, und ein toter Kaiser war ein toter Kaiser.
Die Kleiderpuppe, welche das für den heutigen Tag ausgewählte Kleid fünf mal fünf Tage getragen hatte, stand nackt in der Ecke und hatte ihr Trauergesicht anbehalten. Also drehte die Kaiserin sie mit dem Gesicht zur Wand und legte ihr die schwarzen Handschuhe über die Schulter.
In der Folge hatte die Kaiserin mit dem Knöchel auf dem Tisch geklopft, weil sie es nicht erwarten konnte, dass jemand kam, um sie abzuholen zur rechten Stunde. Immer wieder hatte sie sich aufgesetzt, war im neuen Kleid umhergegangen, hatte sich wieder gesetzt und den Nicht Anklopfenden aufgefordert, hereinzutreten.
Endlich klopfte es wirklich an der Tür. "Bitte, treten sie ein, welcher Gast immer es sei!", rief die Kaiserin mit heller Stimme und setzte sich auf.
Der Hofmarschall, der eintrat, verbeugte sich tief vor seiner Kaiserin. Er hatte nicht erwartet, dass die Fenster geöffnet waren, und hatte nicht erwartet, die Kaiserin im feinsten Staate anzutreffen. Also verbeugte er sich noch ein wenig tiefer und noch ein wenig ernster.
Die Kaiserin forderte ihn auf, näher zu kommen. "Dieses Kleid, Hofmarschall", sagte sie und hielt ihm das gebündelte Trauerkleid entgegen. "Dieses Kleid will ich nie wieder sehen! Verbrennt es oder versenkt es auf dem Grund des Flusses! Wenn ich es noch einmal sehe, werde ich das Kleid - hört ihr? - und euch darin ins Feuer oder ins Wasser werfen lassen!"
Hastig nahm der Hofmarschall das Kleid an sich und verbarg es hinter seinem Rücken.
"Nun, da wir uns zu meiner Freude verstanden haben, frage ich sie, wie ich ihnen gefalle." Die Kaiserin machte einen Kehrtschritt und strich sich ihr neues Kleid über dem Po vor den Augen des Mannes glatt.
"Ich trage jetzt blau", sagte sie. "Das ist die Farbe des Kaiserlichen Drachen. Weil sie mir steht, wie ich denke, soll es meine Farbe sein."
Der Hofmarschall sagte ihr, dass sie wunderschön sei. Er sagte das Wort 'wunderschön', als spreche er eines der Wörter aus, die man im Anstand vor anderen nicht in den Mund nehmen durfte.
Darauf drehte sich die Kaiserin ihm zu. Sah dem Hofmarschall so ungnädig in die Augen, dass dieser sich duckte. Ihm war, als habe er einen Schlag mit der Hand ins Gesicht erhalten.
"Habt ihr mich je angesehen, mich, ja, mich, nicht meinen Mann?", fragte sie außer sich.
"Denkt nicht, dass ich euch eure Glasigkeit vergessen werde!", entfuhr es ihr drohend.
Der Hofmarschall sagte, dass es seine Pflicht gewesen sei, dem Kaiser zu dienen, und nur ihm, bis zu dessen Tode. Es sei ihrer aller Pflicht gewesen, wenn sie sich erinnern wolle, auch die der Kaiserin.
"Ihr versteht nichts", sagte die Kaiserin. "Ihr seid ein Totendiener und ein Leichenwäscher."
Der Hofmarschall verbeugte sich.
"Wurm", sagte die Kaiserin, "Kriechwurm."
Der Hofmarschall krümmte sich und schwitzte am Körper Feuchte aus.
Dann rief die Kaiserin ihren beiden Dienerinnen herein. "Das Kleid zwickt", sagte sie. "Zieht es aus und seht nach, wo es zwickt." Die Dienerinnen taten, was verlangt war, und zogen der Kaiserin vor den Augen des Mannes das Kleid aus.
Der Hofmarschall sah in die Augen der Kaiserin, immer nur in die Augen der Kaiserin. Ein hautroter Streifen verband seine Schläfen, als habe man ihm ein gefaltetes Band über den Augen zusammengebunden.
Schnell fanden die Dienerinnen, was gezwickt hatte. Sie reichten der Kaiserin einen feinen Perlmuttknopf, der zackig ausgebrochen war.
Die Kaiserin ging im Unterkleid auf den Hofmarschall zu und gab ihm den Knopf. "Den sollt ihr tragen, wenn ihr mir vor den Augen seid, dass ich mich erinnere, was ihr mir seid."
Der Hofmarschall verbeugte sich und nahm den zerbrochenen und wertlosen Knopf entgegen.
"Holt mir den General", verlangte die Kaiserin. "Ich will Vorbereitungen treffen, mir mein Geschenk von der Nachtstadt abzuholen, wie es der Brauch ist."
Der Hofmarschall eilte bereits davon, als ihm die Kaiserin nachrief: "Ich sehe das verwünschte Trauerkleid auf eurem Rücken. Denkt daran, was ich euch sagte. Seid nicht vergesslich, sonst - das Feuer, das Wasser!"
Wie lachten die Dienerinnen da! Und auch die Kaiserin kicherte, ganz wie ein junges Mädchen.
"Ihr Treuen", sagte die Kaiserin, "ihr, nur ihr, wisst, was ich litt. Nehmt von meiner Freude, als sei es die eure!" Kurz überlegte sie, hob den Kopf und strich sich mit beiden Händen über den Hals. "Nicht als Lohn für eure Dienste, ach, nicht für den Dienst ... ihr wisst, für unsere Träume und unsere Heimlichkeit."
Die Jüngere hatte sich in ihrem Lachen unterbrochen, während die Kluge weiterlachte, auch weil die andere ein solch dummes Gesicht vor der Kaiserin machte.
Da polterte der General an der Tür, weil er gekommen war. Es klang, als klopfe er nicht mit dem Knöchel, sondern mit der Stirn an. Das sagte die Kaiserin ihren Dienerinnen, und zu dritt bekicherten sie sich solange, bis der General ein zweites Mal mit dem Kopf gegen die Tür gerannt kam.
"Ja, bitte, herein", rief die Kaiserin, "wenn es kein General ist."
"Aber ich bin - ich es - wie?", stammelte der General und fuhr zu einem strammen Gruß zusammen. Immer wenn er nachdachte, dann pochte es von innen so stark gegen seine Schläfen, dass ein Nachdenken unmöglich war.
"Sind sie nicht der General?", fragte die Kaiserin streng.
"Ich bin - bestimmt jawohl - ja, der General." Er machte nicht den Eindruck, als sei er von der Richtigkeit seiner Antwort völlig überzeugt.
"Für dieses Mal will ich es gut sein lassen", mahnte ihn die Kaiserin, "aber in Zukunft erwarte ich Gehorsam." Sie sprach das letzte Wort so zerlaufend kostend aus, dass er es zuerst für ein fremdes Wort hielt.
"Ich verstehe", sagte er schließlich, als es gegen seine Schläfen nicht mehr so pochte. "JawollJajawoll!"
"Ich habe sie kommen lassen, Herr General, weil ich morgen in die Nachtstadt reiten will."
Als sich zwei Soldaten neugierig in der Tür zeigten, kicherten die Dienerinnen und hielten sich die Hände vor das Gesicht.
Auch der General hielt sich die Hände vor das Gesicht, aber er kicherte nicht. Es war nur eine Sache, die er tat, damit er besser nachdenken konnte.
"Bitte, Herr General", sagte die Kaiserin unwillig, "ich will morgen in die Nachtstadt reiten, um mein Geschenk entgegenzunehmen. Wie ihnen bekannt ist, steht mir als Kaiserin ein Geschenk von dort zu. Nehmen sie ihre Soldaten mit und begleiten sie mich."
"Aber es ist, nur wenn ein Kaiser kommt schenken sie ihm eine Geliebte ... bei euch, ich verstehe nicht ..."
"Ich weiss, WAS sie einem KAISER schenken", sagte die Kaiserin sanft und böse.
"Aber ich glaube, ich meine, die in der Nacht-Stadt wissen nicht, dass sie als Kaiserin auch ein Geschenk erwarten ... haben es ihnen nicht gesagt, weil wir es selbst nicht wussten."
"Deshalb nehme ich ja sie, General, und die Soldaten mit", sagte die Kaiserin, ebenso freundlich wie dehnend bestimmt.
Chapter 94. Nadims Ärger über Ken
Erst war Nadim in einem fort traurig gewesen, doch nun war sie einfach böse. Da stand er wieder, dieser Pferdejunge Ken, tat nichts, als mit seinem leeren Ärmel zu schlenkern und den Leuten bei der Arbeit im Weg zu stehen!
Er war an ihrem ganzen Unglück schuld. Sollte er doch Woi bloß ein wenig sticheln und machte daraus eine solch unsägliche Aufführung, dass sie sich schämte, daran zu denken. Gab sich als einarmiger Sohn eines Reiterfürsten aus und prahlte wie ein Kriegsveteran. Alles war falsch an ihm, besonders die Sprache, die er sich ausgedacht hatte. 'Tochter hold von Kaiser tot' hatte er sie vor den Leuten genannt.
Jeden Morgen suchte er sie auf und ließ sie nicht mehr aus den Augen. Überall, wo sie hinging, sah sie ihn wenig später herumstehen. Er stand unverrückbar und überall im Weg, kniff die Augen zusammen wie ein alter Feldherr, der die Befestigungsanlage einer Burg studierte, die er mit geringen Verlusten einzunehmen gedachte.
Ob er sie zu einer Bootsfahrt ausführen dürfe, hatte Ken gefragt. Ob das ritterlich werbende Art sei, ein Fräulein auf eine Bootspartie einzuladen?
Ja, das sei schicklich, hatte sie geantwortet. Er müsse aber ein Boot finden, das er mit einem Arm rudern könne. Dann hatte sie sich lachend umgedreht und war fortgegangen.
An diesem Tag hatte er ihr bei der Kleiderprobe aufgelauert und den Näherinnen erzählt, welches Kleid er an ihr schön fände. Es war das schwarze mit den furchtbaren roten und gelben Bommeln. Es erinnere ihn an die Mädchen von der Heimat, hatte er gesagt. Wenn sie auf den Pferden säßen, dann bommelte es gar lustig. Das Heimweh brach seine Stimme und ebenso die Herzen der Näherinnen.
Wenn Ken in der Nähe war - und er war immer irgendwo - dann konnte sie nicht traurig sein, sondern musste sich ärgern. Es war ihr nicht möglich, auch nur ein wenig traurig zu sein und an Woi zu denken.
Nun stand Ken hinter einem Wagen und sah ihr in den Garten nach. Nadim versuchte, eine Blume zu malen, wie Li es ihr gezeigt hatte. Sie beachtete ihn nicht, aber er hatte längst bemerkt, wie sehr sie sich dafür anstrengen musste.
Plötzlich stand er hinter ihr und sagte: "Ich sehe, sie malen schöne Blumen. Das macht mein Herz erfreut recht sehr. Ist es Blume von Kopf oder von Garten?"
"Diese da ist es", sagte Nadim und zeigte auf die Blume, die sie malte. "Wenn man mich in Ruhe läßt, würde ich gerne diese da malen."
"Oh", sagte Ken, "ich wollte nicht intradieren, wie man sagt in meiner Sprache."
"Und ich werde bald jedem in unserer Sprache sagen, dass er nur ein Pferdebursche ist und sich alles ausdenkt", sagte Nadim böse.
Ken strich sich den Ärmel seiner verlorenen Armes glatt. "Er wäre gerne bei seinen Pferden", sagte er mit falscher Stimme, "doch die Menschen hier sind Freunde geworden des Mannes vom fernen Reitervolk. Er ist ihr Gast fürderhand, wie man sagt, und will sich nicht stehlen aus ihrem Bett und verschmähen das Brot, das sie auf den Teller des Gastes gelegt haben."
"Dann soll er mich in Ruhe lassen, der Mann von seinem Reitervolk. Ist mir egal, was er macht, wenn er mich nur in Ruhe lässt", sagte Nadim böse und verkleckste dabei ihre Blume. "Was will er denn von mir?"
"Er macht die Augen auf am Morgen und liegt in einem riesigen Bett unter einem Dach, von dem sich mehrere Drachen auf ihn harabstürzen. Er ist immer noch müde, aber die Menschen sagen ihm, was er zu tun hat. Sie sagen: 'Geh zu der Prinzessin, sie ist da und da.' Sie sagen: 'Die Prinzessin, sie wartet dort und dort.' Sie sagen: 'Es ist der Prinzessin bestimmt langweilig, allein die Blumen zu malen.' Sie sagen: 'Der fremde Fürstensohn muss zu ihr gehen und ihr sagen, welches Kleid schön an ihr ist.' Also geht der Pferdejunge und macht, was sie ihm sagen. Ist ihm alles gleich, was er macht - mit den Pferden wie mit den Menschen. Er ist bene ditas, wie man sagt, ein Menschenjunge geworden."
"Dann sage ich ihm jetzt, dass ER mich in Ruhe lassen soll", fauchte Nadim. " Er soll auf jemand anders aufpassen. Hau ER einfach ab!" Ein zweiter Klecks traf die Blume auf dem Bild.
Ken verschwand stumm aus ihrem Sichtfeld. Dabei hinkte er, als habe er nun auch ein Holzbein. Nadim spürte, dass er irgendwo in ihrer Nähe geblieben war.
Sie versuchte, aus den Klecksern eine Blume zu machen. Es war eher eine Distel als eine Blume. Furchtbar stachelig und verzupft sah sie aus!
Sie befühlte den kleinen Finger. War er nicht schon ein wenig steif? Nein, es war nichts als Einbildung! Das kam von diesem Ken, der erst seinen Arm nutzlos herumtrug und nun sein Bein nachzog, als sei es ihm steif geworden.
Sie hörte leise Schritte hinter sich. Wenn es Ken war, würde sie ihn mit Tinte bespritzen. Blitzschnell drehte sie sich um und und hatte den Pinsel zum Angriff gehoben. Aber Baldeina stand hinter ihr und kaute auf seiner Zunge. Er hatte sich in Nadims böse Blicke verloren und beachtete den zum Angriff erhobenen Pinsel nicht einmal.
"Ist etwas?", fragte sie und bedachte ihre Blume mit einem weiteren Stachelzweig. Das Klecksen tat ihr gut. Es war wie Heulen oder Schimpfen. Sie würde das Blatt mit Klecksen bewerfen, bis es voll war. Ein Kiste voller Distelköpfe wollte sie malen.
"Versteht ihr euch mit ihm ... mit ihm, dem Ken?", fragte Baldeina leise.
Warum nur las niemand im Gesicht eine Prinzessin das Richtige? Sah niemand, wie Nadim wütend mit sich und allem war? Sah niemand, dass Nadim unglücklich war? Sah niemand, dass ihre Blume eine zornige Distel war?
"Ich weiß jetzt, dass er gut zu Menschen wie zu Pferden ist", antwortete Nadim. "Er tut alles, was man ihm sagt, damit sie es gut bei ihm haben."
"Dann könnt ihr euch also vorstellen, ihn zu ... heiraten?", fragte Baldeina, innig sein Glück voraussehend.
"Natürlich kann ich mir das vorstellen", sagte Nadim grimmig. "Wir sind uns so nah, dass ich manchmal denke, ich habe einen steifen Finger. Seht diesen hier! Fühlt ihr, wie er schon steif ist? Stellt euch vor, es ist von ihm auf mich übergegangen!"
Baldeina suchte in Gedanken nach einem körperlichen Merkmal, dass von ihm, zusammenwachsende Nähe beweisend, auf seine Dessa übergehen könnte. Ihm wollte aber nur das Gelb seiner Schärpe einfallen.
"Er ist doch ein wenig steif, oder nicht?", knurrrte Nadim.
"Doch - ja - ein wenig ist er steif - hier vielleicht", kam es von Baldeina, der zum ersten Mal den Finger einer Prinzessin befühlte.
Nadim betrachtete wütend, wie er sein Haupt über ihren Finger gebeugt hielt. Wenn die Menschen einen steifen Finger nicht von einem gesunden unterscheiden konnten, wie sollten sie dann ein glückliche von einem unglücklichen Prinzessin unterscheiden können!
Baldeina betastete vorsichtig ihren Finger. Lange Zeit betrachtete er ihn, als blättere er im aufgeschlagenen Bilderbuch seines Glücks.
"Ich glaube sogar, es ist schon im Handgelenk", bemerkte Nadim und streckte den Unterarm aus.
Baldeina besah sich gleichermaßen interessiert den Arm, hielt nun aber die Hände auf dem Rücken verschränkt.
"Wenn der ganze Arm steif ist, werden wir heiraten!", versprach Nadim dem sich am schwallartigen Glück verschluckenden Baldeina.
Chapter 95. Die Kaiserin in der Nachstadt
Lange hatte die Kaiserin darüber nachgedacht, welche Veränderung eingetreten war. Irgendetwas, das nur ihre Person betraf, hatte sich verändert.
Erst am Nachmittag, als der hohe Baum vor dem Fenster das Sonnenlicht verstellte und die Dienerin die Stimme des Generals imitierte, hatte sie die Lösung gefunden: Die Kaiserin hatte diesselbe - in völlig gleicher Weise diesselbe Stimmung wie am gestrigen Tag! Sie unterschied sich in nichts, hatte dasselbe Gewicht und diesselbe Farbe, war gegenwärtig und gestrig in einem. Das stellte die Kaiserin fest und wunderte sich.
Sie freute sich daran und fragte die Dienerin, wie es ihr heute ergehe. Die Jüngere sagte, dass eine Ängstlichkeit sie heute bedrücke. Die Kaiserin aber schwieg über den Grund ihrer Frage und wandte sich schnell der Älteren und ihren Anliegen zu. Eine Unruhe sei es, sagte die Jüngere, dass sei das richtige Wort.
Für den heutigen Besuch in der Nachtstadt hatte sich die Kaiserin ein besonderes Kleid angezogen. Es war grau wie das Kleid, welches ihr der tote Kaiser für die Trauerzeit ausgesucht hatte. Aber es spielte nur mit dieser Ähnlichkeit. Wenn sie sich ein wenig darin bewegte, dann erschien sein fallendes Muster, und es war, als löse das Licht die feinen Maschen auf.
Der General hatte zwei Soldaten als Eskorte für die Kaiserin und ihre Dienerinnen geschickt. Die jüngere Dienerin flüsterte, sie sei noch nicht fertig mit dem Saum des Kleides, aber weil die ältere ihr einen solchen Blick zuwarf, war sie dann doch fertig.
Im Hof hatte der General ein leichtes Kutschgefährt anschirren lassen, und weil er befohlen hatte, es zu schmücken, war es mit Blumen bedeckt, als sei es im Handel unterwegs.
Die Kaiserin besah sich dieses Gefährt kühl und befahl ihrer Eskorte, die Blumen zu entfernen. Als dies geschehen war, ließ sie ein großes, weißes Tuch kommen und hieß, die Kutsche von oben bis unten damit zu bedecken, bis diese ganz verschleiert war, und nur dort einen Spalt hatte, wo die Kaiserin hinaussah.
Der General meldete, dass man bereit sei, die Nachtstadt anzusteuern. Der Abend sei sehr weit fortgeschritten und somit sei es die Zeit, da man sich dort, was er gehört habe, rüste und zu Werke gehe.
"Habt ihr genug Soldaten, dass sie alles tragen können?", fragte die Kaiserin. Sie war gutgelaunt, und der General ließ es nicht an austönender Heiterkeit fehlen.
Draußen gab er den Befehl zur Abfahrt und drinnen saß die Kaiserin und winkte ihren Dienerinnen zu. Ihr kam es vor, als lasse sie den Tag und den Abend am Hof zurück.
Es war mit einem Mal so dunkel in ihrer Kutsche, dass sie wieder hinausblicken musste, um sich abzulenken. So betrachtete sie die glänzenden Helme und Stiefel der Soldaten, die vorbeitanzenden Fenster, die Ziegelmaschen der Dächer, die sie im strengen Lichtspiel an ihr Kleid erinnern wollten.
Als sie die Tagstadt hinter sich gelassen hatten, verstummte der General völlig. Es kam der Kaiserin vor, als sei sein Mut in der Tagstadt zurückgeblieben, als lasse er jeden Soldaten für sich und für sein Schicksal reiten. Es wäre der Kaiserin beruhigend gewesen, wenn der General sich nicht hätte anmerken lassen, wie wenig geheuer ihm dieser Ausritt war.
Die Kaiserin wusste eigentlich nichts von der Nachtstadt. Ihr Mann hatte in ihrer Gegenwart jedes Gespräch darüber verboten. Selbst ihre Gedanken, wenn er sie sah, verscheuchte er, indem er aufstand und nicht wieder zurückkam. Es war etwas mit dieser Nachtstadt, das eine größere Macht hatte.
Sie sah hinaus in die Nacht, die ihr angestrengt Angst zu machen versuchte. Obwohl sie vom General kein Kommando gehört hatte, blieb die Kutsche plötzlich stehen. Ein Soldat half der Kaiserin auf den Tritt und einen schmalen Steg, der vor ihr ins Wasser lief.
Wie sie dort stand, schob der Mond die Wolken beiseite und sah ihr über die Schulter. Mit einem Mal erkannte sie die Schwimmenden Häuser, die in ihrer Schwärze unsichtbar vor dem Ufer gelegen hatten.
Die Kaiserin dachte, dass es ein gutes Zeichen war, wenn der Mond ihr mit seinem Licht aushalf. Doch dieser verschwand gleich wieder, als wolle er ihrer Seite nicht zugerechnet werden.
"Sie wussten, dass ich komme und haben nichts vorbereitet", stellte die Kaiserin fest.
"Warten sie", beschied sie der General. "Wir sind gerade erst angekommen. Ich stelle mir vor, es dauert ein wenig."
Mit seinen Worten wurde die Nacht so schwarz, dass die Kaiserin nicht einmal das Wasser vom Land unterscheiden konnte. Und damit ging ein Licht an, ohne dass sie hätte sagen können, ob es der Luft oder dem Fluss zuzurechnen war.
"Sehen sie", flüsterte der General und war überwältigt.
Ein zweites Licht folgte, diesmal in einer anderen Farbe, in einer runden Form, die silbrig zitterte, als schwämme sie auf den Wellen als Abbild des Mondes. Obwohl die Kaiserin hochsah, gab es am Himmel keinen Mond. Woher also kam sein Abbild? Denn dies war ohne Zweifel das Abbild desjenigen Mondes, der ihr vorher auf dem Steg mit seinem Licht ausgeholfen hatte. Es war seine Form und seine Helligkeit, daran bestand kein Zweifel.
Und wieder ging ein Licht an und schwamm hinaus. Rötlich war es und hatte ein weißen Rand wie ein schwimmender Stern.
"Was machen sie?", fragte die Kaiserin streng. Die Soldaten warteten, ob ihr General eine Antwort wusste.
"Es ist ein Fest", sagte der General rauh und hob den Finger zur Lippe, dass sie alle still sein sollten.
"Aber kein Fest für mich", sagte die Kaiserin laut. "Sie feiern sich selbst."
"Sie können es nicht nicht unterscheiden", suchte der General sie zu beruhigen.
"Aber ICH kann es unterscheiden!", sagte die Kaiserin und wies auf ein Haus, dessen Dach eine bläulich schimmernde Knospe darstellte.
"Ist es nicht schön?", fragte der General.
"Befehlt sie her!", sagte die Kaiserin.
"Sie hören uns nicht!"
"Dann sorgt dafür, dass sie uns hören!", befahl die Kaiserin.
"Wenn das Schauspiel zu Ende ist ... ", versuchte der General kläglich eine anderen Einwand.
"Wir könnten die Häuser ranziehen", schlug ein Soldat, der sich nicht zeigen wollte.
"Ranziehen?", fragte die Kaiserin erstaunt. "Sind die Schwimmenden Häuser an Leinen befestigt?"
"Ja", gestand der unglückliche General. "Es ist, wie der Soldat sagt." Er sah sich um, ob sich dieser Unglückliche nicht ausmachen ließ.
"Zieht sie her! Alle! Sofort!", befahl die Kaiserin, und ohne dass der General etwas gesagt hätte, machten sich die Soldaten an die Arbeit, indem sie zu zweit die Leinen fassten und im Takt daran zogen.
An den Lichtern ruckte und zog es. Manche stießen zusammen, andere verlöschten ganz. Dabei stand die Kaiserin vorn am Steg, um dem Schauspiel so nah wie möglich zu sein.
Schließlich hingen alle Häuser der Nachtstadt an der kurzen Leine der Soldaten und drängten sich dergestalt, dass sie schief und übereinander standen und sich allesamt knirschend aneinander rieben.
Auf eine Weisung der Kaiserin zogen die Soldaten mit einem Ruck die Leinen kurz, bis es nicht mehr ging, und selbst das Ächzen der Planken verstummt war. Erst als eine Planke krachend brach, und das letzte Lichtlein erloschen war, lächelte die Kaiserin und ließ es genug sein.
"Das ist ein schönes Schauspiel", sagte die Kaiserin. "Wirklich und wunderbar. Doch ich will es nun genug sein lassen, weil es spät ist, und mir mein Geschenk abholen."
Leise, aufgeregte Stimmen, die aus den Häusern kamen, riefen nach Tesla. Auch der General rief klagend nach ihr.
"Hat die Fürstin der Nachtstadt kein Geschenk für mich?", fragte die Kaiserin. "Das wäre doch schade, denn ich müsste überlegen, ob ich ihre Stadt nicht für immer an die kurze Leine nehmen sollte."
"Hier bin ich", sagte Tesla. "Ich finde mich noch nicht zurecht." Sie stand schwankend erhoben auf ihrem Vorsteg, unter den sich ein anderer geschoben hatte und ihn schräg aufstehen ließ. Das Mädchen war bei ihr und stützte sie.
Hier und dort sah man ein Blumenmädchen herausschauen, das mit dem Klang ihrer Stimme den Mut geschöpft hatte, sich anzusehen, wie es um ihr Haus stand.
"Ich kam eigentlich nicht, um mir mein Geschenk an Land zu ziehen", sagte die Kaiserin.
"War unser Lichterfest nicht nach eurem Geschmack?", rief Tesla herüber.
"Wie soll ich Lichter besitzen?", fragte die Kaiserin. "Ich mag nur Dinge, die ich bei mir habe!"
"Eine Kaiserin hat doch alles! Was wünscht ihr euch also?" rief Tesla.
"Habe ich alles?", fragte die Kaiserin ihre Soldaten. Einige nickten, andere verstanden nichts und schauten auf ihre Leinen.
"Es sei gestanden: Unser Geschenk an euch traf nicht rechtzeitig ein", so Tesla. Es klang, als sage sie dies widerstrebend.
"Dann werde ich mich gedulden müssen", sagte die Kaiserin und wandte sich dann ihrem General zu: "Ihr könnt zum Abmarsch befehlen!"
"Und was geschieht mit IHR?", fragte der General und zeigte auf die ineinander geschobene Nachtstadt, der ganz offensichtlich seine ganze Fürsorge galt.
"Sie bleibt für das Weitere so", entschied die Kaiserin, "damit es sie an das Geschenk erinnert, welches sie mir schulden."
Chapter 96. Baldeina und die Kaiserin
Die Kaiserin trug ein Kleid, das wohl ihr Schlafkleid war. Auf den ersten Blick fand Baldeina es wunderschön, dann sah er zu Boden, damit die Kaiserin seinen Blick nicht falsch deutete.
"Ich hatte die Wahl mich anzukleiden oder euch warten zu lassen", sagte die Kaiserin. Sie besaß eine dunkle Stimme, welche die Ränder ihrer Worte rauh erscheinen ließ. Wenn eine Farbe vorherrschte, dann war es das Purpur - das Rot, das sich im Blau verloren hatte.
Zum ersten Mal durchfuhr Baldeina die Erkenntnis, dass man eine Frau nach ihrer Stimme lieben konnte. Er stellte sich vor, wie es wäre, wenn sie singen würde. Natürlich gestattete er sich nichts als diese Vorstellung, denn einer Kaiserin war es nicht erlaubt zu singen - bestenfalls durfte sie eine singende Stimme haben.
"Ich entschied mich, wie ihr seht, gegen das Warten", sagte die Kaiserin. Jedem Wort folgte, als gehöre sie dazu, eine stumme Silbe, gerade solang, dass ihre Stimme zwischen den Worten eine Schwingung hatte, vielleicht nur ihm wahrnehmbar.
"Es ehrt mich", sagte Baldeina. Auch er hatte eine tiefe Stimme. Ihr Hall schien ihm gerade das richtige Echo für zu besitzen.
"Ihr verzeiht also, dass ich euch so empfange?", fragte die Kaiserin bittend und führte Baldeinas Blick über ihre weißen Schultern zu den Schatten ihres Ausschnittes.
"Es ist mir eine Freude", sagte er gefasst und verbesserte sich eilig: "... ich meine eine Ehre."
"Ich ziehe die Freude vor", lächelte die Kaiserin. "Die Ehre bedeutet mir nichts."
"Mir auch nicht ... ich meine, die Freude ziehe ich auch vor, selbstverständlich, wenn ihr sie vorzieht!"
"Die Freude hat eine Berührung, die Freude wagt einen Blick, dies meinte ich", sagte die Kaiserin.
"Ich verstehe", sagte Baldeina und schluckte an dem Hall seiner Worte.
"Und nun?" Ihr Blick nahm den seinen fühlend in Empfang und sprach ihm geheimnisvoll in einer noch fremden Sprache zu.
"Ich verstehe nicht ...", flüsterte Baldeina.
"Wenn es ein Anliegen gibt, dann tragt es vor", sagte die Kaiserin sanft und hätte doch leicht über seine Unbeholfenheit spotten können.
"Ja", sagte Baldeina, "es gibt ein Anliegen, das ich bei mir trug ... trage."
Die Kaiserin machte einen vorsichtigen Schritt auf den mutlosen Baldeina zu, fasste seinen Ärmel und und zog ihn tiefer in ihr Gemach. Dort stand er, irgendwo zwischen Bett und dem Ständer, der ihr das Kleid für den heutigen Tag trug.
Baldeina stotterte selbst ihm Unverständliches, weil sie gesehen hatte, wie sein Blick auf das Bett gefallen war, in dem sie geschlafen, vielleicht nur gelegen hatte.
"Ich und Dessa, also Dessa und ich, wir wollten natürlich heiraten, also eigentlich ich und sie auch, wir ..."
"Ich hörte davon", unterbrach die Kaiserin. Es war die Traurigkeit, die diese Worte ein wenig ausfärbte.
"Also wenn es euch nicht recht ist, ich meine, darüber zu sprechen, dann verschieben wir es", beeilte sich Baldeina zu sagen.
"Doch, bitte, fahrt fort", bat sie ihn. "... ich will mich nur setzen. Nein, nicht auf das Bett. Ich bitte, holt mir diesen Stuhl dort."
Baldeina tat, wie ihm aufgetragen worden war. Als er mit dem Stuhl gekommen war und die Kaiserin sich gesetzt hatte, führte sie ihn an seiner Hand um ihre Schulter herum, bis er unmittelbar vor ihr stand.
"Wir kennen uns noch nicht näher", sagte die Kaiserin.
"Nein", antwortet Baldeina mit keinem Blick.
"So ist es Zeit, nicht wahr?" Der Baum füllte mit seinem Lauschen das Fenster.
"Wenn ich etwas verlangen würde ...", sagte die Kaiserin leise.
Baldeina nickte stumm und war einzig unglücklich darüber, dass es ihm nicht gegeben war, wie eine Schildkröte den Kopf im kühlen Panzer einzuziehen.
"... nicht weil ich die Kaiserin bin. Nehmt das nicht als einen Grund!" Sie rückte ihren Stuhl so, dass er sie nicht ansehen konnte, sondern nur ihre Stimme hörte, welche die Worte langsam hinter sich herzog, als schaue sie sich ihnen bisweilen nach.
"... sondern weil ich", sie drehte die Hände, als rühre sie langsam in einem Topf, "eben weil ich ..."
Baldeina versuchte zu sprechen, aber als er die Kraft fand, hatte er völligst vergessen, was sie gesagt hatte. Es war weg, so sehr er danach auch in seinem Erinnern forschte.
"Ihr versteht, ich habe keinen Wunsch, aber wie schnell entsteht ein Wunsch und lässt uns nicht mehr los."
Sie stand auf. Auch ihre Bewegungen waren langsamer, als schreite die Zeit im Takt ihrer Worte. Einmal ging sie um Baldeina herum und betrachtete ihn von allen Seiten. Er gab sich Mühe, so aufrecht und dienstbar zu stehen wie die Kleiderpuppe.
"Setzt euch her", sagte die Kaiserin. "Wo ich saß, sollt ihr sitzen."
Der Stoff des Stuhles war noch ganz warm von ihrem Körper. Sie stand vor ihm, und Baldeina sah zu ihr empor. Dass sein Mund offenstand, bemerkte er spät, zu spät.
"Als ihr kamt, was war euer Begehr?" Sie sah, dass alles Herz in seinen Augen schwamm und ihm nichts davon im Inneren geblieben war. Sie bereitete sich vor, ihn dafür zu mögen.
"Eure Tochter ... also nicht eure", stammelte Baldeina, "... wir fragen, ob wir heiraten können ... also dürfen, meine ich natürlich."
Die Unterlippe der Kaiserin lächelte und schob sich vor die nicht lächelnde Oberlippe. Ihre Augen nahmen Maß an Baldeinas Augen, und ihre Nase sog langsam die Witterung seines Schwitzens ein.
"Eurem Wunsch gebe ich selbstverständlich statt, wenn ihr mir eine kleine Probe gestattet."
"Gerne, gerne", sagte Baldeina und schwitzte fort. Wollte sie wirklich seine Zuneigung zu Dessa prüfen? Unsicher blickte er in sich hinein, ob nicht ein wenig Zorn auf ihre Zögerlichkeit als Rest geblieben war.
Die Kaiserin hob ihre Hand nach innen und besah sich nachdenklich die darauf gezeichneten Linien. "Hier, streichen sie über die Linien mit ihrem Finger, ganz sacht. Ja ... so ist es recht. Ich will die Augen schließen und warten, was geschieht."
Baldeina gab sich Mühe, ganz vorsichtig und zum Äußersten sacht auf der Handfläche zu zeichnen und keine Linie zu vergessen.
"Es geschieht etwas", stellte die Kaiserin fest.
"Was geschieht?", fragte Baldeine und strich behutsamst die unterste Linie, dort wo die weiße Haut ihres Armes anlag.
"Die Linien zeichnen sich in meinem Herzen. Nicht eine von ihnen schmerzt, nicht eine von ihnen ist kalt."
Sie berührte ihm die Wangen, das Haar, dann seine Lippen, wie ihn leichter ein Wind nicht hätte berühren können.
Die Kaiserin nahm auch seine Hand auf und schloss bittend Baldeinas Augen. Bald spürte Baldeina, dass sich auf seinem Herzen die von ihr gezeichneten Linien im Gegenbild ablesen ließen, erst ein wenig undeutlich, dann so heilend und warm, wie sie es beschrieben hatte.
"Was war noch der Wunsch ...?", fragte die Kaiserin, als habe sich ärgerlich ein letzter Rest von Pflichten zwischen sie gedrängt.
Baldeina öffnete die Augen, aber er schloss sie wieder, weil auch sie ihn nur mit der Hand ansah. "Es geht um eine Heirat", sagte er tonlos. Er wusste selbst nicht, ob es richtig war, immer wieder davon anzufangen.
"Ach ja", sagte die Kaiserin, "diese Heirat, ach ja ..."
Baldeina sagte, sich erinnernd, dass es eine Sache sei, die nicht notwendig besprochen werden müsse, aber die Kaiserin war in Gedanken enteilt.
"Ich will ja gerne", sagte sie, "der kleinen Dessa ihren Wunsch erfüllen, aber ich selbst habe einen Wunsch. Über den will ich reden und ihn euch und ihr bekannt machen ..."
"... seht ihr, den Hof meines toten Mannes verwaltet mir der Hofmarschall, verwaltet ihn so, wie er es unter dem Gestorbenen schon tat", die Hand der Kaiserin hob und senkte sich zum Zeichen matten Dankes, "aber MEINEN Hof, den Hof, der nur mir entsteht, den verwaltet bis jetzt niemand. Und es wäre mein Wunsch, dass ihr dieses Amt übernehmt."
"Das wäre eine große Ehre!", rief Baldeina, so kam es ihm so aus vollstem Herzen!
Das war eine AUFGABE, die ihm zuteil wurde! Dabei war er nur an den Hof gekommen, um eine Prinzessin zu heiraten. Doch dies war ein TITEL, der ihm seinem Verdienste nach verliehen wurde, ein hohes Amt, am Hofe vielleicht das höchste! Wie würde der Vater auf den Sohn stolz sein können!
Die Kaiserin hatte aufmerksam zugesehen, wie die Freude über ihr Angebot von Baldeina Besitz ergriffen hatte.
" ... und diese andere Sache", sie gestattete ihrer Unterlippe ein Lächeln. "Gern will ich der kleinen Dessa ihre Heirat gestatten. Und sie soll alles bekommen, was ihr als Ehefrau zusteht - nur das Herz, euer Herz, das Herz ihres Mannes, das will ich für mich und meinen Hof."
Chapter 97. Die Kaiserin und das Diadem
Die Kaiserin saß im feinsten Staat auf dem Thron. Neben den hohen Lehnen des breiten Stuhles knieten ihre beiden Dienerinnen, die treuesten von allen.
'Schlagt nicht die Augen nieder', hatte ihnen ihre Herrin befohlen, 'sondern seht sie euch an, einen wie den anderen. Lasst sie nicht aus den Augen!' So waren nun zwei und vier Augen auf die Anwesenden gerichtet.
Der General stand in einem Rechteck von Soldaten, der Hofmarschall mit vier weißgekleideten Dienern, Baldeina neben Ken und dem Eunuchen.
Unbekannt waren zwei Anwesende: eine Dame, die einen roten Lampion hielt, und eine Person, die ihr zur Seite stand, und eine bis zum Boden reichende, graue Leinenkutte trug.
An der Seite der Kaiserin trat der Richter von einem Fuß auf den anderen. Sein Gerichtsdiener Halfi trug auf einem schwarzen Kissen das Diadem des Blauen Drachen.
Die Kaiserin hatte sich die Haare, die sie sonst offen trug, streng zum Zopf nach hinten zusammenbinden lassen, um den Blick nicht von ihrer Stirn abzulenken, die heute den Kaiserlichen Schmuck tragen sollte.
Der weiße Kopf des Drachen war aus Brillianten gemacht und eigentlich klein. Sein Leib dagegen war dem großen Fluss nachgestaltet und floss in tiefem Saphirblau zweimal gekrümmt dahin. Er war mit Perlen zum Halt am Hinterkopf versehen, um dem Träger aufrecht stehend die Stirn schmükken zu können.
"Kommen die Prinzessinnen nicht", fragte die Kaiserin streng.
"Ich habe sie unterrichtet", sagte der Eunuch und verschwand hinter dem Körper des Generals.
Baldeina und Ken senkten die Köpfe.
"Niemanden trifft ein Vorwurf", sagte die Kaiserin, weil ihren Baldeina keine Sculd traf, "aber wir können nicht bis in alle Zeit auf sie warten."
Der Richter nahm das Diadem vom Kissen, trat zur Kaiserin vor, verbeugte sich und zeigte es im Kreis.
Dabei sah ihm die Kaiserin sehr genau in die Augen, und ebenso ihre Dienerinnen. Finster war der Blick des Richters, weil die Kaiserin seinen Richterspruch nicht abgewartet hatte und den Blauen Drachen nun gleich, eigenmächtig vor der Zeit tragen wollte.
"Er passt nicht", stellte der Richter fest. In der Tat war das Diadem locker und hatte zuviel Spiel an ihrem Hinterkopf.
Der Richter sah sich um. Außer dem Gerichtsdiener lächelte ihm niemand Aufmunterung zu. Trotzdem verkündete er tapfer, immer noch über die Kaiserin gebeugt: "Ich kann erst meine Zustimmung zum Anpassen geben, wenn der Letzte Wille des Kaisers -"
"- ihr riecht nach Sauerstaub", zischte die Kaiserin ihn an. "Nahmt ihr kein Bad von euren Büchern?" Mit einer Bewegung scheuchte sie ihn fort.
Die Dienerinnen hatten ihm das Diadem aus den Händen genommen und mit wenigen Handgriffen das Haar der Kaiserin so geordnet, dass der Schwanz des Blauen Drachen seine Spitze genau zwischen den Augen der Kaiserin hatte und der Drachenkopf träumend auf ihrem Haaransatz ruhte.
Dann verbeugten sie sich tief vor der Kaiserin, und alle, außer dem Richter umd seinem Halfi, taten es ihnen nach.
Wenn es für die Schönheit ein Recht gab, waren wohl die Gedanken der sich Verbeugenden, dann war dieses Wunderwerk für niemanden als diese Kaiserin gemacht.
"Die Abordnung der Nachtstadt, vortreten!", rief der Hofmarschall, als die Kaiserin und ihre Dienerinnen ihm dafür angesehen hatten.
Nun kam die Gesandte der Nachtstadt im Trippelschritt nach vorne. Sie hielt ihren roten Lampion hoch und trug ein dünnes weisses Kleid. Hinter ihr schlürfte die Person in der langen Kutte heran, als widerstrebe ihr diese Eilfertigkeit.
"Hat sich eure Fürstin zur Buße in diese Kutte gekleidet?", fragte die Kaiserin spöttisch.
"Unsere Fürstin Tesla ist schlecht zu Fuß", sagte die eine Gesandte, "und entschuldigt sich, wenn ihr erlaubt."
"Was habt ihr mir gebracht?", fragte die Kaiserin ungnädig. Sie roch mit Abscheu den schweren Duft der Nachtstädtischen, der keinen Abstand hielt.
"Wir von der Nachtstadt wissen, was einer Kaiserin gefallen wird", so lautete die gelernte Rede. "Diese Frau hier nehmt als Geschenk von uns. Sie ist das Teuerste, das wir besitzen, und soll euch nun dienen, solang ihr mögt."
"Ihr schenkt eurer Kaiserin eine Dienerin!? Wisst ihr nicht, dass sie genügend und die besten davon hat?" Der Körper des Drachen wechselte die Farbe in lichtloses Schwarz.
Die beiden Dienerinnen an ihrer Seite blickten voller Zorn. Doch die Nachtstädtische verbeugte sich tief, als sei sie vom Wert ihres Geschenkes überzeugt. Nur die Frau in der Kutte rührte sich nicht und blieb teilnahmslos unscheinbar.
"Was soll ich mit ihr?", fragte die Kaiserin noch einmal.
Die Abgesandte trat einen Schritt zur Seite und zurück. Ihr Duft unternahm keine Anstalten, bei ihr zu bleiben.
"Ich gebiete über die Schönheit", sagte die Frau in der Kutte für die Schweigende. "Das ist mein Dienst an euch."
Vom Klang ihrer Stimme erschrak Baldeina. Es war die Stimme einer alten Frau, aber ihre wenigen Worte umgab diesselbe nebelige Landschaft, die er auch an der Stimme der Kaiserin bemerkt hatte. Düsterer noch und karger war ihre Stimme, aber sie füllte nachklingend den Raum zwischen den Worte.
"Ich gefalle mir, wie ich bin", sagte die Kaiserin und setzte sich spielerisch in Positur.
"JETZT gefallt ihr euch", sagte die Stimme nachlässig. "Mein Dienst ist, dass ihr euch für IMMER gefallt."
"Sie kann das wirklich", flüsterte die Nachtstädtische der Kaiserin zu, "aber versucht niemals - hört ihr? - niemals, ihr Gesicht zu sehen. Das einzig ist euch verboten. Für euch muss sie eine Frau ohne Gesicht und ohne Namen bleiben."
"Ich will euer Geschenk annehmen", sagte die Kaiserin, als habe sie genug von diesem Auftritt. "Nun geht und sagt es den anderen."
Die Nachtstädtische verbeugte sich tief und warf einen letzten Blick auf die Frau, die nun in Diensten der Kaiserin stand. Ihr war anzumerken, welch großes Opfer die Nachtstadt gebracht hatte.
Der General räusperte sich und streckte den Bauch soweit aus, dass er beinahe vornüber gefallen wäre. Mit zwei seiner Soldaten schritt er schwerbesohlt vor die Kaiserin. Die Soldaten sahen munter in die Augen der Dienerinnen, wurden aber mit strengem Blicken abgewiesen.
"Höröch", sagte der General, "ich, öm, sehr geehrte Kaiserin, meine tiefe Ergebenheit an diesem Tag, öm, ich - besten Glückwunsch!"
Die Kaiserin hatte unwirsch seinem Gestammele zugehört und unterbrach ihn nun: "Du, General, gehst mit deinen Soldaten zur Nachtstadt und löst dort die Taue!"
"Jawollabverstandn!", rief der General heiser.
"Befeehl!", hustete er im Abdrehen seine Soldaten an. "Abmarsch!"
"Jawoll, Herr Gennral! Wird gmacht, Herr Gennral! Abmarsch, Männerrr!!", riefen sie mit voller Kraft zurück, dass es den Dienerinnen die Haare hochwehte.
Chapter 98. Die Frau mit der Kutte
Die Kaiserin lag im Festkleid auf ihrem Bett und sah zur Decke empor. Auf dem Kissen neben ihrem Kopf lag das Diadem des Blauen Drachen. Sie wartete, dass es ruhig in ihrem Kopf wurde und schloss die Augen.
"Ist sie gekommen?", fragte sie nach einer Weile.
"Das Geschenk?", fragte witzelnd die Dienerin. Und weil die Kaiserin ihre Bemerkung nicht gnädig aufnahm, fügte sie schnell hinzu: "Ja, sie ist gekommen, steht euch zu Diensten."
Die Kaiserin befahl die Dienerinnen vor die Tür, um aufzupassen, dass niemand hereinkam und störte. Sie wartete schweigend, bis die beiden draußen zur Ruhe gekommen waren.
"Sie soll etwas sagen", verlangte die Kaiserin.
Die Gestalt bewegte sich nicht. Sie schwieg, und die Kaiserin konnte ihr nicht böse sein.
"Gehorcht ihr mir nicht?", fragte die Kaiserin in das Schweigen der anderen hinein. Dabei lag sie still und wartete auf den Nebel in ihrem Kopf, der sie endlich müde machen würde.
"Dienerinnen, die euch gehorchen habt ihr genug". Die Frau besaß eine ruhige Stimme. Sie bot sich der Kaiserin zum Anlehnen an.
"Ich weiß nicht, was ich an euch habe", sagte die Kaiserin. Sie hatte das Gefühl, dass die Frau übermächtig in sich selber ruhte. Was gingen diese Frau die Fragen ihrer Umgebung an? Eine Kaiserin war so wichtig, wie das Schauen der anderen es zuließ.
"Wie fühlt ihr euch?", fragte die Frau nach einer langen Weile.
"Gut!", antwortete die Kaiserin schnell.
"Ihr wisst, was ich meine", gab die Frau ungehalten zurück. "Ich spreche doch eine Sprache, die ihr versteht!?"
"Ich finde keine Ruhe in meinem Kopf", sagte die Kaiserin eilig und schlug die Augen auf, weil es sinnlos war zu warten, dass der Tag sich zurückzog.
"Wir sprechen von der Zeit, seit ihr Kaiserin wurdet ..." Es war von der Frau keine Aussage und keine Frage - irgendetwas, das sich nicht festgelegt hatte.
Die Kaiserin nickte. Als ihr Mann noch lebte, hatte sie immer ihre Ruhe gefunden. Da kam der Schlaf zwar spät, spielte mit ihrer Ungeduld, widersetzte sich ihrem festen Willen - aber er kam. In den Tagen, seit sie Kaiserin war, hatte er sie übersehen oder vergessen.
"Der Schlaf traut euch nicht mehr. Er fürchtet eure Macht und neidet der Kaiserin den Tag", sagte die Frau, als sei das nicht völlig verrückt.
"Was wisst ihr darüber?", fragte die Liegende demütig.
"Findet es heraus!", antwortete ihr der Spott der Frau.
"Könnt ihr mir den Schlaf zurückholen?", bang die Frage und Bitte.
"Das kann jeder Arzt! Dafür braucht ihr niemanden wie mich", verächtlich der Bescheid.
"Wofür dann seid ihr da? Worüber gebietet ihr?"
"Wenn ich ihre Gesetze anerkenne, so gehorcht mir die Schönheit!" Die Stimme träufelte einen brennenden Tropfen in jedes Auge der Kaiserin.
"Aber bin ich nicht schön?" Die Frage war kokett. Sie war nicht ehrlich, nahm die Antwort vorweg.
Die Frau begrub alles unter ihrem graufernen Schweigen.
"Die anderen sagen, ich bin es", fuhr die Kaiserin widerspenstig fort. "Sie sehen in mir nur dies eine. Nichts könnte ich ihnen im Austausch bieten!"
"Seid still!", herrschte die Frau sie an. "Ihr wisst, dass die Schönheit nur als Gast zu euch kam!"
Die Kaiserin nickte und schwieg sich in eine Angst. Nichts wollte sie verlieren - Kaiserin und schön wollte sie sein, und beides für immer. Der Nebel und der Schlaf konnten warten.
Aufrecht saß sie nun im Bett und betrachtete die Gestalt. Die Kapuzze verhüllte gänzlich das Gesicht, gab weder den Blick auf die Augen frei, noch ließ sie die Umrisse des Kopfes erahnen. Mit der Kapuzze war das Gewand vernäht und fiel immer so lang, dass es die Füsse und die Hände bedeckte.
"Wer seid ihr? Ich muss doch wissen, wessen Rat ich befolge!"
Die Frau hob den Arm und ließ ihn fallen. "Ihr bekommt keine Antwort darauf. Bei Verlust eurer Schönheit dürft ihr niemals unter meine Kapuzze sehen und bei Verlust eures Verstandes dürft ihr nie meine Kammer betreten."
Tupfend berührte die Kaiserin die Haut ihre Gesichtes, ob nicht schon etwas damit geschehen war. Das Verbot machte ihr Angst. Es war etwas Neues, das sie nicht kannte.
"Es gibt Dinge, über die kann eine Kaiserin nicht gebieten", sagte die Frau und hatte mitfühlend die Gedanken belauscht.
"Ich will tun, was ihr sagt", versprach die Kaiserin. "Lasst euch sagen und glaubt, dass ich eure Kunst annehme. Wann - sagt - wann wird es soweit sein?"
"Ich werde am Hofe sein, umhergehen oder in meiner Kammer sein. Lasst mich rufen, wenn es euch nach meiner Kunst verlangt."
"Ich muss verrückt sein, dass ich euch glaube", stellte die Kaiserin für sich fest. Sie nahm das Diadem und hielt es vor ihre Augen.
"Niemand kann mir die ewige Jugend bringen. Wer das verspricht, lügt! Wer das glaubt, ist verrückt!", setzte sie flüsternd nach.
"Vom der ewigen JUGEND war keine Rede", so die Frau wegwerfend.
"Wie? Nicht? Was verspracht ihr mir dann?" Ein Spiel war es für die Kaiserin, nicht mehr! Was sollte sie enttäuscht sein, wenn die Frau ein durchschaubar falsches Versprechen gemacht hatte!
"Die Zeit wird eurem Gesicht nichts anhaben können - EWIGE SCHÖNHEIT verspreche ich euch."
"Aber das ist doch die EWIGE JUGEND, was denn sonst!?"
"Wenn ihr es so versteht, dann wird es wohl so sein", sagte die Frau gleichgültig und abweisend
Die Kaiserin belustigte sich, fand aber, dass sie ein Gespräch mit einem Menschen ohne Gesicht anstrengte. Ihr war, als sei sie gezwungen, ein Selbstgespräch zu führen - so wenig kam von der anderen zurück.
"Und nun erlaubt, dass ich gehe", sagte die Frau verneigte und entfernte sich, ohne auf das Einverständnis der Kaiserin gewartet zu haben.
Die Kaiserin blieb allein zurück. Ängstlich sahen die Dienerinnen durch die Tür, wurden aber beide Male von ihr verscheucht.
Sie hatte sich zurückgelegt und wieder die Augen geschlossen. Das Herz pochte ihr, hüpfte in ihrem Inneren wie ein Ball, der keine Ruhe gab. Die Bilder schoben sich ohne Fassung ineinander. Den Menschen, die vor dem Thron standen, fehlten die Köpfe. Nadim trug eine Maske mit dem Gesicht des Kaisers. Die Fenster verlasen das Testament in einer Sprache, die sie nicht verstand. Baldeina, der Fürstensohn, trug ein Nachtkleid.
Ärgerlich griff sich die Kaiserin an den Kopf. Was wollte sie auf die Müdigkeit warten?! Der Schlaf würde nicht kommen, jetzt weniger als vor den Worten der Frau. Für die Schönheit brauchte sie ihn nun nicht mehr. Es war nicht schade um ihn!
Chapter 99. Nadim und die Frau mit der Kutte
Nadim sah die Kuttenfrau aus dem Zimmer der Kaiserin kommen. Von der Tür machten ihr die Dienerinnen Zeichen, aber Nadim dachte nicht daran, sie zu beachten. Warum sollte sie der Gestalt nicht hinterhergehen?
Wie auf langer Wanderschaft ging die Frau den Gang herunter. Sie blickte nicht auf, als ginge sie schon unendliche lange Zeit im Kaiserhof umher. Wenn Nadim recht hörte, dann zog sie die Füße schlürfend nach.
"Hallo", sagte Nadim freundlich in den Rücken der Kuttenfrau.
Ohne sich umzudrehen, hielt die Frau an und wartete. Also musste Nadim um sie herumgehen und stellte sich so dicht vor sie hin, dass ihr der Geruch des fremden Gewandes in die Nase stieg. Es roch nach den großen Laubhaufem, welche die Gärtner im Herbst zusammenkehrten.
"Zeigt ihr nicht euer Gesicht?", fragte Nadim überrascht.
Die Frau sagte nichts als Antwort, schüttelte nicht einmal den Kopf.
"Dann habt ihr sicherlich auch keinen Namen?" Nadim dachte nicht daran, sich abschütteln zu lassen!
"Jeder kann mich unterscheiden - was brauche ich einen Namen?"
"Eure Stimme", sagte Nadim zögernd, "eure Stimme kommt mir bekannt vor ..."
"Das kann nicht sein", sagte die Frau. "Niemand kennt sie. Es ist eine Stimme, die ich aus einer anderen Zeit geliehen habe."
"Das habt ihr euch schön ausgedacht, wirklich!"
"Was willst du von mir? Was stehst du in meinem Weg?"
Nadim trat nicht aus dem Weg. Unfreundlichkeit machte ihr keine Angst. "Ich habe gehört, ihr habt Rezepte für die Schönheit. Da wüsste ich gerne mehr!"
"Ich vermag die Zeit von der Schönheit fernzuhalten - das ist es, mehr nicht!"
"Warum nur zeigt ihr nicht euer Gesicht?", sagte Nadim nachdenklich. "... vielleicht, weil euer Gesicht Angst macht ... nein, ihr WOLLT ja, dass wir Angst bekommen! Vielleicht, weil euer Gesicht hässlich ist ... nein, eitel seid ihr nicht ... hmm ... Ja, das ist es! Euer Gesicht ist bekannt und würde euch verraten, nicht wahr!?"
"Ihr seid ein junges Mädchen. Was grübelt ihr über die Dinge der Alten?", sagte die Frau und klang versöhnlich.
"Wenn ihr mit der Kaiserin fertig seid, dann könnt ihr ja ein wenig für meine Schönheit tun. Ich heiße Nadim und bin eine Prinzessin." Sie machten einen Knicks.
"Eine solchen Dienst brauchst du nicht. Solltest froh darum sein", tönte es unversöhnlich düster unter der Kapuzze hervor.
"Oh, Rätsel-Frau, weihe mich in dein Geheimnis ein!", bat Nadim. Sie hatte ihr Stimme ganz tief klingen lassen. Hinten im Gang kicherten die Dienerinnen.
"Ich bringe Heil und Unheil, das Leben und den Tod zu gleichem Teil", dunkelte die Gestalt.
"Uuh, was IHR euch alles ausdenkt!", sagte Nadim, weil ihr nichts Besseres einfiel. Was fand die Kaiserin an einer solchen Frau? Das war doch alles Unsinn! Wenn Nadim sich eine Kapuzze überziehen und schlürfen würde, als sei sie vor hundert Jahren gestorben, dann würde es auch jedem unheimlich werden.
"Es ist das flüchtige Gefallen, das du suchst, nicht die Schönheit", stellte die Frau fest, ohne Nadim zu kennen.
Ihr Tonfall war verächtlich, so wie noch nie jemand am Hof zu Nadim gesprochen hatte. Die Kaiserin sprach giftig oder böse, der Vater hatte laut gesprochen, aber diese Frau fühlte sich überlegen, da war sich Nadim gewiss.
"Ein Prinzessin braucht nicht zu gefallen", hielt Nadim ihr entgegen.
"Alle suchen die Schönheit oder das Gefallen", sagte die Frau, "den Marmor oder den Wachs, du ebenso wie die anderen."
"Dann behauptet ihr also, dass ich lüge?", fragte Nadim böse.
"Du lügst oder weisst es nicht besser", sagte die Alte. "Such es dir aus."
"Das muss mir jemand sagen, der sein Gesicht verbirgt!", entgegnete Nadim und spürte, wie sie zornig wurde. "Wisst ihr, dass ich die Diener rufen und ihnen befehlen kann, euch die Kapuzze zu entfernen."
Als aber Nadim das gesagt hatte, verschwanden die Köpfe der neugierigsten Diener und Dienerinnen, und alle Türen schlossen sich so heimlich wie fest.
Langsam ging die Frau weiter, als gebe es die Prinzessin nicht mehr. Nur weil Nadim auswich, stießen sie nicht zusammen.
Unschlüssig stand Nadim und überlegte, was sie tun sollte. Es war ein Nachteil, eine Prinzessin zu sein. Ein ganz gewöhnliches Mädchen hatte schnell eine Freundin gefunden. Überall gab es sie. Ein Mädchen brauchte nur auf der Straße spazieren zu gehen, dann traf sie die Freundinnen. Aber am Hof des Kaisers gab es keine einzige Freundin außer Li, die immer bei ihrem Dichter war. Es war so, als seien Freundinnen hier verboten.
Etwas hatte Nadim aufmerken lassen, als sie in Gedanken den Innenhof der Gärten betreten hatte. In einigen Fenstern sah sie undeutlich Gesichter und war sicher, dass sie beobachtet wurde. Die Luft war voller Bosheit. Hinter einem Baum stand Ken und wartete, dass die Prinzessin Nadim ihn sah.
"Und er wagt es doch wieder", zischte Nadim voller Wut. Das war also der Grund gewesen, dass sie in den Fenstern standen! Sie wollten zusehen, wie es Ken mit der Prinzessin diesmal antraf.Wenn jemand sie ärgerte, dann konnte sie nicht wie eine Prinzessin gehen. Es machte ihr die Augen blind und die Schritte schwer, so sehr ärgerte sie sich. Sie wollten über Nadim lachen, weil sie so komisch an diesem Ken vorbeistapfte, als sei sie eine Magd und keine Prinzessin.
Mit unsicherem Schritt trat Ken hinter dem Baum hervor. Dabei stolperte er über eine Wurzel. Vor der Prinzessin machte er eine lange und krumme Verbeugung und sah auf seinen Schuh, der eine Delle bekommen hatte.
"Sie haben es wieder angeordnet, dass ich komme", flüsterte er fast flehentlich.
Verstand sie denn nicht, dass ein fremder Fürstensohn einem Hofmarschall zu gehorchen hatte? Und wenn das für einen richtigen Fürstensohn galt, dann allemal für einen falschen, der eigentlich ein Pferdejunge war!
"Ich grüße die Prinzessin und erbitte ihre Gunst für ein Gespräch", sagte Ken laut, ganz so, wie es der Hofmarschall ihm aufgetragen hatte.
"Pah", sagte Nadim und warf den Kopf hoch. Es machte sie noch wütender, als sie war, dass ihr nichts einfiel, was sie Ken entgegnen konnte.
"Können wir nicht ein bisschen gehen", flüsterte Ken verschwörerisch. "Sie beobachten uns doch."
"Nur wenn du diese Possen sein lässt!"
"Das geht nicht."
"Warum nicht?"
"Weil ich Angst habe, geht es nicht!"
"Und wenn sie uns nicht mehr sehen, hörst du dann damit auf?"
"Gut, dann höre ich damit auf, aber nur dann!", flüsterte Ken und duckte sich unter den Blicken aus den Fenstern.
Nebeneinander gingen sie um die Bäume herum zum kleinen Teich, wo die Weiden standen. Als sie einen Gärtner sahen, scheuchte Nadim ihn weg und setzte sich auf eine Bank. Ken - das war jedenfalls anständig von ihm - setzte sich nicht dazu, sondern stand vor ihr, wie es sich für einen Pferdejungen gehört hätte.
"Bitte", sagte Nadim, "das Gespräch!"
"Es ist - ich habe - folgendes ...", stammelte Ken und stierte auf seinen verbunden Arm.
"Erst den Arm herunter!", forderte Nadim.
Gehorsam zog Ken den Arm aus der Schlaufe und versuchte sich erneut an dem Beginn seines Gespräches.
"Ich habe nichts verstanden", sagte Nadim, als keine Worte mehr kamen.
"Ich wollte sagen, ich habe Angst", gestand Ken.
"Vor mir?", fragte Nadim sehr erstaunt.
"Nein", sagte Ken, "vor den anderen."
"Und was soll ich nun tun?"
"Es rückgängig machen! Dass ich wieder ein Pferdejunge bin!"
"Das geht nicht!" Nadim schüttelte entschieden den Kopf.
"Ich habe aber eine große Angst!"
"Was für eine Angst?"
"Sehen sie, Prinzessin, am Anfang war ich wegen der Eifersucht da. Nun ist der andere fort. Also bin ich für das Heiraten da -"
"- was denkst du? Ich kann doch nicht einen Pferdejungen!", empörte sich Nadim.
"Dachte ich mir, dass nicht geheiratet wird ... Wenn aber alles wegfällt, was muss ich dann machen? Alle anderen sehen mich so an, als würden sie sich etwas Schreckliches ausdenken. Ich habe Angst, dass ich etwas machen muss, was ich nicht kann - was gefährlich ist."
"Und was kann ICH für dich tun?"
"Ich bin doch nur in IHRER Geschichte ein Fürstensohn, Prinzessin. In Wirklichkeit bin ich doch Ken, der Pferdejunge. Da dachte ich ..."
"Hast du dir einmal überlegt, dass auch ich nur in einer 'Geschichte', wie du sie nennst, eine Prinzessin bin. Weißt du, heute habe ich gedacht, dass ich am liebsten KEINE Prinzessin wäre! Ich habe mir gewünscht, ein ganz normales Mädchen zu sein, das sogar eine Freundin hat. Aber du verstehst: Aus einer Geschichte ist nicht leicht entkommen, nicht als Fürstensohn und nicht als Prinzessin ..."
"Ich verstehe", sagte Ken und hätte beinahe den Arm wieder in die Schlaufe gelegt, "ich meine nur, eine Geschichte wäre mir schon recht, wenn ich nur keine Angst dabei bekäme."
Chapter 100. Die Hofmarschälle
'Was hat sie?', dachte die Kaiserin. 'Sie hält das Ich-Glas so, dass ich mich nicht sehen kann. Will sie nicht, dass ich mich sehe?'
"Nun halt es schon recht!", befahl sie der Dienerin.
Aber als sie es besser machte, war das Licht nicht gut. Sie zog die Dienerin vor das Fenster. Dort kannte das Licht keine Unwahrheit und gab ihr ein Gesicht ohne jeglichen Makel. Sie würde die Augenbrauen heute ein wenig höher im Bogen zeichnen.
Sie sah sich als Fremde und war ganz ruhig dabei. Die Dinge der Welt rückten fort und wurden ganz leise.
"Nimm das Glas weg", sagte sie und fügte hinzu: "Und sei vorsichtig, dass du es nicht zerbrichst." Die Dienerin war dumm und ängstlich wie ein kleiner Hund, den man sich erzogen hatte.
Die andere Dienerin war die kluge. Sie musste nicht erst abgerichtet werden, der Kaiserin aus den Gedanken zu lesen. Sie wusste, dass es ein Glück war, ihr nah dienen zu dürfen.
"Was sagt sie?", fragte die Kaiserin.
"Wer?", fragte die Dumme.
"Nichts sagt sie", antwortete die Kluge. "Sitzt in ihrer Kammer. Ich weiss nicht, was sie dort tut. Sagt kein Wort. Niemals sah ich sie ohne ihre Kutte. Was wir ihr vom Essen bringen, das rührt sie nicht an."
"Aber etwas muss sie doch essen!", kam es erstaunt von der Dummen, die auch eine Dicke war.
"Was sie wohl will ...?", fragte die Kaiserin an den Dienerinnen vorbei. "Ich habe ihr gesagt, ich brauche sie nicht. Wenn sie über die Schönheit gebietet, wie sie sagt - was könnte sie mir geben, dass ich nicht habe? ... Fragt sie, wie es mir geht?"
Die kluge Dienerin nickte. "Sie hat danach gefragt, und ich habe es ihr gesagt, dass es euch gut geht. Sie fragt oft danach, und ich sage ihr immer dasselbe. Was soll es schaden, wenn ich davon spreche?"
Nein, das schadete nicht ... es war nur, als warte die Frau auf etwas. Ausser ihr wusste keiner, was es war und zu bedeuten hatte.
Sie hätte fragen können: "Ist ES eingetreten?", aber dann hätte sie verraten, dass sie auf etwas Bestimmtes wartete. Das wollte sie nicht. Also wartete sie und fragte weiter andere Dinge. Sie hatte Zeit, zu fragen und zu warten. Saß in ihrer Kammer im Verborgenen und wartete auf ein Ereignis, das sicher kam.
"Lass mir den Hofmarschall holen!", befahl die Kaiserin der Klugen.
Zu der Dummen sagte sie: "Du, warte hier! Setz dich dorthin, aber sei still. Es kann sein, ich brauche etwas. Ich will, dass du da bist."
Die Kaiserin ging im Raum umher. Als sie die eigenen Schritte hörte, trat sie leise wie eine Schleicherin auf. Sie musste über etwas nachdenken, aber sie hatte vergessen, was es war. Früher hatte sie nie etwas in ihrem Kopf suchen müssen, doch nun gingen Dinge verloren. Die Gedanken ließen sich nicht fassen, machten sich einen Spaß mit ihr. Sie hatte das Gefühl, dass etwas anders war.
"Wer ist sie?", fragte die Kaiserin.
"Wer?", fragte die Dumme und fasste sich an den Mund.
Die Kaiserin antwortete nicht.
"Wenn sie ihr Gesicht nicht zeigt", sagte die Dumme eilig, "dann weil man sie erkennt." Sie hatte die Prinzessin belauscht und sich ihre Worte gemerkt.
"Aber wer sollte sie erkennen?!", rief in einem Flug von Ärger die Kaiserin. Dann war sie ruhig. "Nun gut, sag, was du denkst."
"Sie weiss, wer sie erkennt, aber der weiss es nicht", behauptete die Dumme und schwieg, weil es schwer war, solche Sachen zu denken.
"Ist sie eine Lügnerin?"
Die Dumme überlegte. Sie kannte eine Lügnerin, die hatte ein Gesicht wie ein Ehrliche. "Sie tut so heimlich, dass jeder sich was denkt ... Nein, dann ist sie keine Lügnerin!"
"Also stimmt es, was sie sagt?"
"Sie glaubt, dass es stimmt." Die Dienerin nickte heftig. Ja, sie konnte sich vorstellen, dass jemand ganz fest an etwas glaubt.
"Dann ist sie verrückt?", fragte die Kaiserin leichthin.
Die Dienerin schüttelte den Kopf. Es gab ein Wort dafür, aber es war nicht dieses. Ihr fiel das Wort nicht ein. Sie hörte draußen Schritte und war froh, als die Tür geöffnet wurde und die Kaiserin sie nichts mehr fragen konnte.
"Baldeina, mein Hofmarschall, wie geht es euch?", rief die Kaiserin verzückt. Ihre Stimme war sehr hell. Als er kniete, hätte sie ihm am liebsten das Haar gestreichelt. Er hielt lange ihre Hand.
Erst als die Kaiserin von Baldeina aufsah, blickte sie in das kalte Gesicht des Hofmarschalls, in dessen von Neid gelbliche Augen, auf die pochenden Adern seiner Stirn.
"Was wollt ihr hier?", fragte sie.
"Ihr habt den HOFMARSCHALL rufen lassen", sagte der Mann. "Dieser steht vor euch."
"Ihr wart der Hofmarschall meines toten Mannes! Was maßt ihr euch an! Erklärt euch!"
"Wie ihr sagt, gibt es keinen Kaiser mehr, aber ich sehe niemanden, der dem Recht nach in seine Nachfolge getreten ist!"
Der Hofmarschall war sich seiner Sache sicher. Wie er es sagte, vernahm die Kaiserin, dass viele so dachten wie er.
"Hört ihr, Kaiserin, hört ihr!", rief Baldeina dazwischen, "das sagt er immer wieder und lässt mich nichts machen!"
Der Hofmarschall betrachtete ihm mitleidig. Nicht einmal in Gedanken bedachte er ihn mit einem Schimpfwort, so unwert war dieser Gimpel.
"ICH bin die KAISERIN!", erregte sie sich. "Wer sonst soll es sein!" Hatte sie etwas übersehen?
"Sie sprechen von einem Testament und dass es nicht sicher ist, wer kommt", rief Baldeina aufgeregt.
"Ein Testament ...?", dehnte die Kaiserin fragend.
"Jawohl, ein Testament", sagte ruhig der Hofmarschall.
"Seht ihr, Kaiserin, seht ihr!"
"Ich will es sehen!", verlangte die Kaiserin.
Ruhig und endgültig stellte sich der Hofmarschall vor Baldeina, dem nur der Hintergrund blieb.
"Wenn es soweit ist", beschied sie der Hofmarschall knapp.
"Was bitte soll das heißen?"
"Der Kaiser hat für die Verlesung des Testamentes einen Tag bestimmt."
"Wann?"
"Bald", so der Hofmarschall sehr bestimmt. "Ich darf nicht darüber sprechen."
"Hinaus mit euch!", befahl die Kaiserin.
"Sehr wohl", sagte der Hofmarschall und stieß im Gehen absichtsvoll mit Baldeina zusammen, der sich sehr erschrak.
Die Kaiserin wischte alles fort. Baldeina erhob sich und wurde rot, weil er nicht wusste, ob er hinausgehen sollte. Sie liebte es, ihn anzusehen. Baldeina stand da wie ein Nackter, dessen Höflichkeit das letzte Stück Tuch war, das ihm geblieben war. Die Kaiserin zeigte den Dienerinnen, dass sie gehen sollten.
Sie sah ihn an. Er war jung, aber ihm schlug das Herz bei ihrem Anblick. Sie war älter als er, aber sie würde, wenn sie es nur wollte, für immer schön sein und Baldeinas Blut würde niemals stillstehen, wenn er sie sah.
"Was schlägt mein Hofmarschall vor?", fragte sie.
Baldeina sprang von seinem Herz in seinen Kopf. Es war ein Kleines für ihn, eigentlich nur ein Schritt, aber er hatte lange dafür üben müssen. Im Kopf war alles geordnet, und niemand ausser ihm hatte Zutritt. Die wichtigen Dinge lagen zuoberst. Auf kleine Zettel hatte er die Antworten gemalt.
"Wie können nichts tun", sagte Baldeina. "Aber wenn das Testament erst verlesen worden ist und ihr Kaiserin seid, dann können wir etwas tun." Er suchte in seinem Kopf, ob es noch etwas zu sagen gab.
"Hofmarschall", weckte ihn die Kaiserin sanft, "ich vertraue eurem Rat. Ihr seid mir der Nächste von allen. Klug ist es zu warten. Unklug wäre es, aufzubegehren. Sollen sie lesen, was mein Mann ihnen aufgeschrieben hat."
Baldeina fühlte, wie diese Frau ihm ähnlich war. Es war immer gleich zwischen ihnen. Dagegen mit Dessa ... Er beugte sich über die Hand der Kaiserin, um Abschied zu nehmen.
"Wartet noch", sagte sie. "Seht mir in die Augen!"
Er war stolz auf sich und hatte Mut gefasst. Er sah, dass sie eine Frau war, die jemanden brauchte. Hätte sie deutlicher sagen könne, auf wen ihre Wahl gefallen war?
"Habt ihr sie gesehen?", fragte sie, "die Frau, die ihr Gesicht nicht zeigt?" Dann schlug sie die Augen und wendete sich hastig ab. Es war die falsche Frage. Sie brachte alles durcheinander. Baldeina hatte die Frau sicherlich nicht einmal bemerkt.
"Ich? - Wen? - Kein Gesicht?", stammelte Baldeina im Rücken der Kaiserin. Was bedeutete das? Noch eben hatte er gedacht, dass die Kaiserin und er im Einklang der Gedanken waren!
"Es ist gut, geht jetzt bitte", sagte die Kaiserin. "Über das andere werde ich sprechen, wenn ich kann."
Baldeina war beruhigt. Er hatte sein Bestes gegeben. Bald würde ihr Vertrauen gross genug sein, dass sie mit ihm auch über das andere sprechen konnte.
Chapter 101. Die Befragung der Kaiserin
Die Kaiserin schickte sie fort. Die dumme Dienerin hielt das Ich-Glas immer schief, weil sie nicht achtgab. Wie konnte die Kaiserin sich betrachten, wenn sie den Hals verbiegen musste! Es sah aus, als hätte sie einen schiefen Hals und eine vom Zorn geteilte Stirn.
Sie rief die kluge Dienerin. "Geh, hol mir die Frau! Hol sie jetzt, es duldet keinen Aufschub. Sag ihr das."
"Sie tut doch nichts als warten, dass sie kommen kann", bemerkte die Dienerin.
"Wer hat dich gefragt?!", fuhr die Kaiserin sie zornig an. Eilig entfernte sich die Dienerin.
Wenn diese Frau wahr sprach und über die Schönheit gebot, dann sollte sie es für die Krönung beweisen. Die Kaiserin wollte sich sicher sein, für diesen Tag, an dem alle Blicke auf ihr lagen.
War alles Lug und Trug, dann würde er der Alten schlecht gehen! Wenn es sich aber glücklich ergab, und ihr ein Zauber mit Macht gefügig war - an welchem konnte sie ihre Kunst besser zeigen als an dem Tag, an welchem die Kaiserin zur Krönung schritt?
"Geh du auch", sagte sie zur der dummen Dienerin. "Hol mir MEINEN Hofmarschall."
Wenn die Frau es verstand, die Schönheit sicher vor der Zeit zu bewahren - warum und worauf sollte die Kaiserin warten, sich ihres Dienstes zu vergewissern?
In der Tür erschien der Kopf der Dienerin. "Hier ist sie, die Frau. Kann sie kommen?"
Die Kaiserin schaute böse. Was dachte sich diese Zickige? Konnte sie nichts allein entscheiden?
Als sie nichts zu hören bekam, schob die Dienerin die Frau in den Raum. Da stand sie nun in der Mitte, die Kutte in schweren Falten über den Kopf gezogen. Nichts an ihr war sichtbar. Wenn die Stimme nicht wäre, hätte sie ebensogut ein Mann sein können.
"Allein will ich mit euch sein", verlangte die Frau und zeigte mit handlosem Ärmel auf die Dienerin, die sich nicht bitten ließ und verschwand, als sei ihr nichts lieber.
Unheimlich war ihr das Schauspiel geworden, schon als sie die Frau durch die Gänge führt und niemanden in ihnen antraf, die sonst voller Leben waren. Kein Wort sprach die Frau und ging, als sei sie viele Male diesen Weg gegangen. Dass die Angst alle vertrieben hatte, war ihr selbstverständlich. Gewundert hätte sie, wenn ihr jemand begegnet wäre.
"Nun sind wir allein", sagte die Kaiserin. Sie wartete solange, bis sie sicher war, dass die Frau von sich aus nichts sagen würde.
"Zeigt mir eure Kunst!", verlangte die Kaiserin. "Am Tag der Krönung will ich entscheiden, ob ihr wahr geredet habt oder eine Betrügerin seid."
"Ihr habt nicht lange warten können", sagte die Frau spöttisch, "seid schneller als die Zeit."
"Ich dachte, 'kurz' und 'lang' heben sich auf in eurer Kunst?", gab die Kaiserin ihr lächelnd zurück.
Die Frau nickte gleichmütig: "Legt euch vor mich hin. Ja, hier auf den Teppich, auf den Rücken. Berührt mit eurer Hand den Saum meines Gewandes."
Die Kaiserin tat, wie ihr geheißen wurde. Sie setzte sich auf den Boden, strich ihr Kleid glatt, besorgte den Sitz ihres Haares und streckte sich aus. Am Ende streifte sie die Schuhe aus, lag ausgestreckt und sah zur Decke.
"Nun schließt die Augen", verlangte die Stimme.
Es war völlig still und roch streng nach getrockneten Kräutern. In sich hinein lächelte die Kaiserin, weil die Alte meinte, mit solchen Dingen Eindruck machen zu können.
"Ich möchte von euch wissen, ob ihr niemals etwas entbehren musstet."
Als die Kaiserin sich ihres ausdauernd müden Mannes erinnerte und sich auf eine spaßige Antwort besinnen wollte, sagte die Frau: "Nicht, was ihr denkt! Seid etwas verständiger. Es ist nötig, wenn ihr meine Hilfe wollt."
"Hunger litt ich nie. Armut kenne ich nicht. Mein Vater war ein Fürst und reich. Wie wäre ich sonst Kaiserin geworden?"
"Erzählt von der Familie!"
"Ich bin das einzige Kind. Wartet, einen Bruder hatte ich, der älter war, aber früh schon starb."
"So wart ihr ein Engelkind?"
"Ja ... wenn ihr es als nichts Schlechtes seht."
"Nennt mir ein Kinderspiel."
"Alle müssen raten, was ich seh'."
"Sagt mit euren Kindertraum."
"Mein Bruder kommt an mein Bett und weint."
"Was habt ihr ihm gesagt?"
"Dass ich für seinen Tod nichts kann."
"Wovor habt ihr Angst?"
"Dass alles nur in meinem Kopf ist. Nur dort! Dass nur ich es seh'!"
"Was ist in zehn Jahren?"
"Dann bin ich schön wie jetzt!", entfuhr es der Kaiserin.
"Wie wollt ihr sterben?"
"Dass mich niemand dabei sieht! Wie ein Tier grab ich mir eine Höhle."
Zart klopfte es an der Tür, als sei man sich dort der wunderlichen Lage der Kaiserin bewusst.
"Ihr könnt euch erheben", sagte die Frau. "Es ist gut."
"Darf er hereinkommen?"
"Ja, aber tut so, als gebe es mich nicht." Die Frau setzte sich hinter dem Wandschirm nieder.
"Kommt herein, Hofmarschall!", rief die Kaiserin. "Ich bin allein."
Baldeina trat vorsichtig ein, wobei er sich beim Umsehen ertappte. Von was hatte die Dienerinnen bloß ein solches Geheimnis gemacht?
"Gibt es Neuigkeiten?", fragte die Kaiserin. Blass mochte sie ihm erscheinen. Sie fühlte sich nicht gut, war erschöpft und nicht bei ihm.
"Das Testament wird verlesen", berichtete er voller Stolz. "Ich habe es mir vom Richter bestätigen lassen. Der Tag ist bald, aber sie machen ein Geheimnis daraus."
"Sein Inhalt, nichts von seinem Inhalt?"
"Wer anders als ihr könnte Kaiserin werden ... Nadim etwa oder gar Dessa?" Baldeina legte den Kopf schräg. Er mochte Dessa - mit ganzem Herzen war er ihr zugetan - aber eigentlich fanden sich die Schwestern schon als Prinzessin nicht zurecht.
"Ja", sagte die Kaiserin sinnend. "Ihr denkt richtig. Wer außer mir könnte es sein?"
Die Kaiserin gab ihm ihre Hand. In seinen Augen las sie, dass er sich um sie sorgte und gern geteilt hätte, was immer es war, dass sie bedrückte. Es tat gut, ihn zu sehen, aber sie spürte, dass er gehen musste. Ein Schwindel hatte sie gepackt und wand ihre Hand aus der seinen.
"Geht", sagte sie. "Geht, es ist gut."
Als er fort war, fragte die Frau, die hinter dem Schirm saß: "Hat der junge Mann eine Frau?"
"Ja, das heisst, noch nicht." Die Kaiserin fühlte, wie das Herz ihr drängender und schmerzender schlug. "Es ist Dessa, die Tochter des Kaisers mit seiner ersten Frau. Baldeina hielt bei mir um ihre Hand an, aber es nicht beschlossen."
"Ist nicht beschlossen ...", sagte nachdenkend die Frau. "Das ist gut."
"Ich muss mich legen", sagte die Kaiserin. "Ich lege mich auf das Bett, wenn ihr erlaubt."
"Liebt ihn diese Dessa?"
Die Kaiserin atmete. Nun konnte der Schwindel sich drehen, wenn er darauf bestand. Bald würde er vorbei sein. Sie wollte sein Ende herbeidenken. Eine Frage hatte sie gehört. Die Frau hatte sie gestellt. Aber leer war die Frage angekommen, hatte die Worte auf dem Weg verschüttet. Sie dachte an die dumme Dienerin, die nichts verstand.
"Dann liebt sie ihn also", sagte die Frau und saß an ihrer Seite.
Der Geruch der herben Kräuter war nah. Die Frau legte eine kühle Hand auf ihre Stirn. Die Kaiserin war der Frau dankbar, dass sie eine Hand hatte, die den Schwindel fortnahm und die Enge aus dem Herzen.
"Legt euch auf den Bauch", sagt die Frau und half ihr. "Ich mache euch den Rücken frei. Nur ein wenig ... so ist es recht."
Es war so, weil es sein musste. Sie war ein kleines Mädchen, das aus den wortverlorenen Gedanken einer Kaiserin heraus- und hereintrat, aus Verstecken lugte oder sich Dinge traute. Etwas war geschehen, dem keine Worte vorausgeeilt waren. Vielleicht hatten die Worte sich in der Tür geirrt, saßen nun am glotzenden Tisch und versuchten, sich zu erklären. Vielleicht waren sie faul gewesen, zogen den Wegrand der staubigen Eile vor. Vielleicht langsam und würden erst mit dem Abschied eintreffen.
Die Hand wusste, dass es nichts Schlimmes gab. Der Rükken und die Hand gehörten zusammen. Sie waren Freunde, die sich gut kannten. Sonderbare Dinge waren geschehen. Die Träume hatten sie aufgelesen.
"Bestellt diese Dessa her", sagte die Stimme der Hand, "und sagt ihr, die Kaiserin wolle das Herz dieses jungen Mannes für sie prüfen, um zu sehen, ob es für eine Heirat bereit sei. Still soll die Dessa sitzen, neben mir, der alten Frau, hinter dem Schirm, und der Probe zusehen. Kein Wort darf fallen, kein Atem soll zu hören sein, bei Strafe von Dessas Verlobung."
Die Hand der Frau nahm den Gedanken fort. "Ihr macht den Rücken frei, so wie jetzt. Dann stellt ihr euch in Dessas Blick. Bleibt ruhig stehen, damit die Kraft sich auf eurer Haut sammeln kann. Nach vorne seid Kaiserin und holt mit eurer Schönheit das Herz aus Baldeinas Brust als etwas, das euch gehört!"
Der einzige Bruder schaute zu. 'Sei du tot!', befahl die Kaiserin ihm. 'Was schert dich diese Frau?"
Chapter 102. Das Schönheitsrezept
"Ruft mir MEINEN Hofmarschall, den Baldeina", befahl die Kaiserin der Dienerin. Das Kleid war fertig, der Rücken frei. Ein wenig kühl fühlte er sich an.
"Kind", sagte die Kaiserin, "ist dir die Probe nicht recht?"
"Ich weiss nicht?", antwortete Dessa ehrlich.
"Sag ruhig, wenn es dir nicht recht ist."
"Eine Probe seiner Zuneigung ...?" Dessa wurde immer leiser. "Dann bin ich eine Spionin seines Herzens und muss mich schäme."
"Es wird alles gut", beruhigte sie die Kaiserin. "Wenn du dich seiner sicher weisst, dann kannst du ihn lieben, ohne einen jeden Zweifel lieben!"
"Aber das tue ich doch. Es gab keinen Zweifel!"
"Ach, Kind, lass dir von einer erfahrenen Frau sagen, dass das Worte sind ..."
"Wenn er mein Zusehen bemerkt und mich findet, denkt er, ich misstraue ihm und meint das Falsche sicherlich!"
"Er sieht dich nicht, wenn du schön still bist. Kein Mann fühlt die Blicke einer Frau!"
"Nadim, sie sagt ..."
"Was sagt NADIM?"
"Sie sagt, ihr treibt ein Spiel, ein böses Spiel."
"Sprich nicht darüber, was geschieht, schon gar nicht mit Nadim. Sie ist die Ältere von euch und hat noch keinen Mann, weiss im Neide nicht, was sie redet ..."
"Nadim nicht, die ist nicht so!"
"Es ist schön, dass du nicht schlecht von deiner Schwester sprichst."
"Wer ist die Frau, die neben mir sitzt, mich ansieht und schweigt?"
"Sie ist eine weise Frau. Sie wird mir sagen, was das Herz deines Baldeinas auf der Waage bringt. Ein Leben lang hat sie die Worte und Blicke der Männer umgerechnet in Herzensschwere. 'Nur selten', sagt sie, 'fand sie ein Männerherz, dass voll den Ausschlag brachte.'"
"Ihr wollt messen? Baldeinas Herz auf die Waage bringen?"
"Kind, zu deinem Guten nur, und dass ich, die ich die Heirat gestatte, sicher meines Urteils bin."
Dessa schüttelte den Kopf. Es war verkehrt, was geschah. Hätte sie nur auf Nadim gehört! Aber die hatte ihr ja nichts geraten, sich nur frei geredet! 'Wenn die Bosheit nichts mehr zu fressen findet, dann wird sie sich selber fressen!', hatte Nadim gesagt. War das ein Rat, nach dem zu handeln war?
"Still jetzt, Dessa!", sagte die Kaiserin leise. "Es ist so weit. Ich höre ihn kommen."
Als die Kaiserin sich zur Tür umdrehte, sah Dessa mit geweitetem Augen, dass ihr der Rücken von den Schultern zu den Hüfte nackt und bloß war. Es war schrecklich und wie ein Schlag anzusehen. Wenn sie sich Baldeina in solch schamloser Weise zeigte, dann war das gemein, und Dessa würde es niemals vergessen können!
Er klopfte an der Tür. Mehrmals rief die Kaiserin seinen Namen, verzückt, als sei sie betrunken.
Baldeina durchquerte den Raum, trat an sie heran, näher, als es geboten war. Und verbeugte sich tief, nahm ihre Hand, um sie nicht mehr loszulassen. Er schwieg, als sei vieles zwischen ihnen schon gesagt worden.
"Die Kaiserin sieht besser aus", sagte Baldeina. "Ich sehe, dass es ihr gut geht und war für nichts in großer Sorge."
"Es war ein Nichts, wie ihr sagt. Ein Schatten lag auf meiner Seele. Ihr habt ihn bemerkt? Nur ein Schatten, flüchtig wie ein Wolkenbild."
"Wollt ihr nicht sagen, was es war?", fragte Baldeina sanft. Ging er zu weit? Doch hätte sie davon gesprochen, wenn der Schatten nicht auch auf ihm, ihrem Hofmarschall, lag!
"Ihr seid mir wert ... viel!", sagte sie. Es war eine große Verwirrung in ihren Augen. Mochte er selbst auslegen, was sie fühlte. Eine Wärme maß die Fläche ihres Rücken aus.
Dem Baldeina wanderte die Röte Stirnfalte nach Stirnfalte zu den Haaren empor. Er sagte nichts und hätte nur stammeln können. Die Worte in seinem Kopf waren in der Hitze geschmolzen, hatten sich zu weichen Klumpen und langen Graten geformt.
"Besitzt eine Kaiserin jemals das Herz einen Menschen ganz?", fragte sie. Und ohne Trost kauerte sich in ihrem Schweigen die Antwort.
"Vollverfügständig ihr mein Herz!" Er hoffte, dass sie das Wortgestammel in seinen Augen übersetzt fand. Baldeina faltete die Hände, doch nicht einmal in seinen Fingern fand er die rechte Ordnung.
Die Kaiserin streckte sich wohlig bei seinen Worten, als habe sie eine Wärme zärtlich berührt. "Ich weiss, dass ihr es gut meint, mein Baldeina, was sind Worte nicht oft für Lügner, die Staub wirbeln, in wilden Horden reiten."
Baldeina machte den Mund zu. Er war froh, dass sie ihm gestattete, stumm an dem Gespräch teilzunehmen.
"Es geht um ..." - Da war er der Schatten ihrer Seele, das kalte Wolkenbild! - "um eure Heirat mit Dessa."
Wie erleichtert war Baldeina, dass es nur das war! Am liebsten hätte er sich umgedreht und gelacht, doch sprach ihr Blick von tiefem Schmerz zu ihm.
"Aber das ist doch etwas anderes!", stieß er fröhlich hervor. "Wenn es nichts ist als das!"
Nun konnte die Kaiserin nichts sagen. Stumm nahm sie den Becher und führte den schmerzstillenden Trank zum Mund.
"Eine Kaiserin ist doch etwas ganz anderes", führte Baldeina aus, "als eine Frau. Ich diene euch, mir dient die Frau, damit wieder euch, wenn ihr versteht."
Oh, gut verstand die Kaiserin das! Und hörte es gern, fast schnurrend wie eine wohlige Katze, die sattgetrunken von der Milch auf der Kaminbank lag.
"Dann will ich froh sein, dass ihr Dessa nehmt, um mir im Dienen nah zu sein."
Baldeina nickte inbrünstig. "Eine Hochzeit braucht etwas Zeit, ihr versteht? Doch kann in Gedanken ich völlig bei euch sein und jeder Zeit mich frei machen."
"Und die Zeit danach?", flehte sie zu wissen. "Wollt ihr eure Frau nicht immer glücklich machen. Sie wird schmollen, wenn ihr früh geht, und schmollen, wenn ihr spät kommt. Sie wird unglücklich sein, wenn ihr da seid, und unglücklich sein, wenn ihr fort seid. Wo sie jetzt schweigt, wird sie viele Worte finden. Wo sie jetzt die Blicke senkt, da wird das Wasser fließen."
"Ihr habt wohl recht", gab Baldeina zu und wusste seine Worte sicher verwahrt, "dass es bei Dessa manchmal ein wenig ... stickig ist. Aber seht mich für mich an! Ich bin gradheraus und lieb die Menschen und den Dienst. Glaubt ihr, dass ich jedem ihrer Herzschmerzchen nachlaufen werde? Glaubt ihr, dass ich ein Tränentröster bin, ein Blicke-Gerade-Bieger, ein Mäulchensammler?"
Nein, das glaubte die Kaiserin nicht! Er hatte ihr zurückgegeben, was sie verloren glaubte. Dankbar nahm sie seine Hand auf und führte sie an ihre Seelenlippen.
"Baldeina, geht nun. Ihr habt mir ein Geschenk gemacht. Ich spreche nicht davon. Wenn ich mein Schweigen breche, dann ... geht, ein anderes Mal."
Als die Tür sich hinter Baldeina geschlossen hatte, sagte die Frau: "Sie weint."
"Dann ist es wertlos?", fragte die Kaiserin enttäuscht.
"Nein, nein", beruhigte die Frau. "Das Mädchen hat sich gut gehalten. Erst später zerlief ihr der Blick."
"Dann geh nun, Dessa", sagte die Kaiserin. "So sind sie alle, die Männer, aber was hilft dir das?"
Dessa schlich sich an ihr vorbei. Sie hatte soviel Hass gegen die Kaiserin gehabt - ein ganzer Turm von Dolchen, sie zu töten, wie es Nadim sagte - aber dann war die Traurigkeit gekommen und hatte sie klein und schwach und blind gemacht. 'Vorbei soll es sein', hatte sie immer gedacht, 'vorbei soll es sein.'
Als die Tür sich hinter Dessa schloss, vermochte die Kaiserin nicht länger, aufrecht zu stehen. Nun war ihre Beherrschung eine brüchige Schale, die zum Ausruhen getragen werden wollte. Das Bett stand weit entfernt, sieben oder acht Schritte, die ihre Füsse nicht zu gehen vermochten.
"Kommt", sagte die Frau, "langsam und vorsichtig ... ein wenig noch ... ihr habt es geschafft."
Die Haut des Rückens war eine andere geworden, empfindlich und weich wie eine Zunge. Etwas zerging köstlich, das betäubte und betörend schmeckte.
"Nun seid ruhig. Es hat euch angestrengt, weil eure Haut sich verjüngt hat."
Unter der fremden Hand war es warm. Sie zeichnete und prüfte und befand das Werk für gut.
"Es hat gewirkt. Ich weiss nun das Geheimnis eurer Schönheit."
"Meiner Schönheit ...?"
"Keine Schönheit gleicht der anderen, müsst ihr wissen. Die Fragen, die ich euch stellte, führten mich zu ihr. Ich hatte einmal eine Frau, eine reiche Frau, die musste als schmutzigste Bettlerin auf der Strasse liegen, damit sie am Abend erstrahlte."
"Und bei mir ... was ist es?"
"Wisst ihr es nicht?"
"Ich weiß es nicht. Ihr müsst es mir sagen."
"Da ihr zusehen werdet, was ich mache, kann ich euch das Geheimnis veraten. Es ist der Schrecken der anderen Schönen über euer Bild, die Wut, die ihre Gesichter zu Fratzen entstellt, die Missgunst mit fahlem Gesicht, die unheilbare Eifersucht - danach verlangt eure Schönheit. Wir werden ihr dies Mittel verabreichen und sie wird blühen."
"Davon gibt es soviel", sagte die Kaiserin leise zu der Frau und zu sich, "dass es für immer reichen wird."
An jeden Schritt in ihrem Leben hatten sich zehn Blicke geheftet. Die Blicke der Frauen, die ihr die Schönheit neideten. Sie kamen aus dem Land der Feindinnen, aus den Herzen der Neidischen und blieben und wurden Freunde. Was wäre die Schönheit, ohne dass die anderen Schönen sich über ihr vergaßen? Die Blicke der Männer kamen lärmend und gingen billig. Die Blicke der Frauen aber waren aus reichstem Stoff gewirkt, wahr und wunderbar. Nichts verschenkten die Männer von sich, wenn sie vergesslich bewunderten. Die Frauen aber, die neideten, verzehrten sich, gaben von sich fort, rühmten die fremde Schöne in der ihnen allen gültigen Währung.
"Doch seid nicht übermütig!", warnte die Frau. "Was wie ein Wunder wirkt, ist immer giftig und braucht die fremde Hand, die eine Waage hält."
Chapter 103. Das Testament wird verlesen
Es war ein großer und leerer Raum, der bei jedem kleinsten Flüstern das Gesicht verzog und bei jedem Stuhlrücken die Schultern steif machte. Das Licht wagte keinen Spass und lag ernst auf den geschliffen glänzenden Holzdielen.
Baldeina hatte den Kopf gesenkt und blickte zu Boden, weil alle ihn als den Vertrauten der Kaiserin ansahen. Dabei wusste er so wenig wie die anderen, was geschehen würde.
Der General wunderte sich, dass niemand etwas sagte. Er konnte sich nicht an ein solch ausdauernd langes Schweigen an diesem Hof erinnern. Selbst als der Kaiser gestorben war, hatten sie alle durcheinander geredet.
Der alte Hofmarschall wusste als einziger, worauf sie warteten. Er betrachtete die Kaiserin und wartete auf Anzeichen von Erregung in ihrer Mimik. Allein der von ihr eigenmächtig ernannte junge Hofmarschall zeigte die Anspannung, die er im Gesicht der Kaiserin vergeblich suchte.
Der Richter stand am Fenster und sah hinaus. Niemand wusste, warum er dies tat, aber alle hatte eine Ahnung, dass es etwas Wichtiges war. Er hatte den Vorhang beiseite geschoben. Dabei war eine Ladung Staub auf seinem weißen Kragen gelandet. Unter dem Arm trug er eine versiegelte Schriftrolle.
Ken stand neben ihm und hielt den Vorhang hoch, weil der Richter ihn herangewunken hatte. Der Vorhang wog schwer in seiner Hand. Immer wenn sein Arm zu zittern begann, bildete sich in der Höhe eine Staubwolke, die dem Richter auf dem weißen Kragen landete.
Zu seiner Ablenkung beobachtete er die Soldaten an der grossen Tür. Er versuchte herauszufinden, ob sich etwas an ihnen bewegte. Das Licht, das durch die großen Fenster fiel, zitterte auf den Spitzen ihrer Speere. Es glitt den glatten Rand ihres Helmes herunter, um ihnen in den Augen zu stechen. Aber die Soldaten bewegten sich so wenig wie die große Tür.
"Huatschi!", machte Ken und senkte seine Nase in den Vorhang, um sie verschämt zu schnäuben.
"Jetzt!", rief der Richter und wandte sich um. "Es ist soweit."
"Huatschi!", machte Ken ein zweites Mal.
"Es ist der Tag, der Ort und nun - die genaue Zeit!", sagte der Richter laut und blickte zur Decke.
"Es ist bestimmt, dass wir nun den Letzten Willen des Kaisers verlesen. Ist die Kaiserin bereit?", fragte der Richter.
Die Kaiserin sagte nichts. Ihr Blick hatte keine Richtung und keine Entfernung. Sie war eine geschnitzte Figur. Der Ort mochte dem Richter recht sein, der Tag und die Zeit, aber wer hätte sagen können, dass die Kaiserin seine Worte vernahm?
"Fragen sie doch ihren Fürsprecher", sagte der Hofmarschall dehnend und zeigte mit einer langen Hand auf Baldeina.
"Ist die Kaiserin bereit?", fragte der Richter, diesmal ungeduldig.
Alle sahen die Kaiserin an, als habe der Kaiser ihnen befohlen, ihr in das Herz zu sehen. Doch sie bemerkten nichts als eine Helligkeit auf ihrem Gesicht. Sie schien von demselben Licht herzurühren, dass durch die Vorhänge trat.
Der Richter sagte ärgerlich: "Ich stelle fest, dass die Kaiserin ANWESEND ist und werde im folgenden den Letzten Willen des Kaisers verlesen."
Die Kaiserin hatte die Lippen bewegt. Ganz fein, als sage sie etwas, das nur für ihren Mann bestimmt war, weil er nun tot war und nur diesen einen Willen noch mit geliehener Stimme verkünden durfte.
"Dann lese ich also vor", sagte der Richter und brach das Siegel auf. "Ich, der Kaiser des Blauen Drachen, erkläre hiermit, dass dies mein letzter Kaiserlicher Wille ist. Höret nun ihr Fürsten und höret ihr Mächtigen des Kaiserlichen Hofes! Und ebenso an dich wende ich, meine Angetraute, dass du es hörst wie alle anderen, die es angeht ..."
Der Richter machte eine Pause, um der Kaiserin Gelegenheit zu geben, ein menschliches Gefühl zu zeigen. Stellvertretend verschluckte Baldeina einen Kloß in seinem Hals.
"Wenige nur wissen", fuhr der Richter mit immer lauter werdender, ja triumphierender Stimme fort, "dass ich einen Sohn habe, der seinem Rechte nach der Kaiser der Tränen ist. Ich habe ihn mit meiner geliebten Tesla, der Fürstin der Nachtstadt, gezeugt, und erlaubt, dass er fortgegeben wurde."
Der Richter nahm sich die Freiheit, in einer kleine Pause die Spannung zu sammeln, ehe er weiterlas: "Vernehmt alle meinen letzten Willen, dass dieser, der mein Sohn ist, wie ich einst ein Sohn war, mir, seinem Vater, auf den Thron des Blauen Drachen folgen soll."
Die Kaiserin entfuhr ein Wort, das niemand verstand. Noch einmal wiederholte sie dieses unbekannte Wort. Es war etwas wie 'Esknah' oder 'Eschkneh'.
"Diesem meinem letzten Willen setze ich als Bedingung voraus, dass er die Reife besitzt, die erforderlich ist, ein Kaiser zu sein. Höre also, Versammlung: Ich stelle diesen meinen Sohn als rechtmäßigen Nachfolger, damit als Kaiser der Tränen, unter die Obhut meiner zweiten Frau, die ich zur Verwahrerin seines Reiches bestimme."
"Sieh mal an", sagte die Kaiserin zu sich. Erst glaubten alle, dass es wieder unverständliche, auszugrübelnde Worte waren, doch dann besannen sie sich einer nach dem anderen und schauten verständig.
Der Richter betrachtete unglücklich die zu Ende gelesene Schriftrolle in seiner Hand. "Was gedenkt die Kaiserin zu tun?", fragte er demutvoll.
"Mein lieber Richter, ich gedenke selbstverständlich den Letzten Willen meines verstorbenen Mannes zu erfüllen. Ich werde Veranlassung treffen -"
"Sehr wohl!", rief der alte Hofmarschall ihr freudig zu.
Mit Verwunderung blickte die Kaiserin ihn an, suchte in ihren Gedanken nach Namen und Rang dieses vorlauten Mannes.
"Ist bekannt, wohin dieser junge Mann, von dem die Rede ist, verbracht wurde?"
Ehe der General antworten konnte, schnitt sie ihm das Wort ab: "- ich sehe, es ist bekannt! So viel nur: Schickt einen Trupp Soldaten aus! Sie sollen am morgigen Tag in der Früh nach diesem jungen Manne ausreiten."
"Wollt ihr ihn von SOLDATEN HOLEN lassen?", entfuhr es dem Richter. "Er ist schließlich unser neuer Kaiser!"
"Bevor ICH seine Reife nicht geprüft habe, ist er nichts. Einen NIEMAND muss ich nicht BITTEN!" Die Augen der Kaiserin waren kalt und schwarz. Das Feuer darin ein heißer Punkt, den niemand würde löschen können.
Chapter 104. Nach dem Wüstenritt
Die Drachenzähne ritten in Kette hintereinander. Woi ritt als letzter. Gelegentlich sah sich Tatze um, ob sie ihn nicht schon verloren hatten.
Während der Zeit des Reitens sagte niemand ein Wort, als sei es zwischen ihnen so verabredet. Tatzes bäriger Körper schwankte auf dem Sattel hin und her, während die anderen Drachenzähne fest aufsaßen, wie aufgepflockt.
Es gab soviele Sterne am Himmel wie knirschenden Sand unter den Füssen der Pferde. Die Felsen hatten die schwarzen Gestalten von Göttern, die sich hierher ins Vergessen, ins Grübeln oder ins Grämen zurückgezogen hatten.
Als die dritte Nacht zu einem Drittel herum war, hob der Narbige die Hand zum Anhalten. Noch vor ihren Reitern hatten die Pferde gemerkt, dass sie anhalten sollten.
"Wir sind da", sagte der Narbige.
Woi starrte vergeblich in die Ferne. Der Horizont war schwarz und glatt wie in allen Stunden vorher. Die Sterne mussten dem Narbigen die ungefähre Position einer Stadt verraten, die nicht zu sehen war.
An den Pferden fiel auf, dass sie die Köpfe gehoben hatten, die sie sonst müde zum Wüstenboden gesenkt hielten, der niemals enden wollte.
Sie rieben die Tiere ab und unternahmen anschließend eine eigene Körperpflege, die ohne Wasser auskommen musste.
Sie teilten alle von der gleichen Zufriedenheit, als sie ihr Lager aufschlugen. Diesmal stand der Narbige etwas abseits und beobachtete die Umgebung, als könne sich hinter jedem Stein ein Trupp Soldaten versteckt halten. Die anderen verließen sich auf das Gespür ihres Führer und rollten sich langsam in den staubigen Schlaf.
Als der Morgen kam, wieherten die Pferde. Sie waren ungeduldig, in die Stadt zu gelangen. Die fünf Staubhügel, die nicht weit von ihnen am Boden lagen, bewegten sich nicht. Aber der Schlaf verließ die Unkenntlichen einer nach dem anderen wie ein Bett, auf das er nur für eine Herbergsnacht ein Recht hatte.
Als Woi blinzelte, sah er die Garnison am Horizont wie einen flachen Stein liegen, der auf dem Rücken eine halbe Sonne trug. An ihren Rändern war die Garnison ausgefranst, als habe die Wüste dort über Nacht ein paar Hütten angeweht.
Erst räkelte sich Woi, aber als er bemerkt hatte, dass er der erste war, sprang er auf und tat geschäftig dies und das.
"Es ist der Fürst", grummte Tatze, den ein Bein gestoßen hatte.
"Ja", sagte der Zwerg matt, "es ist der Fürst. Kommt, Leute, steht auf! Es gehört sich nicht, dass er vor uns auf ist."
Wenig später saßen sie im Kreis und teilten sich lustlos den Rest vom Brot und vom Speck. Mit jedem zähen Bissen warfen sie einen Blick auf die Garnison und stellten sich vor, wie ein richtiges Essen schmecken würde. Konnte sie nicht bereits riechen, dass dort Leckeres gekocht wurde? Weit war es jedenfalls nicht mehr, wenn auch die Gerüche wohl nur in der Einbildung waren.
Als sie nur noch kauten, ohne zu schlucken, klopfte der Zwerg mit einem Stock auf einen Stein.
"Wein", sagte Tatze trockenkehlig, "es werde Wein."
"Wir müssen etwas besprechen", sagte der Zwerg in die Runde.
"Worte", sagte Schädel, "es werde Worte."
"Den Fürsten soll keiner mit uns sehen", sagte der Zwerg mürrisch. "Also reitet er allein und direkt zur Garnison."
"Niemand bei ihm als die Einsamkeit der Wüste", witzelte Schädel. Doch sie waren alle nicht in der Stimmung zu lachen.
Langsam erklärte der Zwerg, wie Woi ihre Absteige finden konnte. Er solle am Abend kommen und es unbemerkt betreten. Es sei ein Haus der Art, wo junge Männer immer mal nächtigen würden. Das sei als Vorkehrung gedacht wegen der Neugierde.
"Dann gehe ich jetzt", sagte Woi und stand auf. Mit ihm erhob sich eine Staubwolke und ließ sich auf den Haaren und den unausgeschlafenen Gesichtern der Drachenzähnen nieder.
"Das geht nicht", sagte Schädel. "Seht ihn euch an! Es wird niemand glauben, dass er ein Fürst ist!"
"FürstenSOHN!", sagte Woi ohne rechten Glauben, dass Schädel seine Anrede ändern werde.
"Schädel hat recht", sagte Tatze. "Er sieht aus wie ein Wüstenräuber."
"WüstenräuberSOHN!", witzelte Schädel.
"Also säubern wir ihn", befahl der Zwerg.
Woi musste sich in die Mitte stellen und wurde abgeklopft. Weil der Staub sich umweglos wieder auf ihm niederließ, setzte sich Woi auf sein Pferd und reichte seine Sache herunter.
Tatze nahm sich den Mantel und die Reiterhosen und ging zu einem glatten Stein, wo er die Sachen kräftig ausschlug und fortwährend in den Nebel hineinhustete.
Währendessen beugte Woi seinen Kopf herunter, damit ihm Schädel mit einem Wedel die Haare ausbürsten konnte. Der Rest vom Trinkwasser wurde verwendet um das Gesicht bis zum Halsansatz zu säubern.
"In der Stadt ist kein Wind", gab der Zwerg zu Bedenken, "da wird er vielleicht riechen ..."
Also opferten sie auch noch den Rest vom Wein und schütteten Woi davon über den Rücken, vorne über die Brust und zum Spaß einen Schwapp in die Unterhose.
"Jetzt reicht es!", rief Woi. "Ich glaube nicht, dass es besser wird." Er nahm seine Sachen entgegen, schüttelte sich kräftig und ritt los.
"Hey, nicht so schnell", rief Schädel ihm hinterher, "sonst war die ganze Arbeit ganz umsonst."
"Es ist ja nicht nur außen", sagte Tatze, "es ist auch innen, dass er ein Fürst ist."
Chapter 105. Woi sucht den Zugang zur Garnison
Die Garnison mit ihren hohen Mauern trat entschlossen den Eintritt begehrenden Häusern entgegen. Also umstellten diese in Ringen die Mauern und hatten so Schutz vor dem Wüstenwind und der nächtliche Kälte.
Die Stadt war aus der Nähe besehen viel kleiner, als Woi erwartet hatte. Dem Hereinkommenden boten die eng zusammenstehenden Häuser auf den schmalen Wegen ununterbrochen Schatten.
Woi ging einmal im Kreis um die ganze Garnison herum und konnte nichts anderes feststellen, als dass die Häuser den Eingang zu ihr vollständig zugewachsen hatten.
Die Menschen auf seinem Weg gingen gleichgültig ihren Verrichtungen nach. Sie waren neue Gesichter von den Handelsleuten gewöhnt, die hierher mit ihren Waren kamen und bald weiterzogen.
Niemand beachtete Woi, und weil er nichts bei sich trug als seine Neugierde, konnte er ohne Aufsehen eine zweite Runde machen, stand vor denselben Häusern und blickte lange in diesselben Gesichter, ohne dass er jemandem aufgefallen wäre.
Die Menschen hier in der Wüste besaßen eine schwärzliche Hautfarbe. Junge und Alte zu unterscheiden fiel schwer, weil allen die Augen wie bei Wüstentieren zu schmalen Schlitzen und die Gesichtshaut gegen den Wind hart geworden war und sich in wenige tiefe Falten gelegt hatte.
So waren die Jungen daran zu erkennen, dass sie sich von einem Gespräch zum nächsten bewegten, während die Alten unbeweglich und augenleer dasaßen.
Manchmal verlor sich eine Bewegung der Jungen zu den Alten, lief dort suchend vom einen zum anderen, bis sie wieder ihren Weg nach draußen zu den Jungen gefunden hatte. Dann waren die Alten erneut still, lächelten oder schliefen - wie hätte Woi das bei ihnen unterscheiden können!?
Bei seinem ersten Rundgang hatte Woi noch nicht auf Soldaten geachtet. Beim zweiten sah er sie überall. Sie gingen immer zu dritt, einer vorneweg und zwei dahinter. Die Menschen wichen vor ihnen in die Eingänge ihrer Häuser aus, als fürchteten sie, sich an ihnen zu stoßen.
Die Soldaten waren ihrem Aussehen nach nicht gewillt, Wois Frage nach einem Zugang zur Garnison zu beantworten. Schließlich fragte er einen jungen Mann, der eine Ziege führte. Obwohl dieser ihn nicht verstand, war er freundlich und lachte, als Woi ihm mit den Händen ein Loch beschrieb, durch das er mit Fingerfüßchen laufen konnte.
Der junge Mann zog seine Ziege zurück und zeigte auf zwei große Häuser, welche die anderen, die neben ihnen standen, um ein Geschoss überragten.
'Er hat mich immer noch nicht verstanden', dachte Woi und wollte es noch einmal versuchen, indem er seine Frage mit einem Stock in den sandigen Boden malte. Doch der junge Mann schüttelte den Kopf und zeigte zum Himmel und auf die Sonne. Dort beschrieb er für Woi einen Bogen zum frühen Nachmittag. Als er sah, dass Woi verstanden hatte, lachte er und vollführte mit den Finger die kleinen Schrittchen, die Woi ihm gezeigt hatte.
Durch ein Kopfnicken bedankte sich Woi bei ihm und streichelte der geduldig gebliebenen Ziege den Kopf. Wenn er es also recht verstanden hatte, dann würde er auf den Zugang warten müssen. Er beschloss, die beiden hohen Häuser aus der Nähe anzusehen und dort zu warten.
Vor ihnen war ein kleiner Platz, der völlig verlassen war. Überall hatte die Händler ihre Zelte aufgeschlagen, nur nicht an dieser Stelle. Die beiden Häuser, auf die der junge Mann gezeigt hatte, waren seltsam an die Mauern gedrückt. Es schien kaum möglich, dass jemand in ihnen wohnen konnte.
Weil niemand in den Fenstern zu sehen war, ging Woi ganz nah heran und besah sie sich aus nächster Nähe. Sie waren die einzigen, die nicht staubig waren. Irgendetwas war sonderbar. Wenn er hinaufsah, schienen ihm die oberen Fenster aufgemalt und auch die Fassade warf für den Stand der Sonne zu wenig Schatten. Er glitt mit den Händen darüber und wusste mit einem Mal, dass sie aus Holz waren, nicht aus Stein gebaut. Wenn ihn nicht alles täuschte -
Da legte sich eine Hand von hinten auf seine Schulter und eine Stimme sagte rauh: "Nicht umdrehen! So stehen bleiben, wie du stehst!" Zwei Hände suchten ihn von oben bis unten ab. Erst dann durfte er sich umdrehen und sah drei Soldaten vor sich stehen.
"Was machst du hier?", verlangte der Untere zu wissen.
"Ich will rein", sagte Woi, weil er nichts anderes zu sagen wusste.
"Was hast du hier zu suchen?", sagte einer der Einfachen, als sei das die letzte Frage, die Woi gestattet war zu beantworten.
"Ich will ... den General besuchen. Das will ich."
Die drei Soldaten traten einen gemeinsamen Schritt zurück. Das hatten sie nicht erwartet und besahen sich darauf den jungen Mann und seine Bekleidung genauer. Schließlich lockerte der Untere seine Haltung, die Einfachen sahen weg.
"Kennt er dich?"
"Ich glaube nicht, aber er sähe es gewiss nicht gern, wenn mich seine Soldaten abweisen würden."
"Dann sag, wer du bist."
"Ich bin Woi, der Sohn des Fürsten Alta und -"
"Warte hier bei den Einfachen! Ich geh und frag."
Woi blieb bei den Einfachen stehen. Zweimal versuchte er, ein Gespräch mit ihnen zu beginnen, doch sie sahen ihm nicht in die Augen, sondern nur auf seine Füsse, als erwarteten sie, dass er gleich davonlaufen würde.
Die Soldaten unterschieden sich von denen, die Woi kennengelernt hatte. Sie ließen ihn wie einen Gefangenen herumstehen, hatten staubige Schuhe und trugen die Waffen verborgen unter langen, rauhfaserigen Mänteln. Zur Zierde, wie am Hof des Kaisers, taugten diese Soldaten wenig. Hatten wohl aber zu kämpfen gelernt, waren wachsam und misstrauisch, als könne jeder Neuankömmling ein Spion sein und einen Überfall von Feinden vorbereiten.
Während seiner Reise hatte sich Woi die Garnison als eine Art Kaiserhof in der Wüste vorgestellt und einfach auch die Menschen dorthin versetzt: die Soldaten, die zum Kämpfen nicht taugten, die vielen Bediensteten, von denen einer nicht wusste, was der andere tat, die Händler, die alle durcheinander liefen und frech jede Tür ausprobierten. Zusammen mit den Drachenzähnen hätten er dieser Kaiserhofgarnison gegenüber eine Übermacht an Kampfeswillen und Schläue gebildet. Wie einfach wäre es dort gewesen, jemanden zu befreien!
"Das dauert aber!", stellte Woi fest. Er erwartete keine Antwort von ihnen und sie gaben auch keine.
Sie standen um ihn herum, bis die Sonne den Bogen beschrieben hatte, den ihm der Junge mit der Ziege gezeigt hatte. Die ganze Zeit hatten sie in der vollen Hitze gestanden, wobei die Soldaten unter ihren schattigen Hüten weniger zu leiden hatten als Woi.
Mit einem Mal war es Woi, als schwanke er. Er lehnte sich gegen die Hauswand, um den Soldaten unter einem Hitzschlag nicht in die Arme zu fallen. In demselben Augenblick, als er sich anlehnen wollte, begann sich die Hauswand in seinem Rücken zu bewegen und erdtiefe Geräusche von sich zu geben.
Erschreckt wollte Woi eine Bewegung machen, aber ein Griff erinnerte ihn schmerzhaft an seine Situation. Mit Erstaunen sah er, dass die Häuser sich auf ihn zu bewegten und dann mit Erleichterung, dass es sich um die Tore der Garnison handelte, die zu ihrer Tarnung wie die anderen Häuser gestaltet waren.
In der Torauslassung wartete bereits der Untere und winkte seine Soldaten heran. Die Einfachen packten Woi fest unter dem Arm und schoben ihn durch das Tor.
"Lasst ihn los", befahl der Untere unwirsch. "General Siegling sagt, er kennt den Fürsten Alta. Ich soll seinen Sohn zu ihm bringen. Er ist uns willkommen, sagt der General Siegling."
Chapter 106. Woi beim General
An der Innermauer der Garnison waren die Pferde untergebracht. Dann folgten die Vorratsräume, die Dienststuben und die Schlafunterkünfte. Sie bildeten einen einzigen Gürtel, der ohne Unterbrechung den vollen Kreis der Garnison durchlief.
Der Untere führte Woi zu einem seltsamen Gebäude, das in der Mitte des Hofes seinen Platz hatte. Es sah ganz wie ein gewöhnliches Wohnhaus aus, besaß ein Giebeldach, das glänzte, als habe es einen Regen hinter sich. Ein weißer Lattenzaun umsäunte einen kleinen Vorgarten. Hinter niedrigen Fenstern standen Blumenköpfe und blickten hinaus. Der Rasen war eher bräunlich als grün, aber er war immerhin echt, und das war erstaunlich. Als verbrannte Spur waren Rosenranken auf dem gekälkten Weiß zu erkennen.
Der Untere blieb stehen und zeigte Woi, dass er auf die Steine treten sollte, nicht auf den Rasen. Dabei beobachtete ihn Woi. Als der der Untere sich abwandte, glaubte Woi, die Verachtung erkannt zu haben, die der Soldat für dieses Häuschen in der Wüste hatte, das einem Schoßhündchen in einem Löwenkäfig glich.
Das Törchen knarrte zierlich, nicht anders als jedes andere es an seiner Stelle getan hätte. Während Woi vorsichtig Stein für Stein betrat, kam ihm der General bereits mit ausgestreckter Hand entgegen. "Aber bitte, sehr geehrter Fürst Alta, mein Rasen ist der ihre!"
Woi trat trotzdem nicht darauf und musste dem General lange die Hand schütteln. Dieser war einen Kopf kleiner als er und wirkte ebenso garnisonsfremd wie sein Haus. Es war ein freundlicher alter Herr, der sich die leuchtenden Augen eines jungen Mannes im Träumeralter erhalten hatte. Er hätte ein Lehrer sein können und ebenso ein Maler, aber niemals ein Soldat am Ende seiner Dienstzeit.
Seine Stimme war hell und ohne Fülle. Etwas zwitschernd Singendes lag darin. Der General besaß eine kleine widerstandslose Hand mit langen weißlichen Fingernägeln. Ein Duft ging von ihm aus, den die Wüste nicht kannte. Nach Blumenessenz roch der General, nach den gewundenen Wegen höfischer Gärten, nach den Taschentüchern der Eunuchen. Das alles erschien Woi lächerlich und gab ihm zur gleichen Zeit einen Stich Heimweh.
Während der General sprach, rieb er sich fortwährend die Hände zum leise klackenden Klang seiner langen Nägel.
"Ich habe eine Tochter", rief er und gab sich dem Besitzstolz hin. "Allnun sind wir glücklich, jemandem zu unserem Gast zu haben, leben wir doch sonst in der Einsamkeit von Menschen!"
Woi dachte bei sich, dass der General wirklich ein Kauz war, wenn er die Soldaten zu erwähnen vergaß, die kaum zehn Meter entfernt ihre Unterkünfte hatten.
"Allein, völlig allein, die Wüste und wir!", rief der General.
"Aber, Papachen!", rief eine Stimme aus dem Haus.
"Meine Tochter", flüsterte der General, auf den Zehenspitzen stehend, in Wois Ohr.
Sie nannte ihn wirklich und vor all seinen Soldaten 'Papachen'! Im Entsetzen darüber war Woi auf den Rasen getreten.
"Macht nichts!", rief der General. "Es ist ja kaum ein Abdruck. Er wird sich erholen. Der Rasen und wir!"
Die Tochter war das Ebenbild ihres Vaters. Klein wie er, hochstimmig, das es etwas schmerzte, mit einem feinen Gesicht und funkelnd lebhaften Augen. Sie war wohl die einzige Person, die in dieser Wüste lebte und keine Furchen in ausgegerbter Haut bekommen hatte.
"Ich bleibe im Zimmer", erklärte sie. "Die Luft draußen und die Sonne ..." Sie führte seinen Blick erklärend über ihre Wangen und den Hals.
"Aber nichts hat die Wüste ihnen angetan, nicht die Spur, dass ich mich wundere", sagte Woi, dem die Wortgewinde seines alten Freundes Baldeina am geeignesten für die kleine Runde schienen.
"Er spricht wie ein richtiger Mensch", flüsterte der Vater. "Eine dritte Stimme! Der Sohn eines Fürsten! Geselligkeit bringt er den Durstenden!"
Sie betraten das Haus und setzten sich auf drei zierlichen Stühlen nieder, wie sie Woi vom Lesezimmer seines Vaters her kannte. Da er das Gespräch weiter mit Baldeinas Zierrat ausstattete, war der Bann bald gebrochen, und Woi schwamm als treibendes Holz auf einem munteren kleinen Bach, der ihm mal von dieser, dann von jener Seite einen Anstoß gab, sich aber nie laut oder wirbelig gebärdete.
Die Rede kam auf seinen Vater, den Fürstenvater. Der General Siegling wusste, dass kleine Reich seines Vaters in seinen Grenzen besser zu beschreiben, als Woi es hätte tun können. As er auf die Eigenart der Menschen verwies, fand Woi sich erinnert.
"Bitte", sagte der General, "darf sie mit meiner Tochter Za bekannt machen."
Sofort erhob sich Woi wieder und führte eine ihm entgegenhängende Hand an die Lippen.
"Er nennt mich Zasi", sagte die Tochter. "Nennen auch sie mich Zasi."
"Bitte sehr", verbeugte sich Woi.
"Za Sieglinde hieß sie", flüsterte der Vater. "Daraus wurde in der verwehenden Wüstenzeit 'Zasi'. Können sie sich vorstellen, wir spielen hier mit den halbvergessenen Lauten der Worte. Niemand ist da, sich zu erinnern, niemand als wir!"
"Darf ich mir erlauben", rief Baldeina-Woi aus, "sie um Grüße zu bitten für meinen Vater. Wird er mich doch danach fragen, wenn ich die Teile meiner Reise und diesen besonders vor ihm ausbreiten darf."
"Aber ...", dem General kam die Rührung so heftig, und er widerstand ihr so wenig, dass ihm die Augen brachen und die Worte fehlten.
"... sie dürfen", dazwischte die Tochter.
"... natürlich", schluchzte der General tonlos.
Die Tochter sah Woi an. Er hatte keine Wahl, als ihrem Blick zu begegnen. Wenn er es recht sah und alle Liebe bedachte, die sie ihrem Vater entgegenbrachte, und die Bindung, die sie verband - die Herzen, das Blut und die Wüste - wenn er auch die Feinheit bedachte und eine gewisse Unleserlichkeit der fremden Augen, dann blieb doch in ihnen ein Rest, ähnlich dem, den er eben bei dem Unteren als einen Anflug von Verlächerlichung erkannt zu haben glaubte.
"Ja ... hompfichur", schneuzte der Papa General in ein feines Tuch von ältlichem Sommerduft.
"Sie müssen sich vorstellen", sagte die Tochter und legte eine warme Decke auf die Knie ihres Vaters, "die Wüste ... nichts als diese Wüste, alleingelassen, hoffnungslos und dann ... bricht aus dem Herzen ein langer und gehegter Jammer hervor."
Woi nickte. Nicht einmal Baldeina hätte hier Worte gefunden, also sah er vom Versuch eines Beispruches ab.
Die Rührung des Vaters verlor sich im tief nebelndem Herbst. Worte aus Schluchzen gebildet und zu Schluchzen werdend, ein Weh, das diesen kleinen Mann zusammenfaltete, waren dem fein empfindenden Besuch ein Signal. Die Tochter nahm ihn an der Hand und führte ihn zur Tür.
"Bitte", sagte sie und legte ihre Hand in Wois Hand wie ein feine Schale, "morgen ... es wird alles wieder gut ... wenn sie uns morgen wieder beehren, diesselbe Zeit, am selben Ort, hier unter dem Dach der Wüste."
Es war ein Kichern in ihren letzten Worten, aber Woi tat, als habe er es nicht gehört.
"Ich finde mich ein, auch wenn ich nicht weiß, wie ich das Gute vergüten und meine Freude zu ihrer machen kann."
"Ich werde ihnen dann ... ein Geheimnis verraten, ein wirkliches, schreckliches Geheimnis!", sagte die Tochter und zeigte mit verschwörerischer Miene auf die Kellertür.
"Oh, ein Geheimnis", süßelte Woi, "wie wunderbar sich meine Reise stellt!"
"Sind sie wirklich ein Fürst?", fragte die Tochter General leise, als sie Woi sittlich die Tür geöffnet hatte.
"Natürlich!", sagte Woi und machte seine ehrlichsten Augen. "Merkt man das nicht, dass ich ein Fürst bin?"
Das feine wüstentrutzige Köpfchen wog den Zweifel gegen den Glauben. "Sie reden so, als würden sie bloß einen kennen" - sie legte noch ein Schälchen Hand dazu - "aber mir macht das nichts. Auch wenn sie keiner sind, ist es nicht wichtig."
Es war ihr gelungen, ihn zu überraschen. Tief im Zweifel mit seinem Erscheinungsbild verließ Woi das kleine Haus, setzte sorgend sauber seine Schritte auf die Steine, schwang das kleine Törchen, das ihn mit zwei zierlichen Seufzern verabschiedete.
Chapter 107. Keschal und die Mädchen
Vor dem Haus, in dem Woi unbeobachtet zu den Drachenzähnen stoßen sollte, konnte er sich nicht entschließen einzutreten. Alles war, wie der Zwerg es gesagt hatte: Die Fenster waren leer, und der Anstrich hatte die Farbe der fahlen Haut. Aber in und neben dem Eingang standen einige Mädchen - Woi zählte fünf - und winkten ihn lachend heran.
Also ging er an dem Eingang vorbei, als habe er mit ihnen nichts zu schaffen. Sie riefen und glucksten hinter ihm her. Was war bloß mit ihm, dass sie ihn für ihre Späße ausgesucht hatten? War es doch das falsche Haus?
Von einer Entfernung aus betrachtete er es und ging seinen Weg in Gedanken nach. Nein, es war das richtige Haus! Es gab keine andere Möglichkeit, als dass die Mädchen gleich weiterziehen würden.
Nach einer guten Weile des Wartens musste er feststellen, dass die Mädchen nicht weiterzogen und immer wieder flüsternd auf ihn deuteten. Sie schienen ihn zu kennen und auf ihn gewartet zu haben. Da ein weiteres Herumstehen seinerseits bald auch die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden erregt hätte, entschloss sich Woi, das Haus gegen jede Vorsicht durch das Spalier der Mädchen zu betreten.
Er hatte sich nicht geirrt: Die Mädchen hatten tatsächlich auf ihn gewartet. Eine nach der anderen betraten sie hinter ihm das Haus, als hätten sie sich abgesprochen, ihm wie einem Anführer zu folgen. Wenigstens waren sie jetzt von der Straße weg und zogen die Blicke der Leute nicht mehr auf sich.
Eine kannte seinen Namen und warf ihn wie einen Spielball den anderen zu. Das schien sie sehr zu erheitern und je unwilliger er sie ansah, desto mehr hatten sie ihren Spaß.
"Oh", rief Schädel von oben, "hast du auch eine für uns mitgebracht, oder sind sie alle für dich?"
Alle fünf Mädchen zeigten, als hätten sie sich verabredet, auf Woi und vollführten mit der anderen Hand flatternde Bewegungen, die zeigen sollten, von welcher Art seine Person war. Schädel dort oben machte ein ernstes Gesicht, als sorge er sich um Woi, angesichts dieser Übermacht.
Weil es zwecklos war, gab Woi auf, sich gegen die Albernheit der Mädchen und gegen Schädels vordergründigen Witz durchsetzen zu wollen. Er ging einfach die Treppe hinauf und war froh, dass die Mädchen ihm nicht allesamt folgten.
Die anderen Drachenzähne saßen in einem Zimmer zusammen. Als Woi sich umsah, ob sie alle da waren, entdeckte er hinter Tatze eine weitere Person, die er nicht kannte. Es war eine Frau, die ein vornehmes Kleid trug und steif dreinsah.
"Das ist Keschal. Sie ist hier das, was Tesla bei uns ist", stellte der Zwerg die Frau vor.
"Ich bin gekommen, um euch jede Unterstützung zu gewähren", sagte Keschal und verbeugte sich. Dann bat sie Woi um einen ersten Bericht.
Er berichtete von der unzugänglichen Garnison, von den hinter Fassaden versteckten Toren und den misstrauischen und tüchtigen Soldaten. Aber erst als er auf den General zu sprechen kam, hatte er Keschals volle Aufmerksamkeit.
"Der General", erklärte Woi, ohne eigentlich zu wissen, was sie hören wollte, "wohnt in einem kleinen Häuschen inmitten der Soldatenunterkünfte. Es ist ein Garten drumherum mit einem Zaun, und man darf nur auf die Steine treten."
Der Zwerg verdrehte die Augen und sagte: "Toll! Jetzt wissen wir ja alles und können morgen loslegen!"
"Wir dürfen aber nicht auf die Steine treten", kam es von Schädel.
Keschal überhörte die Zwischenrufe der Drachenzähne. "Wo könnte der Kerker sein?", fragte sie. "Gibt es einen Anhalt?"
"Er hat eine Tochter. Sie hat mir etwas gezeigt", sagte Woi.
"Ein Fürst spricht vor und wird vertraut / da widersteht sie nicht und hebt den ... Blick!" Schädel bekam einen Puff von Tatze für seine Vorwitz.
"Weiter, sprich weiter!", sagte Keschal und ging nicht auf die eingeworfenen Bemerkungen ein.
"Sie sagt, es sei ein Geheimnis ..."
Schädel hielt sich die glucksend die Hand vor den Mund.
"- und zeigte dabei auf den KELLEREINGANG!", setzte Woi wütend in seine Richtung fort. "Ich könnte mir vorstellen, dass sich unter dem Häuschen ein Keller und der Kerker befindet."
"Du könntest recht haben", sagte Keschal nachdenklich. "Der Bau des Hauses fiel in jene Zeit der Veränderung."
"Sie bleibt immer drin wegen ihrer Haut", wusste Woi zu berichten.
Schädel lachte, und der Zwerg stöhnte.
Da wurde es Keschal zu bunt. "Lasst ihn jetzt!", fuhr sie die beiden böse an. "Die Soldaten kennen wir, aber den General hat noch niemand von uns zu Gesicht bekommen. Das ist sehr interessant!"
"Sie waren sehr erfreut über meinen Besuch. Ihr Vater hat sogar geweint, und sie hat mich gebeten, unbedingt wiederzukommen."
"... dann hat sich auch schon mit dem Gefangenen unterhalten", sagte Keschal nachdenklich. "Sie hat sonst niemanden ... Ein junges Mädchen ist sie und würde sich selbst gegen ein Verbot versuchen lassen."
"Ihr Vater verbietet ihr nichts", wusste Woi zu sagen.
"Du bist auf dem richtigen Weg", sagte Keschal und warf ihm vor allen anderen einen sehr ermutigenden Blick zu.
Woi nickte und war ein wenig stolz. Die Drachenzähne konnten sich ja lustig über ihn machen, aber ohne ihn konnten sie bei dieser Garnisonsfestung nichts ausrichten! Sogar Schädel war still und lächelte nur ganz wenig.
"Ich habe nicht geglaubt, dass es gehen könnte, wenn ich ehrlich bin", erklärte Keschal bedächtig, "aber nun ... Es könnte klappen. Kann sein, es ist ganz leicht."
"Bei uns im Haus da unten sind ... Mädchen!", sagte Woi. Wenn Schädel davon nichts sagte, dann musste er es tun!
"Sie sind als Tarnung für uns hier", erklärte Tatze freundlich.
"Keschal hat sie uns mitgebracht", sagte der Narbige.
"Wir tun so", klärte Keschal den Neuankömmling auf, "als würdet ihr hier ein Haus für die Mädchen umbauen. Ihr seid gewissermaßen ihre Handwerker."
"Wenn wir jetzt Schluss machen, dann können wir ja eigentlich nun damit anfangen", so Schädel und machte mit den Händen ein paar Handwerkergriffe, über die alle Drachenzähne lachen mussten.
Keschal erhob sich langsam in ihren steifen Kleidern. Als sie vor Woi stand, legte sie ihm die Hand auf den Kopf und sagte: "Die Tochter ... sie ist der Schlüssel für uns. Sie wird sich vor dir wichtig machen, und wenn du es geschickt anstellst, erzählt und zeigt sie dir alles."
Bevor sie zur Tür hinausging, sagt sie zu den Mädchen, dass sie von den Handwerkern nicht zuviel verlangen sollten. Diese wären für Wichtigeres hier als für das.
Die Mädchen versprachen, an ihre Worte zu denken. Woi war froh, dass Keschal einen mäßigenden Einfluß auf ihre fünfköpfige Albernheit und ihre zehn Trippelfüße hatte.
Keiner der Drachenzähne schien irgendwelche Sorgen zu haben, dass er handwerklich dem Ausbau eines solchen Hauses nicht gewachsen sein könnte.
Überall im Haus hörte Woi sie rumoren. Auf dem Obergeschoss half Tatze seinem Mädchen. Es klang so, als wälze er schwerkeuchend Säcke hin und her. Auch sie ging ihm wohl zur Hand und war sehr außer Atem, dass man ihre Befehle unten bei ihnen nicht verstehen konnte.
Schädel platschte im Bad herum. Er und sein Mädchen nahmen die Worte von Keschal wohl nicht sehr ernst, denn es kam Woi vor, als würden sie dort für einen Spaß das Wasser laufen lassen. Wenn es darauf ankam, war Schädel eben keine große Hilfe. Dabei war er es gewesen, der so darauf gedrungen hatte, mit der Handwerkerei anzufangen.
Der Zwerg hatte sich nach hinten durch den Gang verzogen und hatte sein Mädchen an der Hand genommen, was Woi etwas merkwürdig erschien, aber es war wohl eine Sitte so.
Der Narbige war mit seinem Mädchen in ein Zimmer gegangen, um dort nach dem Nötigen zu sehen. Woi saß mit der Kleinsten allein, die ihn mit Augen ansah, die, wenn sie Laute hätten abgeben können, unzweifelhaft gequieckt hätten.
Er fragte sie, ob sie nicht vorschlagen wolle, was zu tun sei. Sie antwortete, dass er nur einen Wunsch zu äußern brauche, und sogleich könne es losgehen. Aber Woi kannte sich nicht aus und wusste nicht, wie er eine Hilfe sein konnte.
Er erklärte dem Mädchen, dass er sein Schwert ziehen könne, wenn es darauf ankomme. Als Handwerker aber sei er nicht recht vorstellbar.
Nach längerer Sprachlosigkeit von ihrer Seite erklärte er, sie brauche sich keine Sorgen zu machen. Es stehe gut um ihren Auftrag. Die Drachenzähne würden ihren Mädchen tüchtig zur Hand gehen, wie unschwer zu hören sei.
Er durfte mitansehen, wie sich ihr lautlos quieckender Blick in ein stummgeformtes Winseln verwandelte, und war froh, als sie stumm gegangen war.
Chapter 108. Woi und Zasi
Am nächsten Morgen waren die Drachenzähne noch müde, jedenfalls wurde kein Wort gewechselt, als sie zusammen beim Mittagessen saßen. Die Mädchen waren alle in den frühesten Morgenstunden verschwunden.
Die ersten Stunden des Mittags verstrichen mürrisch. Tatze kratzte sich lange und überall das Fell. Schädel kaute ein ganzes Bündel roher Möhren herunter. Der Narbige holte sich das Essen und verschwand grußlos wieder in seinem Keller. Abwesend machte der Zwerg Übungen an den Fingern, die aber nicht knacken wollten. Die Arbeit hatte sie alle geschafft. Noch eine Nacht und sie würden den Tag vor Müdigkeit verschlafen.
Von allen der Frischeste war unbestritten Woi. Sein Geist war rege, und er hätte sie gern darüber ausgefragt, wie es mit ihrer Arbeit vorangehe. Da keiner sich ansprechbar zeigte, vertat Woi die Stunden damit, seine Sachen zu pflegen. Als alles fertig war, wurde es Zeit, sich von den anderen zu verabschieden.
Die Luft draußen tat ihm gut. Hier hatten die Menschen einen schönen Tag. Überall waren zufriedene Gesichter zu sehen. Von einem alten Mann bekam er eine geschnitzte Flöte geschenkt. Woi erklärte ihm, dass er nicht spielen könne, aber der Alte lachte nur und verstand kein einziges Wort.
Auf dem Markt zeigte die Leute auf seine Flöte und lächelten ihm freundlich an. Sie trugen wehende dunkle Umhänge und hatten den Kopf mit zusammengedrehten Tüchern bedeckt und grüßten sich, indem sie kleine Steine, die sie in der Hand hielten, klackend schüttelten. Die Mädchen waren alle in den Häusern geblieben. Nur die alten Frauen grüßten die Händler, indem sie ihre Nasen tief in die Warenauslage beugten.
Am Tor zur Garnison brauchte er nicht lange zu warten. Die Soldaten, die ihm öffneten, waren andere und verhielten sich respektvoll. Aber ihr Benehmen konnte Woi nicht darüber täuschen, dass es wachsame und rauhe Burschen waren, die einen anderen als einen freundlichen Umgang mit dem Ankömmling vorziehen würden.
Vor dem kleinen Häuschen des Generals wurde er von niemandem in Empfang genommen. Der Untere öffnete ihm das Törchen und sah zu Boden. Die Einfachen hatten sich bereits abgewandt und sahen angestrengt in die Gegenrichtung. Keiner der Soldaten schien den Anblick des Häuschens längere Zeit ertragen zu können.
Als Woi über die Steine zum Haus gekommen war, stand die Tür bereits ein wenig geöffnet. Das verstand er als Zeichen, willkommen zu sein.
Die Tochter saß in einem der Sessel und erhob sich nicht. Auch als Woi sich verbeugte, reichte sie ihm keine Hand, sondern gab ihm mit tiefem Blick zu verstehen, dass er seine Förmlichkeit ablegen solle.
"Guten Tag", sagte Woi und schloss die Tür hinter sich. "Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen."
"Aber bitte, nein", antwortete die Tochter. Sie bot ihm auf dem Sessel neben sich einen Platz an. "Wir freuen uns."
Woi blickte sich um, konnte den General aber nirgendwo entdecken. Es wollte ihm aber scheinen, als habe der General sich kürzlich in diesem Raum in seine blumenduftenden Tüchlein ausgeschneuzt.
"Er ist unpässlich", erklärte die Tochter. "Es fing damit an, dass er sich schämte, weil er vor ihnen geweint hat, und das machte ihn so krank, dass er im Bett liegen muss. Nun wartet er, dass es ihm bald besser wird."
"Oh, ich hoffe doch sehr, dass dies der Fall sein wird", äußerte Woi.
"Sind sie nicht gern mit mir allein?", wurde er unvermittelt gefragt.
"Oh doch, ich sagte das nur aus Höflichkeit ..."
"Sie sehen müde aus, Herr Fürst Alta", stellte seine junge Gastgeberin beobachtend fest, "als hätten sie die Nacht nicht allein verbracht?"
Woi erklärte ihr, dass er in dieser Nacht die lange Reise nicht habe abschütteln können und sprach achtungsvoll von ihrer Beobachtungsgabe.
"Sie sind ein Flunkerfürst", stellte die Dame fest. "Aber es macht mir nichts. Besser einer, der flunkert, als einer, der langweilig ist."
Woi drohte ihr scherzend mit dem Finger, aber vermied es, ihr zu widersprechen.
"Liebe Zasi", sagte er und dachte an die Worte von Keschal, die ihn zur Annäherung aufgefordert hatte, "Höflichkeit schulde ich ihrem Vater, aber ihnen, wenn ich sagen darf, mehr als Sittsamkeit." Er wurde rot und hörte Keschal flüstern, dass er es vorzüglicher nicht hätte machen können.
Zasi machte immer noch einen strengen Mund, aber sie hatte die Hände über dem Schoß gefaltet, die vorher - er wusste nicht, wo - gelegen hatten.
Als sie die Augen wieder auf Woi eingestellt hatte, begann sie ihn auszufragen. Er musste über den Hof seines Vaters berichten und kam sich vor, als schwindele er, obwohl er nichts Flasches sagte. Nachfragend wollte sie die Größe des Hofes wissen, aber Woi konnte ihr nur sagen, dass er in etwa die Größe der Garnison hätte, dass aber keine Stadt drumherum sei. Es gebe, ergänzte er, drei Städte, die zum Fürstentum gehörten, jede ein wenig weiter weg. Dann wusste er nichts mehr zu sagen.
Darauf sagte sie ihm genau, wieviel Soldaten sie hätten. Sie wusste die Länge der Grenze, die Art der Überfälle, die Zahl der Verletzten und woran die Toten gestorben seien.
Woi nannte sie lebenszugewandt und welttüchtig.
Das machte sie stolz, und sie überlegte, ob sie ihm nun das Geheimnis verraten sollte. Doch dann erzählte sie weiter. Sie kannte jeden der Oberen bei seinem Namen und wusste immerhin alle Unteren ihrer Schwäche nach zu unterteilen. Die Einfachen unterteilte sie in Verbannte, Flüchtige und Gestörte.
Das wunderte Woi sehr, hatten sie doch den allerbesten Eindruck auf ihn gemacht.
Sie fragte, ob sein Vater auch ein alter Vater sei.
Leise und abblinzelnd bejahte Woi dies.
Ob der Sohn die Dinge wie sein Vater betrachte.
Wie sie denn sonst zu betrachten seien, wenn nicht aus der Sicht des Wegkundigen, fragte Woi und führte seinen Vater als immerwährend klug und als Spruchinstanz an.
Dass er ihr mit väterlichen Spruchweisheiten nicht kommen durfte, merkte er sogleich an ihrem schief abgestellten Mündchenwinkel.
Sie bewegte sich in ihrem Kleid und sagte ihm, er solle die Dinge nicht nur von außen sehen, nicht nur aus der Sicht des Reisenden, der um seine Sicherheit bangte. Im Inneren der Dinge gebe es keine Gefahr, für niemanden.
Sie sei als Tochter eines Generals aus Familengründen der Gefahr näher als er, sagte Woi und verbeugte sich.
Sie rede nicht nur von der Gefahr, sondern lebe mit ihr, sagte sie und führte eine Hand zum Mund, um auf einem Fingernagel zu kauen.
'Das war nicht klug, sie zu foppen', flüsterte Keschal, und Woi musste ihr ehrlicherweise recht geben.
Was er denke, sei falsch, hielt Zasi dem Fürstlichen entgegen. Wenn er wolle, könne sie ihm eine Ahnung geben. Aber sie wisse nicht, ob er sich fürchte. Manchem verginge der Spott und das in die Backen geklemmte Lachen. Wie oft schon habe einer ein Geheimnis aus der Angst heraus verraten!
Sie befragte ihn, Tiefe und Ernst verströmend, ob er etwas für sich halten könne, ein in seiner Art an der Tiefe rüttelndes, unter ihren Füßen liegendes Geheimnis.
Seiner Verschwiegenheit zeigte sich Woi Flunkerfürst gewiss und bat sie augentief, einen Beweis erbringen zu dürfen. Forderte ihr Geheimnis gewissermaßen als Recht des adligen Gastes ein.
Wieder und nach bedachte sie sich, aber das Geheimnis verlangte nun, ohne Wägen und Wanken genannt zu werden.
Damit stand Zasi vor ihm auf und presste die Mädchenmundlippen. Woi machte das Klügste, was Keschal ihm raten konnte: Er nahm ihre Hand. Sie, ohne Bedacht und erschrocken, zog sie zurück. Die klugflüsternde Keschal riet Woi, es mit dem Reiseblick zu versuchen, dem Verabschiedungsseufzer, dem Nur-noch-Erinnerung-sein.
"Wenn der Fürst wiederkommt", sagte Zasi hastig, "dann werde ich ihm das Geheimnis verraten, und wir werden sehen, wie er damit umgeht ..."
"Warum nicht jetzt?", fragte Woi und meinte es ehrlich.
"Weil ich seinen Schlaf nicht stören will", sagte sie.
"Das Geheimnis? Es schläft?", fragte Woi und fand sich zu Recht von Keschal zur Klugheit ermahnt.
"Nichts sage ich mehr", erwiderte Zasi und weinte im rechten Augen eine Träne aus. "Verspricht er, dass er kommt?"
"Er gibt sein Wort", sagte Woi mit einer Stimme, die ihr Vertrauen fest in die Arme schloss.
Und Zasi sah nicht, weil ihr schwindelig und matt und im ganzen unpässlich war, dass Keschal zwei Finger von Wois linker Hand genommen hatte und tänzelnd ihn einen Klugen nannte.
Chapter 109. Woi im Badezuber
Als Woi das Haus mit der abendlichen Dunkelheit wieder betrat, hörte er gleich, dass die Drachenzähne bei der Arbeit waren. In den Zimmern herrschte eine so große Geschäftigkeit, dass sicherlich auch wieder die Mädchen bei ihnen waren. Da er niemanden vorfand, versuchte er es an einer der Türen, fand diese aber verschlossen.
"Verschwinde", rief der Narbige von drinnen und klang sehr wütend, "ich bin noch beschäftigt."
'Was bildet sich dieser Handwerker eigentlich ein? Das hätte er auch freundlicher sagen können!', dachte Woi bei sich.
Auch die Tür vom nächsten Zimmer war verschlossen, aber Schädel, der darin arbeitete, schien ängstlich, dass ihm etwas nicht gelingen könnte. "Moment, Moment", rief er, "ich bin gleich soweit, nur nicht jetzt, gleich fertig, nur noch ein wenig braucht es, gleich, gleich!"
Woi gab es auf, an weiteren Türen zu klopfen, sondern nahm die Treppe, die zu einem Zimmer mit einem Verhang führte. Auf den gelben Grund war in Schwarz das Zeichen für 'Herrin' gestickt. Er dachte sich, dass es das Zimmer von Keschal war.
"Ist da jemand ... ich meine: Sind sie da?", rief er leise durch den Vorhang hindurch und setzte hinzu: "Der Sohn des Fürsten, ich bin es. Sind sie allein?"
"Kommen sie herein, Herr Woi. Ich bin allein."
Keschal trug einen seidigen schwarzen Umhang, den sie schnell um ihren Körper schlug, als er hereintrat. Sie war dabei gewesen, ins Bad zu steigen.
Ihr Zimmer war nicht groß, aber prächtig ausgestattet. Selbst der große Badezuber, in dem das Wasser dampfte, war golden verziert. Das Bett, auf dem sie saß, hatte ein Dach, wie Woi es von seinem Vater her kannte. Die Zuhänge waren zu den Seiten aufgeschlagen.
"Störe ich?", fragte Woi.
Er störe nicht, sagte sie und zeigte ein wenig von ihrem weißen Hals.
"Wird bei ihnen nicht gearbeitet?", fragte er. "Ich meine von den Handwerkern ..."
Sie lächelte, als sie die Erklärung für seine Frage fand. In früheren Jahren sei bei ihr viel gearbeitet worden, aber nun nicht, und sie sei froh darum.
Aber sie wolle doch gerade ein Bad nehmen.
Ob er sich nicht setzen wolle, geradewegs neben sie.
Störe er wirklich nicht, fragte Woi und trat einen Schritt und dann zwei weitere zu ihr hin.
Wenn er nicht daran denke, einen Lärm zu machen - Keschal verscheuchte die Geräusche, die aus allen Zimmern zu ihr drangen - dann sei er willkommen.
Nein, er, Woi, habe es nicht so mit dem Handwerkern, wie sie vielleicht bereits wisse. Er sei ungeschickt, das habe er auch dem Mädchen gesagt. Sie sei nicht schuld, dass nichts zu Wege gebracht worden sei, so müsse er ausdrücklich gestehen.
Ihr, Keschal, sei nicht wichtig, was die Mädchen berichten würden.
Es sei nicht die Schuld des Mädchens gewesen, sagte Woi nachdrücklich und tapfer.
Nein, die Schuld liege bei niemandem.
So beruhigt, setzte sich Woi neben sie, und weil das Bett zur Mitte nachgab, berührten sich ihre Schultern.
Ob er über etwas sprechen wolle, fragte sie sanft.
Nein, er wolle nur sitzen, sei aber bereit und willens, ihr zuzuhören.
Wenn er ein Bad nehmen wolle, sei er eingeladen. Keschal zeigte auf den dampfenden Zuber. Es sei zwar für sie bereitet, aber sie gestehe, dass sie aus Zeitvertreib bade und heute nicht erpicht sei. Er dagegen sei ein Fürst und habe sicherlich lange nicht mehr gebadet.
Ja, früher habe er oft gebadet.
Dann solle er denken, er sei zu Hause und sie, Keschal, sei nichts weiter als eine Badefrau.
Sein Vater sei ein armer Fürst und sie hätten nicht über eine Badefrau verfügen können. Er, Woi, höre zum ersten Mal, dass es eine solche Tätigkeit gebe.
Er wolle doch ein mächtiger Fürst werden, fragte Keschal. Das nehme sie jedenfalls an.
Ja, eigentlich, wenn er wählen könne, dann wolle er tatsächlich ein mächtiger Fürst werden, jedenfalls kein reicher, weil die etwas verweichlicht seien.
In diesem Fall stehe ihm eine Badefrau zu. Er müsse nur danach verlangen.
Dann müsse er aber wissen, was eine Badefrau tue.
Er sei hier, um es herauszufinden. Es beginne, soviel sei verrraten, meist mit einer gründlichen Wäsche. Ob ihm das recht sei.
Das sei gut und das sei recht, sagte Woi und begann sich auszuziehen. Wenn sie zur Seite blicken wolle, bis er im Wasser liege ...
Schnell zog er sich aus, hielt sich die Sachen vor den Körper und stieg vorsichtig in das Bad. Er spürte, dass sie ihren Blick nicht abgewendet hatte.
Wenn er so liege, wie er liege, dann könne er ja auch über den Tag reden, schlug sie vor. Mit einer Badefrau ließe sich ebensogut reden wie baden, weil es kluge Frauen seien, die von vielerlei Dingen wüssten.
Sie sei doch keine Badefrau, jedenfalls keine richtige, bemerkte Woi.
Aber eine kluge Frau sei sie, klüger als manche Badefrau.
... das Mädchen rede so sonderbare Dinge, sagte Woi mitten aus seinen Gedanken.
Die Tochter des Generals Siegling meine er?
Ja, die meine er.
Keschal ließ Woi an einem Schälchen riechen und schüttete die Essenz vorsichtig ins Wasser. Davon wurde es trübe, und Woi war froh, dass sie nicht mehr bis auf die Tiefe hinuntersehen konnte.
Die Tochter des Generals, so Woi, sage, die äußeren Dinge hätten eine Gefahr, aber nicht die inneren.
Wie sie das meine?
Er wisse es nicht, aber sie erinnere ihn an jemanden, nicht von ihrem Äußeren her - das wolle er nicht sagen - aber umso mehr von ihrem Inneren her.
Keschal schäumt mit der Hand das Wasser auf, indem sie fächelnd darin rührt.
Das Mädchen habe ihn, Woi, in ihr Geheimnis eingeweiht.
Was habe sie von dem Gefangenen erzählt?
Ausgesprochen habe sie das Geheimnis nicht und ihn nicht erwähnt, aber es sei eindeutig gewesen.
Keschal lockert das Tuch über der Brust. Warm werde der, die bei dem sitze, der im Bade liege.
Die Tochter liebe ihren Vater nicht, sagte Woi.
Dann liebe das Mädchen einen anderen. Kein junges Mädchen lasse die Liebe ungerufen.
Von den Soldaten komme keiner in Frage. Auch verlasse sie nie das Haus, weil das Wüstenlicht ihrer Haut schade.
Dann liebe sie ihr Geheimnis und ihn, den es kleidet.
Sie wirke auf ihn, Woi, sehr unglücklich, jedenfalls von außen.
Das mache es einfacher und schwieriger.
Ob sie, Keschal, etwas von Flüchen verstände?
Sie, Keschal, machte ein Loch in den Schaum und versenkt ein Lächeln in der Tiefe des Zubers.
Er, Woi, habe ein Mädchen gekannt und etwas getan, was nun nicht mehr zu ändern.
... und dafür habe sie ihn verflucht.
Ja, das habe sie, und viele hätten es gesehen und ebenso gehört.
Dies Gesprochene habe keine Wirkung aus sich selbst, erklärte ihm Keschal. Auch Feen hätten nur die Macht, einen Fluch wirkend auszusprechen, wenn ihnen etwas widerfahren sei.
Wenn einer von den Feen das gesamte Haar abgeschnitten worden sei, ob das eine zum Fluch widerfahrene Sache sei.
Ja, eine solche Tat gehöre sicherlich dazu, so Keschal schmunzelnd. Die Fee habe doch nicht etwa in einer Angelegenheit verflucht, die, dem Auge der Badefrau verborgen, unter der Wasseroberfläche liege.
Die Fee habe gesagt, dass er niemals gewahr werde, wenn eine Frau ihn liebe. Es sei gewissermaßen ein innerer Fluch gewesen.
Er, Woi, könne von Glück sagen, dass es eine gute Fee gewesen sei.
Aber es sei doch nicht weniger ein Fluch.
Er müsse zugeben, dass ihm eigentlich nichts abhanden gekommen sei.
Aber 'Niemals', es sei dieses 'Niemals', es sei zumindest eine Verdammung, jedenfalls eine innere, versuchte Woi, seine Bedrängnis zu erklären.
Ob ihn die Badefrau nun waschen solle, fragte Keschal.
Ja, gern wolle er es ausprobieren.
Er könne jederzeit 'Halt!' rufen.
Wo sie beginnen werde?
Eine gute Badefrau, lehrte ihn Keschal, beginne immer mit dem, was über dem Wasser liege.
Chapter 110. Woi bei Az
"Ist der Vater General immer noch krank?", fragte Woi, aber sie erwiderte ihm nichts.
Mit keinem Zeichen lud sie Woi ein, sich auf einen der Stühle zu setzen. So stand er frisch gebadet, aber ratlos in ihrem starren Blick.
"Haben sie es vergessen?", fragte sie streng.
"Nein, nein", suchte er sie zu beruhigen. "Ich weiß schon, sie wollten mir etwas zeigen."
"Aber sie glauben nicht, dass dieses ETWAS einen Fürsten interessieren wird."
"Doch, bestimmt wird es mich interessieren!", entgegnete Woi matt und ohne Hoffnung, ihr Misstrauen besiegen zu können.
"Ich glaube ihren Worten nicht, nur dass sie es wissen." Als störe sie dies nicht weiter, bat sie Woi, sich umzudrehen. Dann zog sie einen Schlüssel aus der Tiefe ihres Unterkleides, so jedenfalls hörte sich das an, was Woi nicht sah.
"Machen sie selbst auf, ich kann nicht", sagte sie rauh und drückte Woi den hautwarmen Schlüssel in die Hand.
Die Tür zum Keller ließ sich leicht öffnen, und Woi trat vor ihr auf die Treppe, die fast so steil wie eine Leiter hinabging.
Von oben hörte Woi die leisen Rufe ihres Vaters General, der erwacht war. Aber die Tochter stieß Woi mit den Knieen in den Nacken, dass er sich beeilen solle, und zog die Kellertür hinter sich zu.
Mit einem Mal war es völlig dunkel. Woi musste sich Stufe für Stufe die Treppenleiter hinunterfühlen. Der Lauf, der an der rechten Seite hinunterführte, war zu wackelig, um ihm zuverlässigen Halt zu geben.
"Wollen wir wirklich?", fragte er leise zu ihr hoch, wobei ihm der Saum ihres Kleides das Gesicht kitzelte.
"Es geht tief hinab", antwortete sie, "aber er hat uns gehört."
Etwa ein Dutzend Stufen traten sie hinunter, bis sie auf rutschigem Boden standen. Sie fasste ihn an den Schultern und drehte ihn, damit er die Zelle sah.
Diese war noch zehn Schritte entfernt. In der Mitte stand der Gefangene und wartete in starrer Haltung, als sei ihm der Besuch angekündigt worden. Da das Licht durch schmale Schlitze von oben herabfiel, war seine Gestalt in ihren Umrissen schwarz ausgeschnitten.
In Wois Rücken war die Tochter des Generals schwankend erstarrt. Vor ihm verriet der Mann in der Zelle durch keine Bewegung, dass er ein lebendiges Wesen war. Die Haare waren ihm so lang gewachsen, dass man sein Gesicht im Schatten nicht sehen konnte.
Vom Dach zum Boden trennten die Stäbe die Hälfte des Kellers als eine bewohnbare Zelle ab. Darin standen Stuhl und Tisch, dort in der Ecke ein flaches Bett. Jeder der Quaderstein spielte allein für sich mit seinem Licht.
Erst jetzt bemerkte Woi, dass nur auf eine Hälfte der Zelle das Licht von oben fiel. Die andere Hälfte lag im völligen Dunkel. Nur die Gitterstäbe davor waren schwarz vor schwarz zu erkennen, wenn man die Augen anstrengte.
"Du hast jemanden dabei", sagte die Gestalt.
Woi erschrak über den Klang dieser Stimme. Sie war hohl und fern, als käme sie wie das Licht aus dem Schacht von oben.
Die Tochter des Generals blieb ebenso stumm wie starr. Sie hatte erkannt, dass durch ihre Schuld nichts mehr wie früher sein würde. Darüber war sie so erschrocken, dass es sie von hinten gepackt hielt und viel stärker war als sie.
"Sprich du", wandte sich der Gefangene an den anderen.
"Ich bin Woi, der Sohn des Fürsten Alta", kam zaghaft die Vorstellung des Gastes.
"Das Wer-Du-bist hat keinen Namen", antwortete der Gefangene und lachte aus dem Schacht, der über ihm war.
"Ich bin wirklich ein Fürstensohn", entgegnete Woi fest. Jeglicher menschliche Umgangsform war von diesem schrecklichen Schicksal verschlungen worden!
"Hörst du nicht? Es ist nicht wichtig, wer du bist!", beschied ihn wieder und schroffer der Gefangene. "Bist du ein NICHTS oder ein JEMAND, sag' mir das?"
Woi war ratlos. Von der Tochter des Generals kam keine Hilfe. Und der Gefangene sprach auf eine Weise durch den Sinn seiner Worte hindurch, als seien es Gitterstäbe, die seiner Freiheit im Wege waren.
"Ich weiß!", rief er. "Du bist ein Jemand! Wie wärst du sonst hierher gekommen! Du bist sogar ein großer Jemand. Das Schicksal hat dich geschickt!"
Woi nickte. Das war bei aller Sonderlichkeit klug gedacht: Wer zu ihm in den Keller kam, der hatte ihn gesucht und besaß einen Grund.
"Können wir frei vor IHR sprechen?", fragte Woi leise.
"Sie ist ein Nichts und glücklich damit. Wir können ihr also vertrauen, mehr noch: Wir brauchen sie!"
Das war sehr direkt gesprochen, fand Woi. Um abzulenken, versuchte er ein neuen Anfang.
"Mit welchem Namen darf ich sie ansprechen? ... ohne dem eine Bedeutung beimessen zu wollen." Langsam hatte Woi seine Fassung wiedergefunden. Als Befreier war er schließlich jemand, dem auch der finsterste Gefangene eine gewisse Beachtung entgegenbringen musste.
Der Mann zeigte keine Regung, nicht einmal eine verächtliche. Er schien bereits im Hören das ihm Sinnleere auszuscheiden.
"Wie heißt er denn?", fragte Woi dann leise seine Gastgeberin. Er wollte sie ein wenig ablenken. Sie hatte etwas in Ohnmacht fallen Wollendes an sich.
"Ich habe ihm den Namen 'Az'gegeben", flüsterte sie, als dürfe der andere nichts davon erfahren. "Ich nenne ihn so, weil er sagt, dass er keinen Namen besitzt. Er sagt, das Schicksal kennt ihn ohne Namen."
"Warum ausgerechnet 'Az'?"
"Verstehst du nicht? ... A bis Z, alle Buchstaben!" Was sie weiter sagte, war taumelnd und unverständlich, bis sie den Weg an sein Ohr gefunden hatte: "... und weißt du, 'Az' ist der Spiegel von 'Za', meinem Namen natürlich."
"Aha", sagte Woi, "aha." Es war sicherlich nicht einfach für sie - die Wüste und das alles. Und dann diese Schroffgestalt im Keller.
Ihre kleine Hand entschlang sich der seinen. Woi machte eine schnelle Bewegung, um ihren Körper aufzufangen. Doch statt zu fallen, ging sie geradewegs auf den Gefangenen zu. Ganz nah an sein Gitter kam sie, wo er seine Hand auf ihre Stirn legte und leise auf sie einsprach. Immer wieder nickte sie und glitt mit den Händen am Gitter auf und ab, als sei sie die Gefangene und er der Besucher.
Auch Woi wurde herangewinkt und trat nun neben sie. Von der Seite sah er, dass das Mädchen die Augen geschlossen hielt und ihr Mund heftig zitterte, als weine sie ohne Tränen.
Der Gefangene war zufrieden mit dem Beweis seiner Macht. Er nahm die Hand von ihrer Stirn und glitt mit zwei Fingern kurz über ihre Lippen. Das Mädchen stöhnte und ließ das Gitter los. Sie stand und schien nicht zu wissen, was sie tat. Mal waren ihre Augen auf und blickten leer, dann wieder waren sie geschlossen und jagten unter den Lidern hin und her.
"Sie hört uns nicht", sagte der Gefangene. Weil Woi immer das Mädchen ansah, wurde er ungeduldig: "Wie soll es gehen?"
"Ich weiß es selbst nicht. Aber ich bin hier, und es wird gehen." Dieser Mann und die Macht, die er aus seinem Käfig heraus besaß, waren Woi unheimlich. Am liebsten wäre er mit dem Mädchen nach oben gegangen und hätte für sie gesorgt. Aber er war drin in diesem dunklen Schicksal, zwar nicht so untergegangen wie das Mädchen, aber an eine Flucht war nicht mehr zu denken.
"Ich habe es dir gesagt", sprach der Gefangene mit sich in die Zelle hinein, "die Unfreiheit ist nichts als eine äußere Schale der Freiheit."
"Können Sie dafür sorgen, dass das Mädchen uns den Schlüssel gibt?"
"Ja, natürlich!" - der Gefangene zeigte sich empört, dass ihm eine solch leichte Aufgabe gestellt wurde - "Sie sehen doch, wie sie mir gehorcht." Der Beweis für seine Worte stand in der Tat mit leeren Augen neben Woi.
"Gut", sagte er, "ich komme wieder ... Morgen komme ich wieder und habe mir etwas überlegt."
Der Gefangene ging in seiner Zelle umher und beachtete Woi nicht mehr. Hin und wieder beleuchtete das Licht durch die Deckenspalte sein Gesicht. Er blieb stehen und sah hinauf in das Licht.
Er wischte sich mit den Händen über das Gesicht, als sei das Licht Wasser, mit dem er sich wusch. Er prustete und schüttelte es von den langen Haaren. Genussvoll langsam ließ er sich das Licht über das Gesicht laufen.
Das Mädchen hatte begonnen zu zittern, aber der Gefangene bedeutete Woi, dass dies nichts zu bedeuten habe. Er ließ sie zittern. Erst als Woi sie vor Mitleid anfassen wollte, machte er ein Geräusch, als zerreisse er das Tuch von einem Leinenkleid.
Wie ein Wild, das gestellt worden war, sah sie sich um. Ihr waren die Füße kalt, als wäre sie nackt auf dem steinigen Boden gestanden. Sie sah an sich herunter und bemerkte doch Schuhe und Kleid. Ein Zittern hatte den dunklen Raum und seine Gitter befallen. Schrecklich war das Licht. Wie stark musste er sein, wenn er es auf seinem Gesicht ertrug!
"Kommt", sagte Woi zu ihr.
"Geh", sagte der Gefangene.
Es war ihr so leicht mit einem Mal. Der junge Mann, den sie nicht kannte, hatte eine freundliche Hand. Und Az war nicht mehr böse mit ihr. Das Böse war fort, und alles war gut.
Chapter 111. Plan mit 'Schlingelkappe'
Als Woi die Garnison verließ, warteten die Soldaten auf die Übergabe der Wache und beachteten ihn nicht weiter. Der eine von ihnen klopfte mit seiner Lanze auf den Boden, der andere gähnte.
Als Woi sich noch nach ihnen umsah, hatten sie ihn bereits vergessen. Er ging ein wenig die Straße entlang und setzte sich neben eine Gruppe alter Männer. Den Stuhl zog er ein wenig in den Schatten und tat so, als döse er wie seine Nachbarn vor sich hin.
Eine Befreiung war auf die einfachste Weise möglich! Ganz nah war die Idee! Wenn nur sein Inneres nicht so aufgewühlt wäre! Also beobachtete er die Männer, um sich von der Schläfrigkeit, die sie untereinander aufteilten, etwas für sich zu nehmen. Wenn einer etwas sagte, dann war es kurz, und die anderen schwiegen darüber lang. Ging einer mit einer Antwort rund, dann fand er nur widerstandslos baumelnd die Köpfe.
Woi rührte sich nicht. Die Männer schlürften ihrer Zeit und ihren Tee. Da war sie, die Idee! Still hatte sie im Schatten hinter ihm gestanden und gewartet - EINS UND EINS GLEICH ZWEI! EINS UND EINS GLEICH EINS! ZWEI GLEICH EINS!
Woi sah von den alten Männern zu den Wachen und überlegte. Er und der Gefangene mussten gleich aussehen. Das war die Lösung! Das war der Weg! Wenn der Gefangene wie Woi aussah, dann würde er leicht herauskommen können. Warum sollten die Wachen ihn beim Hinausgehen mehr als flüchtig betrachten.
Aber was war dann mit ihm? Wie er es drehte und dachte: Einer der doppelten Wois blieb drin! Trotzdem fühlte Woi, dass er der Lösung ganz nah war.
Murmelnd kauten die alten Männer an ihrem Tag. Wenn einer eine Schale ausspuckte, dann nickten die anderen, weil sie nichts zu kauen hatten. Wenn einer den Tee zum Schlürfen ansetzte, nicht lange und alle hatten seinen Ton gefunden.
Er hörte, wie die Wachen laut auf der Stelle traten und Kommandos riefen. Als die Speere zweimal laut aufgestoßen worden waren, wurden sie an die nächste Wache übergeben, die das ganze Zeremoniell wiederholte.
Für die Menschen, die hier saßen, war dies das Signal, welches sie zum Aufbruch mahnte. Der Tee wurde geschlürft mit dem letzten Ton, den jeder in der Tasse fand. Ein Husten befreite von der Trägheit, die sich im Hals festgesetzt hatte. Einer wischte sich das Auge. Einer kratzte sich den Kopf. Währendessen rollte der Wirt den Schatten ein und fegte die Schalen und die Gedanken vom Gehweg.
Auf Wois Frage hin, warum alle so plötzlich aufgebrochen waren, erklärte ihm der Wirt, dass der Wachwechsel der Soldaten ihnen die Zeit angebe, die genauer sei, als jede, die er kenne.
Woi hatte die Lösung GEFUNDEN! Sie war so einfach, aber vor Stolz wurde ihm der Kopf ganz heiß. Die Menschen auf seinem Weg zurück beachteten ihn nicht. Langsam suchte er sich einen sicheren Weg zwischen ihnen, wich mal diesem aus, ließ mal jenem den Vortritt und führte sich ganz so auf, als trage er etwas Kostbares an seinen Ort.
Als er das Haus betrat, kam ihm Tatze entgegen.
"Bist du fertig?", fragte Woi.
"Ich glaube für heute kann ich nicht mehr", sagte Tatze und war zu erschöpft, um Zufriedenheit zu zeigen.
"Dann hol' sie zusammen", befahl ihm Woi. "Sie sollen alle kommen, egal, was es ist, das sie abhält."
"Wenn du meinst", brummte Tatze, "dann geh ich zu ihnen rein ... und was soll ich sagen, wenn ich stör'?"
"Du sagst ihnen, dass ich die Lösung habe. Da werden sie schon kommen!"
Tatze war sich nicht sicher, ob das eine Störung aufwog, aber immerhin war es etwas, das er sagen konnte. Also steckte er das Hemd in die Hose und schlürfte, sich die Worte wiederholend, los.
Es kam Woi unendlich lang vor, bis sie alle zusammengekommen waren. Keiner von ihnen war auf seinen Plan sehr gespannt. Das konnte er unschwer in ihren Gesichtern ablesen. Nur Tatze war zufrieden, dass er sie gebracht hatte.
Woi nahm sich einen Stuhl und setzte sich in ihre Mitte. Er erzählte ihnen, dass er den Gefangenen besucht hatte. Er machte ihnen ein Bild vom Keller und dem darin abgetrennten Kerker. Er entwarf vor ihnen den Bauplan der Garnison, schilderte genau den Ein- und den Auslass durch die Wachen und deren Wechsel miteinander.
Die Drachenzähne sahen schweigend ein, dass es unmöglich war, jemanden aus dieser Lage zu befreien. Die Stimmung nahm ohne Umweg den Weg von der Mattheit in die Niedergeschlagenheit.
"Es GIBT aber eine Möglichkeit!", verkündete Woi. Als alle ihn zweiflerisch fragend ansahen, erklärte er ihnen langsam, wie er sich die Befreiung vorstellte. Wenn der Gefangene und er von gleichen Äußeren waren - das sei die Bedingung - dann sei es leicht, als EINER hinein und als ZWEI hinauszukommen.
"Seht ihr, hab' ich ja gesagt, dass er eine Plan hat!", warf Tatze ein, als habe jemand von den anderen Klage gegen ihn geführt.
Die Drachenzähne erinnerten Woi an die alten Männer, die sich die Müdigkeit und den Schatten geteilt hatten. Aber die Drachenzähne waren die Drachenzähne! Der Stolz auf sie gab ihm einen Stoß, und er erklärte weiter: Hinaus gelänge der Gefangene als Woi kurz VOR der Wachablösung, und er, Woi selbst, kurz NACH der Wachablösung. So waren sie beide draußen, obwohl nur einer von ihnen hereingekommen war!
Eigentlich erklärte er ihnen das Ganze zweimal, aber das war nur, weil er so ungeheuer stolz darauf war und weil er sich nicht sicher war, ob die Drachenzähne alles verstanden hatten. Dann schwieg er.
Alle Drachenzähne waren der Meinung, dass es ein guter Plan sei. Tatze sagte sogar, das sei der beste Plan, den er je gehört habe, und er sei ja wohl mindestens die Störung wert gewesen. Schädel sagte, es sei auf jeden Fall ein guter Plan, da gebe es keinen Zweifel.
"Wenn ich morgen zu ihm gehe", sagte Woi, "dann trage ich ein Kostüm und nehme genau dieses Kostüm für ihn mit."
Der beste Plan, den er kenne, sagte Tatze noch einmal. Er kenne keine Sache, die wichtiger sein könne, als diesen Plan anzuhören.
"Es muss ein Kostüm sein, das auffällt.", erklärte Woi weiter. "Sie sollen darauf schauen und nicht auf das Gesicht."
Die Drachenzähne überlegten. Der Zwerg schlug ein ganz tolles Krummschwert vor. Aber das war schwer zu beschaffen und wenn man bedachte, dass man es zweimal beschaffen musste, dann war es unmöglich.
Schädel sagte, er wolle etwas vorschlagen. Als alle still waren, hatte er nichts weiter vorzuschlagen, als dass Woi eine Feder tragen solle, eine lange von einem Pfau vielleicht. Eine solche Feder sei leicht zu beschaffen und auffällig.
Das sei kein guter Vorschlag, entgegnete ihm Woi, eine Feder sei viel zu nah am Gesicht. Es müsse etwas sein, das den Blick vom Gesicht ablenke.
Er könne sich die Feder ja um die Beine binden, schlug Schädel vor, der ihm die Zurückweisung übelgenommen hatte.
Sie überlegten und rutschten auf ihren Stühlen. Als jeder etwas gesagt hatte, das von Woi abgelehnt worden war, wurde die Stimmung mürrisch und nur Tatze sagte wieder, dass es aber ein guter Plan sei, jedenfalls soweit er es sagen könne.
"Wie ist er denn so, der Sohn von Tesla?", wollte Schädel wissen.
"Nun ... soll ich ehrlich sein?", fragte Woi. Niemand erhob einen Einspruch. "Mir kommt er unheimlich vor. Ich glaube, er hat etwas gelitten in seinem Kopf."
"Wenn man immer mit sich allein ist ...", sagte der Narbige, weil er wusste, wie es ist.
"Stellt euch vor", so Woi weiter, "das Mädchen, die Tochter vom General, tut alles, was er will. Er legt nur seine Hand auf ihre Stirn."
"Das möchte ich auch können", sagte Schädel. "Wenn wir ihn befreit haben, werde ich ihn bitten, es mir beizubringen."
"Er hat so etwas in den Augen, das man nicht lernen kann", sagte Woi. Schädel hatte auch etwas an den Augen, aber das war glupschig und nicht dasselbe. Da war Schädel beleidigt, als hätte er Wois Gedanken gelesen.
"Aber der Plan ist gut", gab Tatze zu bedenken. "Vielleicht wissen die Mädchen ja, was man für Woi und den Gefangenen nehmen kann." Er zeigte zur Tür, wo eine bereits ihren Kopf hereinsteckte und von den anderen vorgeschoben wurde.
Seinem Mädchen, das sich zutraulich auf seinen Schoß setzte, erklärte er, um was es ging: "Er will etwas anziehen, damit ihm nicht alle ins Gesicht gucken."
Das Mädchen sah Woi ins Gesicht und meinte, dass es so schlecht mit seinem Aussehen doch nicht bestellt sei.
Woi dankte ihr mit einer Verbeugung.
"Es soll etwas sein, wo alle darauf sehen, wenn er es trägt", erklärte Tatze, weil sie nichts sagte.
Das Mädchen drohte ihm schelmisch eine Ohrfeige an. Die anderen Mädchen drehte die Köpfe zueinander, um sich gemeinsam etwas auszudenken.
"Ich weiß etwas, was richtig sein könnte", sagte Tatzes Mädchen und hob sich aus ihrem Sitz. "Es ist eine Kappe für den Schlingel. Sie wird AUF der Hose getragen. Als ich dieses Ding zum ersten Mal gesehen habe, hielt ich es für einen verrutschten Geldbeutel. Aber mir wurde gesagt, dass er für den Schlingel ist - soll sogar vornehm in den Ländern sein, wo es Sitte sei."
"Das ist es! Genau das Richtige!", rief der Zwerg.
"Genau! Genau!", rief Tatze. Sein Mädchen war die klügste, das war entschieden!
"Ich trage das nicht!", rief Woi herein.
Doch die Entscheidung war bereits gegen ihn gefallen. Schnell hatte das Mädchen mit der Handspanne Wois Maß genommen. Eine von ihnen erklärte, eine Hose mit Schlingelkappe beim Ledermacher besorgen zu wollen.
"Zwei!", rief Tatze. "Wir brauchen zwei, alles in gleicher Größe."
"Ich trage das nicht!", widersprach Woi ungehört.
Chapter 112. Zasi und die Messerprobe
So war es geschehen, WEIL sie es gewünscht hatte.
Der Vater hätte ihr verboten, den Fürstensohn zu dem Gefangenen zu führen. Darauf war der Vater krank geworden, lag mit fiebrigen Gliedern in seinem Bett und war kein General. Schuld hatte sie an seiner Krankheit. Um Verzeihung wollte sie ihn bitten und zu ihm gehen.
Er würde nicht verstehen wollen, dass seine eigene Tochter ihn krank gemacht hatte. 'Wie konnte sie es wollen?', würde er denken. 'Ich glaube es nicht. Ich war gut zu ihr, war ihr ein Vater, der besser nicht sein kann. Da wird sie nicht undankbar sein. Nein, ich will nicht glauben, dass sie Schuld an meinem Fieber hat.'
Er würde entscheiden, dass es eine ganz gewöhnliche Krankheit war - würde so entscheiden, um ruhig zu sein.
Von oben rief der Vater: "Bist du da, mein Kind? Kannst du kommen, Zasi?"
Und sie rief nach oben: "Ich komme, Vater! Gleich bin ich bei dir."
Warum konnte sie ihm nicht Gesundheit bringen? Es waren die bösen Dinge, die ihr in Erfüllung gingen. Schuld lud sie auf sich, die sich in ihrem Herzen schwer machte. Wusste der Vater, wie fern ihr das Mädchenleichte lag?
"Ich sehe, Za, den bleichen Blick der Mutter wieder in deinem Gesicht. Das macht mir tiefe Sorge." Der General hatte sich im Bett aufgesetzt. Nun waren die Arme und der Hals ganz nackt. Sie konnte durch seine Haut sehen, so dünn war sie.
"Vater, es ist nichts, was dich sorgen muss", beruhigte sie. Deckte ihn zu, erlaubte nur, dass eine Hand auf seiner Decke lag.
"Die Tochter ist so schön wie ihre Mutter", sagte er leise zu sich, kaum so, dass sie es hören sollte, "und hat von ihr das bedrückte Herz."
"Trägt man Schuld an allem, Vater? Auch wenn die Kräfte stärker sind und fremd, auch dann?"
"Kind, was redest du? Du bist bald eine Frau, klug und verständig. Nur deine Träume wollen es nicht glauben, denke ich, und spielen dir noch Streiche." Der Vater zeigte in einem Lächeln, wie stolz er auf sie war.
"Vater", sagte die Tochter, "ich wünschte, es wäre so, wie deine Worte sind."
"Ich will dir erzählen, welchen Traum ich hatte. Der Thron des Kaisers, gewaltig und aus dunkelstem Holz, stand in der Wüste, und niemand saß darauf. Aber der Thron war es doch, den ich als junger Mann am Hof des Kaisers sah. So stand er da, als warte er auf uns, dass wir ihn auf der Stelle besteigen und die Reise antreten mögen. Wäre das nicht schön!?"
"Ja, Vater, schön wäre das. Ich wünschte, es wäre so."
"Ganz gewiss, mein Kind, spüre ich, dass die Stunde näherrückt, in der man mich aus der Wüste abberufen wird und wir dorthin zurückkehren, wo der Regen ist und der Duft von Blumen. Stell dir nur vor, die Erde ist so fest wie Brot und der Tag hat soviele Gesichter wie ein lebendiger Mensch!"
"Wenn du nur recht hättest ..."
"Geh nun, mein Kind, und lass mich ruhen. Träumen will ich von dem Großen Thron, der in die Wüste kam, um nach uns zu sehen."
"Ja, Vater, freu dich an deinen Träumen. Ich wünsche, dass sie dir bald Gesundheit bringen und dass durch deine Hoffnung ein Wunder geschieht."
"Wünsch mir das", sagte er und schloss die Augen.
Sie deckte den Vater ganz zu, schob die Hand, die sich zitternd ein wenig wehrte, unter die Decke und fuhr über die Augenlider, die so durchscheinend waren, dass sie glaubte, die schlafenden Augen zu sehen.
"Mutter", sagte Zasi leise für sich, "der Böse da unten hat mir das Herz genommen. Was soll ich tun? Er hat alles in sein Gefängnis hinabgezogen und gibt nichts wieder her."
Nichts konnte die Mutter erwidern, aber Zasi durfte ihr alles sagen, wenn sie nur flüsterte und den Vater nicht aus dem Schlaf schreckte.
"Einen Fürstensohn, dass er mir beistehe, nahm ich mit hinunter", flüsterte Zasi. "Aber den hat er wie mich verhext. Was musste ich ihn auch gleich hinabziehen, dass nun mein Elend seinem Jammer gleicht? Wie schwer die Schuld auf meiner Seele liegt! Wie grausam quält mich, das ich wusste und geschehen ließ. Mutter, sprich von deinem Unglück, damit meines sich gegen deines wiegen lässt. Mutter, versteh für mich, dass die Fragen im Rudel die Antwort zu Tode hetzen wollen."
Ihre Hand lag auf einer Schublade, in der ihr Vater sein Messer verbarg. Dies Messer wollte sie nehmen. Wenn niemand ihr beistand, dann wollte sie selbst entschlossen sein und Furcht nicht kennen.
Vorsichtig nahm sie das Messer heraus. Zog es aus der Scheide und legte diese zurück. Es war gemacht für eine kleine Hand und fügte sich gut.
Warm lag des Messers Griff in ihrer Hand, als sie in die Kälte und die Dunkelheit hinabstieg. Sie trug es verdeckt vom Tuch vor der Brust und fasste mit der anderen Hand den kalten Lauf der Treppe.
"Was willst du?", fragte er. "Du bist zum zweiten Mal gekommen. Das machst du sonst nicht."
Hörte sie seine Angst oder seine Ahnung? Nein, er wusste nichts. Seine Stimme wartete wie immer, lauerte, sie anzuspringen.
"Sie fürchtet sich vor der Furcht", sagte er in die dunkle Hälfte seiner Zelle. "Meinst du, sie ist mutig genug für den Mut?"
"Komm her zu mir, zu den Stäben", sagte Zasi. "Komm ganz nah. Ich will dir etwas sagen. Du sollst der erste sein, der es vernimmt! Wenn es später ist, darfst du darüber sprechen."
Er trat vor sie hin, bis das Gitter und ein Handbreit Luft sie trennte. Sie erwartete, dass er die Hand hob, um sie ihr auf die Stirn zu legen, wie er es immer tat. Warum lächelte er und tat nichts wie sonst?
'Ich steche zu', dachte sie. 'Gleich ist es soweit, dass ich zusteche.'
Sie fasste das Gitter mit der freien Hand, um einen Halt zu haben für den Stoß. Und hob langsam die Hand und das Messer.
"Du hast alles gewollt. Es ist dies alles DEIN Werk", sagte er ruhig und betrachtete ohne Angst das über ihm erhobene Messer. Ruhig umfasste er ihre Hand, die für die Kraft des Stoßes das Gitter umklammert hielt.
Sie stammelte etwas. Doch die Worte fielen ihr zu Boden und zerbrachen wie dünne Vasen. Sie sah zum Messer hoch, hielt es mit dem Blick fest in der Hand.
"In der Schublade Jahre vergaß das Messer den Stoß, grübelt nun, wie es einmal war ...", sagte er und betrachtete grinsend die gekrümmte Schneide.
"Du wirst sehen, ich werde dich erstechen! Was stehst du noch? Ich kann dich erstechen, wenn ich will. Ein Fluch bist du, ein Teufel! Was du mir antust, es geht nicht mehr."
"Aber warst DU es nicht, die mich mit diesen Gittern umbaut hat? Erinnere dich: In DEINEM Wünschen war es! Ich sollte immer bei dir bleiben. Keine Frau sollte mich je sehen und sprechen als du allein." Er betrachtete voll Neugier, wielange das Messer den Arm noch würde in der Luft halten können. "IMMER FUER IMMER las ich von deinen Lippen auf, erinnere dich!"
"Das wagst zuviel!"
"Sie vergaß, dass du mein Zeuge bist", sagte er in das hälftige Zellendunkel hinein.
"Dieser da kann nicht sprechen", fauchte sie, "nicht für dich und nicht für sich! Also lass ihn aus dem Spiel. Sprich DU zu MIR!""
Der Gefangene drohte ihr. "Wünsch mich fort!", sagte er lachend. "Es ist so schnell geschehen. Mit einem Messer machst du Flecken!"
"Ich ... Flecken ... wünschen ... wie?"
"Du willst dich von mir frei machen", stellte er ruhig fest. "Du hast nichts gefunden als ein schreckliches Wissen, dass du nicht ertragen kannst."
"Ja - oder nein, ich weiß es nicht, ich ..."
"Du warst mir keine Herrin", stellte er verächtlich fest. "Wolltest besitzen und keine Herrin sein!"
"Es ist die Schuld", gestand sie leise. Sie kniete zu Boden, laut fiel das Messer. "Ich kann sie nicht tragen."
"Gut", sagte er weich, "weil ich mich an dich gewöhnt habe, werde ich dich zu meiner Dienerin machen und nehme alles von dir fort."
"Dann wird es sein wie früher!" Sie drückte die nass geschwitzte Stirn gegen das kühle Gitter.
"Nicht ganz - aber es wird ihm ähnlich sein."
"Ich tue alles, was ihr verlangt." Das Gitter war glatt, die Bodensteine schwitzten kühl.
"Alles?"
"Alles!"
"Auch eine Probe?"
Sie nickte und wusste, dass er grausam sein würde. Die Grausamkeit, die von außen kam, würde sie ertragen, wenn sie sich nur den Platz nicht in ihr suchte.
"Nimm das Messer auf!"
Sie kniete und suchte nach dem Messer, bis sie seinen Griff berührte.
"Fass es an!"
Sie sah fragend zu ihm auf.
"Nicht so, anders herum! Den Schaft fass an! Das Scharfe, halt es fest, so!"
Sie tat, wie er ihr geheißen hatte. Das Messer war scharf, aber es schnitt nicht.
"Halt die Schneide fest, ganz fest! Jetzt reich mir den Griff."
Sie hielt ihm den Griff durch die Gitterstäbe hin. Langsam und ohne sich zu unterbrechen, zog er das Messer aus ihrer Hand, welche die Schneide fest umschlossen hielt. Sie spürte keinen Schmerz. Die Hand fühlte sich feucht an, als das Messer entglitten war. Der Schnitt war warm und hatte nichts Schlimmes an sich.
Lange betrachtete er das blutige Messer. Hielt es hoch, als müsse er sich überzeugen. Wo sich Tropfen gebildet hatten, verstrich er das Blut, bis alles darauf schwärzlich getrocknet war.
Sie hielt sich die Hand vor die Brust. Gleich, wenn sie allein war, würde sie die Wunde waschen und pflegen, doch jetzt und vor seinem Gesicht war es keinen Gedanken wert. Dankbar stellte sie fest, dass die Schuld in ihrem Kopf in der Hitze seiner Augen zu schmelzen begann.
"Sie wollte ihr Glück nicht teilen", sprach er in die dunkle Hälfte der Zelle hinein, "obwohl sie es allein nicht tragen konnte."
Sie hielt ihm ihre Hand hin, als sei ihm das Blut darauf geschenkt. Als könne er es nehmen und über die Erinnerung bestimmen.
"Sie will mein Geschenk zurückgeben", sagte er zu dem anderen.
"Nein, nein", beeilte sie sich zu sagen und zog ihre Hand zurück. "Es war nicht das!"
"Sie will mein Geschenk NICHT zurückgeben", sagte er zu dem anderen.
"Meinst du, er erträgt die Freiheit besser als ich?", fragte er sie und deutete auf das Dunkle neben ihm.
"Natürlich", setzte er seinen Gedanken fort, "gebe ich ihm seine Rede zurück. Jetzt nicht, aber draußen, wird er zur Sprache kommen."
"Darf ich das Messer haben?", flüsterte sie.
"Für die andere Hand?", machte er sich lustig.
"Ich muss es zurücklegen", flüsterte sie, "weil ich seine Tochter bin." Flehentlich sah sie zu ihm auf und war für immer lippentot.
"Geh jetzt", sagte er rauh und warf ihr das Messer zwischen den Stäben hindurch auf den Boden. "Du warst im zweiten Teil recht tapfer."
Chapter 113. Das Testament des Kaisers
Woi ging etwas breitbeinig an den Wachen vorbei. Unter seinen Sachen trug er eine zweite Garnitur Kleidung, die für Az bestimmt war. Unter dem Gürtel seiner Hose trug er die Schlingelkappe, die ihm Tatzes Mädchen besorgt hatte. Obwohl er eine Entdeckung nicht zu fürchten brauchte, sah er immer wieder hin, ob sie ihm im Gehen nicht verrutscht war.
Das Mädchen blinzelte gegen die Sonne und hielt den Türrahmen gefasst. Ernst und ungeduldig warteten ihre Blicke, dass der Fürstensohn endlich zu ihr ins Haus kam. Vom Fieber gerötet waren ihre Augen. Eine innere Hitze hatte das Blut in ihre Wangen gedrückt.
"ER will dich sehen", sagt sie leise, als er vor ihr stand.
"Wer? Der oben oder der unten?"
"Es ist keine Zeit für Scherze", sagt sie streng und drehte ihr Gesicht mit einem Ruck aus der Sonne.
Ihre Stimme hatte sich verändert, fand Woi. Sie klang nun ein wenig hohl, wie die des Gefangenen. Nur mit großer Anstrengung schien sie sich aufrecht halten zu können. Langsam wie eine Sonnenverwirrte ging sie zu einem Stuhl und setzte sich.
'Das Mädchen kann froh sein', dachte Woi, 'wenn ich sie von ihrem Grottenmann befreie.'
Von oben rief der Vater General ihren Namen.
Ihr Blick hetzte zwischen Treppe und Kellertür hin und her. "Still, Vater, ich kann jetzt nicht. Es ist der Gast. Er ist gekommen, unser Gast!", rief sie hoch.
"Dann ist es gut", antwortete ihr der Vater. "Sei recht artig zu ihm, wie es sich schickt."
"Ja, Vater", rief sie zurück. "Alles so, wie du es sagst."
Als sie gehorcht hatte, ob er Ruhe gab, schlich sie zu einem Schrank, schob leise eine Schublade auf und griff einen Schlüssel heraus, der ihr aus der zittrigen Hand fiel. Voller Angst sah sie zur Treppe hinauf und wagte nicht, den Schlüssel aufzuheben.
"Was war das Geräusch?", rief der Vater fragend herunter.
"Es war ... ein Glas ist mir verrutscht. Ich stell es wieder hin."
"Kind, sei vorsichtig mit den Dingen, spiel nicht damit!"
"Ja, Vater! Nein, Vater!"
Woi hob den Schlüssel geräuschlos auf und reichte ihn ihr. Als sie sah, dass er beim Bücken ihre bandagierte Hand bemerkte, rötete sich das Weiß in ihren Augen.
Mit der zittrigen, unbandagierten Hand schloss sie den Keller auf, stellt sie sich dabei so ungeschickt an, dass Woi Angst hatte, sie würde den Schlüssel ein zweites Mal fallen lassen.
Da sie schwankend auf die Treppe treten wollte, um in das Dunkle des Kellers einzutauchen, fasste Woi sie an der Schulter und führte sie zu einem der kleinen Stühle zurück. Er wies sie an, dort auf ihn zu warten und ihrem Vater immer auf sein Zurufen zu antworten.
Aber sie war wie ein Reh, das nichts verstand, nur wehrlos war. Mit dem Körper blieb sie sitzen, während die Augen im Zimmer umherjagten, als suchten sie fliehend einen Ausweg.
Allein betrat Woi die Treppe. Lehnte die Tür hinter sich an, dass ein kleiner Spalt Licht von oben ihm nachstieg.
"Ich warte schon", sagte ungeduldig der Gefangene, dem sie den Namen 'Az' gegeben hatte. Er hatte gesehen, wie Woi sich eine Macht über das Mädchen angemaßt hatte, aber er sagte nichts. Er nahm sich vor, dass seine Macht über das Mädchen so groß sein sollte, dass sie nichts tat, was von einem anderen kam. Doch dazu brauchte es Zeit. Er war noch nicht so weit mit ihr.
"Folgendes ist mein Plan", sagte Woi, als er so dicht vor dem Gefangenen stand, dass er ihn riechen konnte. "Sie machen sich im Äußeren mir ähnlich, so gut es geht, und ziehen diese Sachen an, die ich trage. Außerdem gehen sie hinkend, damit die Wachen den Gang nicht unterscheiden können."
Woi machte ihm das Hinken einmal vor und begann, sich auszuziehen. Als er bis auf seine eigenen Kleider alles ausgezogen hatte, schob er den Stapel der Kleider durch die Gitter.
Az nahm die Kleider entgegen und warf sie allesamt in den dunklen Teil der Zelle.
"Damit die Blicke der Wachen vom Gesicht abgelenkt sind", erklärte Woi weiter, "tragen sie auch dieses - eh - Teil." Er gab Az die Schlingelkappe, welche dieser sich über den Daumen zog.
"Nicht darüber", belehrte ihn Woi, "über den gewissen Schlingel, der in der Hose ist, wird sie gezogen.
"Da muss er aber noch wachsen", sagte Az und warf die Schlingekappe über seinen Rücken.
"Wenn ich morgen komme, gehen sie vor dem Wachwechsel raus und ich danach", erklärte Woi. "Einer geht rein, zwei gehen raus. Die Wachsoldaten werden nur auf dieses Dingsda schauen und ihre Späße machen. Da wird der Gesichtsunterschied nicht auffallen. Wie gefällt ihnen mein Plan?"
"Der Plan ist gut, nur eines ... nicht ich gehe, sondern ER!", warf Az ein.
"Wer?", fragte Woi verdutzt.
"Na, DIESER!", stieß Az ärgerlich aus und zeigte auf einen jungen Mann, welcher im Augenblick aus der abgetrennten Zellenhälfte getreten war. Er trug Wois Kleidungsstücke unter dem Arm und hielt die Schlingelkappe unschlüssig in der Hand.
"Wer ist das?", fragte Woi. Er hatte sich an Az gewandt, als sei der junge Mann seine Erfindung und könne nicht für sich selbst sprechen.
"Das ist der, den ihr befreien sollt", erklärte Az spöttisch, "der Sohn, den Tesla mit dem Kaiser hat."
"Und wer sind dann SIE?"
"Ich weiß nicht, wer ich bin", sagte Az und hob die Arme. "Wenn ich es nicht weiß, dann weiß es niemand. Nicht wahr, das ist doch anzunehmen!?"
Woi nickte, obwohl das wieder ein furchtbarer Unsinn war. Er überlegte und betrachtete den jungen Mann.
"Kann er sprechen?", fragte er.
"Ich gebe ihm alles mit auf die Reise, was er braucht", sagte Az gönnerisch. "Hier drinnen spricht er nicht, aber draußen, keine Sorge, wird er sprechen."
"Und sie wollen nicht mitgehen?", fragte Woi erstaunt.
"Warum sollte ich?", fragte Az. "Ich habe hier alle Freiheit, die ich brauche, und ein wenig mehr Licht, als ich vertragen kann."
"Und das ist kein Trick?", fragte Woi und sah ihn durchdringend an. Der Teil des Gesichtes, den sein Bart nicht verdeckte, schien es ehrlich zu meinen. Außerdem war Az eher eine Verrücktheit zuzutrauen als ein naheliegender Gedanke!
"Aber mein Plan bleibt?", fragte Woi.
"Es ist ein guter Plan", lobte Az.
"Dann machen wir alles, wie ich gesagt habe?"
"Das ist versprochen, Ehrenwort!". Az zögerte nicht, sich von seiner ritterlichen Seite zu zeigen. Er winkte sogar, als Woi die Treppe hochstieg.
Dieser atmete kräftig durch, als er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Aus dem Zimmer des Generals hörte er in Paaren dahinziehende Schnarchgeräusche. Die Tochter Zasi saß immer noch in ihrem Stuhl. Die bandagierte Hand hatte sie auf dem Schoß liegen und wartete, dass Woi zu ihr trat.
"Er hat mich einer Probe für würdig erachtet", sagte sie und zeigte mit einem tapferen Lächeln ihre verbundene Hand. "Da ich die Probe bestanden habe, darf ich mich seine Dienerin nennen."
"Das würde mich stolz machen", sagte Woi knapp.
"Hier sehen sie, was ich litt." In lockigen Wellen hatte sie begonnen, den Verband abzuwickeln.
Er versuchte, sie aufzuhalten: "Es ist eine Sache zwischen ihnen beiden, da will ich nicht zudringlich sein!"
"Hier sehen sie! Das dürfen sie berühren."
Durfte Woi ihr die Berührung verweigern? Wenn er nicht wollte, dass sie sich dem Weinen überließ und ihren Vater weckte, dann durfte er seine Hand nicht zurückziehen.
"Es tut gut, dass sich jemand liebend kümmert", sagte sie dankbar und schloß die Augen vor Behagen.
"Ich tu ein wenig geschmeidige Salbe drauf. Es wird dann nicht so schmerzen."
Woi sprach sanft auf sie ein, sah in ihre Augen, die ihn nicht scheuten. Es war, als wiege sie ihren Kopf zur Bewegung seiner Hände, die behutsam die Salbe verstrichen.
"Wussten sie, dass DER ANDERE mitgehen soll?", fragte Woi leise und ohne Vorwurf.
"Dachtet ihr, ich würde AZ gehen lassen? Das konntet ihr nicht denken! IHN lasse ich nicht fort! Ihr wisst es und fragt nur so im Spaß."
War die Bewegung ihres Kopfes ein Nicken oder das Werk seiner vorsichtigen Wundpflege? Er hätte es nicht sagen, und es war nicht wichtig.
"Denken sie an etwas", schlug er vor, "an etwas Schönes ... an ein Feld, das sie zum ersten Mal betreten. Es ist weich und schöner als jede Erinnerung. Die Blumenkelche wippen unter der Last der Bienen, die sich kopfüber in den Honig gestürzt haben. Kenne sie das Wiegenlied des Windes? Es handelt von einem Baum, einem alten Hagestolz, dem der Wind ein Wolkenkleid schenkt."
"Sie sind ein Heiler. Ich wusste das nicht. Und sie sprechen schön mit Worten", lobte ihn die Tochter und überließ ihm willenlos die Wunde.
Nach einer Zeit der Pflege sagte Woi: "Da ich die Zeit vergaß, muss ich nun eilig gehn. Ich sehe, dass gerade die Wache gewechselt hat. Mit der will, ja, muss ich hinaus." Die Hand schien ausreichend versorgt zu sein, und Woi wollte nicht, dass Zasi vergaß, wer ihr die Wunde erstlich zugefügt hatte.
"Schade", flüsterte die Tochter. "Jetzt weiß ich nicht, ob die Wolken den Hagestolz kleiden."
"Die Wolken sind müde und halten einen kleinen Schlaf. Wollen wir sie stören, um ihnen Fragen zu stellen?"
"Und der Wind?"
"Der ist schon fort."
"Aber die Wolken - er vergaß die Wolken!"
"Da kommt ein anderer Wind, der sie dann findet und wieder auf die Hörner nimmt."
Chapter 114. Der Plan wird ausgeführt
Die beiden Wachen standen starrend stumm, als sie Woi kommen sahen. Es war ihnen nicht leicht zu glauben, was sie sahen. Eine lange Wache in der Hitze lag hinter ihnen. Da wagten sich die Trugbilder manches Mal weit vor.
Der eine von ihnen war etwas krumm. Ihm hing ihm die Unterlippe herunter, wenn er nicht einen Finger darauf legte. Der andere war stockgerade und besaß grüblerisch dichte Augenbrauen. Obwohl eigentlich älter, war er der Nachuntere.
"Siehst du das, was ich meine, auch?", fragte der Krumme.
"Ja", antwortete der Steife, "du meinst, was er trägt."
"Wollen wir ihn fragen, wofür es ist?"
"Meinst du, er spricht darüber?"
"Weiß ich nicht, aber ich frag' ihn."
Als Woi noch nicht vor ihnen stand, rief er: "Was trägst du für ein Ding auf der Hose?"
Woi strich mit der Hand über die Lederkappe, weil ihm recht sein sollte, wenn sie ihren Spaß darüber machten. Sie war nur aufgenäht, das gab ihm ein sicheres Gefühl.
"Siehst du, er redet nicht über sein Ding."
"Ich weiß auch so, was es ist", sagte der Krumme, "es ist eine Glöcknerhose, haha, bim bam, bim bam!"
"Mit eingelegter Gurke, quetsch ziep, quetsch ziep."
"Es ist eine Sitte in meinem Land", erklärte Woi nachsichtig.
Der Krumme bog sich, der Steife taumelte vor Lachen.
"Im Land der roten Nasen, da ist es Sitte!"
"Bei den Einaugen ist es Sitte, jaja!"
"Sie ziehen in die Schlacht gegeneinander."
"... mit Piken und Nägeln, hö!"
"... mit Fahne und Fanfare, hä!"
"Habt ihr euch jetzt beruhigt?", fragte Woi sie.
"Ein bisschen noch", bettelte der Krumme.
"Kann er denn auf und ab, wie ein Fingerfinger?"
"Oder ist er hart wie Tropfsteinstein?"
"Darf ich mal fühlen?", fragte der Steife.
"Nein", sagte Woi, "fühlen darf keiner!"
"Vielleicht ist die Schnecke nicht zu Hause?"
"Die Tropfsteinhöhle ist verlassen!"
"Ist sie nicht!", sagte Woi und hieb dem Krummen auf den frechen Finger.
Der jaulte auf. "Was hat er bloß, der stolze Ritterritter?"
"Du, ich glaub', es ist nicht für uns. Wird sein für's Töchterchen, das wett' ich. Bringt ihr was Landessittliches mit, aufrecht und zum Stehfest - was sagte ich? - zum Richtfest natürlich, tumdiddeldum!"
"Und sie nimmt einen Ring und zieht ihn mittendurch zur Treue, auwehjejuha!"
"Jetzt lasst es gut und macht mir das Tor auf", verlangte Woi freundlich.
Da sie ihm eigentlich nicht übel gesonnen waren und dankbar für die Unterhaltung, gab ihm der Krumme einen freundschaftlichen Schlag auf die Schulter, und der Steife schob das Tor für ihn auf.
Wie Woi es sich ausgedacht hatte, zog er das Bein ein wenig nach, damit es dem Gefangenen leichter war, seinen Gang nachzuahmen. Das wiederum entzückte die beiden Wachen aufs Neue.
"Was hat er denn, der Zipfelritter?"
"Kommt gradewegs, das sag ich dir, aus einer Schlacht mit 'ner Empörten, die sein Anspiel nicht zurückgespielt hat und am zweiten für das dritte Bein ihm riss!"
"Der Ehemann hat ihn verfehlt, aber die Frau traf ihn mit dem Eisen gut!"
Woi brachte sie noch einmal zum Gröhlen, indem er seine Kappe verschob, als zwicke es ihn dort.
Vom oberen Fenster winkte ihm der General in einem Nachthemd zu. Ihn kümmerte nicht, dass die Soldaten ihn so sahen. Was war wichtiger, als dass seine Tochter schlief? Was war wichtiger, als dass niemand sie weckte? Das Soldatische lag auf der anderen Seite des Zaunes und hatte sein Recht verloren.
In einem Stuhl schlief die Tochter. Als Woi sich zu ihr herabbeugte, um sie vorsichtig zu wecken, schlang sie schnell ihre Arme um seinen Nacken und zog ihn zu ihrem Flüstern herab: "Geht schnell hinauf! Lasst den Vater erzählen, bis er müde wird. Ich öffne die Zelle und lass den anderen hinaus. Heute MUSS es sein, denn morgen ist der Vater gesund, und alles wird nicht möglich sein, was ihr plant!"
War es ein Kuss, den sie ihm gegeben hatte? Doch das Gesicht schlief wieder und ließ ihn antwortlos.
"Sie schläft", flüsterte der General von oben, wo er auf der Treppe stand und in einem weißen, fußlangen Kleid zitterte.
"Ja", sagte Woi und trat vorsichtig über ihre Beine und berührte, ohne es zu wollen, ihre Hand. Oder war sie es, die IHN berührt hatte? Nichts in ihrem Gesicht gab eine Antwort. Alles gehörte dem Schlaf.
Leise schlich Woi sich die Treppe hinauf und knarrte gehörig. Oben im Zimmer des Generals angekommen, sah er den General und sein Schlottern schon im Bett liegen.
"Ich sollte vielleicht nicht ...", sagte der kranke Mann.
"Nein", sagte Woi, "besser nicht ..."
"Ich wollte nicht, dass jemand ihren Schlaf stört."
Woi musste sich auf das Bett setzen und ihm zuhören. "Ich sehe, dass ihr denkt: Was kann denn dieser alte Mann mir jungen Mann schon sagen? So denkt ihr, das weiß ich, dafür bin ich alt genug." Unter der Decke des Generals hob sich rechthabend und warnend ein Finger.
"Nein, so habe ich nicht gedacht", sagte Woi, weil er an seinen Plan gedacht hatte.
Der General dachte, dass der Fürstensohn gleich 'Wirklich nicht!' sagen würde.
"Wirklich nicht!", sagte Woi und wunderte sich über das Lächeln, welches vom Gesicht des Generals über seine Decke glitt.
"Eigentlich", begann der General, "ist es ein Geheimnis, und ich müsste schweigen, aber morgen wird ein Oberst kommen mit Soldaten. Dann wird es kein Geheimnis mehr sein. Also kann ich auch heute darüber sprechen."
Woi beobachtete die Hand des alten Mannes, die nicht wusste, ob sie die Kälte spüren oder sich tot stellen sollte. Sie lag auf der Decke, als habe sie dort jemand liegenlassen, der ohne diese Hand aufgestanden und fortgegangen war. Vielleicht suchte er sie jetzt, während sie auf der Decke lag und wartete, dass es Abend wurde.
"Unten", setzte der General fort, "unter dem Boden, wo der Keller ist, verbirgt sich ein Geheimnis in der Gestalt eines jungen Mannes."
"Hmm", sagte Woi und hoffte, dass das Geheimnis die Wachsoldaten bereits passiert hatte und vom Zwerg und dem Narbigen in Empfang genommen worden war.
"Ich seh, sie denken, ein Kerker halt, nichts, was in einer Garnison ungewöhnlich wäre."
Woi dachte, dass es langsam Zeit wurde, an den Wachwechsel zu denken, wenn er dem Oberst und seinen Soldaten nicht in die Hände laufen wollte.
"Dort in unserem Kerker befindet sich der einzige Sohn des Kaisers - ja, sie hören richtig! Mit der ersten Kaiserin hat er zwei Töchter, aber mit einer Frau, welche sich der Kaiser für die Liebe ausgesucht hat, hat er den einzigen Sohn."
Zitternd legte sich die zweite Hand des Mannes auf die Decke, worauf die erste, als müsse ihr alles alleine gehören, verschwand.
"Die Liebe durfte nicht sein und dieser Sohn viel weniger. Der Kaiser bat nur, als der Sohn geboren war, dass man ihn nicht töten möge. Dies wurde ihm zugestanden. Aber der Sohn, der nicht getötet werden durfte, wurde hierher in den Kerker dieser Garnison verbracht. Das ist lange her. Unter meinem Vorgänger wuchs das Kind richtig wie ein Knabe auf. Darum ließ man ihn ablösen, den guten, denn das war er, ein guter Mensch und lieber General, der Treufuß."
"Er war ein Freund meines Vaters", warf Woi ein und fragte sogleich: "Hat der General Treufuß auch einen eigenen Sohn?"
"Nein, aber das war es wohl, was der Alte in ihm sah, seinen eigenen Sohn."
Woi erinnerte sich an den Besuch des alten Treufuß, an den Jungen, der bei seinem Besuch so seltsame Fragen gestellt hatte. In der Dunkelheit des Kerkers hatte er ihn nicht wiedererkannt.
"Und er ist ganz alleine dort unten, das muss schrecklich sein?", fragte er scheinheilig, damit das Gespräch etwas abwarf, das er noch nicht wusste.
"Nicht allein", erwiderte der General, "nein, nicht allein."
"Wer ist denn bei ihm, ein zweite Gefangener?", fragte Woi.
"Schrecklich rief der Junge in der ersten Zeit nach Treufuß, weinte in einem fort und wurde schließlich so krank, dass ich das Allerschlimmste fürchten musste. Als der Arzt - es gibt nur einen hier - den Jungen aufgegeben hatte, holte ich die Hilfe einer Frau, wohl einer bösen Frau. Ihren Namen hatte ich von einem Soldaten, der eine Schwester hatte, die wunderlich geworden war und nun verständlich sprach. Die Frau kam und besah sich den Kranken. Schickte alle fort. Ich weiß noch, dass sie mir die Seele aus dem Körper sah, denn wie manche Echsentiere brauchte sie die Lider nicht zu bewegen. Was der Preis für ein Menschenleben sei, fragte sie. Ich nannte eine Summe Gold. Ein anderes Menschenleben sei der Preis, antwortete sie verächtlich. Sie nannnte mir einen Namen. Ich ließ den Mann töten. Er war ein rechtschaffener Bürger, und es war eine gemeine und feige Tat. Am nächsten Tag stand ein junger Mann am Tor und verlangte, mich zu sprechen. Eilig ließ ich ihn ein. Ich wusste nicht, wer er war, und weiß es heute ebensowenig wie damals. Von gleichem Alter war er wie der kranke Kaiser, aber seine Augen waren leer, als habe das Leben niemanden darin angetroffen und sei wieder gegangen. Ich war froh, als er im Kerker bei dem Kaisersohn verschwunden war, schickte mein Mädchen zu ihnen, weil mich die Angst hatte und immer noch hat, wegen dem, was ich tat, war es auch nur, um ein Leben zu retten, denn das Leben des Jungen wurde gerettet, wie die Frau es versprochen hatte ... aber darf ich jemanden töten lassen, den ich nicht kenne, für das Leben von einem, den ich kenne, darf ich das?"
"Ich glaube, man muss es abwägen", sagte Woi.
Der General atmete tief seufzend aus und ein. Dann schlug er die Augen zu und begann ruhig zu atmen. Schließlich wurde seine Gesichthaut glatt und sein Atem flach.
Als Woi sich bereits leise erhoben hatte, sagte der General: "Ich habe nicht gedacht, dass wirklich jemand dies Ding trägt."
"Ich trage es nur dies eine Mal", sagte Woi und sah an sich zu seiner Schlingelkappe herunter.
Der General nickte zufrieden und kreuzte die Hände über seinen Lenden.
Chapter 115. Aufbruch mit Asari
"Wir haben schon auf dich gewartet", sagte Tatze. "Sie sind alle sehr aufgeregt, weil dieser Teslasohn129 gekommen ist."
Woi erwiderte nichts. Er war mit einem Mal traurig um das Ende seines Abenteuers. Die Drachenzähne würden alle in die Kaiserstadt zurückkehren wollen. Zur Befreiung hatten sie ihn gebraucht. Im weiteren brauchten sie keine Hilfe. Woi blieb nichts als die Rückkehr zu seinem Vater.
Im großen Raum saßen alle um einen leeren Tisch. Niemand sagte ein Wort, als hätte auch sie der Trennungsschmerz befallen. Wenn Woi sie recht kannte, dann fehlte ihnen vielleicht nur der Wein und die Geselligkeit. Vielleicht bedauerten sie, dass die Arbeit mit den Mädchen zu Ende ging.
"Wo ist der Gefangene?", fragte Woi. Tatze deutete mit dem Finger nach oben.
"Er ist allein?"
Tatze nickte.
"Wo sind die Mädchen?"
"Wir waren baden ... Keschal hat sie fortgeschickt, als er kam." Es musste schnell gegangen sein, denn Schädel hatte keine Schuhe an. Mürrisch schnitzte der Narbige an einem Stück Seife, während der Zwerg sich mit dem Rocksaum die nassen Haare trocknete.
"Ich gehe hoch", sagte Woi.
Die Drachenzähne machten ernste Gesichter, als er das angekündigt hatte. Dann ließen sie wieder die Köpfe hängen. Die Trauer über den Verlust der Arbeit mit den Mädchen war darin, aber auch etwas Neues.
"Er sagt nichts", sagte der Zwerg.
"Kein Wort", ergänzte Schädel.
"Nee", sagte Tatze, "wirklich nicht ein einziges."
Aber Woi ließ sich nicht abhalten und stieg vorsichtig die schwächelnde Leiter empor zur Luke des Speichers. Dort saß der junge Mann mit dem Rücken zur Tür und schien nichts und niemanden bemerken zu wollen.
Eine Spinne hatte in seinem Haar ein Netz begonnen und ließ sich auf die Schulter herabfallen. Auf den Ziegeln des Daches liefen unentwegt die Ratten. Hinter Woi betraten die Drachenzähne einer nach dem anderen und sehr leise den Speicherraum.
Ohne Zögern setzte sich Woi vor dem jungen Mann hin und achtete nicht darauf, wie schmutzig der Boden war. Er versuchte dem anderen in die Augen zu sehen, doch dieser sah nicht auf und schien sich an seiner neuen Freiheit nicht freuen zu können.
"Seht ihr", flüsterte Schädel, "zu keinem spricht er."
"Schscht", zischte Tatze, "lass den Fürstensohn mal machen."
Alle waren still, sehr still, nur die Ratten nicht. Der junge Mann hatte die Drachenzähne mit seiner Stimmung angesteckt. Es war unmöglich, seiner Bedrückung etwas entgegenzusetzen. Selbst Tatze, dem nichts Trauriges eingefallen war, fühlte sich, als sitze er in einem Nebel.
"Wir kennen uns", sagte Woi.
Der junge Mann sah auf. In seinen Augen war er nicht traurig, stellte Woi fest. Es waren große Augen mit viel Weiß, eigentlich offene Augen, die aber nicht festhielten, was sie sahen.
"Als Kinder waren wir im Wald", sagte Woi. "Medith, unser Oberer, und Treufuß, dein General, waren zusammen, und wir beide. Ich habe dir von meiner Bande erzählt. Du hast Fragen gestellt, auf die ich keine Antwort wusste."
"Ja ...", sagte der junge Mann zögernd.
Woi konnte das Erinnern auf seinem Gesicht ablesen, aber ebenso das Auseinanderfließen, das folgte.
"Er hat etwas gesagt", flüsterte Tatze.
Die anderen wussten nicht, ob sie das gelten lassen sollten. Wie sie es verstanden, war es kein richtiges Sprechen gewesen.
"Wir müssen fort", sagte Woi, und immerhin horchten die Drachenzähne auf. "Es kommen Soldaten. Morgen sollen sie eintreffen."
"Gibt es ein Wohin?", fragte der junge Mann. Es war eine Frage, in der sich jede Richtung aufhob, sobald sie ausgesprochen war. Die Drachenzähne zuckten zusammen. Selbst Schädel erschrak ins Mark.
"In die Kaiserstadt! Wollen sie nicht mit?", fragte Woi, der sich nun erinnerte, wie wenig Interesse der junge Mann seinem Wald entgegengebracht hatte.
"ER hat gesagt, dass ich mitgehen soll", murmelte der junge Mann.
"Was hat wer gesagt?", fragte Tatze und begann sich an seinem Hinterkopf zu kratzen.
"Da war noch einer", erklärte Woi.
"Ach so", brummte Tatze und war froh, dass die anderen auch nichts verstanden hatten. Sonst, wenn er fragte, hatten sie so einen Spott unter den Augen. Aber heute irgendwie nicht.
"Ich heiße Asari", sagte der junge Mann. "Jedenfalls sagte Treufuß, dass ich so heiße." Die Ratten rannten ohne Pause über seinem Kopf hin und her.
"Wir sind die 'Drachenzähne'!", sagte Tazte und schlug sich auf die Brust.
"Seid ihr Wois Bande?", fragte Asari und brachte alle außer Woi zum Lachen.
"Meine Bande war nur in der Einbildung", sagte Woi leise und wurde rot.
"Und wir sind ja WIRKLICH!", rief Tatze und sah die anderen an.
"Wir Drachenzähne haben einen Vater vom Kaiserhof und eine Mutter aus der Nachtstadt", erklärte Schädel behutsam.
"Ja ... so ... genau", pflichtete Tatze ihm bei.
"Ich habe keinen Vater und keine Mutter, eben nur Treufuß und später Az", sagte Asari traurig.
"Doch, doch", rief Tatze und hieb ihm zweimal auf den Rücken, "Tesla ist deine Mutter, und dein Vater ist der gestorbene Kaiser!"
"Wenn sie gesagt hat, dass sie meine Mutter ist, dann nur, weil sie mich nicht kennt", sagte Asari und schüttelte den Kopf.
Niemand sagte etwas, nicht einmal Schädel.
'Oh nein', dachte Woi und stöhnte innerlich auf, 'alles bei ihm wie früher!'
Die Drachenzähne grübelten. Schädel fand, das etwas lustig an dem jungen Mann war, nur kam er nicht drauf. Der Zwerg fragte sich, wie Tesla diesen Jungen aufnehmen würde. Der Narbige glaubte auch nicht daran, dass er einen Vater und eine Mutter hatte, oder jedenfalls wollte er nicht wissen, wer sie waren.
"Er ist ja nun befreit", sagte Woi. "Also werde ich euch noch ein Stück begleiten und nehme dann den Weg zum Hof meines Vaters."
Alle Drachenzähne waren traurig, selbst Schädel, weil es ohne den Fürstensohn langweilig werden würde. Außerdem konnte Woi diesen Asari zum Sprechen bringen. Die Sachen, die er von sich gab, waren lustig und traurig zugleich, wie man es sich aussuchte.
"Nein", sagte Asari. "Ich bin nicht befreit!" Die Spinne zitterte in ihrem Netz, als er den Kopf schüttelte.
"Wenn er es sagt ..." Tatze meinte jedenfalls , dass Woi dann mitkommen musste.
Der Narbige fand, dass es doch nicht besser wurde, wie er erst gedacht hatte. Der Junge war zu lange im Kerker gewesen. Sie würden wohl noch warten müssen.
"Ist er NICHT befreit?", fragte Woi ärgerlich in den Kreis.
"Er meint, wir sollen es sehen, wie er es sieht!", hielt ihm Tatze entgegen.
Zu seiner großen Überraschung nickte Asari nachdrücklich. "IHR wolltet doch, dass ich Kaiser werde. Jetzt könnt ihr nicht einfach so tun, als hätte ICH es gewollt."
Woi schluckte. Der Junge hatte sich in nichts verändert! Auch wenn Woi nichts lieber getan hätte, als ihm aus dem Weg zu gehen, so konnte er die Drachenzähne nicht schutzlos zurücklassen.
"Ich möchte zu Treufuß", sagte der junge Mann.
"Wie?", fragte Woi und starrte die Spinne an.
"Hmm", brummte der Narbige und fand, dass es doch besser wurde. Die anderen verstanden nicht, wie es war, wenn einer aus einem Kerker kam. Es ist, als sei nur die Hülle von einem draußen. Als wäre die ganze Kraft, selbst die Traurigkeit, dort zurückgeblieben. Das konnte niemand wissen, der es nicht erlebt hatte.
"Ich will zu Treufuß", wiederholte der junge Mann. "Wir besuchen ihn. Ihr werdet ihn mögen. Er ist ein guter Mensch!"
"Was spricht dagegen?", fragte Tatze herausfordernd. Schließlich hatten sie ihn befreit, da mussten sie auch zu ihm halten. Das war doch zu verstehen!?
"Der Oberst und seine Soldaten werden uns folgen", gab Woi zu bedenken. "Vielleicht haben sie denselben Gedanken wie wir."
"Können wir doch machen", wischte der Zwerg Wois Einwand fort, "liegt doch auf dem Weg ..."
"Aber wir müssen unbedingt vorsichtig sein!", sagte Woi.
Die Drachenzähne nickten mit einem Kopf. Vorsichtig waren sie immer. Das war allemal besser, als traurig zu sein.
Chapter 116. Asari vom Verlieben
Als sie schweigend beieinander saßen und warteten, dass jemand etwas sagte, klopfte es laut an der Tür. Ehe einer aufstehen konnte, stand Keschal mitten in ihrem Kreis.
"Es sind Soldaten gekommen!", berichtete sie außer Atem. "Solche, wie wir sie hier nicht kennen. Sie haben ganz andere Uniformen und Lanzen mit einem Wimpel. Die Leute sagen, es seien Kaisersoldaten."
"Das ist schnell gegangen", sagte Woi. "Der General hat von ihnen gesprochen, aber ich habe nicht gedacht, dass sie heute noch eintreffen."
"Es ist wegen ihm, nicht wahr!", sagte Keschal und zeigte auf Asari, den sie nicht angesehen hatte, weil sie nicht wusste, wie sie ihn anreden sollte.
"Es wird eng", der Zwerg sah sich um. "Wir müssen heute noch aufbrechen."
"Aber nicht jetzt", wehrte Keschal ab. "Die Stadt ist noch voll von Menschen. Es würde zuviel Aufsehen machen."
"Wenn wir sowieso warten, dann können wir ja auch noch ein bisschen baden", schlug Schädel vor.
"Nein", sagte Keschal fest. "Ich habe den Mädchen gesagt, dass es nichts mehr zu tun gibt."
Keinem der Drachenzähne gelang es angemessen, seine Enttäuschung zu verbergen.
"Gut, ich schicke sie", sagte Keschal nachgebend, "aber nur für einen Abschied ..."
Sie rief die Mädchen, die draußen im Gang gestanden hatten, mit strenger Stimme herein. Jede von ihnen drückte ihrem Drachenzahn einen Kuss auf die Lippen. Dabei vergaß keine von ihnen, einen neugierigen Blick auf den seltsamen jungen Mann zu werfen.
"Sind sie verliebt?", fragte Asari den neben ihm sitzenden Woi so leise, dass jeder es hören konnte.
Die Mädchen kicherten, und Schädel wurde über den ganzen Kopf rot. Es gelang ihm nicht, etwas zu sagen, obwohl er die Lippen bewegte.
"Nein, sie sind nicht verliebt", sagte Woi belustigt. "Sie sind sich gegenseitig zur Hand gegangen. Das ist alles."
Tatze setzte sich sein Mädchen richtig auf den Schoß, während der Narbige seinem Mädchen das Seifenstück überreichte, an dem er geschnitzt hatte.
Weil Woi sah, dass Asari nichts verstand, erklärte er weiter: "Manche Dinge gehen zu zweit eben besser geht. Kann du dir ja vorstellen: Die Mädchen haben ihnen alles gezeigt, und die Drachenzähnen haben angefasst -"
"... eh, wir wollen das nicht vertiefen", unterbrach ihn Keschal, weil die Drachenzähne Blicke mit ihren Mädchen austauschten und sie tatenlos dem Treiben der Rückbesinnung zusehen musste.
Währenddessen dachte Asari bei sich: 'Ich werde mich verlieben.' Immer wieder sagte er sich die Worte in seinem Kopf vor: 'Ich werde mich verlieben. Ich darf nicht vergessen, dass ich mich verlieben werde. Es ist nicht schwer, sich zu verlieben. Ich schaffe es ganz bestimmt!'
"Bist du schon einmal verliebt gewesen?", fragte er Woi.
Alle anderen waren plötzlich ganz still und zählten drei schnelle Atemzüge von Woi. Als erster prustete Tatze los, dann alle anderen, helle Stimmen und dunkle durcheinander. Nur Woi lachte nicht, weil er dunkelrot im Gesicht geworden war.
"Ich will doch nur wissen, wie es geht, damit ich es selber kann", entschuldigte sich Asari. Wenn er etwas Lustiges gesagt hatte, dann machte es ihm nichts aus, dass sie über ihn lachten. Irgendwie war ihm, als gehöre er ein wenig mehr dazu.
"Ja, ich schwör's dir", flüsterte Tatze seinem Mädchen in das Ohr. "Er ist wirklich ehrlich der Sohn des Kaisers!"
"Wenn du etwas darüber wissen willst, dann frag' doch DIE", sagte Woi wütend und zeigte auf die Drachenzähne und ihre Mädchen. Warum hatte er sich nicht beherrschen können und war so blöd gewesen, sich etwas anmerken zu lassen?
"Den Mädchen ist es verboten, sich zu verlieben", sagte Keschal und sah zufrieden, dass sie Mädchen sich duckten.
"Und er ... hat er es euch auch verboten", fragte Asari doe Drachenzähne und zeigte auf Woi.
"Er hat nichts gemerkt", sagte Schädel frech.
"Was braucht man denn, um sich verlieben zu können?", fragte Asari.
"Also, wenn es der erste Versuch ist, wäre ein Mädchen schon von Nutzen", meinte Woi und war froh, dass sie nun über Asari lachten.
"Ah so, das ist es also", Asari sah sich in die leeren Hände, "erst brauche ich ein Mädchen ..."
Die Drachenzähne nickten ernst, während die Mädchen ängstlich zu Keschal sahen, die ihnen mit einem Zischen den Aufbruch befahl, damit nur ja keine von ihnen auf dumme Gedanken kam.
"Schade, jetzt gehen sie", sagte Asari ihnen hinterher. "Ich werde mich wohl ein anderes Mal verlieben müssen."
Als die Mädchen mit Keschal verschwunden waren, schauten die Drachenzähne auf den Boden vor ihrem Stuhl. Ihre Augen bildeten einen Kreis, in dem Asaris Blick wie ein gefangener Fisch, der sich nicht zurechtfand, umherschwamm.
"Wie fühlt sich das Verliebt-Sein an? Ihr müsste es mir sagen, damit ich es erkennen kann!"
"Ist nicht toll", versicherte Tatze. "Tut ziemlich weh."
"Kannst du dir vorstellen wie ein ständiges Jucken überall, nur eben tiefer", versuchte Schädel zu erklären.
"Ist wie ein Splitter im Fuß, wenn du ihn nicht rauskriegt", sagte der Zwerg.
Der Narbige hatte sich auf seinem Stuhl vornübergebeugt und ließ sein Messer aus der Hand fallen, dass es im Boden zitternd stecken blieb. Immer und immer wieder versuchte er die Stelle zu treffen, wo es beim ersten Mal aufgekommen war.
Asari musste feststellen, dass die Drachenzähne sehr verschieden von ihm waren. Sie waren einfach tiefer in den Dingen drin. Während er draußen stand und nicht wusste, wie er hereinkommen sollte, bewohnten sie schon so lange ihr Leben, dass sie nicht einmal mehr erklären konnten, wie einer hineinkommen konnte, der draußen war.
Jeder hatte seine eigene Art, sich die Zeit des Wartens zu verkürzen. Schädel hatte sich eine Fletsche genommen und schoss kleine Steine auf das gegenüberliegende Dach. Dann und wann zetterte eine Frauenstimme in den Abend hinein.
Der Narbige hatte sich oben auf die Treppe gesetzt und schnitzte an einem neuen Stück Seife. Der Zwerg machte Grimassen mit seinen Zähnen und knackte seine Fingerknochen. Tatze stellte Woi Fragen, bis er keine mehr wusste. Asari hatte sich so gesetzt, dass er sie alle beobachten konnte.
Er beobachtete diesen Abend in dem neuen Leben sehr genau, als komme es darauf an, dass ihm nichts entging. Das Licht, wenn es weniger wurde, ließ die Fenster rund erscheinen. Die Laute, die von draußen kamen, begannen sich aus dem Weg zu gehen. Damit verlor das Innere des Raumes seine Ränder. Im Dunkeln gab es keine Mauern, das war hier nicht anders als in seinem Kerker. Er dachte daran, wie sich Az einmal zum Spaß in den Abend gestellt hatte, damit das Licht ganz langsam seine Gestalt in Schichten abtrug.
Als Woi einfiel, dass es nun eigentlich erlaubt war, sich schlafen zu legen, hatte die Müdigkeit sich mit der Nacht davongeschlichen.
"Wie geht es?", fragte ihn der Zwerg.
"Ich wäre jetzt gerne müde", antwortete Woi. Aber er war nicht müde und die anderen wussten, was er meinte.
"Ich treffe das Dach nicht mehr", sagte Schädel, "ich glaube, es ist dunkel."
"Dann gehen wir", befahl der Zwerg. Alle rollten ihre Decke ein und nahmen ihre Bündel auf. Tatze gab Asari eine Decke, die niemandem gehörte, und zeigte ihm, wie man sie einrollte. Asari sah interessiert zu, aber er schaffte es nicht ein einziges Mal.
Chapter 117. Asari mit Diener
"Da ist er!", rief Woi und stieß Asari von der Seite an.
"Wer?", fragte Asari und schreckte aus irgendwelchen Gedanken hoch.
"Der Hof von Treufuß! Erkennst du ihn nicht wieder?"
Asari kniff die Augen zusammen, obwohl die Sonne in seinem Rücken stand. "Ich habe ihn zu lange in meinen Gedanken gesehen", sagte er. "Deshalb erkenne ich nicht mehr wieder ..."
Woi wusste, dass das nur auf Asaris Weise stimmte, darum sagte er nichts, sondern hielt sein Pferd an, um auf die Drachenzähne zu warten.
Als sie sich mit ihnen kurz besprochen hatten, verließen die Drachenzähne den Pfad und ritten zwischen den Bäumen hindurch, um sich auf einer Anhöhe ein Beobachtungslager aufzuschlagen. Das war der Vorschlag des Narbigen gewesen, weil sie nicht wussten, in welchem Tempo die Soldaten ihnen nachgeritten kamen. Von hier war ein rechtzeitiges Warnen möglich.
Woi ritt mit Asari weiter. Er dachte zurück, wie es früher gewesen war, und freute sich auf einen Abend mit Treufuß. Darüber nahm er sich vor, sich nicht in Asaris Gedanken verwickeln zu lassen.
Der Hof war von einer hohen Mauer umgeben wie ein Soldatenfort. Treufuss war lange Soldat gewesen. Als er in den Ruhestand kam, hatte er diesen Hof übernommen und ihn für sich ausgebaut.
Der Schutz eines Grabens hätte es auch getan, aber Treufuß wollte eine Mauer, weil er sie eben schön fand, diese Mauern. Er wollte eine Mauer, die ganz um seinen Hof herumging. Eine hohe sollte es sein, wie er sie sein ganzes Leben in den verschiedenen Garnisonen gehabt hatte. Sie war nicht gegen Feinde gemacht - wer sollte ihn schon angreifen? - dienten keiner anderen Herrin als der Erinnerung des Hofherren.
Den Eingang bildete eine prächtige Fallbrücke mit einem Kopfsaum von Schießscharten. Weil sie heruntergelassen war, ritten Woi und Asari langsam auf den Einlass zu. Wo zwei Häuschen auf das Beste und Sauberste hergerichtet waren, standen keine Wachsoldaten. Woi hielt extra an, um hineinzuschauen, aber es war keiner drin, nicht einmal einer, der schlief. Also ritten sie weiter.
Vor sich sahen sie ein zweigeschossiges Gebäude, das die Form eines Würfels besaß. Es war nicht sehr gross, hatte nicht mehr als drei Fenster oben und unten.
Links lehnten sich die offenen Stallungen an, in denen aber kein Platz für die Pferde war, weil sie bis oben hin vollgestapelt waren mit alten Sachen - von übereinander gestapelten Kisten bis zu Waldgerät. Sogar ein Fuhrwerk, dem ein Rad fehlte, stand in einer der Pferdeboxen.
An der Rückseite des Gebäudes schloss sich der Küchentrakt an, der sehr niedrig war und sicherlich nur für das Nötigste in Gebrauch war.
Langsam ritten sie im Kreis, aber niemand kam heraus oder rief. Alles war gepflastert, kein Garten oder Busch unterbrach den Blick auf die Mauer. Sie machten ordentlich Lärm, aber die Diener nahmen sich hier Zeit, die Gäste zu empfangen.
Sie stellten die Pferde nebeneinander vor die Stallungen. Die Tiere schienen nicht recht zu wissen, was sie dort sollten. Längst war der Pferdegeruch der Stallungen verflogen.
"Dort ist einer", sagte Woi und zeigte auf ein Fenster, hinter dem sich ein Kopf gezeigt hatte, der verschwunden war, sobald er ihm zuwinkt hatte. Woi rief einen Gruß, aber der Kopf bleib verschwunden.
"Wir gehen rein, dann werden wir sehen", entgegnete er unwillig, ging über den Platz, die kurze Treppe hoch und schob die Tür auf, die nur angelehnt war. Hinter ihr stand ein junger Mann, der wohl ein Diener war. Er stand unbeweglich und sah Woi mit großen, ängstlichen Augen.
Der Diener besaß eine genaue Ähnlichkeit mit Asari. Vielleicht, dass er ein wenig jünger war, aber er besaß Asaris durscheinende Haut und die Zierlichkeit seiner Glieder.
"Er hat Angst vor uns", stellte Woi fest und sah zufrieden an seiner staubigen Erscheinung herunter.
"Wir sind gute Menschen, die dir nichts antun wollen", sagte er beruhigend. Eigentlich war er nun froh, dass die Drachenzähne nicht mitgekommen waren. Er konnte sich vorstellen, wie Schädel kratzig gelacht hätte, als bitte er, diesem Woi, dem Täuscher, kein Wort zu glauben.
Jetzt verbeugte sich der Diener so langsam vor ihnen, wie Woi es noch bei keinem gesehen hatte. Dann fiel ihm ein, dass auch Asari seine Bewegungen so langsam machte, als müsse er in den Blicken der anderen einen Widerstand überwinden.
"Wir wollen nur wissen, ob jemand da ist?" Weil er nicht hochkam, klopfte ihm Woi auf die Schulter.
Als er ihn berührt hatte, erschreckte sich der Diener. Ihm fuhr eine Blässe über das Gesicht. Er stand starrend wie ein todesängstliches Tier und rannte plötzlich los, riss die grosse Tür auf und war verschwunden.
"Fass ihn nicht an", sagte Asari. "Das mag er nicht von Fremden."
Es war also niemand da, der sie ankündigen konnten. So trat Woi durch die Tür, die ihnen offenstand.
"Ist da jemand?", rief Woi. "He da! Hallo!"
Die Decke des Raumes hing tief und war durch zwei schwere Balken in Viertel geteilt. Unter dem Kreuz der Balken war ein großer, runder Tisch mit schweren Stühlen, die keine Lehnen hatten. Darauf stand ein leeres Glas. Daneben lag ein Handschuh, von schwerer Machart, mit feinen, eisenbeschlagenen Rippen, wie ihn ein Schwertführer trägt. Hinten waren zwei Fenster, deren Licht taub und blind im Raum lag.
"Kennst du es wieder?", fragte Woi, weil er sich nicht mehr sicher war, ob sie im richtigen Hof waren.
"Das Glas ist leer", stellte Asari fest. "Sonst ist es wie in meiner Erinnerung. Sie haben gewusst, dass ich komme."
Durch eine seitliche Tür war der Diener leise wieder eingetreten und betrachtete Asari angestrengt.
"Er sieht dir ähnlich", flüsterte Woi.
"Das ist seine Aufgabe", sagte Asari streng. "Ich befahl es ihm, als ich Treufuß verließ. Dazu taugt er, zu sonst nichts."
"Ich möchte nicht wissen, wie du über mich redest, wenn ich nicht dabei bin", flüsterte Woi von der Seite und hätte es doch gerne gewusst.
"Es gibt nichts zu sagen", antwortete Asari nach einem Schweigen, das er mit Nachdenken über Woi gefüllt hatte.
"Immerhin habe ich dich befreit!", Woi zeigte sich ungehalten. "Das wäre doch, was du sagen könntest."
"Az hat mich befreit", beschied ihn Asari ernst. "Er hat gesagt, dass jemand kommen wird. Das war lange bevor ihr aufgebrochen seid."
Woi versuchte zu lachen, aber er fand nicht, dass es wie ein richtes Lachen klang. Also tat er einfach so, als gehöre es zu den vergessenen Gegenständen des Raumes.
"Es war jedenfalls meine IDEE", sagte Woi er schließlich trotzig.
"Damit du nichts falsches denkst, es war SEINE Idee", sagte Asari freundlich. Der Diener nickte zustimmend.
"Da kannst du reden wie du willst: Es bleibt MEINE Idee!", sagte Woi laut und sah die beiden und den Handschuh auf dem Tisch ärgerlich an.
"Siehst du den Diener und mich - wie ähnlich wir uns sind?"
Woi knurrte, dass er es auch mit ihnen aufnehmen würde, wenn sie noch einer mehr wären.
"Ich habe Az erzählt, dass ich meinem Diener befohlen habe, mein Äußeres anzunehmen. Alles bleibt MIR in Erinnerung, wenn auch ICH in Erinnerung bleibe. Sieh mich und meinen Diener an. Wie soll einer uns auseinander halten. Die Idee für die Befreiung - sie stammt von uns!"
"Die Schlingelkappe - das wenigstens war meine Idee!", sagte Woi wütend.
Asari und sein Diener lächelten fein und rätselhaft.
Chapter 118. Asari entfernt sich
"Einen Moment noch, ich bin gleich soweit", rief eine Stimme, die aus einem breiten Schrank kam, von der Wand gegenüber den Fenstern.
"Das ist Treufuß, ich kenne seine Stimme wieder", rief auch Woi und war froh, dass er nicht mehr mit Asari und dessen Diener allein sein musste. Wenn er sich recht erinnerte, dann hatten sich Medith und Treufuß sehr gut verstanden und waren Freunde geworden.
Aus dem Schrank trat Treufuss im vollen Brustpanzer. Für besondere Tapferkeit war auf diesen das Gesicht des Kaisers geprägt worden. Es lief etwas in die Breite, als habe der Kaiser zu gut gegessen und ein wenig reichlich getrunken.
Das Gesicht von Treufuß war wie das seines Kaisers auch in die Breite gegangen. Woi erinnerte sich, dass Medith über Treufuß gesagt hatte, dieser sei ein General im Kämpfen ebenso wie im Trinken. Das Letztgesagte hatte Woi damals nicht verstanden, aber wie früher wurde ihm warm, wenn er Treufuss ansah. Der General war etwas zittrig im Stehen, aber er besaß immer noch die Erscheinung, die ein Junge nicht vergessen konnte.
Treufuß blinzelte, als er Asari erkannte.
"Ich möchte nicht, dass ihr mich anschaut", befahl ihm Asari, tief in die Freude des alten Mannes schneidend. "Schaut ihn an, nicht mich!" Er zeigte auf den Diener, der vor ihn trat.
"Ja, ich vergaß", murmelte Treufuß unterwürfig, "verzeiht mir, ich vergaß ... es ist so lange her."
"Wir haben einen Gast?", fragte Treufuß den Diener.
"Ich kenne euch", sagte Woi, trat freundlich auf Treufuß zu und nannte seinen Namen. "Vielleicht erinnert ihr euch. Ihr wart am Hof meines Vaters, des Fürsten Alta. Wisst ihr noch, da war ein Soldat, ein Oberer mit Namen Medith. Er war eine Art Vater für mich ..."
"Jaa, daran ...", sagte Treufuß und schüttelte erfreut mit beiden Händen den Arm von Woi aus, "daran erinnere ich mich, sehr genau erinnere ich mich."
"Und ich erkenne dich wieder", sagte Treufuß und blinzelte erneut. "Auch erinnere ich mich an den Soldaten. Es war ein umgänglicher Mensch, und wir haben das eine oder andere Glas geleert. Ja, daran erinnere ich mich und sehe erstaunt, was aus dir geworden ist."
Hatte er sich also nicht getäuscht in dem Jungen und schon damals zu diesem Medith, als sie unter sich waren, gesagt, dass der Junge des Fürsten ein Bursche sei, in dem ein guter Soldat stecke, ein rechter Kämpfer mit einem guten und furchtlosen Herzen. Wie anders war ihm Asari neben diesem Jungen erschienen! Dabei hatte Treufuß früher schon gesehen, wie wenig an seinem Asari mit den anderen gleich war.
Auch Woi erinnerte sich und dachte, dass Medith am nächsten Morgen immer sehr blass aussah und einmal sagte hatte, dass er sich vorkomme wie nach einer richtigen schrecklichen Schlacht. Das wolle er nicht erklären, weil der Junge noch zu klein sei. Deshalb hatte Woi lange darüber nachgedacht, weil er selbst darauf kommen wollte, in welcher Schlacht Medith gewesen war.
"Ich freue mich", sagte Treufuß und streichelte das Gesicht des Kaisers auf seinem Brustpanzer. "Einen Besuch bekommen wir selten."
Asari stand auf und ging. Woi dachte, dass er wohl austreten musste und niemand ihn begleiten brauchte. Wie in allem, bewegte sich Asari langsam, aber völlig geräuschlos.
Sie saßen und sie schwiegen. Es war still und schön, zu sitzen und nichts sagen zu müssen. Das Licht aus den Fenstern lag schwer auf dem Tisch und schlief fest. Woi dachte, dass er Treufuß mochte, weil dieser ihn an Medith erinnerte. Wenn er sich einen Vater hätte aussuchen dürfen, dann wäre Treufuß nach Medith der Mann gewesen, bei dem es ihm gefallen hätte.
"Soso ... ja ... jaja", sagte Treufuss. Dann schwiegen sie wieder lange. Jeder dachte etwas anderes, aber es war, als würde sie beide dasselbe denken. So war es eben, wenn man bei Treufuß war.
Treufuß winkte dem Diener, der sich darauf Schritt für Schritt näherte. Wie ein kleiner Hund, den man erschreckt hatte, der die Zutraulichkeit erst wieder lernen musste.
"Nun komm schon", rief ihn Treufuss, "das ist ein Freund. Willst' dich nicht setzen ... Nein, du stehst halt lieber."
"Darf ich etwas bringen?", fragte der Diener mit leiser Stimme. Der kleine Hund hatte begonnen, an dem Fremden zu schnuppern. Sein Blick traute sich vorsichtig heran.
"Wenn du willst", sagte Treufuß, "bring den Wein und ein paar Gläser."
Dann dachten sie wieder nach. Sie dachten an viele Dinge. Sie dachten an den Wein. Woi dachte an ihn, weil er von der langen Reise durstig war. Treufuß dachte an ihn, weil er eben alt war und weil er früher einmal jung gewesen war.
"Ich war immer ein General, und der Junge hatte keine Mutter", er zeigte auf den Diener, der mit dem Wein hereinkam, "da ist er so geworden."
Der Diener brachte einen Humpen aus Holz, in dem sie den Wein schwappen hörten, und drei Feldbecher. Er lächelte wieder und blieb ein wenig, um ihnen zuzusehen.
Als sie den Wein vor sich stehen hatten, zog Treufuß den Handschuh über die Hand, hob den Becher damit und prostete Woi zu. Den Wein von Asari stellte er an den leeren Platz. Sie hoben den Becher vor das Gesicht und schluckte die Müdigkeit und die Traurigkeit herunter.
"Wie geht es dem Kaiser?", fragte Treufuß und und freute sich, dass er über die alten Zeiten würde sprechen können. Woi war mit einem Mal verlegen. Er stellte erschreckt fest, dass Treufuß nichts wusste und Woi der erste war, der es ihm sagen musste!
"Trinken wir erst mal", sagte er.
Sie tranken einen winzigen ersten Schluck, weil es ein guter Wein und eine schöne Stunde war, danach einen großen Schluck für den Durst.
"Der Kaiser, er ist gestorben ... noch nicht lange ist es her", sagte Woi und sah schuldbewusst in seinen Becher. Wie anders hätte er es sagen sollen? Es war so, wie er gesagt hatte, auch wenn der Tote ein Kaiser war. Es wurde nicht besser dadurch, dass er es anders sagte.
Für einen Augenblick machte Treufuß das Gesicht eines kleinen Jungen, dem ein größerer etwas sehr Wertvolles abgenommen hatte. Dann war sein Gesicht wieder das alte. Er sah Woi fest und traurig in die Augen. Es war ein harter Junge, dieser Fürstensohn, und ein General, und schon gar ein alter, durfte keine Schwäche zeigen, wenn er sich beobachten ließ.
"Der alte Kaiser ...", sagte Treufuß, "ja nun ... alt bin ich auch ... nun ist er tot."
Er nahm den Becher auf, ohne zu achten, dass er allein trank. Weit, weit weg war alles. Das Ferne lag begraben und kam immer näher. Er gab nicht mehr acht, dass er ein General war. Die Hand, die nicht im Handschuh steckte, fasste langsam an die Augen. Auch ein General, und schon gar ein alter, hatte ein Recht darauf, einen Freund zu beweinen.
Als es vorbei war, stand er langsam auf. "Komm, mein Junge", sagte er zu seinem Diener. Dann umarmte er ihn und drückte ihn lange gegen das Gesicht des Kaisers auf seinem Brustpanzer. Der Diener ertrug den Schmerz tapfer. Woi wäre nicht gerne an seiner Stelle gewesen.
Sie machten ihre Gläser wieder voll und tranken sie leer. Treufuß erzählte vom Kaiser, und Woi war froh, dass der General es so gut aufgenommen hatte. Sie tranken etwas mehr als ihnen gut war, weil die Trauer des Generals um seinen Kaiser ihnen immer kräftig die Gläser nachfüllte.
Auch der Kaiser war ein großer Zecher gewesen, davon wusste Treufuß zu sagen. Oft waren sie an diesem selben Tisch zusammengesessen, der damals noch am Hofe stand. Für ihre Verdienste seien der General und der Tisch gewissermaßen gleichzeitig auf ihr Altenteil verabschiedet worden.
Nicht lang, und ein anderer, stiller Gast, die Müdigkeit, saß zwischen dem Alten und Woi. Sie legte die Arme auf den Tisch und darauf den Kopf. Woi sah ihr zu und hätten es ihr gern gleichgetan. Sie ließ sich in einen sanft schnaubenden Fohlenschlaf fallen, und machte ihm die Augen schwer und schwerer.
Chapter 119. Asari spricht zum Mond
Mit einem Mal schreckte Woi hoch. Ein Gepolter und Kampfgetöse, das nicht aus den Geschichten stammte, die Treufuß überall auf dem Tisch ausgebreitet hatte, bahnte sich den Weg und sprang ihm in den Nacken.
"Seid ihr noch hier?", schrie Tatze und schüttelte ihn. "Die Soldaten kommen! Los, macht schon auf!"
Treufuß sprang hoch und schubste Woi mit Taze vorwärts, stieß ihn durch die Tür, tauchten ihn mit dem Kopf in die kalte Nacht, bis er wieder nüchtern war.
"Wo ist er?", schrie Tatze ihm in das eine Ohr.
"Wer ist wer?", brüllte Treufuß in das andere.
"Ich weiß es nicht", antwortete Woi benommen. "Er ist aufgestanden und nicht wiedergekommen."
"Wir müssen ihn finden!", rief Tatze. "Ist er im Haus?"
"Nein", antwortete der Diener leise, "da ist er nicht."
"Achdumeingott, die Soldaten kommen ihn holen", rief Treufuß, "und keiner weiß, wo er ist!"
Einer nach dem anderen kamen die Drachenzähne angeritten und sprangen von den Pferden.
"Sie wissen nicht, wo er ist!", schrie Tatze ihnen zu. "Sie wissen es nicht!"
"Er kann doch nicht verschwunden sein", sagte der Zwerg, der in Wois Atem den Wein gerochen hatte. "Das gibt es doch nicht."
"Wenn WIR ihn nicht finden, dann finden SIE ihn!" Weil Schädel die Pferde hielt, war nur seine Stimme zu hören.
"Er ist dort", sagte der Diener und zeigte auf das Dach.
Alle blickten hinauf. Erst sahen sie nichts als einen vollen Mond, der auf dem First balancierte. Dann entdeckten sie Asari, der sich an den Kamin lehnte, und leise mit dem weißen Ball sprach. So wie er saß, schien er den Ball auf der Fußspitze zu balancieren.
"Hallo", rief Woi. "Komm herunter, Asari! Es ist etwas passiert."
"Wenn er mit dem Mond spricht, kann er nichts hören", sagte der Diener leise.
"Was machen wir?", flüsterte Tatze.
"Was ist denn los?", fragte Schädel, der wegen der Pferdeköpfe nichts gesehen hatte.
"Wir warten", meldete sich Treufuß. "Er hat das auch früher gemacht. Wenn der Mond weiterwandert, kommt er wieder runtergeklettert."
"Wir können nicht warten", sagte der Zwerg und schüttelte den Kopf über soviel Dummheit.
"Wegen der Soldaten", erklärte Tatze, weil er den General nett fand.
"Was ist denn mit dem Fürstensohn?", fragte die Stimme von Schädel. "Der ist doch sonst so schlau."
"Der Fürstensohn hat getrunken", antwortete ihm der Zwerg.
"Und wenn - was geht das einen an?", sagte Woi mit tauber Zunge.
"Deinen Asari da geht das an, wenn uns nichts einfällt", entgegnete ihm der Zwerg streng. "Wenn WIR ihn sehen, dann sehen ihn die Soldaten auch!"
"Wir haben ihn aber nicht gesehen", so Woi. "ER, der Diener, hat ihn uns gezeigt, weil er gewusst hat, dass er solche Dinge macht."
"Ja, ja, der Wein", sagten die Pferde und machten ein Geräusch, als würden sie aus einem Trog schlürfen.
"Wenn sie ihn suchen, dann finden sie ihn auch!" Der Zwerg sah keine Hoffnung.
"Sie wissen nicht, wie er aussieht." Wois Zunge sprach immer noch im Akzent des Weines. "Sie suchen einen, von dem sie nicht wissen, wie er aussieht."
"Ja", sagte Tatze, "das ist eine gute Idee!"
"Dann nehmen wir den Diener! Sie sehen sich zum Verwechseln ähnlich!", schlug Treufuß vor, der nichts verstanden hatte.
"Ich möchte nicht fort", sagte der Diener sehr leise.
"Sie wissen NICHT - hört doch zu! - wie er aussieht. Dann nehmen wir also irgendeinen anderen!", ließ sich schwankend Woi vernehmen.
"Das könnte gehen", sagte Tatze, bevor er darüber nachgedacht hatte, ob es wirklich gehen könnte. Er glaubte einfach, dass Woi IMMER etwas Kluges sagte.
"Ich finde, der Diener sieht ihm am ähnlichsten", sagte Treufuß und verschränkte die Arme über den Augen seines Brustpanzerkaisers.
Woi fasste sich an den Kopf und stöhnte.
"Es ist eine gute Idee", sagte Tatze wieder.
"Aber wer?", fragte Woi.
"ER!", sagte der Zwerg und zeigte auf den Narbigen.
"Nun ja, er sieht nicht gerade wie ein Kaiser aus". Eigentlich meinte Treufuß, dass er eher wie ein Verbrecher aussah.
"Ist egal", sagte der Zwerg. "Hauptsache, er kann sich befreien!"
"Ich befreie mich IMMER!", sagte der Narbige.
"Ja, gut", sagte Treufuß, "das ist natürlich ein Vorteil. Wenn er schon nicht so aussieht wie Asari, dann muss er sich wenigstens befreien können, hmm."
Die Pferde lachten spöttisch über den Drehschwenk des alten Mannes.
"Und was wird aus IHM?", fragte der Diener leise und zeigte auf Asari und den Mond.
"Wir verstecken uns solange, bis er runterkommt", schlugen die Pferde vor.
"Nein", sagte Woi, "wir verkleiden uns als Wachsoldaten und lassen sie erst mal nicht rein, damit sie Verdacht schöpfen."
"Ich habe Sachen", Treufuß zeigte sich begeistert, dass er helfen konnte. "Es waren hier nämlich mal Wachsoldaten. Das ist aber lange her!"
"Hätten wir nicht gedacht!", verwunderten sich die Pferde.
"Ja, ööh, und auch Sachen für ihn", sagte Treufuß und zeigte auf den Narbigen, obwohl er im Stillen fand, dass es sehr dumme Soldaten sein mussten, wenn sie IHN für den Sohn des Kaisers hielten. Aber konnte man Dummheit oder etwas anderes bei den Soldaten ausschließen?
"Dann los", sagte der Zwerg, "wir haben überhaupt keine Zeit mehr.
"Ja, schnell muss es gehen!" Treufuß klopfte seinem Kaiser zum Zeichen des Abmarsches blechern auf die Stirn.
Chapter 120. Oberster und Treufuß
Der Oberste kannte seine Männer. Keiner von ihnen glaubte daran, dass sie erfolgreich sein würden. Er ritt vorneweg und wusste doch, dass die Soldaten mutlos geworden waren.
Dies war der Grund, warum er sie in der Nacht reiten ließ. Es strengte sie an und machte sie müde. Da blieb jeder für sich. Sie tauschten nur Blicke und führten ohne Worte ihre Gespräche, als seien sie Pferde, die ihre Witterung teilten. Ein Nachtritt war einem Tagesritt vorzuziehen.
Außerdem ritt auch er lieber in der Nacht, besonders in einer solchen. Wie ein schwarzer Teppich rollte sich der Weg vor ihnen aus. Ein voller Mond machte dem Inneren eine gute Stimmung. So konnte er lange Gespräche mit sich selbst führen konnte.
"Was hat der General gesagt?", fragte sich der Oberste laut. "Es könne sein, dass der Kaisersohn zu Treufuß geritten sei, weil er den von früher kenne. Das hat er gesagt, und schließlich ist er ein General."
Dabei musste er zugeben, dass der General Siegling auf den gemeinen Soldaten eine gewisse Wirkung hatte, die ihnen im Äußeren einen stumpfen Blick und im Inneren eine kitzelige Heiterkeit verursachte.
"Hätte ich den General verhaften müssen?", fragte sich der Oberste. "Schließlich ist ihm der Gefangene abhanden gekommen. Wie kann ein Gefangener aus einem Kerker abhanden kommen?" Das konnte sich der General nicht erklären.
Die Kaiserin aber hatte dem Obersten nur aufgetragen, den gefangenen Sohn des Kaisers zu bringen. Sie hatte nicht gesagt, was bei seiner vorherigen Befreiung zu tun sei. Hätte er den General verhaften und mitnehmen sollen? Der Oberste wusste es nicht, und deshalb war es besser, dass er ihn nicht verhaftet hatte. Aber wenn die Kaiserin nun gerade daran Anstoß nehmen würde ...?
"Sie ist selber Schuld, wenn sie nichts sagt", rief der Oberste laut und war froh, dass seine Männer ihn nicht verstanden hatten. Sie hörten seinen Gesprächen nicht zu, hatten sich daran gewöhnt, dass er vorausritt und alle Dinge mit sich selbst besprach. Vertrauten eben, dass sein Denken so gründlicher war. Und gehorchten seinen Befehlen, weil sie wussten, dass er lange darüber mit sich beraten hatte. So mochten sie denken: Wenn einer für zehn dachte, dann reichte es denen, die zehn waren ... jedenfalls denjenigen, die nicht zu völlige Stumpfheit verfallen waren.
Er hielt an und wartete, bis der Hauptmann zu ihm aufgeschlossen hatten.
"Meine, dass es zu sehen ist", sagte er.
"Jawoll", brüllte der Hauptmann, als sei das ein Befehl gewesen.
"Wollte ihre Meinung hören", sagte der Oberste freundlich.
'Dieser Hauptmann ist ein Dummkopf und völlig ohne Empfinden für die Stille der Nacht', dachte er.
"Jawoll, SIR!", rief der Hauptmann mit kräftiger Stimme.
Dieses laute Gebrülle schien dem Obersten nicht recht passend zu der Mondnacht. Das, was im Garnisonshof gut war, hörte sich unter dem Dach der schwarzen Zweige misslich an. Schließlich war der Mond kein Soldat, und die Bäume standen nur still, weil sie eben Bäume waren und nicht, weil der Hauptmann brüllte.
Ihm gefiel der Gedanke. Deshalb lächelte er. Weil das Licht auf seinem Gesicht lag, sahen die Soldaten sein Empfinden. Kurz und vergeblich suchte er in ihren schwarzen Gesichtern nach dem Widerhall seiner Stimmung.
Der Hof von Treufuß war von einer hohen Mauer umgeben. Es war also nicht nötig, ihn zu umzingeln, das leistete vorzüglich die Mauer. Wer herauskommen wollte, musste durch das Fallgitter kommen. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Wenn der Kaisersohn hier war, würde er gewiss in ihre Hände fallen.
So einen Hof stellte sich der Obere als seinen Alterssitz vor. Treufuß hatte ihn recht nach dem Geschmack eines alten Soldaten gestaltet. Die Wachhäuschen am Tor waren auf das beste gepflegt. Sie glänzten und streckten sich. Treufuß hatte sich wohl die schönsten ausgesucht und auf seinen Altersitz entführt. Konnte er es dem Alten verdenken? Er würde ihn fragen, ob es gestattet war, nach ihrer Herkunft zu fragen. Nur die Farbe konnte sich der Oberste anders vorstellen, auch die Streifen waren nicht seine Sache. Schließlich war es ein Alterssitz, und ein schlichtes, aber freundliches Grau hätte ihnen gut zu Gesicht gestanden.
"Ist da jemand?", rief der Oberste vor dem Tor. Er räusperte sich, weil seine Stimme nach dem Anlass zu dünn geklungen hatte. Schließlich war er nicht hier, die Torhäuschen zu bewundern, sondern hatte einen Auftrag von höchster Dringlichkeit zu erledigen.
"Auf Befehl der Kaiserin", rief er kräftiger. "Ist dort jemand?"
"Da ist jemand", sagte es von oben herab.
"Wir begehren - äh - wir fordern Einlass", so der Oberste.
Einer der Unteren kam und stieß mit dem stumpfen Ende seiner Lanze donnernd gegen das Tor.
Wieder zuckte der Oberste zusammen, aber er bedachte sich. Es war schon recht so, dass sie ein wenig Angst verbreiteten durch den Lärm. Schließlich sollte es ja nicht zu einem Kampf kommen.
"Wir sollen keinen reinlassen", sagte der von oben. "Auf Befehl von Treufuß."
"Auch Treufuß untersteht der Kaiserin", gab der Oberste zu bedenken.
"Ich komm' dir gleich hoch, du Bürschchen", mischte sich einer der Soldaten im Rücken des Obersten ein.
Oben flüsterten sie. Dann stiegen sie die Treppe herunter und schoben den Riegel beiseite. Einer der Wachsoldaten war ein Zwerg, der andere hatte eine gewaltige Stirn und ein eingedrücktes Gesicht.
"Soldaten, hintereinander", rief der Oberste.
Einer lachte, weil sie nebeneinander wohl nicht durch das Tor gekommen wären. Der Oberste kümmerte sich nicht um den Frechling, sondern betrachtete im Vorbeireiten wohlgefällig die Häuschen. So wie sie waren, gefielen sie ihm doch besser, als wenn sie in einem schlichten, aber freundlichen Grau gewesen wären.
Treufuß trat ihnen auf der Treppe entgegen. Er trug einen wunderschönen, goldenen Brustpanzer, der mit dem geschmiedeten Antlitz des Kaisers als hoher Auszeichnung versehen war. In Gestalt von Treufuß stand die Treue zum Kaiser ohne Alter vor den Soldaten des Obersten. Jedem von ihnen musste es in die Glieder fahren.
"Da sitzt einer auf dem Dach", hörte er hinter sich sagen.
"Ruhe!", rief er.
"Schnauze da hinten!", brüllte der Hauptmann.
"Die Häuschen ...", begann der Oberste, unterbrach sich aber sogleich: "Den Sohn des Kaisers, den fordern wir von ihnen heraus. Es ist der Befehl der Kaiserin." Er senkte den Kopf und gestand zufügend: "Ich kann nicht anders."
"Es soll sein, aber", sagte Treufuß und hob die Hand, "hören sie meine Bedingung."
"Was redet der Messingsoldat daher?", so einer der Soldaten.
"Schnauze!", brüllte der Hauptmann.
"Führen sie ihn nicht in Ketten ab!", bat Treufuß. "Tun sie, was sie wollen, aber nicht in Ketten! Er ist wie ein Sohn ..."
"Aber nicht doch, ich versichere ihnen, nichts dergleichen ... was denken sie?", darauf der Oberste. "Ich verbürge mich."
"Sie sind ein Mann der Ehre, Oberster. Ihnen will ich meinen Asari anvertrauen. Sie müssen wissen, weil er wie ein Sohn ist, dreut mich sein Schicksal", sagte Treufuß würdevoll. Der Kaiser auf seiner Brust bemühte ein Lächeln,
"Es dreut ihn", erklärte ein Soldat dem anderen, "das iss' was mit der Blase, kommt vom Alter und vom Saufen."
"Schnauze! Ruhe! Zum letzten Mal!", brüllte der Hauptmann seine Soldaten zusammen.
"Schscht", kam es von dem Jungen, der auf dem Dach saß. "Sie stören meinen Mond. Ich verbiete es ihnen."
Die Soldaten glotzten mit blanken Froschaugen zu ihm hoch. Der Oberste hielt seinem Hauptmannn den mit Geschrei gefüllten Mund zu und sprach den Mann auf dem Dach freundlich an: "Ich bin ganz ihrer Meinung. Auch ich vertrage seinen Lärm nicht. Kann ihn entschuldigen, dass das Rumbrüllen seine Natur ist?"
Aber der Junge auf dem Dach gab keine Antwort. Er hatte sich im Gespräch wieder dem dem Mond zugewandt, der sich auf seinen Knien niedergelassen hatte, als mache er eine Rast bei ihm.
"Eeh ... können wir dann?", fragte der Wachsoldat, der ein Zwerg war.
"Ja, natürlich", fuhr es schreckend aus Treufuß auf. "Wir wollen sie nicht länger warten lassen!"
Kurze Zeit später führten sie den Kaisersohn die Treppe hinunter. Sein Gewand war prächtig, glänzte und schimmerte im Mondlicht. Er war von sehniger Gestalt und stand furchtlos in der Tür, sein Gesicht im Schatten.
"Keine Ketten", befahl der Oberste. "Wir gaben unser Wort!"
Der Kaiser der Tränen ging langsam die Treppe hinunter, gefolgt vom besorgten Treufuß und demutvoll von einem Diener.
"Hat der aber Narben!", stellte einer der Soldaten erstaunt fest.
"Halt die Klappe", fuhr ihn der Hauptmann an, "sonst mach ich dir auch welche!"
Der Kaiser ging, als sei er nicht gut bei Fuße. Irgendetwas an ihm stimmte nicht. Krank sah er eigentlich nicht aus, aber er bewegte sich, als bereite ihm das Gehen Schwierigkeit.
"Kann er denn reiten?", wollte der Hauptmann wissen.
Der Kaiser der Tränen wackelte stierblickend mit dem Kopf.
"Reiten kann er", sagte Treufuß für ihn, "aber nicht schnell. Jeder muss wegbleiben, damit er es mag."
Die Soldaten machten ein paar Schritte zurück. Dann kam der Kaiser der Tränen ihnen weiter auf der Treppe entgegen.
"Es ist sehr freundlich von der Kaiserin, dass sie ihn wieder zu sich nimmt", sagte Treufuss.
Der Oberste nickte vage.
Als einer der Soldaten ihm helfen wollte, rief ihn sein Unterer zurück: "Lass sie nur machen. Die wissen besser als wir mit so einem umzugehen!"
Schritt für Schritt, sich quälend langsam, kam der Kaisersohn die Treppe hinunter, bis sein Gesicht vom Mondlicht wächsern beschienen war.
"Der sieht aus wie ein Streuselkuchen", flüsterte es im Rücken des Obersten. Er wandte sich zornig um und suchte den Mund, der so gesprochen hatte. Aber wahr blieb es trotzdem, das musste auch der Oberste unausgesprochen zugeben. Das Gesicht des Kaisersohnes war von Narben in Gänze verkratert.
"Denken sie an sein Schicksal!", rief Treufuß. "Die Schrecken, die ich nicht beschreiben will. Die Leiden, die ihn zu dem diesem ... werden ließen. Könnten sie nur seine INNEREN Narben sehen könnten!"
"Gebt ihm ein Pferd!", rief der Oberste, als könne er damit an dem Kaisersohn alles wiedergutmachen.
"Er hat ein Pferd", sagte Treufuß gütig. "Dort hinten steht es. Es ist seine treue - eeh - Fulminante. Wenn ihr es ihm gestatten wollt ..."
"Natürlich", sagte der Oberst, "geleitet ihn zu seiner Fulnantine."
Zwei Soldaten nahmen den Kaisersohn in die Mitte und führten ihn zu dem Pferd, das ihn wiehernd begrüßte. Es war ein Gaul ebenso sehnig wie sein Besitzer, wie man sie sonst bei hohen Herren nicht sah. Aber ehe sie sich dem Misstrauen übergeben hatten, fiel den Soldaten das schreckliche Schicksal dieses Mannes vor jeder weiteren Frage ein.
"Ist es gestattet zu fragen, wo sie die Wachhäuschen herhaben?", sprach der Oberste den alten Treufuß an.
"Es ist eine längere Geschichte, wir wollen für den Weg aufbewahren", schlug Treufuß vor.
"Für dem Weg?" Der Oberste glotzte wie ein Soldatenfrosch.
"Ich werden ihn selbstverständlich begleiten", sagte Treufuß, als müsse er sich empören über die Vorstellung, dass es anders sein könne.
"Ja, wenn sie meinen ...", wunderte sich der Oberste dünnstimmig.
"Tun sie ihre Pflicht", forderte Treufuß ihn teilnehmend auf, "wie wir alle unsere Pflicht tun. Seien die Schultern auch alt und gebeugt, so sitzt der Wille doch wie ein Junger zu Pferde."
"Ja, die Pflicht ... sie will getan sein", sagte der Oberste zu ihm und zu sich. "Vor allen Dingen kommt dem Soldaten seine Pflicht."
Er sah sich Rat suchend nach seinem Hauptmann um, doch dieser hatte nicht vergessen können, dass der Oberste ihm den Mund zugehalten hatte, und war zu keinem Wort zu bewegen.
"Gut, ja, also gut ...", murmelte der Oberst und schloss sich mit seinen Soldaten dem bereits vorausreitenden Treufuß an.
Chapter 121. Asari und der Fischer
Als der Mond die Rast auf seinem Schoß beendet und sich weiter auf seinen Weg gemacht hatte, war Asari vom Dach gestiegen und hatte sich bereit erklärt, sein Pferd wieder zu besteigen und den Ritt fortzusetzen.
"Mir tut es vom Reiten da hinten weh", sagte Asari und legte den Kopf schief.
"Es ist eben eine richtige Flucht", sagte Schädel und grinste.
"Dann gehört es wohl dazu", meinte Asari halbherzig zu sich und nahm es als Beleg dafür, dass Woi, die Drachenzähne und ihre Flucht nicht nur in seiner Einbildung waren.
Sie ritten langsam, um Asari zu schonen. Der Nachmittag wartete bereits, als sie beim Treffpunkt ankamen, den der Zwerg mit dem Narbigen für seine Rückkehr vereinbart hatte. Es war ein Wiesenstück, über dem die Baumkronen eine plötzliche Lücke gelassen hatte.
"Das hier meint er", sagte der Zwerg. "Ist eine Art Marktplatz am Fluss. Wird manchmal von Schmugglern benutzt."
Damit lag der Rest des Tages faul vor ihnen. Von dem Platz aus sahen sie den fadig sich umhertreibenden Rauch eines kleinen Dorfes, das unsichtbar blieb. Die schräg stehende Sonne verfing sich irgendwo im hohen Baumwerk und machte ab und zu einen Angriff mit Lichtpfeilen, die wirkungslos an dickwandigen Schatten abprallten.
Tatze nahm den Schlaf, wie er kam. Heute stand er in einem großen Topf vor ihm. Auf was sollte er noch warten? Wer konnte wissen, was die Reise für ihn bereithielt. Mal bekam er nicht mehr als ein paar kalte Löffel, dann wieder galt es, sich die dampfenden Teller zu füllen.
Der Mantel, den sich Woi über den Kopf gelegt hatte, kitzelte seine Nase. Er legte ihn unter seinen Kopf, aber der Nasenkitzel blieb. Also legte er ihn wieder über das Gesicht. Der Schlaf nahm sich Zeit.
Der Zwerg schlief im Sitzen und sackte langsam zur Seite um, während Schädel sich nicht zwischen Ingrimm und Müdigkeit entscheiden konnte.
Asari versuchte erst gar nicht zu schlafen. Er wusste, dass er es nicht fertigbringen würde und wartete, dass er sich ungehört entfernen konnte.
Ein Schmetterling hatte sich auf dem Mantel von Woi niedergelassen. Erst flog er einige Male auf, dann blieb er sitzen und klappte die Flügel stolz auf und zu, sehr zufrieden damit, dass er einen Bewunderer in Asari gefunden hatte.
Nachdem Woi sich einige Male gewälzt hatte, lag auch er ruhig und atmete denselben Rythmus wie der Narbige. Ob sie denselben Traum hatten?
Die Sonne verschwendete nun keine Pfeile mehr, sondern gönnte dem Schlaf seinen kleinen Sieg.
"Es kann sein, dass ich zum einzigen Mal hier bin', dachte Asari, 'da will ich mir alles ansehen und nicht schlafen wie die anderen.' Als sein Bewunderer sich erhob, flog auch der Schmetterling eilig auf.
Hinter den Büschen hatte Asari zwei große Bäume gesehen, die einen kleinen Uferstreifen des Flusses einrahmten. Sie waren wie die Pfeiler eines verlassenen Thrones. Dort wollte er sich hinsetzen und mit dem Fluss ein Gespräch führen.
Leise schlich er sich zwischen den Schlafenden hindurch. Nur die Pferde schnaubten, als er auf einen zerknackenden Zweig trat. Sobald er den Lagerplatz verlassen hatte, war der Boden sandig. Er zog sich die Stiefel aus, stellte sie für ein Wegzeichen ab und ging auf nackten Füssen zu seinem Thron.
Der Fluss war erhaben und selbstvergessen. Die Zeit der Menschen trieb an seinem Ufer und war nicht mehr als eine gelegentliche Berührung wert.
"Weißt du, wer ich bin?", fragte er den Fluss. Weil er von einem Fluss keine Antwort erwarten durfte, gab er sie selbst: "Ich bin der Kaiser der Tränen. So jedenfalls nennt mich Treufuß."
Auf der Mitte des Flusses trieb ein kleines Boot. Obwohl niemand darin war, machte es im Vorbeifahren eine Kehrtwendung, als schaue es zum Ufer, wo Asari saß.
"Was ist der Name von einem wirklichen Kaiser?", fragte er den Fluss und tat so, als wisse er das nicht.
"Du hast recht", fuhr er für den anderen fort, "sie nennen ihn nach dir, den Kaiser des Blauen Drachen. Auch das hat mir Treufuß gesagt. Er ist Soldat und denkt sich keine Namen aus."
Aus dem Schilf wehte ein Flüstern zu ihm herüber, und wachsame Vogelstimmen meldeten einen Neuankömmling. Es klang, als werfe jemand Steine gegen einen Baum.
"Sie sagen, ich sei auf der Flucht. Nicht wahr, darüber müssen wir lachen! Können wir fliehen? Nein, wer fließt, der kann nicht fliehen. Also sind sie dumm, und ich höre nicht, was sie sagen."
Nicht weit von Asari bewegte sich das Schilf, als würde dort ein großer Vogel im Wasser umhergehen und versuchen, sich platschend aus der Enge zu befreien.
"Hee", rief eine Stimme aus dem Schilf, "was redest du da und mit wem?"
"Ich rede mit dem Blauen Drachen", sagte Asari und sah zu der Stelle, wo sich nun statt des hilflosen Vogels ein Boot zeigte, mit einem Fischer darin und zwei Rudern, die gegen das Schilf schlugen.
"Was? Du redest mit dem Wasser? Was redest du denn?"
"Wir haben viel Gemeinsames. Da werden wir doch ein paar Worte wechseln dürfen", erklärte Asari.
"Bist du von hier? Ich kenne dich gar nicht", sagte der alte Mann.
"Dort hinten, wo der alte Treufuß wohnt, da war ich zu Hause, aber das ist lange her."
Der Alte schüttelte den Kopf. "Ein junger Bursche bist du und hast beim Treufuß gewohnt. Dachte immer, der hätte keine Frau und keine Kinder."
"Er hat auf mich aufgepasst, aber mein Vater ist ein anderer."
"Etwa der Fluss da? ... Mit dem du sprichst?" Der Fischer zeigte hinaus auf den Fluss. Er musste seinen Spott nicht zeigen, machte sein Gesicht immer ernst, wenn es lustig wurde, und war stolz darauf.
"Du hast nicht unrecht damit. Jedenfalls hat mein Vater von ihm seinen Namen."
Der Fischer fand Spaß an den wirren Reden. Das war immer noch besser, als vergeblich auf Fische zu warten. Es gab halt solche Tage.
"Ich kenne nur einen, der vom Fluss seinen Namen hat", sagte er mit einem traurigen Gesicht, "und das ist der Kaiser. Da weiß ich nun gleich, wer euer Vater ist."
'Wenn ich nur lange genug mit dem bunten Köder vor seiner Nase spiele, dann wird er danach schnappen', dachte der Alte bei sich.
"Ihr glaubt mir nicht", stellte Asari fest. "Wer will euch das verdenken ..."
Der Alte verscheuchte diesen Gedanke wie eine Stechmükke: "Was ich hör', dass glaub' ich. Ich wüsst' nur zu gerne, wie die Sache mit eurem Vater ist ... ihr versteht wohl recht, ein armer Fischer, wie ich es bin, hat sonderlich ein Auge auf die großen Dinge."
"Mein Vater ist tot, habe ich gehört. Ich komm' also, um zu suchen, was für mich übrig ist", erklärte Asari bereitwillig.
Der Alte rollte seine Angel ein. Da hat doch dieser seltsame Uferfisch wirklich angebissen!
"Habt ihr denn gelernt, ein Kaiser zu sein?", fragte er, als sorge er sich. Sollte der junge Mann nur erzählen! Er, der Fischer, hatte genug Fische in seinem Leben gefangen. Da war nun Zeit für einen rechten Spaß.
"Hat der Fluss gelernt, ein Fluss zu sein, frage ich euch."
"Hört, alles kann man lernen. Ich bin ein Fischer. Das lernte ich von meinem Vater, und wenn es einen Sohn von mir gäb', dann säß' er hier im Boot."
"Fischer kann man lernen, da habt ihr recht, aber Fisch zu sein an einer Angel - kann man das lernen?"
Jetzt kicherte es in dem Alten, dass sein Boot kleine Wellen schlug. "Ihr seid mir einer ... ein wirklich Lustiger! Das ist ein Gehopse in eurem Knabenkopf!" Sein Boot zitterte vor Lachen, während der Alte sich den Ernst wie eine Maske vor das Gesicht hielt.
"Sei ihr wegen der Sitte gekommen?", fragte er mit einer verdunkelten Stimme, die er wie einen Riegel vor das Kichern schob.
"Ich kenne keine Sitte, wegen der ich gekommen sein könnte", gestand Asari.
"Aber die Sitte kennt euch", versicherte der Alte. "Bestimmt kennt sie euch. Deshalb hat sie hier auf euch gewartet!"
"Wenn sie gewartet hat, dann berichtet ihr von meinem Kommen."
"Davon hörte sie bereits!" Eifrig war der Fischer aus seinem Boot gesprungen. "Ihr seid doch der Sohn des Kaisers!? Und der alte Kaiser ist tot!? Dann seid der Kaiser nun ihr!"
"Alles wie ihr sagt", gab ihm Asari mit Würde recht.
"Dann sagt die Sitte", so der Alte und nahm die Maske vom nunmehr ernsten Gesicht, "dass wir auf einem Floss ein Feuer anzünden und es in die Mitte des Flusses fahren sollen, damit es forttreiben kann."
Der Alte erinnerte sich mit einem Mal, dass er ein kleiner Junge gewesen war. "So groß war ich", berichtete er, "es war das erste Mal, dass ich bis spät in die Nacht aufbleiben durfte. Ich sehe es genau vor mir."
"Es ist eine schöne Sitte", sagte Asari und sah nachdenklich auf seine Füße. "Aber das Feuer wird an das nächste Ufer treiben und verlöschen."
Der Alte nickte. "So war das auch, weit dort hinten. Aber schön war es doch, wie es über das Wasser trieb. Stellt euch vor: Es war alles so schwarz, dass ich die Mutter fragen musste, ob ich die Augen auf oder zu habe. Und dann mit einem Mal war das Feuer entzündet, und die Mutter hat mich gedrückt. Es war wirklich schön."
"Wenn es eine Sitte ist, dann habt ihr sicherlich noch ein Floß?", fragte Asari.
"Wir haben ein Floß und alles, was man braucht", erklärte der Fischer und fand, dass der junge Mann vom Leben in einem Fischerdorf sehr wenig wusste.
"Da habt ihr also alles für eure Sitte zusammen: den neuen Kaiser und euer Floss."
Der Alte wischte sich über die Stirn. Zum Lachen war ihm nicht mehr zu Mute, seit er an seine Mutter hatte denken müssen. Traurig war ihm, denn die Familie hatten sie fortgeben müssen, weil kein Platz für sie im Haus gewesen war. Da war sie gestorben.
"Könnt ihr das Floß so mit Brennholz beladen, dass es ein Feuer gibt, wie noch nie eines war?", fragte Asari.
Der Alte zeigte, dass man ihm eine solche Frage nicht zu stellen brauchte. Er sah das Feuer vor sich und dachte, wenn der junge Mann auch kein Kaiser war, so war ein Feuer in der Mitte des Flusses für sich genommen auch schön. Und wenn es nur ein Feuer für seine Mutter war, dann war es genug.
"Am Abend, nachdem ich fort bin, sollt ihr als erste von allen den neuen Kaiser feiern!"
Der Alte nickte. Das war eine schöne Sache. Fische hatte er genug gefangen. Es würde so ein Feuer sein, wie er es als kleiner Junge gesehen hatte. Er würde all die kleinen Jungen sehen, die an der Hand ihrer Mutter in das Schwarze schauten, um auf das Feuer zu warten.
"Was stehst du und denkst? Willst du einen Lohn für deinen Dienst?"
"Nein, nein, Ich will keinen Lohn. Nur ... ihr müsst zu meinen Leuten sprechen. Wenn SIE glauben, dass ihr ein Kaiser seid, dann will auch ICH es glauben und euch das Floß beladen und zu Wasser lassen, so wie ihr es verlangt habt."
"In der Nacht werde ich auf dich und deine Leute dort oben warten." Asari zeigte auf die Stelle, wo er und die Drachenzähne ihr Lager aufgeschlagen hatten. "Ich gebe dir mein Wort darauf."
Darauf stieß der Alte sein Boot vom Ufer ab und ruderte langsam fort.
Nun fand die Sonne keine Freunde mehr, außer ein paar Wolken, die den großen Zug verschlafen hatten. Der Nebel kam aus dem Schilf hervor und trieb sich am Ufer umher. Dorthin, wo die nackten Zehen waren, wanderte die Kühle. Nun erst erhob sich Asari, um zurückzugehen.
Chapter 122. Die Soldaten kehren zurück
In der Nacht hatten sie dem Kaisersohn leichte Fesseln angelegt. Am Morgen waren sie ihm abgenommen worden, damit er seine Übungen machen konnte.
Dafür hatte er sich etwas abseits hingestellt und seltsame zittrige und schlackernde Bewegungen gemacht. Erst hatten sie hingesehen, weil sie so etwas noch nie gesehen hatten. Dann hatten sie aus Mitleid weggesehen. Als sie wieder hinsahen, war er fort.
Zuerst dachten sie, er sei gegangen, um ein Geschäft zu machen, wie es auch ein Kaiser machen muss. Nichts da, er war fort! Das konnte nicht sein - es war aber so! Ausserdem fehlte sein Pferd. Das hatte er mitgenommen.
Der Oberste, als sie ihm berichteten, schrie vor Schreck laut auf. Dann hustete er. Als er seine Stimme wiederfand, brachte er kein Wort heraus, aber sie wussten schon, was er wollte.
Laut rufend teilten sie sich die Richtungen und rannten zu ihren Pferden, um aufzuspringen. Zuerst begriffen die Soldaten nicht, was mit ihnen geschah. Es verblüffte sie wie ein Schlag, der sie alle gleicherweise traf. Die Pferde rührten sich weniger, als es Schaukelpferde an ihrer Stelle getan hätten. So sehr sie ihnen die Sporen gaben, die Pferde standen mit gesenkten Köpfen und waren festgewachsen.
Die eine Gruppe der Soldaten hielt es für ein Wunder. Einen Beweis dafür, dass der Kaisersohn über die Tiere eine Macht habe, jedenfalls über Soldatenpferde. In seinem Dorf sei einer, hatte der lange Somna gesagt, der könne auch solche Sachen mit Tieren. Der würde von den Leuten nicht für verrückt angesehen, obwohl er die Fische rufe, statt eine Angel auszuwerfen.
Nein, sagten die anderen, dass sei ein Trick. Der Kaisersohn habe etwas mit den Gäulen gemacht, so wie Pferdediebe es täten. Aber sie konnten den Trick nicht erklären und konnten ebensowenig erklären, woher ein Kaisersohn ausgerechnet von einem Pferdedieb einen Trick kannte.
Der Oberste sagte nichts. Er ließ den Kopf hängen und rührte sich nicht von der Stelle. Sein Blick baumelte lose wie seine Arme auf den Boden.
Der lange Somna sagte, der Kaisersohn habe die Pferde und den Obersten gleich mitverzaubert.
Der alte Lipp sagte, der Oberste habe vielmehr einen Schreck bekommen als wie einen Hieb auf den Kopf. Das könne einen glatt umwerfen.
Der lange Somna sagte, dass der Oberste einen löchrigen Blick habe, sei nicht von einem Schreck. Oder sehe jemand, dass dem Obersten der Mund offen stehe. Sehe jemand, dass er am Leibe zittere. Es sei also kein Schreck. Der Oberste sei in einen Zauber versetzt und finde sich allein nicht heraus.
Egal, sagte Lipp. Man müsse etwas entscheiden. Es gehe ja nicht, dass man nichts tue, als darüber zu streiten, ob es ein Zauber sei oder ein Trick. Das gehe nicht.
Die Soldaten meinten aber, dass der Oberste etwas entscheiden müsse. Auch der Hauptmann sagte, der Oberste habe immer noch das Kommando.
Aber der Oberste könne nichts entscheiden, dass sehe man doch, entgegnete ihnen Lipp.
Das wäre schon richtig, sagte der lange Somna, aber es sei eine andere Sache damit. Da der Obere nicht tot oder verwundet sei, habe er den Befehl noch. Und abgeben könne er ihn nicht, weil er in einem solchen Zustand sei.
Der Hauptmann nickte nachdrücklich und legte dem Obersten den Arm auf die Schulter.
Aber jeder könne doch sehen, dass er verwundet sei, eben von innen, hielt Lipp ihnen entgegen.
Nein, von innen könne keiner den Obersten ansehen. Deswegen müsse man wissen, ob es ein Zauber sei oder ein Schreck, sagte der Hauptmann. Einen Schreck könne er als Verwundung gelten lassen, aber nicht einen Zauber.
Ein Schreck sei es nicht, da sei er sicher, so der lange Somna.
Er solle aufhören, sie mit seinem Zaubergerede verrückt zu machen, sagte Lipp.
Wenn ihm einer verbiete etwas zu sagen, so Somna, dann habe er damit noch lange nichts gegen den Zauber getan.
Es sei kein Zauber.
Es sei aber auch kein Schreck.
Ein Zauberschreck?, schlug ein dritter vor.
Das fanden weder Somna noch Lipp witzig.
Was denn nun wäre, fragte der alte Treufuß. Als keiner etwas zu antworten wusste, sagte er, zu seiner Zeit hätten die Soldaten nicht soviel geredet. Wenn sie soviel geredet hätten, dann hätten sie nur halb so viele Schlachten geschlagen und alle verloren. Manchmal habe ein Pferd gelahmt oder ein Soldat sei betrunken heruntergefallen, aber ein Rumreden habe es nicht gegeben.
Wenn der Obere etwas sagen würde, hielt der Hauptmann dem Treufuß entgegen, dann wären sie ja froh. Bitte, das sei ja das Schwierige. Ein Problem wäre es, das müsse er einsehen.
Was Treufuß denn denke, ob es ein Zauber oder ein Schreck sei, fragte der lange Somna den alten Treufuß.
Dass sei ihm egal, entgegnete Treufuß. Er sei Soldat gewesen.
Weil er es eben auch nicht wisse, behauptete Somna. Da solle er ruhig ehrlich sein.
Lipp zeigte auf die Pferde. Die hatten die Köpfe wieder hochgenommen und sahen zu ihnen herüber.
Der Schreck sei vorüber, sagte er.
Der ZAUBER sei vorüber, sagte Somna.
Dann würden sie ja nicht mehr debattieren müssen, sagte Treufuß.
Über die Pferde hätten sie ja auch nicht debattiert, sagte der Hauptmann und zeigte auf den Obersten, der den Kopf nicht hochgenommen hatte.
Ausserdem habe Treufuß gesagt, es sei ihm egal, bemerkte Somna. Er dürfe es nicht einmal so und dann wieder andersherum sagen.
Treufuß hielt sich daraufhin die Ohren zu.
Langsam bewegte sich der Oberste auf die Pferde zu. Dabei wackelte er mit dem Kopf und schlackerte die Arme, wie es der Kaisersohn für seine Übung getan hatte.
Das sei der Beweis, sagte Somna. Der Zauber sei auf ihn übergetreten. Man solle dem Obersten nicht zu nah kommen.
Er werde dem Obersten alles von Somna berichten, wenn er aus seinem Schreck erwacht sei, sagte Lipp. Aber er hielt einen Abstand.
Der Oberste stieg langsam auf sein Pferd. Es war das falsche, und er bemerkte es erst, als ihm das richtige einen Stubs in den Rücken gab. Also stieg er vom falschen ab und auf das richtige Pferd auf. Dann ritt er langsam davon.
Wir reiten ihm hinterher, entschied Lipp.
Mit Abstand, sagte Somna.
Der Oberste ritt ihnen gute zehn Meter voraus und hörte nicht, was sie redeten. Er saß recht lose auf seinem Pferd. Seine Körperhaltung war 'ohne Willen' zu nennen. Es hielt den Obersten nur oben, weil das Pferd ihn behutsam auf dem Rücken balancierte.
Ob sie es glaubten oder nicht, sagte Treufuß, früher sei alles anders gewesen.
Dann solle er doch froh sein, entgegnete ihm der Hauptmann. Es wäre ihnen auch lieber, wenn alles nicht so schwierig wäre.
Chapter 123. Die Dorfleute
Als Woi erwachte, fand er die Drachenzähne und Asari noch schlafend. Also nahm er sich vor, die Umgebung zu erforschen.
Der Weg, den er wählte, war schon lange nicht mehr in Gebrauch. Das Gras war kniehoch und dicht, verwischte die Ränder und führte das Licht durch den Wald wie vor langer Zeit einmal die Menschen.
Ein kleiner Bach begleitete Woi. War er anfangs noch still gewesen, hatte er nun Zutrauen gewonnen und plauderte munter vokalig drauflos. Unter den dicken Wurzelzehen eines Baumes verschwand er, ohne Abschied genommen zu haben.
Der Weg führte Woi zu einer Stelle, wo ein Felsen aufragte, der die Gestalt eines im Wind liegenden Bootes hatte. Als er den Felsen betrat, sah er direkt vor sich den Fluss und den Abzweig, wo der redselige Bach, sein flüchtiger Bekannte, sich mit dem schweigsamen Bruder vereinigt hatte.
Woi sah zu, wie sich Tag und Nacht auf dem Fluss die Wache übergaben. Erst bündelte die Sonne alle ihre Kraft, dann legte sie ihr verwobenes Licht als einen dicken Teppich auf dem Strom. So schwer und dicht war er geknüpft, dass die Wellen darunter verschwanden und der Wind eine Glätte vorfand, an der es nichts zu rühren gab. Langsam dickflüssig floss der Strom als ein Likör dahin.
Irgendetwas tat sich. Woi hatte Geräusche gehört. Schnell ging er zu dem Stein, der wie ein Boot war, und nahm Deckung auf. Kurz sah er ein Flackern und dachte noch, es sei der Fluss, auf dem die letzten Reste vom Likör dahintrieben.
Dann er sah das Flackern wieder. Er war sich sicher, dass es von einem Feuerschein kam, irgendein fremdes Lager. Über der Bugspitze des Steines sah er, dass der Feuerschein sich bewegte.
Das Licht war unruhig und hell. Es waren Fackeln, die in einer Schrittfolge getragen wurden. Sie blieben hintereinander und brannten sich den Weg durch den Wald. Ihre Träger gingen genau den Weg, den Woi vom anderen Ende her beschritten hatte.
Es war ein Marsch von dunklen Gestalten, kein Reisemarsch. Dazu war die Reihe zu eng geschlossen. Auch waren es keine Soldaten. Die Marschierenden hatten keine Waffen bei sich, jedenfalls keine glänzenden.
Die Gruppe kam immer näher und steuerte auf ihr Ziel zu, als gäbe es kein Rechts und Links für sie. Sie schienen niemanden zu fürchten. Vorneweg gingen die Männer, dahinter viele Frauen und Kinder. Nicht jeder trug eine Fakkel. Aber niemand hatte etwas dabei, kein Proviant, keine Rucksäche, nichts.
'Das Dorf', dachte Woi. 'Sie kommen aus dem Dorf, dessen Rauch wir gesehen haben.' Es waren Fischer, und sie trugen ihren Staat. Die Frauen hatte Tücher umgebunden, die Schuhe der Männer glänzten geputzt, und die Kinder hatten Kappen auf, die zu groß oder zu klein waren.
'Wenn sie diesen Weg weitergehen, dann kommen sie direkt zu unserem Lager', dachte Woi, als sie an ihm vorbeimarschierten.
Jemand legte ihm eine Hand auf die Schulter und hielt ihm mit der anderen den Mund zu, als er herumschreckte. Es war der Narbige, der sich angeschlichen hatte. Nun kauerten sie beide nebeneinander und sahen den Zug vorbeiziehen.
"Was machen sie?", flüstere der Narbige.
Woi zuckte die Achsel. Er wusste es nicht, so wenig wie der Narbige. Aber jedenfalls hatte er einen Verdacht. Irgendwie hatte es mit diesem Asari zu tun. Wenn etwas Verrücktes in letzter Zeit geschehen war, dann hatte es bisher IMMER mit Asari zu tun gehabt.
"Ich wette ...", sagte er leise und tippte sich an den Kopf.
Der Narbige nickte. Im Wald war sonst nichts, was diesen Aufmarsch erklären konnte, nichts außer diesem Asari. Wie er es geschafft hatte, sie erneut in eine gefährliche Situation zu bringen, blieb vorerst sein Geheimnis.
"Wir gehen ihnen hinterher und warten ab", schlug Woi vor. "Wenn es das ist, was wir denken, dann werden sie arglos sein."
Der Narbige nickte. Sie folgten den Leute vom Dorf in einem gehörigen Abstand.
"Hast du dich gut befreit?", fragte Woi.
"Die Soldaten am Kaiserhof sind die dümmsten", sagte der Narbige.
Als die Gruppe am Lager angekommen war, schlugen sich Woi und der Narbige in die Büsche und beobachteten, was geschehen würde.
Sie sahen, wie der Zwerg sich blitzschnell ins Gebüsch rollen ließ, um sich zu verstecken, während Tatze hochschreckte und wild um sich blickte, weil er sein Schwert nicht fand. Das hatte Asari sich auf die Knie gelegt und erwartete, auf einem gedachten Thron sitzend, die Leute vom Dorf.
"Halt!", rief Tatze, aber niemand beachtete ihn.
"Das ist er", sagte der Anführer der Fischer und leuchtete mit seiner Fackel das Gesicht von Asari ab.
Neugierig betrachteten die Leute den Sitzenden. Sie gingen sehr nah heran, weil es dunkel war und Asari sie an eine Steinfigur erinnerte.
"Was ist, wenn er ein Betrüger ist?", begann einer, der ihm am nächsten mit dem Gesicht gewesen war.
"Er sieht nicht wie ein Betrüger aus", sagte einer, der größer als alle anderen war.
"Betrüger sehen nie wie Betrüger aus", behauptete eine Frau, die nichts sehen konnte.
"Ich kannte mal jemand -", so ihre Nachbarin.
"Ich kannte auch mal jemand -", unterbrach eine andere.
"Niemand spricht durcheinander", befahl der Alte vorne, der zwei Fackeln hielt.
"Wenn er der neue Kaiser ist, warum sitzt er dann hier in unserem Wald?"
"Was sagt das schon ...?", mahnte der Alte.
"Wenn er ein Betrüger ist, warum redet er dann nicht, dass wir ihn hören können. Wie kann er uns betrügen, wenn er nicht redet?"
"Hat er uns schon betrogen?", fragte einer, der klein war und ganz hinten stand.
"Er ist entweder ein Kaiser oder keiner", antwortete ihm jemand.
"Ich sagte gleich, dass etwas an ihm ist", so der Alte wieder.
"Ich sage, entweder ist er ein Betrüger oder keiner!"
"Genau!"
"Ist er doch kein Kaiser oder was?", fragte der Kleine von hinten.
"Hör auf, an deinem Vater zu zupfen", sagte eine Frauenstimme.
"Er ist ein Betrüger, der sagt, dass er ein Kaiser ist! Das haben wir doch gehört."
"Ein Betrüger, der nicht unser Geld will, ist kein Betrüger!"
"Es ist mein Schwert", hörten sie Tatze sagen. "Er kann es haben, aber es gehört mir."
"Er hat mir gesagt, dass er der neue Kaiser ist", sagte der Alte vorne. "Das reicht doch wohl!"
"Aber warum sollte er sagen, dass er der Kaiser ist, wenn er es nicht ist? Was hat er davon?"
"Damit wir ihn für einen Betrüger halten."
"Aber das will er doch nicht. Er will doch, dass wir ihn für einen Kaiser halte!"
"Eben, sag' ich doch!"
"Ich geb' ihm KEIN Geld!", rief der Kleine von hinten.
"Will er doch auch nicht!"
"Ich will mein Schwert natürlich zurück", sagte Tatze.
"Aber was will er dann?"
"Mama, du hast gesagt, dass es nicht lange dauert, hast du gesagt!"
"Unser Floß will er, nichts anderes!"
"Aber was hat er den von unserem Floß. Er ist doch ein Betrüger!"
"Unser Floß will er, weil er ein Kaiser ist, Dummkopf!"
"Ja, stimmt", sagten zwei.
"Hat er gesagt, warum er nichts sagt?", fragte der Kleine von hinten, der auch nichts hörte.
"Er kann nur ein Betrüger sein, wenn er ETWAS sagt!"
"Aber nur weil er nichts sagt, ist er noch kein Kaiser. Sonst ist Karpfen auch ein Kaiser." Die Fischer zeigten lachend auf einen, der ein Fischgesicht hatte.
"Jedenfalls ist Karpfen kein Betrüger."
"Karpfen ist aber auch kein Kaiser!"
"Karpfen hat noch nie jemanden betrogen!"
"Mutter, was MACHEN wir denn hier?"
"Es ist doch nur ein Floß und steht im Weg!", gab der Alte zu bedenken.
"Da hat er recht", sagten drei.
"Ich will nach Hause, Mama", sagte ein Kind. "Kann er nicht mitkommen, wenn er das Floß will."
"Er hat doch Wichtigeres zu tun. Du hörst doch, dass er ein Kaiser ist!"
"Aber warum streiten sie dann?"
"Weil sie eben streiten MÜSSEN ..."
"Bekomme ich jetzt mein Schwert zurück?", fragte Tatze.
"Wir machen es also, wie er es gesagt hat", stellte der Alte fest. "Wenn er kein Kaiser ist, dann ist es ein Floß auf einem Fluss und die Kinder haben eine Freude daran. Ist er ein Kaiser, dann ist es eine alte Sitte und die Kinder haben ebenso eine Freude."
"Ja, so machen wir es", riefe alle und klatschten in die Hände.
"Gehen wir jetzt, Mama?"
"Ja, Kind, du hörst doch, dass es jetzt vorbei ist."
Chapter 124. Die Reifeprüfung
Die Kaiserin liebte Tage wie diesen. Er schien ihr sagen zu wollen: 'Was geht mich die Herbstszeit an? Und was geht sie eine Kaiserin an?'
Der Tag trat mit einem Licht ein, das die Reste der rotstaubigen Stunden aus den Augen wusch. Er hieß die dunklen Stimmen der Schatten schweigen. Hängte die Pflicht zu den alten Kleidern in den Schrank, setzte sich neben die Kaiserin, streichelte ihre Wangen, zärtlich und im Vertrauen vergesslich. So ein Tag war es, dass er wartete, zu hören, wie er ihr zu Diensten sein konnte.
Die Erinnerungen waren zutraulich, ohne Arg und Eile. Sie drängten sich nicht und würden gehen, wenn sie keinen Platz fanden. An solchen Tagen machten sie keine Unterschiede zwischen sich und den anderen. Die einen hatten die Rechte wie die anderen, und keiner wollte dem anderen die Geburt neiden.
Das kleine Mädchen, von dem der Tag sich erzählte, saß an einem hohen Tisch. Das war, als ihr der Bruder noch lebte. Alles war mit einer weißen Decke bedeckt war, die bis zum Boden ging. Die Menschen saßen zum Essen an einem Wolkentisch, als Stühle dienten ihnen die Bäume. Weil es 'Hui' machte, kicherte das kleine Mädchen, und alle sahen zu ihr hin und dann wieder weg, weil sie albern war.
Das kleine Mädchen wurde von allen gegrüßt. Jeder brachte ihr Dinge. Zwei Diener sammelten alles ein. Für jedes Ding hatten sie einen Korb und ein weißes Tuch. Manchmal waren es nur Worte, welche die Gäste brachten. Mit denen waren die Diener achtlos und stopften sie in die Taschen. Einmal war es ein wunderschöner Schuh, in dem ein Wachsfuß war. Dann die Federn von einem Raben, zusammengebunden zu einem Zopf. Das Mädchen streckte die Hand aus und streute Krumen, die der Wind ihr vor die Füße geweht hatte. Jemand kam, sie aufzukehren und fortzutragen.
Die Kaiserin dachte an die Frau, die ihr die Schönheit versprochen hatte. Vielleicht vermochte sie eine Tür hinaus zu öffnen, so wie manche Tage es verstehen, sich aus der Zeit zu stehlen. Vergangenheit und Gegenwart würden sich begegnen. Sie würden wie ernste Kinder voreinander stehen und Dinge tauschen. Den großen Korb gegen den Vorhang mit seinem Licht, den Rabenzopf für das Trauerkleid. Und die Worte, welche die Diener sich in die Taschen gestopft hatten, gegen die gelben Augen des alten Hofmarschalls.
'Klopf' machte es an der Tür. 'Klopf', 'Klopf'.
'Ah', dachte die Kaiserin, 'die Zeit hat gemerkt, dass ich ihr entwischt bin. Neugierig ist sie, was ich anstelle. Wird mich ausschimpfen wollen und scharf die Fragen stellen. Sieht nach, ob alles an seinem Platz ist. Mag nicht Kinder, die Sachen tauschen.'
Die Zeit hatte den Günstling Baldeina für das Klopfen ausgesucht. Sie hatte ihn an seinem feinen Westenzipfeln fasst und hergebracht. Beide waren sie nun in Sorge um die arme Kaiserin.
"Bitte", rief Baldeina, "es duldet keinen Verzug!"
Das hatte die Zeit ihm vorgeflüstert. Das waren ihre Worte, die er gebraucht hatte für seine eigenen.
"Bitte, Kaiserin, wir haben eine Entscheidung zu fällen. Unten warten sie alle. Es ist etwas passiert."
'Wem willst du dienen,Baldeina?', dachte sie sich aus, 'deiner Kaiserin oder der Zeit, mir oder ihr? - Ach, was streiten wir? Soll er uns beiden dienen!'
Da sagte sie: "Ja, ich öffne euch und eurem Anliegen. Ich gehe bereits zur Tür, die letzten Schritte noch, da habt ihr, was ihr wollt ..."
Baldeina warf es in den Raum hinein. In der Mitte vor einem zu Tode erschreckten Tischlein kam er zu stehen, schwankte wie ein Pendel aus. Dann warf er die Arme hoch, als müsse er sich von etwas befreien und stellte seine Augen stierend auf die Kaiserin ein.
"Sie sind zurückgekommen, gerade eben zurückgekommen" - neue Worte forderten neue Luft - "allesamt zurückgekommen, nur er nicht ... ist nicht dabei" - um Verstehen bat der Blick der Kaiserin - "der Kaiser der Tränen ist nicht dabei. Die Soldaten hatten ihn, und plötzlich ist er fort, unerklärlich verschwunden, wie durch einen geheimen Gang oder einen Zauber entwischt!"
Die Zeit hatte die Dinge in ihrer Kraft gesammelt und warf sie nun, nein, schleuderte sie heraus. Doch die Wilde traf keine Ängstliche. Was musste fürchten von ihr, wer sich unsichtbar vor ihr machen konnte?
"Versteht ihr nicht, was das heißt?", rief Baldeina.
"Erklärt es mir, ich bin noch etwas verträumt."
"Wenn der Kaiser der Tränen fort ist, und das ist er! Wie soll dann eine Prüfung seiner Reife stattfinden?"
Die Kaiserin verstand nicht, warum das wichtig war. Für ihren Günstling hätte sie es gerne verstanden, aber ihr Blick drückte Bedauern aus.
"Wenn sie nicht stattfindet, diese Prüfung", rief Baldeina, "wie kann dann eure Krönung stattfinde?"
Die Kaiserin lächelte über den Gedanken, dass sie auf ihre Krönung verzichten sollte. "Der Richter wird es wissen. Er las es vor und muss es deuten."
"Der Richter ist fort", haspelte Baldeina, "gestern geflohen, grad erfahr ich es!"
"Wenn wir keine Richter haben, dann ernennen wir einen", sagte sie sanft und sah auf ihre Hände.
"Ich wüsste einen", sagte Baldeina, indem er vorsichtig den glatten Boden der Zuversicht betrat. "... er versteht unsere Sprache, aber ..."
"Sagt seinen Namen!"
"Ken, der Fürstensohn, der neu um die Prinzessin freit."
"Er sei der Richter, das ist entschieden!"
"Haben wir also einen Richter für die Prüfung, brauchen wir immer noch einen Prüfling!", sprach er seine Ratlosigkeit aus.
Sie schwieg über die Ränder seiner Worte hinaus.
"Der Richter nützt uns nichts!", rief er schließlich und stützte sich mit ganzer Seele auf den kleinen Tisch: "Nicht soviel!" Er wollte auf etwas zeigen, aber fand nichts, das verdeutlicht hätte, wie wenig Ken ihnen nützen konnte.
Die Kaiserin hörte nicht zu. Von einem unterdrückten Gähnen zitterte ihr Mund. Es umgab sie ein geradezu körperlicher Duft des Träumens.
"Die Prüfung der Reife", erklärte Baldeina, um Fassung bemüht, "legen wir in die unvoreingenommenen Hände von Ken gelegt. Weil aber für ihn nichts zu prüfen da ist, liegt alles still. Nichts passiert, keine Prüfung, keine Krönung! Wir müssen warten, bis der Kaiser der Tränen wieder auftaucht, aber das wird er nicht. Er weiß doch jetzt, was ihn erwartet. Da wird er abwarten. Und wir drehen uns im Kreis und können nichts machen."
"Keine Krönung?", fragte die Kaiserin leise. "Bitte, bitte, sagt es nicht, ihr seid mein Günstling ... dürft es nicht sagen." Das Licht suchte sich einen Platz, konnte sich nicht entscheiden, ob es sich in ihrem Haar oder in den gerafften Schleiern ihres Bettes niederlassen sollte.
"Ich gehe jetzt zur Befragung holen", sagte Baldeina und nahm das Tischchen in die Hand, als wolle er ihm ein Bein ausreissen. "Mit dem Obersten ist nichts anzufangen, spricht nicht, isst nicht, trinkt nicht. Den Hauptmannn werden wir fragen müssen."
Seltsam unbeteiligt schien ihm die Kaiserin, als er sie verließ. Im leeren Ausdruck ihres Blickes glich sie dem Obersten. Fast könnte man glauben, der Kaiser der Tränen habe auch in ihr die Kopfleere verbreitet.
Wieder saß die Kaiserin allein. Mit ihr ein einziger schrecklicher Gedanke, den sie nicht ausprechen durfte. Es konnte nicht sein! Eine einfache Erklärung für alles würde sich finden lassen. Allein musste sie die Antwort finden, durfte als Kaiserin keine Hilfe von der anderen annehmen. Musste sich stark zeigen und durfte triumphieren, wenn sie gekrönt war.
'Niemand ist da, der zu prüfen ist!' Sie wiederholte die Worte. Erst langsam, dann schneller. Vielleicht zehn Mal sprach sie sich die Worte vor.
Dann kam ein Gedanke. Schreckhaft schickte er seinen Schatten vor und war gleich wieder fort, als sie nach ihm griff. Es war ein kluger Gedanke gewesen, den sie gleich wieder verloren hatte. Wie dumm das war!
Da war er wieder! Sie tat, als sei er nicht wichtig, als gebe es andere. Sie dachte an Baldeina, an das Diadem des Blauen Drachen, an Nadim und Dessa - halt, das schien ihn fortzuschrecken! - dachte an Ken und die beiden Dienerinnen, an den alten Kaiser und den dicken General.
Er war nun ganz nah und fragte, ob einer noch vor ihm in der Reihe sei. Nein, eigentlich nicht, wenn er wolle, so die Kaiserin, könne er jetzt vortreten und sich deutlich aussprechen.
Voller Ungeduld legte er los: Es werde doch bloß das Vorhandensein einer Reife geprüft. So habe er es verstanden.
Die Kaiserin nickte und machte sich aufmerksam.
Er setzte fort: Dieser Kaiser sei geflohen, gut, aber ebensogut könne er verblichen sein, krank am Körper oder an seiner Seele sein. Bedeutungslos und nicht verlangt sei die Prüfung des Grundes, der ihn abhalte, seine Reife vorzuweisen!
Wie klug er war, dieser Gedanke? Warum bloss hatte er sich gleich auf zwei Fluchtbeine gestellt und eine Gefahr gewittert. Hatte wohl Angst, dass er gleich auf dem Feuer lag und munterem Gespräch als leichte Speise diente.
Chapter 125. Das Gelage
"Bin ich so alt, dass mich keiner mehr bewacht?", hatte Treufuß gefragt.
Der General hatte gelacht und ihm mit dem Finger gedroht, aber keinen zur Bewachung geschickt. Zu seiner Zeit war Treufuß der General gewesen, er selbst ein Hauptmann, bald ein Oberster, erst mit dem Abtritt von Treufuß ein General.
Das hatte er nicht vergessen und ihm wollte erscheinen, dass sich nichts geändert hatte. Was Treufuß sagte, kam einem Befehl gleich, und er, der General des Kaisers, hätte nie daran gedacht, einen solchen Mann bewachen zu lassen.
So war Treufuß in den letzten Tagen als freier Mann im Kaiserhof umhergegangen. Es hatte sich nicht viel geändert seit früher, aber kein Gesicht wollte ihm bekannt vorkommen.
Der Oberste hatte sich langsam wieder erholt. An einem Morgen war er aufgewacht und hatte gewusst, dass er ein Oberster war, und alle Soldaten bei ihren Namen gekannt. Da ihn niemand fragte, ob er noch etwas wisse, merkte er nicht, dass er dies Etwas völlig vergessen hatte. Den langen Somna musste er zurechtweisen, weil dieser ein Gesicht machte. Aber da der lange Somna schon früher Gesichter gemacht hatte und er ihn zurechtgewiesen hatte, war alles wie immer.
Als Treufuß nicht mehr über den Kaisersohn ausgefragt wurde, lud der General ihn in den Weinkeller ein.
Er kenne den Ort, sagte Treufuß. Früher hätten sie dort zusammen getrunken, und manches Mal sei der Kaiser dazu gekommen.
Ja, davon habe er gehört, sagte der General. Auch die Wachen hätten getrunken.
Alle hätten sie getrunken. Menschlich sei es unter ihnen zugegangen.
Nicht anders als menschlich werde es auch jetzt zugehen, versprach der General. Er ließ zwei Wachen kommen, damit alles so wie früher war.
Nur der Kaiser werde fehlen, sagte Treufuß.
Aber jedenfalls würden sie an ihn denken, sagte der General.
Treufuß ließ dem General zum Weinkeller den Vortritt und nötigte ihn, sich auf den Platz zu setzen, welchen vormals der Kaiser eingenommen hatte.
Hier im Weinkeller, sagte er und bestand darauf, dass der General es glaube, sei die Politik des Kaiserreiches gemacht worden. Der Kaiser habe auf der Waage gesessen, die ihm als Schaukel gedient habe. So sei er gelegen, habe mit den Füssen gewippt, zum Zeiger hochgesehen und aus dem Fenster hinaus. Vor dem Trinken habe er das Glas in das Licht gehoben und lange seine Farbe betrachtet.
Ob Treufuß sich nicht doch auf die Waage legen wolle.
Nein, da solle der General liegen, sich wiegen lassen und die lichttiefen Farben des Weins studieren.
Treufuß nahm Platz auf einem Schemel, dem zwei Weinfässer eine mächtige Rückenlehne waren. Langsam und in Gedanken bei dem Toten setzte er sich nieder und dachte nicht daran, vorher den Staub abzuwischen.
So schwiegen die beiden alten Männer und hatten jeder miteinander die eigenen Gedanken. Treufuss ähnelte in Gestalt und Bewegungen dem Kaiser. Das Licht des Kellers nahm es nicht genau. Wenn Treufuß so saß und schweratmend schwieg, dann war dem General, als sitze der Kaiser an seiner Stelle.
Treufuß auf seinem Sitz dachte an gewichtige Dinge und überlegte sich, wie er davon anfangen konnte. Der General war dem Kaiser fraglos sehr verbunden gewesen. Wie aber stand er zu der Kaiserin?
"Er hat ja noch spät geheiratet", fing er bedächtig das Gespräch an.
Der General war kein dummer Mann und wusste gleich, dass nichts dahingesagt war. Treufuß - das stand fest - war nicht auf Seiten der Kaiserin. Gewissermaßen war er ja ihr Gefangener. Der General trank sein Glas leer und machte sich auf, einen anderen Wein zu probieren.
"Sie ist eine Frau, wie man sie selten trifft", machte Treufuß eine zweiten Anfang.
Der General suchte bei den vielen Flaschen schweigend nach dem zum Gespräch passenden Wein. Es war eben so, dass beim Aussuchen des Weines oft eine Zeit verging, bis er zwei, drei herausgesucht hatte, die er öffnete, um mal diesen, mal jenen zu probieren. Er war eigentlich kein Trinker, sondern - so sagte man von ihm - ein Probierer. Kein Wein konnte ihn überzeugen, der einzig richtige zu sein. So gab sich der General dem Kosten hin und nicht der Trunkenheit. Gab es denn überhaupt den richtigen Wein?
"Sie ist eine ungewöhnliche Frau für eine Kaiserin", war der dritte Anfang von Treufuß.
Um nicht unhöflich zu wirken, nickte der General und gab der Waage im Niedersitzen einen freundlichen Ausschlag. Treufuß öffnete die Flasche, die der General ausgesucht hatte und goss ihm ein. Dann stellte er die Flasche, ohne sich bedient zu haben, neben sein Glas.
"Heute hat sie den alten Richter, der geflohen ist, durch einen neuen ersetzt", sagte der General langsam. Das hatte sie getan, also war nichts dabei, es zu sagen. Der Wein war geöffnet und wollte gekostet werden.
"Sie legt das Testament auf ungewöhnliche Weise aus. Sie ist eine ungewöhnliche Frau und wird eine ebenso ungewöhnliche Kaiserin." Treufuß machte eine Pause, in der er den General so eindringlich ansah, wie es ihm das Halbdunkel gestattete. Seine Stimmlage dem faden Licht anpassend, fuhr er fort: "Ich glaube, sie wartet ab, bis sie Kaiserin ist. Sie wird warten, weil es klug ist."
"Den Hofmarschall hat sie nicht ersetzt", bemerkte der General, "aber der Günstling ist neu. Auf den hört sie jetzt." Immer noch hatte er nichts gesagt, was falsch gedeutet werden konnte. Sie tranken einen kräftigen Schluck. Es war ein passabler Wein. Den würden sie jetzt trinken, bis die Flasche leer war. Er wippte mit den Füßen und die Waage nippte über seinem Kopf mit ihrer Zunge.
"Wenn der Kaiser der Tränen auftaucht und sie als Kaiserin bereits gekrönt ist, was ist dann, frage ich mich ..." Treufuß hatte den Tonfall des Generals angenommen. Stellte die Frage so, dass sie ohne Antwort stehen konnte.
"Ja, das frage ich mich auch, was passiert, wenn sie sich krönen lässt ..." Der General dachte an den alten Kaiser, der auch nichts richtig ausgesprochen hatte. Der Kaiser hatte nur gewollt, dass jemand dabei war, der das Echo der Worte zurückwarf.
"Was bedeutet ein Testament? Was bedeuten die Worte darin über das Leben hinaus? Wie leise wird das Flüstern eines im Tode liegenden ...?", sagte Treufuß.
Sein Gegenüber betrachtete abschätzend kostend den Wein in seinem Glas.
"Der Kaiser der Tränen ist geflohen. Kann er nicht auch wieder in Erscheinung treten?", gab Treufuß zu bedenken.
Das wollte bedacht werden und leuchtete dem Mann auf der Waage ein. Er wippte zweimal langsam mit dem Fuss, als sage er: "Jaa ... jaa."
Bedächtig erhob sich Treufuß und fragte zum erneuten Eingießen: "Und was geschieht dann?"
Die Waagenzunge blieb still. Das Licht umtänzelte das halbgeleerte Glas. "Wir müssen an alles denken ...", sagte der General.
"Was hätte ER gewollt, wenn er noch leben würde?", fragte Treufuß und zeigte auf den Wiegeplatz, den nun ein Treuer innehatte.
Die Flasche war leer. Sie würden zusammen eine nächste trinken. Der General hatte sich schon erhoben und traf eine erneute Wahl. Er zog den Korken ohne Hast. Mit dem Eingießen sah er Lagerung und Schwere des Weines. Morgen würden sie ihren Kopf spüren, aber heute war das Licht trübe und der Wein so schwer wie die Gedanken der Männer.
Nichts konnte ein Tod in ihrem Alter der Freundschaft und der Treue anhaben. Bald würde der Kaiser kommen und ohne Gruß eintreten wie einer, der nicht fort gewesen war. Seinen Platz auf der Waage würde er einnehmen, wippend den Plänen der beiden lauschen, brummend in das Glas schauen, wie er es immer tat, wenn er zufrieden war mit dem Werk seiner Treuen.
Chapter 126. Reifeprüfung in absentia
Ein Soldat pochte mit einem eisenbeschlagenen Handschuh an der Tür der Prinzessinnen. Als ihm geöffnet wurde, hob er die Hand zum kurzen Gruß und sagte: "Die Kaiserin bittet sie beide zu sich. Ich bin gekommen, sie zu holen."
"Was denn nun?", fragte Nadim keck, "werden wir gebeten oder geholt?"
Der Soldat sah sie verständnislos an. Stellte seinen Fuß in die Tür, statt eine Antwort zu geben.
"Bleib du hier, Dessa", sagte Nadim. "Es reicht, wenn eine von uns geht. Sicherlich wird Baldeina da sein, und den wirst du nicht sehen wollen."
"Beide Prinzessinen", sagte der Soldat, "hat sie gesagt."
"Herr Soldat, sie sehen doch, dass sie unpässlich ist", hielt ihm Nadim sanft entgegen.
"Ah, das tut mir leid", sagte der Soldat und überlegte. "Also gut, dann eben nur eine."
Nadim folgte ihm willig zu dem großen Kaisergemach, in dem der Vater gelegen hatte, wenn alle um ihn herum waren. Das Bett war nun fortgeräumt. An seiner Stelle lag nun ein Teppich, der verdecken sollte, dass etwas fehlte.
Der Hofmarschall und der General standen nebeneinander, obwohl sie sich nicht mochten, wie der Vater immer gesagt hatte. Zwischen zwei Soldaten, die ihre Lanzen in seinem Rücken gekreuzt hielten, stand der Eunuch und hielt die Schatulle mit dem Diadem des Blauen Drachen. Zu Nadims Überraschung war auch Ken anwesend. Er flüsterte mit Baldeina und sah nicht einmal zu ihr hin, als sie eintrat.
Heimlich beobachtete Nadim die beiden. Besonders Ken war heute anders als sonst. Verschreckt schien er, und Baldeina flüsterte ihm immer weitere Schrecken zu. Alles Freche war von Ken abgefallen. So wie er war, hätte sie ihn mögen können.
"Aber ich kenne ihn nicht einmal", flüsterte Ken so laut, dass sie es hörte, "das geht doch dann nicht!"
"Sie werden sehen", entgegnete Baldeina, ohne sich Mühe zu geben, leise zu sprechen, "dass sie sich zu viele Bedenken machen."
Die Hofdame der Kaiserin, die eigentlich deren Dienerin war, stolzierte herein. Der alte Diener des Vaters kam, sah sich um, als suche er etwas, was es für ihn zu tun gab. Als sein Blick auf die Hofdame fiel, machte diese einen spottzierlichen Knicks.
Der alte Mann geriet ins Stolpern und kam schließlich am Rand des Großen Teppichs zu stehen, als traue er sich nicht, darüber hinwegzutreten. Nadim tat so, als gehe sie umher, und stelle sich wie zufällig neben ihn.
"Warum sind wir hier?", fragte sie ihn leise, damit er nicht so traurig schaute. Die Soldaten rückten näher heran, damit sie mithören konnten.
"Heute ist der Tag, wo die Reifeprüfung stattfinden soll, wie es euer Vater in seinem Testament verfügt hat", erklärte der alte Mann.
"Ah, dann haben sie ihn also gebracht, der sozusagen ein Bruder ist?" Nadim hatte so laut gesprochen, dass alle zu ihr hinsahen. Nur Ken hatte seinen Blick nicht von Baldeina lösen können. Einige der Soldaten lächelten. Da kam sich Nadim sehr dumm vor.
Mit einem gebieterischem Räuspern und drei großen Schritte trat Baldeina in die Mitte des Teppichs, bat alle zurückzutreten und gab den Soldaten Befehl, die große Tür zum Thronzimmer zu öffnen.
In der Mitte des sich öffnenden, hohen, aber kleinen Raumes, der nichts anderem Platz bot als dem Thron und einem ihn säumenden tiefblauen Läufer, saß die Kaiserin, als sei sie schon lange vor allen anderen dort gesessen. In ihrem Rücken bäumte sich der Drache gegen seine neue Herrin auf. Die weiße Hand der Kaiserin lag unbekümmert auf seinen breiten Tatzen und glänzenden Krallen, als sei der Kampf mit ihm bereits bestanden.
Die Stühle an der Wand des Großen Zimmers wurden nun von den Soldaten auseinandergerückt. Zwischen die Stühlen stellten sich die Soldaten auf als Wehr gegen Blicke und Geflüstertes. Als alle Platz genommen hatten, war jede Unterhaltung unmöglich gemacht. Niemand der Anwesenden, wohin er sich auch umblickte, hätte etwas anderes sehen können, als zwei Soldaten neben sich und diese Kaiserin vor sich.
Für einen kurzen Augenblick, bevor Baldeina zu sprechen anfing, bemerkte Nadim, dass die Ängstlichkeit von innen gegen seine Schläfen pochte.
"Wir sind zusammengekommen um den letzten Willen des Kaisers zu erfüllen", sagte er mit seiner üblichen, gutgefüllten Stimme. "Ich bitte einzutreten, Asari, den Sohn des Kaisers aus der - eh - Occasion mit der Fürstin der Nachtstadt."
Neugierig sah Nadim zur Tür. Eigentlich war alles sehr spannend, und sie bedauerte insgeheim, Dessa nicht zum Mitkommen überredet zu haben. Das Wort 'Bruder' war so ungewohnt wie das Wort 'Gemahl', aber es besaß einen sicheren und warmen Klang.
Als sich die Tür öffnete, blickte Nadim dorthin, wo alle ihren Bruder erwarteten. Niemand als ein Diener war zu sehen, der erschreckt seinen Kopf einzog. Trotzdem trat Baldeina vor, als erwarte er jemanden. Vor der Tür drehte er sich und reichte einer unsichtbaren Gestalt zum Geleit seinen Arm und führte sie in die Mitte des Saales vor den strengen Blick der Kaiserin. Diese nickte dem unsichtbaren Gast zu, als habe sie dessen untertänigste Begrüßung gerade entgegengenommen.
Baldeina winkte Ken heran. Weil dieser sich nicht von seinem Platz erheben wollte, rief er ihn böse an: "Ich verlange, dass der Richter Ken - das kann er doch hören oder!? - nach vorne tritt, um die Prüfung der Reife kraft seines Amtes vorzunehmen."
Ken erhob sich auf das Äußerste verwirrt. Er blickte sich nach der Prinzesin um, erkannte sich aber in ihrem fast freundlichen Blick nicht wieder. Außerdem sah er niemanden, wirklich niemanden dort in der Mitte stehen. Das war wohl ein Spaß, den Baldeina und die anderen mit ihm spielten!
Ein Soldat fasste ihn unter dem Arm, drückte schmerzhaft unter der Achsel zu und zog ihn in die Mitte des Saales zu Baldeina, der ihn der unsichtbaren Gestalt als den neuen, wiewohl rechtzeitig ernannten und damit geltenden Obersten Richter vorstellte.
"Nach dem Buchstaben des Kaiserlichen Testamentes prüfen wir nun, ob der dem Kaiser entstandene Sohn, der im Testament benannte Kaiser der Tränen, zur Reife gelangt ist oder nicht."
Weil Ken sich nicht rühren wollte und weiter darauf wartete, dass sie über diesen Streich alle zu lachen begannen, fuhr ihn Baldeina böse an: "Bitte, Richter Ken, prüfen sie! Stellen sie eine Frage oder sagen sie etwas! Das ist ihre Aufgabe! Das verlange ich von ihnen!"
"Aber ich sehe niemanden, wirklich nicht, niemanden!", stammelte Ken und sah furchtsam zu dem Drachen hoch, der über dem Kopf der Kaiserin fresslustig zu ihm heruntersah. "Richter Ken, sie sollen nicht jemanden sehen oder jemanden für anwesend erklären. Sie sollen nur prüfen, Richter Ken, ob eine Reife gegeben ist, dieses jungen Mannes hier, der hier an meinem Arm vor ihnen steht."
"Hofgünstling Baldeina", sagte Ken nun ohne Furcht, "ich kann nicht eine Reife von jemand prüfen, den ich nicht sehe!"
"Stellen Sie eine Reife fest oder nicht!?", brüllte Baldeina ihn an.
"Nein, ich kann keine Reife feststellen, wenn -"
"- Also stellen sie KEINE Reife fest!", brüllte Baldeina so laut, dass sogar der Drache den Kopf einzog.
"Ich stelle keine Reife fest, weil -"
"Ruhe!!", schrie Baldeina. "Sie stellen keine Reife fest! Ausrufezeichen! Mehr wollen wir nicht wissen, treten sie weg, sie ... Richter!"
Der Soldat packte Ken erneut und schmerzhafter am Arm unter der Achsel und zog ihn wie einen Gefangenen zu seinem Stuhl.
In die Stille des Saales hinein, sagte Baldeina mit wieder beherrschter Stimme: "Ich stelle fest, dass KEINE Reife vorhanden ist und verkünde hiermit, dass in drei Tagen die Krönung der Kaiserin vorzunehmen ist."
"Sie waren sehr mutig", flüsterte die Prinzessin Ken zu. "Ich weiss nicht, ob ich so mutig gewesen wäre."
Aber weil der Soldat ihn noch fest gepackt hielt, konnte Ken ihr nichts erwidern.
Chapter 127. Krönungsmaler
"Als hätte ich nicht genug zu tun", sagte Baldeina. "Müssen sie denn ausgerechnet zu mir?"
Der Diener verbeugte sich: "Sie haben darauf bestanden, zum engsten Berater der Kaiserin gebracht zu werden. Da dachte ich an euch, nicht an den Hofmarschall. Wenn ihr es aber sagt, dann schicke ich sie wieder fort."
"Nein, erst will ich wissen, was ihr Anliegen ist."
Die beiden Handwerker hatten in der Tür gestanden und dem Gespräch gelauscht. Der Meister überragte sogar Baldeina um einen halben Kopf. Dabei war er dünn und ausgezehrt. Sein Schüler hielt sich hinter seinem Rücken versteckt. Man sah nur die kurzen Arme aus den Rockschößen seines Meisters ragen.
"Werter Herr Hofgünstling", sagte der Meister und neigte den Kopf."Wir kommen, um der Kaiserin unsere Kunst anzubieten."
"Das ist sehr freundlich", sagte Baldeina und setzte fort, seine Hände zu betrachten. "Was ist denn eure Kunst?"
"Ich bin ein Maler", sagte der Meister. "Mein Gebiet ist der Mensch, das Antlitz des Menschen, dem ich Ewigkeit verleihen über seine Zeit hinaus, dass er nie vergessen werde in seinem Bild."
"Wir verfügen selbst über solche", sagte Baldeina.
"Ich weiß", sagte der Mann höflich, "sie beherrschen die Kunst des Schreibens."
"Ja, sie sind Schreiber."
"Ich gestehe gern, dass ich nicht schreiben kann, keine einzigen Buchstaben!", sagte der Meister und lächelte stolz.
Baldeina überlegte. Der Mann schien sich seiner Kunst sicher zu sein. In seinem Alter bot sich niemand mehr an, der nichts taugte.
"Ihr habt Glück", sagte er. "Unsere Kaiserin ist jung und schön. Es mag ihr wohl gefallen, dass man sie meisterlich male für alle Zeit, wie ihr sagt. Kommt also mit."
Sie gingen hinüber zum Zimmer der Kaiserin, die sie in bester Laune antrafen. Baldeina hieß den Meister und seinen Jungen zurückstehen und erklärte der Kaiserin leise deren Anliegen. Neugierig sah sie zu dem beiden hin.
"Ihr könnt mich malen, dass ich mich erkenne? Ganz genau, wie ich bin?", fragte die Kaiserin, erhob sich aus ihrem schattigen Stuhl und trat ins Licht.
"Das und viel mehr ist meine Kunst!"
"Was gibt es mehr, als dass ich mich erkenne?"
Der Meister verneigte sich höflich. "Das, was ihr Erkennen nennt, ist nichts als ein Augenblick. Ein Gesicht der Zeit, nichts, das euch gehört?"
"Hört ihr, Baldeina? Ich gehöre mir nicht. Das ist, was sie sagen!"
"Ihr seid die Kaiserin", sagte Baldeina, "es gibt also nichts, was euch nicht gehört."
"Da seht ihr es", sagte die Kaiserin freundlich. "Er sagt, wie er es meint."
"Euer Bild gehört euch nicht. Es ist im Besitz der Zeit. Ihr vermögt nicht, es ihr fortzunehmen. Aber wir vermögen ihr zu nehmen, was sie nicht festhalten kann."
"Wisst ihr, dass eine Frau mit euren Worten spricht?" Die Kaiserin spürte, wie der Maler sie durchdringend ansah. Ihr war nicht wohl bei diesem Blick.
"Ist es eine Frau, die ihr Gesicht nicht zeigt?"
"Kennt ihr sie?" Erschreckt hatte die Kaiserin nach der Halskette gegriffen, dass die Schnur zerrissen war und alle Perlen springend und klackend den Boden bedeckten.
"Sie ist bekannt. Ich sah sie schon ... nicht immer in bester Gesellschaft."
Als Baldeina die Perlen aufheben wollte, verbat die Kaiserin es ihm.
"Was wisst ihr von dieser Frau?", fragte sie.
"Sie hat ein Geheimnis, und wir haben ein Geheimnis. Beide wissen wir übereinander und haben einen guten Grund zu schweigen."
"Malt die Kette! Diese da, die ich gerade zerriss. Malt sie, wie sie war!" Die Augen der Kaiserin sprangen in den Perlen umher.
"Malen wir die Kette, Junge", sagte der Meister ruhig. "Lege mir die Sachen zurecht. Und ihr, Kaiserin, macht euren Hals frei."
"Wie, was, meinen Hals? Ich will, dass ihr die KETTE malt!"
"Wenn ich die Kette male, dann male ich euch. Die Kette gehört doch euch und nicht ihr der Kette? Wenn ich recht verstehe, dann seid IHR die Kaiserin?"
"Was redet ihr?" Hastig bedeckte die Kaiserin mit den Händen ihren Hals.
"Die Kette ist nur eine Dienerin eurer Schönheit", erklärte der Meister geduldig und sah mehr auf das Tun seines Jungen als auf seine Worte. "Was für ein Frevel wäre es an meiner Kunst, die Dienerin für eine Herrin zu nehmen. Wohl könnte ich ohne die Kette euren Hals malen, aber umgekehrt vermag ich es nicht." Er hatte begonnen, dem Jungen bei der Ordnung der Pinsel zu helfen.
"Was haltet ihr von ihm?", wandte sich die Kaiserin unvermittelt ihrem Günstling zu.
Baldeina hatte kein Wort von dem Gespräch verstanden. Von vornherein hatte er gespürt, dass er es nicht verstehen würde und darum nicht zugehört.
"Ihr seid mein Günstling und könnt mir nicht raten?"
"Ich würde raten ... dass ihr es ausprobiert. Ja, das würde ich raten!" Baldeina war froh, dass ihm das eingefallen war. Auch der Meister nickte beifällig.
"Alles probiere ich aus", sagte leise die Kaiserin zu sich, "bis nichts mehr, wie ich war, übrig ist ..."
Der Maler hatte schon begonnen, die Leinwand auszubreiten, als die Kaiserin an seine Seite trat und an seine Schulter tippte. Er schien sie nicht zu bemerken, sondern war weiter bedacht, seine Leinwand zu glätten.
"Die Kaiserin will euch etwas sagen", sagte Baldeina streng und laut.
"Was soll euer Lohn sein? Darüber sprecht nun!" Die Kaiserin wehrte mit den Händen die Strenge ihres Günstlings ab.
"Wenn ich scherzen wollte, würde ich sagen, ihr seid mein Lohn", antwortete der Meister. "Aber im Ernst, das überlasse ich euch."
"Ich - euer Lohn?" Die Kaiserin sah auf die Perlen am Boden und wünschte, dass Baldeina sie doch aufgehoben hätte.
"Ein Spaß nur, Kaiserin", rief der Meister, als er den ernsten Schrecken der Kaiserin auf ihrem Gesicht bemerkt hatte. "Nicht wahr, Bursche, ein Spaß, wie wir ihn immer machen!?" Er blickte sie an, als denke er nicht mehr an das Gesagte.
"Wenn ihr mitkommen wollt", bat sie, "zu den anderen, den Kaisern in unserem Keller. Ich will sie euch zeigen."
"Ich kenne sie", sagte der Meister. "Es ist ein altes Gewerbe, was ich betreibe. Also weiß ich, wie sie aussehen." Er fasste die Kaiserin vorsichtig an der Schulter und lenkte sie zum einem hochlehnigen Stuhl.
"Ich will stehen", sagte die Kaiserin und kippte den Stuhl solange, bis er nach hintenüber zu Boden fiel. "Auf dem Bild will ich wie die anderen Kaiser stehen."
"Ihr seid eine Frau", gab der Meister zu bedenken.
Die Kaiserin warf seinen Einwand lächelnd beiseite. "Und schön will ich sein, nicht wie die anderen, grimmig und tot."
Der Meister schaute grimmig und tot. Sein Lehrjunge glotzte, als er seinen Herrn so sah und hätte sich beinahe mit seiner schmutzigen Hand auf die Leinwand abgestützt.
"- als könnte ich sprechen und fühlen und alles, was ein Mensch ist!", setzte die Kaiserin mit festem Willen nach.
"Bedenkt, ihr seid im Reich des Todes. Was wollt ihr da mit diesen Dingen? Wie werden sie euch dort dafür ansehen?"
"Was gehen mich die anderen an? Solange ich selbst Gefallen an mir haben, brauche ich keine Geselligkeit, nicht einmal im Tod." Die Kaiserin sah Baldeina an, als warte sie von ihm erneut einen Zuspruch.
"Sie ist die Kaiserin. Man darf es ihr nicht verwehren", sagte Baldeina und hoffte, dass es wieder das Richtige war.
"Der Günstling versteht nichts davon", sagte die Kaiserin zum Meister gewandt, "Aber ihr - ich sehe, dass ihr mich versteht."
"Bedenkt, wenn es gelingt, steht ihr vor euch, Lebendige vor einer Lebendigen. Die Kaiser, als sie lebten, zogen es vor, sich grimmig und tot im Bilde sehen."
"Dann bin ich zweimal lebendig, umso besser! Ich verlange es - sehe keinen Grund, der mich abbringen könnte."
"Der Anblick dieser Frau, die euch gleicht und doch für alle Zeit sie selber ist, wird euch schmerzen."
"Messt euren Lohn nach meinem Schmerz!"
"Wie ... was sagt ihr?"
"Schön will ich sein, lebendig ewig schön. Wenn mich ihr Anblick schmerzt, dann sei der Lohn für eure Arbeit nach diesem Schmerz bemessen."
"Schöner wird sie sein und fremd ein Teil von euch", erklärte der Meister, weil sie nicht verstand. "Wenn es gelingt, dann bereite ich euch einen Schmerz, der in euch die Seele zerreissen kann."
"Seid ihr ein Arzt oder ein Maler?", fragte die Kaiserin barsch.
"Dann ist es abgemacht", sagte der Meister ärgerlich, "An eurem Schmerz misst sich mein Lohn."
Chapter 128. Asari vor Tesla Haus
"Ich spüre, dass mein Sohn gekommen ist. Kind, zünde ein Licht an und sieh nach, was draußen ist." Tesla fasste suchend eine Kerze und hielt sie Dahima hin.
Diese legte das Kleid beiseite, an dem sie geschnitten hatte und stellte die Kerze in das Fenster.
Zwischen den wurzellosen Bäumen trieb ein Boot ohne Richtung. Ein Fährmann stand darin und stützte sich auf seinen schwarzen Schatten. Dahima fand es seltsam, dass er niemanden hatte, den fuhr.
Langsam ging sie um das Haus herum, begegnte in jedem Fenster demselben Mond, hörte Vogelrufe, die über das Wasser flohen. Sah zwei Lichter von tanzenden Würmchen und glaubte den schrecklichen Schnitt ihre Kleides in den Sternen wiederzuerkennen.
"Ich warte schon sehr lange", sagte Tesla, als Dahima zu ihr zurückgehkehrt war.
"Es ist niemand da", so Dahima.
"Es macht nichts, dass du ihn nicht gesehen hast", dazu Tesla.
Dahima betrachtete das Kleid, an dem sie nicht mehr schneiden konnte, weil sie für Tesla das Licht gelöscht hatte. 'Warum schneide ich ein Kleid?', dachte sie. 'Ich kann nicht schneiden. Dieses hier wird niemand für ein Kleid halten.'
"Stell dich nach draußen, Kind", sagte Tesla. "Er soll sehen, dass ich ihn erwarte."
Dahima ließ die Tür einen Spalt auf und stellte sich so auf den Steg in das Licht des Mondes, dass ein Neuankömmling sie würde sehen können. Ein Vogel rief etwas. War es ein Name, den er rief, der Name von Teslas Sohn?
"Da ist jemand auf dem Steg", sagte Asari leise.
"Das ist Dahima", antwortete Woi. "Sie wartet, dass endlich jemand kommt."
Die beiden im Boot hatten sich hinter dem breiten Rücken des Fährmannes versteckt gehalten. Sie kauerten, weil sie dem schwankenden, schmalen Kahn nicht trauten.
Woi wusste nicht, auf was Asari noch wartete. Als er ihm Teslas Haus gezeigt hatte, hatte Asari den Fährmann angesprochen, dass er sich einen Platz zwischen den Bäumen suchen sollte.
Nun saßen sie und betrachteten die Umgebung. Obwohl Woi seine Ungeduld zeigte, lächelte Asari nur und sagte nichts. Irgendwie sah er aus, als freue er sich in die Beklommenheit hinein. Das bleiche Gesicht hatte Farbe bekommen an den Rändern und für kurze Zeit kerbte ein zufriedenes Lachen seine Wange.
"Ich weiß nicht, wie ich sie ansprechen soll?", flüsterte Asari, als freue er sich an der Beschäftigung mit dieser Frage.
"Sie heißt 'Tesla', ganz einfach 'Tesla'!" Woi stellte sich vor, wie schön es wäre, als Angler hier zu sitzen, auf die Langeweile zu warten und einen großen Fisch.
"Ihren Namen, meine ich nicht!" Asari wunderte, dass Woi so wenig verstand. In manchen Dingen war er verständig, aber immer war es eine Klugheit, die in die Breite reglos auslief, nicht kreisend in die Tiefe sank. Seine Gedanken benutzten die Dingen, wie man Steine benutzt, um über ein fließendes Wasser zu gelangen, das ein Hindernis war.
"Was ist mit 'Mutter', wenn dir 'Tesla' nicht passt", schlug Woi vor.
"Was sage ich, wenn ich sie sehe - das meine ich!", sagte Asari ärgerlich.
"Musst du selber wissen!", knurrte Woi.
Die Bäume sahen ihnen im Unguten zu und verständigten sich über die nächtliche Fahrt, die im Nichts ein Ende genommen hatte, mit eigenartigen Vogelstimmen, die einen Hall hatten, als würde sie von Gewölben zurückgeworfen.
"Denkst du, dass jemand die Menschen erfindet?", fragte Asari und spielte mit seiner Hand in dem Wasser.
"Noch nicht drüber nachgedacht", antwortete Woi knapp. Ihm wollte es scheinen, als denke sich Asari wieder etwas aus.
"Ein Traum hat mich geboren", sagte Asari. "Der ist meine Mutter. Das hat mir der Mond verraten."
"Ah", sagte Woi, "der Mond also ... redet viel in letzter Zeit, über Mütter und dererlei."
"Heute redet er nicht", so Asari, "sonst wüsste ich, wie ich sie ansprechen soll."
Der Fährmann sagte nichts, sondern stakte mit seiner Stange im Grund des schwarzen Wassers, wo seine Gedanken ertrunken waren.
"Hat der ERFINDER nicht das größte Recht an uns - was denkst du?", fragte Asari und hob den Blick plötzlich zu Woi.
Dieser hatte an nichts gedacht. Es war so kläglich wenig gewesen, dass er lieber nicht darüber sprechen wollte.
"Du solltest aber darüber nachdenken!", verlangte Asari, der nicht verstehen wollte, dass die Nacht nicht auch seinen breitklugen Nachbarn in den Bann zog.
"Warum sollte ich?"
"Du könntest dem Menschenerfinder begegnen", fuhr Asari in aller Ruhe fort und störte sich nicht an dem Blick des Fährmannes.
Woi fiel nichts ein, was er auf solchen Unsinn hätte antworten können. Was gab es für einen Unterschied zwischen einem verrückten Kaisersohn und einem Menschenerfinder?
"Er könnte dich, den Fürstensohn, neu erfinden."
"Warum sollte er?", entgegnete unwirsch Woi.
"Das ist eine gute Antwort", gestand Asari lachend. "Du gefällst dir, wie du bist. Warum sollte du IHM nicht genauso gefallen."
"Ungefähr so", knurrte Woi.
"Nimm einmal an, ich wäre dieser Menschenerfinder. Würdest du mir gefallen?"
"Nein, in deine Welt passe ich als Mensch nicht rein", sagte Woi und zeigte mit einer Handbewegung auf die Umgebung. "Alles muss bei dir aussehen wie das, abgebrannt und verlassen, Geister und Schatten ... ausgedachte Menschen im sprechenden Mondschein."
"Lustig heute, Fürstensohn?"
"Wusstest, dass die Bäume tagsüber grün sind, dass der Himmel blau ist, nicht schwarz, und dass die meisten Menschen mit einem Traum im Kopf auf ihrem Kissen liegen und sich für den Tag AUSSCHLAFEN?"
"- aber WIR doch nicht", hielt ihm Asari entgegen, "wir Menschenerfinder." In den Augen von Asari glommen vor Gesprächslust zwei Glühwürmchen.
"Ich bin keiner", sagte Woi knapp, "und kann gut ohne einen auskommen."
Er grimmte vor sich hin. Eigentlich war ihm das alles nicht mehr wichtig. Dieser Asari war einfach verrückt, und Woi würde ihn als Letztes zu seiner Mutter bringen, dann fortgehen und irgendwo durchschlafen, um wieder er selbst zu werden.
"Warum fahren wir nicht einfach hin?", fragte er. "Was sitzen wir hier und warten auf nichts."
"Weil ich nicht weiß, wie ich sie ansprechen soll", antwortete Asari geduldig.
"Sag Bescheid, wenn es dir eingefallen ist", sagte Woi und legte das Grinsen des Fährmannes vorsichtig auf den Bootsrand.
"Was tut das Mädchen?", fragte Asari und zeigte auf Dahima, die so unbeweglich stand, dass sie an eine weiße Kerze erinnerte.
"Sie wartet und friert, das siehst du doch!"
"Wenn sie nicht wartet und friert, meine ich!"
"Sie ist Teslas Pflegetochter", erklärte Woi. "Hilft ihr. Eine Blinde braucht jemanden."
"BLIND ist Tesla?", fragte Asari erstaunt.
"Natürlich - ich meine, ja. Blind, immer schon." Auch der Fährmann und das Boot nickten.
"Dann können wir los!", sagte Asari. "Jetzt weiß ich, wie ich sie ansprechen werde."
Chapter 129. Der schweigende Sohn
Das Mädchen hatte das Boot nun entdeckt. Sie stand auf dem Steg und sah zu ihnen hin. Mit einem Mal nahm sie den Umhang von ihren Schultern, als brauche sie ihn nicht mehr. Dabei zitterte sie in ihrem dünnen Kleid, das ihr der Wind gegen den Körper blies.
Zuerst erkannte sie Woi. Hinter ihm, in seinem Schatten, saß der, den sie erwarteten. Er zeigte sein Gesicht nicht, und doch spürte sie, dass er sie beobachtete, nicht wie ein Junge ein Mädchen ansieht, sondern auf eine andere Weise.
Woi kletterte als erster auf den Steg. Sie reichte ihm die Hand, aber er brauchte ihre Hilfe nicht. Dafür nahm der andere ihre Hand. Für einen Augenblick glaubte sie, er wolle sie herunterziehen, aber dann war er sehr leicht und kam ihr entgegen.
Sie schaute in sein Gesicht. Er war anders als die jungen Männer, indem er ihren Blick nicht erwiderte, sondern ertrug. Etwas Undurchdringliches umgab ihn, als sei er von großer Schönheit, aber das war er nicht. Er sah gewöhnlich aus. Nichts hatte er von seiner Mutter im Äußeren, also musste er seinem Vater wohl ähnlich sein, wenn ihm überhaupt jemand von seinem Äußeren abgegeben hatte.
Der junge Mann sagte nichts, schaute Dahima nur achtlos an. Dies tat er auf eine schamlose Weise, die nicht ihrem Körper galt. Ihr war, als sehe er ihre Schönheit nicht. Er hatte keinen Sinn dafür. Es galt nicht ihr, und sie konnte ihm nicht böse sein.
"Ich höre jemanden", rief Tesla von drinnen. "Führ ihn herein, Kind. Und schließ die Tür, die Kälte will mit euch herein."
Sie saß auf ihrem Stuhl, hoch aufgerichtet, als halte sie sich für einen erbitterten Kampf bereit.
"Du bist es, Woi", sagte Tesla. "Hast ihn mitgebracht, wie du es versprochen hast?"
"Ja", sagte Woi und war zum ersten Mal stolz auf das, was er zu Wege gebracht hatte.
"Bitte ihn näher heran", sagte Tesla. "Sag ihm, er braucht vor seiner Mutter keine Angst zu haben."
"Tritt näher heran, Menschenerfinder", flüsterte Woi ihm zu. "Es ist nur deine Mutter!"
So unhörbar trat Asari auf, dass Tesla ihn nicht ausmachen konnte. Sie wusste, wo Woi stand und wo Dahima, aber ihre leeren Augen irrten auf der Suche nach ihrem Sohn im Raum umher. Nichts ging von ihm aus, was sie spüren konnte. Kein einziges Mal spürte sie eine Anziehung. Es war, als sei im Raum niemand sonst als die beiden, die sie kannte. Trieb man ein Spiel mit ihr oder war es schlimmer.
"Ist er da?", fragte sie zögernd, als schäme sie sich zugeben zu müssen, dass sie seiner nicht gewahr wurde.
"Ja", antwortete ihr Woi, "er steht neben mir." Aber mitleidig bemerkte er, dass sie zur falschen Seite sah.
Endlich beschloss sie, sich ihren Sohn zu denken. Es gab keinen Grund, sie zu täuschen. Also war er da, machte sich nur unsichtbar! Mutterliebe suchte sich auf Teslas Gesicht einen Platz, der ihr zum Bleiben gefiel.
"Ich will allein sein ... mit ihm", sagte Tesla. "Geht, wartet draußen, bis ich rufe."
Die Unerwünschten stellten sich auf dem Steg nebeneinander und sahen in die Nacht hinaus, jeder in eine andere Richtung. Dahima schaute zum schmalen Mond hinauf, der nicht weniger fror als sie. Woi suchte die ins schwarze Wasser hängenden Vorhänge der Weiden nach einer Bewegung ab. Er wäre froh gewesen, wenn er dort den wartenden Fährmann gesehen hätte.
"Sie will allein mit ihm sein", sagte er, doch eher hätte der Mond zu ihm gesprochen als diese Stumme. Dahima nickte und hatte einen seltsamen Blick. Mit seinem Schweigen hatte Asari sie angesteckt, wenn er sie nicht ganz neu erfunden hatte. Dahima war so ein Mensch, der sich erfinden ließ.
Drinnen hörten sie Tesla sprechen. Erst leise, dann laut und aufgeregt, dann wieder still und fortfahrend, als halte sie eine lange, erschöpfte Selbstrede.
Dahima hatte wohl bessere Ohren als Woi, denn sie schien zu lauschen und schüttelte immer wieder den Kopf. Er hätte nicht sagen können, ob aus Verwunderung oder Verzweiflung. "Sie ruft nach uns", sagte Dahima. Aber Woi wollte selber den Ruf vernehmen ud drückte sein Ohr gegen die hölzenere Wand.
"Wenn ich es weiß!", sagte Dahima und zog ihn am Arm zur Tür. "Schnell, sie ist traurig! Wir müssen ihr zu Hilfe kommen!"
Tesla saß in ihrem Stuhl und hatte den Kampf verloren. Irgendwie erinnerte auch Tesla ihn nun an einen erfundenen Menschen erinnerte. Asari hatte ihr seinen toten Willen aufgezwungen.
'Jetzt glaubst du, dass ich es kann!', schienen seine Blicke sagen zu wollen.
"Er sagt nichts", beklagte sich Tesla bei Woi. "Ist es der Richtige? Ich weiß es nicht. Er ist stumm. Ich kann nicht sagen, ob es ihn überhaupt gibt."
"Es ist der Richtige", beruhigte sie Woi. "Ich weiß auch nicht, warum er nichts sagt. Sonst spricht er flüssig ... eher zuviel als zu wenig." Asari zog die Augenbrauen hoch und ärgerte sich über Woi.
"Bist du sicher, es ist der Richtige? Der aus dem Gefängnis des Generals? Treibt er ein Spiel mit mir? Warum sagt er nichts?" Aber es waren Fragen, die keinen Platz für eine Antwort ließen.
"Was sagt er über seine Mutter?", fragte Tesla, die vor sich hingestarrt hatte. "Du sagst doch, dass er zu anderen spricht."
"Er ist ihr dankbar für alles, was sie für ihn getan hat", antwortete Woi, indem er sich an die Tage in seinem Leben erinnerte, in denen Mitgefühl etwas galt.
Solche Worte hatte sie hören wollen. Es war nun nicht wichtig, wer sie aussprach. Sie erkannte die Worte aus ihren Vorstellungen wieder, die sie sich einsam gemacht hatte. Teslas Gesichtszüge wurden weich. Ihr Sehnen rief nach den Träumen, die sie sich von ihm gemacht hatte. Wie wollte er diese zerstören, dieser Sohn, der dem Nichts näher war als seiner Mutter!?
"Ich werde noch viel mehr für ihn tun", sagte Tesla, nun voller Stärke und Hoheit, "viel mehr, als er denken und hoffen kann!"
"Er ist dankbar für das, was seine Mutter tat", teilte Woi ihr mit.
"Aber stumm ist er nicht, nur zu mir?"
"Ich habe ihn zu anderen reden gehört."
"Er wird alles von mir zurückbekommen", sagte Tesla in eine unbestimmte Richtung. "Alles und viel mehr! Es ist soviel möglich, wenn eine Mutter es will. Das weiß er doch?"
"Er vertraut seiner Mutter völlig", sagte Woi und obwohl es ihm zuwider war, fügte er hinzu: "Es wird alles werden, wie es früher war."
Asari hatte sich erhoben, war zur Tür gegangen und sah nun von draußen durch das Fenster hinein.
"Nichts wird so sein wie früher. Nun wird die Mutter wird an seiner Seite stehen!"
Woi schluckte an einer vorgekauten Höflichkeit.
"Dabei weiß ich nicht einmal seinen Namen", rief Tesla, "Schnell, sag mir seinen Namen, ehe er wieder fort ist!"
"Sein Name ist Asari. So sagt er jedenfalls."
Sie schien Gefallen an diesem Namen zu haben. Es stimmte sie traurig, dass er den Namen nicht von seiner Mutter bekommen hatte.
"Es ist ein schöner Name, Woi" - Tesla fasste nach seiner Hand - "seine Mutter hätte ihm keinen schöneren finden können."
Woi war einfach müde. Er hatte genug von diesen wirren Reden und seinem Abenteuer. Draußen stand Asari und wenn der Fährmann kam, würde er ohne Woi davonfahren.
"Geh nun, stummer Sohn", sagte Tesla und suchte mit ihrer Hand, bis ihr Woi seine aus Mitleid reichte. "Ist das deine Hand?"
"Es ist meine", sagte Woi, "aber seine ist nicht viel anders. Wir haben ähnliche Hände."
"Du kennst ihn", sagte Tesla. "Wie ist er denn? Erzähl' mir von ihm, wenn er selbst nichts sagt."
"Er ist ...", begann Woi, aber ihm fiel nichts ein.
"Schnell, beeil dich, ich muss es wissen, bevor er geht", drängte Tesla.
"Er ist manchmal ein wenig seltsam", gestand Woi, weil er ihr von der Wahrheit wenigstens die Hälfte zumuten wollten.
"Nickt er jetzt? Zeigt er sein Einverständnis?"
"Nein, eigentlich nicht ...", erwiderte Woi und sah, dass Asaris Kopf aus dem Fenster verschwunden war. Das konnte nur bedeuten, dass er draußen nach dem Fährmann winkte!
"Ich glaube, er ist gern allein", sagte Woi.
"Einsam ist sein Schicksal und einsam meine Schuld. Wer führt sie zusammen, dass sie sich trösten, wer?"
"Er tut Dinge, die man nicht erwartet", sagte Woi, obwohl er draußen die Gestalt des Fährmannes sah und Asari damit genau das tat, was Woi vorausgesehen und befürchtet hatte.
"Sprich von ihm", forderte Tesla ihn auf. "Er muss es sich als Schweiger gefallen lassen, dass wir über ihn redet."
"Ihn kümmert nicht, was mit anderen passiert", sagte Woi und meinte es ehrlich.
"Er wird ein Kaiser sein, da muss ihn das Schicksal der Gemeinen nicht kümmern!"
"Einen Freund stelle ich mir jedenfalls anders vor!", entgegnete Woi ihr trotzig, als er das Boot abstoßen hörte.
"Was ist draußen?", rief Tesla. "Ich höre Geräusche. Ist er verraten worden?" Wild sah sie sich um, als suche sie eine Waffe, die sie gegen die Soldaten führen konnte.
"Nein", sagte Woi, "euer Sohn rief den Fährmann und fährt ohne mich zurück!"
Chapter 130. Die Schönheit der Kaiserin
Dem Bild der Kaiserin fehlte außer Hals und Kettenbesatz alles, was ein Bild ausmachte. Während die Kaiserin es missmutig betrachtete, rannte der Maler zwischen ihren Händen und seinem Bild hin und her und stieß immer wieder mit seinem Jungen zusammen.
Die Kuttenfrau stand am Fenster und sah hinaus, als habe sie jedes Interesse an der Kaiserin verloren. Auch die Dienerin bewegte sich nicht, obwohl das ganze Zimmer in einer einzigen Unordnung war. Weder ihr Günstling Baldeina noch sonst jemand vom Hof hatte sich bei ihr sehen lassen, obwohl es spät am Morgen war.
"Fertig!", rief der Maler triumphierend und stellte die Leinwand so, dass niemand außer seinem Jungen und ihm etwas sehen konnte. "Die Hände - das Schwierigste - fertig - vollendet!"
"Was kommt jetzt?", fragte die Kaiserin und war immer noch, wenn auch weniger missmutig. Als der Maler ihr das Blatt hinlegte, schob sie es weg, ohne darauf gesehen zu haben.
"Wollen sie das Werk nicht sehen?", fragte er und lud sie ein, neben ihn zu treten.
"Ich kenne meine Hände", beschied ihn die Kaiserin so ungnädig, dass die Kuttenfrau sich umblickte.
Mit Genugtuung betrachtete er sein Werk und drehte es schließlich so, dass die Kaiserin es von ihrem Sitz aus hätte sehen können, wenn sie nicht in eine andere Richtung geblickt hätte.
"Die Frage ist zu klären, welches Kleid wir wählen", rief der Maler in Hochstimmung. "Der Hals, die Hände, das Kleid und der Kopf - in dieser Reihenfolge!"
"Welches Kleid nehmen wir?", fragte die Dienerin und bekam von der Kaiserin statt einer Antwort den stummen Fingerzeig, sich an den Kunstmaler zu wenden für Dinge, die das Bild angingen.
Also stellte sich die Dinerin in den Raum und hielt dem Maler mehrere hin. Doch er übersah sie, weil er damit beschäftigt war, das Licht des Tages zu prüfen. Vor jedem der Fenster nahm er ein Bündel davon zwischen die Finger und rieb, als prüfe er seine Beschaffenheit.
"Ein wenig noch, dann ist es richtig", sagte er zu seinem Jungen und tauchte dessen Hand in ein durchsichtiges Rinnsal, das vom Fensterbrett zu Boden floß.
Die Dienerin hielt eines der Kleider vor das Fenster und ein anderes vor das empörte Gesicht des Malers.
"Er ist ein guter Mann", wies die Kaiserin aus dem Halbdunkel ihre Dienerin zurecht. Heimlich hatte sie das Bild ihrer Hände betrachtet und großen Gefallen an deren Ausgestaltung gefunden.
"Ich wollte nur, dass es vorangeht", sagte die Dienerin und tat beleidigt.
"Bitte", sagte der Maler, der Mut geschöpft hatte aus dem freundlichen Blick der Kaiserin. "Die Frage des Kleides ist zu unterscheiden von der Wahl des Kleides." Die Dienerin und der Junge sahen sich verständnislos an.
"Ich verstehe", sagte die Kaiserin und prüfte das Licht zwischen den Fingern, gerade wie der Maler es getan hatte.
"Welches ist das Gesicht der Kaiserin?", rief der Maler. Damit sah auch die Kaiserin ihn ohne Verstehen an.
"Ich muss ausholen!", rief der Maler und malte Unsichtbares von kehligen Lauten begleitet. "Das Kleid kann ich wählen, aber nicht das Gesicht. Das kann nur die Kaiserin selbst wählen."
"Erklärt mir das", bat die Kaiserin. "Aber eilt euch, es strengt mich an, das steife Sitzen."
"Wenn die Kaiserin mir ein Gesicht aufgibt, welches einen Glanz besitzt, wie es der Tag in dieser Stunde hat, dann werde ich Augen und Mund und das Weiche des Haares hervortreten lasse - kurz das Antlitz nicht das Kleid. Im anderen Fall betone ich die glatten Flächen des Gesichtes, die Stirn, die Wangen, den Hals - lasse dafür im Kleid die Schönheit hervortreten."
"Fehlt etwas an meiner Schönheit?", fragte die Kaiserin unwillig.
"Schön seid ihr Kaiserin", bestätigte ihr der Kunstmaler zögernd. "Eine, die so schön ist, habe ich noch nie malen dürfen, und dennoch ..."
Die Kaiserin schreckte aus ihren Gedanken hoch. "Sagt, was es ist, seid ehrlich zu mir."
Der Mann krümmte sich, wollte kein Wort sagen, aber die Kaiserin sah ihn stumm und eine Antwort fordernd an.
"Es ist ... eure Schönheit ist kalt ... ich meine matt. Sie hat keinen Glanz, schluckt das Licht, wie ich eben sagte."
"Hört ihr, was er sagt", wandte sich die Kaiserin vorwurfsvoll an die Kuttenfrau.
Wenn diese zugehört hatte, dann zeigte sie es nicht. Weiter sah sie aus dem Fenster, das kein Licht hatte.
"Wird es etwas mit meiner Schönheit?", sprach die Kaiserin sie herausfordernd an. "Ihr habt sie mir versprochen. Dann hört nur, was dieser verständige Mann darüber sagt!"
"... jeden Glanz, den ihr euch wünscht", sagte die Angesprochene, "wie es mein Versprechen war."
"Ihr hört es, Meister Maler", so die Kaiserin milder gestimmt. "Was sie sagt, hat meinen Glauben und euer Vertrauen. Wir wählen das einfachste Kleid. Für den Glanz, der strahlt, wird gesorgt sein."
Der Kunstmaler war völlig einverstanden. In seinem Gesicht drückte sich tiefes Bedauern darüber aus, dass er gewagt hatte, die Dinge im Zweifel zu betrachten.
"Ich sehe euch in einem Kleid, welches völlig schwarz ist, die Schuhe bedeckt, zum Hals geschlossen, darüber das Band der Perlen", sagte er, "die Arme bloß bis zur Schulter und wie eine Krone das -"
"- haben wir nicht", unterbrach ihn die Dienerin.
"Was ist?", fragten Maler und Kaiserin.
"Ein solches Kleid gibt es nicht."
"In meiner Vorstellung", sagte der Maler streng, "in meiner Vorstellung gibt es jedes Kleid, jedes!"
"Ah so", sagte die Dienerin, "ah so!" Dann stülpte sich ihr Mund im Beleidigtsein sein auf, und ihre Augen hinterließen kleine Brandzeichen auf dem Kleid, das sie in den Händen hielt.
Doch der Maler hatte sie nicht weiter beachtet, sondern sofort mit seinem Werk begonnen. Schnell hatte er die Flächen gefüllt, hier und dort sorgfältig einen Punkt gemessen und eingezeichnet und immer wieder die Farben, die der Junge ihm reichte, auf einem Blatt ausprobiert.
Die Kaiserin sah ihm dabei zu, wie er die feinen Linien übereinander legte, bis das Kleid in seiner Strenge umrissen war. Daraus traten ihre Arme aus feinsten verschatteten Linien hervor und verbanden die vorhandenen Hände mit dem Kleid. Es waren Arme, die sie in solcher Nacktheit niemals hätte tragen dürfen!
Es trat ihr nun klar vor Augen, wie recht der Maler hatte! Wenn sie nicht wollte, dass die anderen sie heimlich ansahen wie die Witwe eines toten Kaisers, die schöne, aber erkaltet liegen gebliebene Hülle einer kinderlosen Ehe, dann musste etwas geschehen! Was immer der Maler verlangt hatte, die Kuttenfrau hatte es versprochen!
Sie betrachtete dieses Bild. War es nicht traurig, dass ihm der Kopf fehlte? Und doch war ihr diese Gestalt so nah! Dies war die Frau, die sich an einen alten und kaltherzigen Mann weggegeben hatte, dem nicht aufgefallen wäre, wenn sie ihm so - ohne Gesicht - begegnete wäre.
'Meine Liebe', hätte er gesagt und an etwas anderes gedacht, 'wie wohl die Kaiserin heute wieder aussieht.'
Sie dachten an die anderen Kaiser unten im Keller. Sah deren Kleider vor sich. In der Tiefe leuchtende Farben und prächtige, von Geheimnissen kündende Ornamente. Jedes anders in seiner Pracht. Jedes blieb auf eine wunderbare Weise für sich und sagte nichts über den Träger. Es gehörte dem Mann nicht, gehörte der Frau nicht. Schwieg über sie, hielt nichts von ihnen im Leben zurück. Was blieb von all diesen Kaiser und ihre Gemahlinnen als geliehene Kleider?
Was für ein sonderliches Kleid der Maler aus seinem Kopf gemalt hatte! Sie stellte sich vor, wie sie in diesem Kleid den anderen im Keller erscheinen würde. Es war von so tiefem Schwarz, als sei es aus der Leinwand herausgeschnitten worden. Als gebe es dieses Kleid nicht. Ja, als sei es ein Nichts. Und nur das andere, das Antlitz, ein Etwas an seiner Stelle. Die Hände, die schmalen, die feinen Hände, das waren ihre, die Arme ... waren nicht alle Dinge ohne Makel nackt zu nennen?
"Es ist soweit", verkündete der Maler. "Alles ist fertig, bis auf den Kopf."
Chapter 131. Ken im Stall
Das Licht fiel auf die gewohnte Weise ein. Es hatte einen dicken Stamm und feine Zweige. Deshalb dachte Ken zuerst, er läge unter einem Baum. Aber es war das Sonnenlicht im Stall. Das Fenster hatte ihm Äste und Zweige gemacht.
Etwas anderes hatte ihn geweckt. Nicht wie gewöhnlich geweckt, dass er gleich wieder einschlafen konnte. Nicht so, wie das Stroh mit seinen Stechhalmen weckte, die ihm in der Nacht gewachsen waren. Nicht das Schnauben der Pferde, wie ein Dampf aus warmen Kesseln, oder das Schnarchen des Meisters, das über die Dielen knarrte.
Etwas war mit seinem Arm. Er nahm ihn hoch und hielt ihn gegen das Licht. Etwas fehlte ... die Bandage war fort! Es war ein rundherum gesunder Arm geworden, und er war wieder Ken, der Pferdejunge von diesem Arm!
Das war es also, was ihn geweckt hatte! Um sicher zu gehen, dass es so war, riss er den Halm los und kaute ihn solange für die Ohren, bis er deutlich das Schnarchen des Meisters hörte. Nun war er sich sicher, dass es vorbei war - das andere, das Höfische, das Gefährliche.
Als er die Schritte des Meisters hörte, der über die knarrenden Dielen schlürfte, stellte Ken sich schlafend. So konnte er nicht sehen, was der Meister für ein Gesicht machen würde, aber Ken kannte alle seine Gesichter, auch das überraschte, wenn der Bart einen Ruck nach unten machte und die Augen wie Betrunken umhertorkelten.
Der Meister stand vor seiner Schlafplatz und überlegte, ob er seinen Jungen wirklich sah. Dann überlegte er ebenso lange, ob er ihn in die Seite treten durfte, wenn es sein Junge war. Natürlich nur leicht, eben wie er es früher gemacht hatte. Vielleicht nur antippen ...?
Von Ken aus hätte er es gedurft, aber er tat es nicht. Und das wiederum war Ken auch recht.
"Bist wieder zurück?", fragte der Meister und tippte ihn an der Schulter.
Da schlug Ken die Augen auf und nickte. Sprechen würde er erst einmal nicht. Er hatte das Gefühl, dass ihm der Meister nichts anhaben konnte, irgendwie war ihm, als möge der Meister ihn jetzt.
"Bist wieder zurück", stellte der Meister für sich fest. In seinem Bauch knurrte der Hunger. Erst wie ein Ruf, dann stotternd, weil er sich verlegen fühlte.
Weil der Meister sich niedersetzte, setzte Ken sich auf. So saßen sie beiden nebeneinander. Das Sonnenlicht malte dicke Äste auf den Bart des Meisters und wippende Zweige auf die Stirn von Ken.
"Wie war es, Junge, bei denen ...?", fragte der Meister.
"Man denkt es sich anders" sagte Ken. "Zuerst ist es leicht, dann später schwer."
"Ja, das war mir gleich ...", sagte der Meister und nickte.
"Die Pferde sind besser zu verstehen", sagte Ken, "obwohl sie nicht sprechen."
"Mit dem Verstehen ist es eine Sache", sagte der Meister und kratzte an einem dicken Ast.
"Wie wenn ein Stein in das Wasser fällt", erklärte Ken und zeichnete es mit seinem Halm auf dem Boden. "Erst sind da Kreise. Dann sind die Kreise fort und der Stein auch. So ist das mit dem Verstehen."
"Ja, mit dem Verstehen ...", sagte der Alte nachdenkend.
"Keiner weiß, wo er hingehört. Nichts bleibt an seinem Platz", erklärte Ken und zeigte mit dem Halm, wie er es meinte.
"Haben sie denn nichts gemerkt. Ich meine, du weißt schon ..." Selbst betrunken würde er merken, wenn ihm Ken etwas vorflunkerte.
"Ich glaube, es war ihnen nicht wichtig, etwas zu merken. Wenn sie es gewollt hätten, vielleicht ..."
Der Meister nickte stumm. Das konnte er sich vorstellen. Er fand, dass Ken es gut erklärt hatte. "Warum bist du gegangen, Junge? Ist was passiert?"
"Sie haben mich zum Richter gemacht", sagte Ken.
"Hmm", brummte der Bart.
"Der richtige Richter war geflohen, weil er Angst hatte." Ken fror ein wenig, als er daran dachte, dass er ein wirklicher Richter gewesen war. "Ich musste jemanden sehen, der aber unsichtbar war - das haben sie verlangt!"
Der Meister legte ihm die Decke um die Schulter. Wenn Ken schon zurück gekommen war, dann sollte er es wenigstens besser haben.
"Ich hab mir gedacht, wenn ein richtiger Richter geflohen ist, was kann erst einem falschen Richter passieren."
Der Alte nickte stumpf und fasste seine Nase.
"Ich sollte ja die Prinzessin heiraten", begann Ken zu erzählen.
"Ich hab dich mit dem Heldenarm gesehen", sagte der Alte und versteckte ein Lächeln im Bart.
"Das mit dem Arm war schon gut, aber der, den ich eifersüchtig machen sollte, ist abgereist, da war ich mit der Prinzessin alleine."
"Aber eine Prinzessin? Ist die was für dich?"
"Sie war schon nett, aber eben irgendwie anders. Ist auch schwer für eine, wenn sie eine Prinzessin ist. Alle kamen sie mit Dingen, aber es war nichts für sie dabei. Ich glaube, sie mochte mich, weil ich nichts von ihr wollte ... eben wie eine Prinzessin jemanden mag."
"Die von den Gänsen hat auch nach dir gefragt."
Der Halm in Kens Mund mummte.
"Hab ihr gesagt, ich weiß nicht. Da ist sie weg."
"Ich geh mal zu ihr", sagte Ken. "Ich meine, wo sie gefragt hat ..."
"Erst bleib du mal im Stall!", sagte der Meister. "Ich hör da was. Nicht, dass sie dich suchen tun ..."
"Ach", sagte Ken furchtlos, aber er sah nur aus dem Spundloch, nicht aus dem Fenster, wie der Meister.
In der Mitte des Hofes stand der Hofgünstling Baldeina. Er hatte die Küchenmägde antreten lassen. Zwei seiner Soldaten trieben sie wie die Gänse im Kreis umher. Ken versuchte zu hören, was sie aufgeregt riefen.
"Die da", sagte Baldeina und zeigte auf eine, die schöne Haare hatte. Gleich wurde sie von einem der Soldaten gepackt und von den anderen fortgezogen.
"Du auch", sagte Baldeina, weil die Magd schöne Lippen, so recht zum Küssen, hatte.
"Die auch", sagte Baldeina und zeigte auf einen hüpfenden Busen.
"Und diese", entschied Baldeina und zeigte eine, die von hinten einen strammen Lauf hatte.
"Die anderen fort!", sagte er dann. "Wenn die Kaiserin mehr will, holen wir uns noch welche."
Die Soldaten schauten die vier Mägde, die Baldeina herausgesucht hatte, so begehrlich an, dass sie sich halb und halb zu fürchten begannen.
"Mädge, hört zu", sagte Baldeina, "weil ihr die Hübschesten seid, habe ich euch ausgesucht."
Die Mädchen kicherten und steckten die Köpfe zusammen. Der Günstling sprach so laut, dass all die Fortgeschickten es hören würden, wenn sie nur mit den Köpfen nah genug an den Wänden lauschten.
"Heute am Abend gibt es einen Tanz mit der Kaiserin", fuhr er fort. "Die Hübschesten und die Jüngsten von den Mägden lädt sie."
Verschoben sich die lauschenden Wände nicht von dem Neid, der darin ohne Entkommen gefangen war, oder meinten die vier es nur?
"In den nächsten Stunden werdet ihr zurechtgemacht, damit alles so ist, wie die Kaiserin es verlangt hat. Ihr seid doch einverstanden?"
Der Busen machte einen tiefen Knicks, die Lippen leckten sich feucht, ein Lächeln nahm sich zwei Grübchen auf die Backen. Die vierte Magd bewegte sich nicht, damit das Licht nicht von ihren Haaren herunterglitt.
"Nehmt sie mit", sagte er seinen Soldaten, "und zeigt ihnen ihre Räume."
Chapter 132. Worthässlichkeit
Am Ende des Ganges standen zwei Soldaten, die zu ihm herüberschauten. Baldeina hätte sie rufen können, aber er tat es nicht. Wie hätte es ausgesehen, wenn er am Zimmer der Prinzessinnen im Beisein von Soldaten geklopft hätte? Nein, das war unmöglich, geradezu unritterlich!
Er klopfte vorsichtig und beugte sein Ohr zur Tür, weil er nicht erwartete, dass ihm geöffnet wurde. Niemand antwortete, und er hörte nichts, als dass die Soldaten mit ruhigen Schritten auf- und abgingen.
"Ich bin es, Baldeina", rief er durch die Tür. "Ich komme mit einer wichtigen Botschaft."
Er hatte das Gefühl, dass jemand auf der anderen Seite war. Eigentlich hätte er sich sicher sein können, aber dieses Gefühl hatte ihn schon einmal getrogen. Da war es eine Katze gewesen oder etwas ähnliches.
"Es ist eine Botschaft der Kaiserin, die keinen Aufschub duldet. Bitte, ist jemand da? Hört mich jemand?"
Baldeina pochte in einer ritterlich fordernden Art. "Die Kaiserin bittet die Prinzessinnen zum Tanz. Sie sollen sich ein wenig zurechtmachen."
"Die eine Prinzessin ist unpässlich", hörte er Nadim sagen. "Die andere weiß nicht, ob sie kommen soll."
"Welche ist unpässlich?", fragte Baldeina.
"Eine spricht, die andere nicht. Da weiß er doch, welche unpässlich ist?"
"Gut, dann eben nur die eine", sagte Baldeina. "Ich glaube, ich könnte es erklären, wenn nur eine Prinzessin kommt."
"Nadim weiß nicht, ob sie kommen soll."
"Sie MUSS kommen. Die Kaiserin hat es befohlen", bedrängte Baldeina die Tür.
"Dann ist sie eben auch die zweite Prinzessin unpässlich!"
"Nein!", rief Baldeina. "Es duldet keinen Aufschub. Die Kaiserin sitzt dem Maler Modell und lädt zum Tanz. Die Mädchen und die Prinzessinnen sollen in verkleideter Hässlichkeit um sie sein. Es ist nur ein Spiel, aber die Kaiserin nimmt es ernst."
"Wie denkt er, soll sich die Prinzessin kleiden?"
Wenn Nadim keine Widerworte gab, dann war sie umgestimmt, oder zum mindesten neugierig geworden. Es gab Grund, zuversichtlich zu sein.
"Sie soll sich hässlich machen", sagte Baldeina und wusste bereits, dass diese Antwort Nadim nicht genügen würde.
"ER soll sagen, wie er sich das Prinzessinnen-Hässliche vorstellt!"
"Eben so - in schlechten Kleidern, derben Schuhen, die Haare zerzaust ..."
"Sie ist eine Prinzessin, keine Magd!"
"Es ist doch nur für ein paar Stunden!", rief Baldeina erklärend und sah, dass die Soldaten unverrückbar neugierig dem dargebotenen Schauspiel zuschauten.
"Prinzessin ist ein Mädchen für IMMER!", sagte Nadim streng. "Ich frage mich, wie es mit seiner Liebe steht? Gedenkt er auch, sich von ihr freizunehmen für ein paar Stunden?"
Die Soldaten kontrollierten die vom Gang auf den Hof blickenden Fenster, um besser hören zu können.
"Es eilt!", rief Baldeina. "Die Kaiserin wird beide Prinzessinnen von Soldaten holen lassen, auch die unpässliche!"
"Die Hässlichkeit der Prinzessinnen, was macht sie für IHN aus?", fragte Nadim, als sei ihre Tür ein Bollwerk.
"Ich sehe nur die Schönheit!", wehrte Baldeina ihr Ansinnen ab.
"Macht sich nicht verdächtig, wer einer ungesehenen Prinzessin Schönheit zuspricht?" Ihre Stimme verriet Baldeina, dass Nadim ein Gesicht über ihn schnitt.
Baldeina fand, dass ihm Unrecht geschah. "Ich habe doch gar keine andere Möglichkeit, als Dessas Schönheit ahnungsweise zu sehen! Was will ich denn machen, wenn ich sie nie zu Gesicht bekomme!"
Der eine von den Soldaten hatte seinen Stiefel ausgezogen. Sein Kamerad stützte ihn dabei. Währenddessen stand er auf einem Bein, schüttelte den Stiefel und horchte in ihn hinein, schüttelte den Stiefel und horchte.
"Er sprach von der Hässlichkeit, mit welcher sich die Prinzessin zum Tanze kleiden soll", erinnerte Nadim. "Wenn nicht in schlechtem Kleiderzeug - wie geht sie dann?"
"Dann eben anders - gebeugt vom Alter, faltig die Stirn, zittrig die Hände, unverständlich brabbelt die Zunge", beeilte sich Baldeina zu sagen.
"Da siehst du, Dessa-Schwester, was für ein Mensch er ist!", hörte Baldeina Nadim drinnen sprechen. "Unsere Jugend und unser Alter hat er sich fein geteilt in das Schöne und Hässliche. Sie sind ihm wie zwei Seiten einer Münze, die er nach seiner Laune werfen wird."
"Das war nicht so gemeint", flehte Baldeina. "Es ist in der Eile gesprochen - die Kaiserin drängt!"
Die Soldaten kontrollierten nun das Fenster in unmittelbarer Nähe Baldeinas. Wie sie gewohnt waren, das Gähnen flächig im Unterkiefer zu verteilen, saß ihnen nun das Grinsen schaukelnd auf den Ohren.
"Dann weiß ich nichts!", rief Baldeina. "Die Frage ist zu schwierig. Ich weiß und sehe bei den Prinzessinnen keine Hässlichkeit."
Einer der Soldaten zeigte auf seinen Mund und sah Baldeina bedeutungsvoll an, als kaue er eine Antwort.
"Dann gehe ich zum Tanz, wie ich bin", entschied Nadim. "Nicht schön, nicht hässlich, nur eben ich."
"Das geht nicht!", rief Baldeina. "Wir müssen uns etwas ausdenken. Etwas Hässliches, damit die Kaiserin den Malern schön erscheint."
"Denkt ihr, ich diene dem Bild der Kaiserin?"
Wieder zeigte der Soldat auf seinen Mund. Da endlich wusste Baldeina, was er meinte. Kurz überlegte er und sagte dann: "Ich wüsste etwas ..."
"Dann rede er!", ermunterte ihn Nadim.
"Ich will nicht falsch verstanden werden ..."
"Der Günstling ist so unbedeutend, dass er froh sein kann, wenn ihm eine Prinzessin zuhört. Was redet er von Verstehen?"
"Wenn die Prinzessin mit hässlichen Worten auftreten würde", Baldeina schenkte dem Soldaten einen dankbaren Blick, "wäre dann nicht auch der Kaiserin gedient?"
Nadim sagte nichts. Zu überrascht war sie, dass Baldeina, dessen Kopf sie sich in seinem Inneren wie die aufspringenden Schublädchen einer Schatulle vorstellte, einen Vorschlag machte, den sie nicht vorausgewusst hatte.
"Ihr müsst natürlich reden", Baldeina fürchtete ernstlich nun Nadims endgültiges Verstummen, "damit jeder weiß, welche Hässlichkeit ihr vorstellt. Schließlich ist diese nicht zu sehen!"
Nadim stellte sich vor, wie sie der Kaiserin entgegentreten würde, um mit Worten, nur mit ihren Worten, das Schöne und das ihm dienende Häßliche zu zerschneiden. Das war eine wunderbare Vorstellung, von der sie nicht mehr lassen konnte. Sie sah das Bild der Kaiserin vor sich, welches erst ängstlich dreinschaute - sehr um seine Feinheit besorgt - und schließlich seine Beschaffenheit vergessend, fließende Tuschetränen weinte, mit jedem von Nadims wunderbar hässlichen Worten eine neue.
"Redet, wie es euch im Herzen geschrieben steht", rief Baldeina, "nur schweigen dürft ihr nicht! Hallo, Prinzessin, seid ihr noch da?" Er zeigte sich ehrlich besorgt um seine Mission. Auch die Soldaten lauschten angestrengt.
"Sie sagt nichts", hörten sie eine Dienerin von drinnen leise sagen.
"Warum nicht?", flüsterte Baldeina.
"Weil wir ihr den Mund schwarz malen", so die Dienerin.
"Und wenn sie nun nichts mehr sagt", sprach sich sorgend Baldeina, "nie mehr etwas sagt ..."
"Dass es mit dem Reden aus ist", sagte der Soldat, der nicht grinste, "geht schneller vorbei, als wie es einem lieb ist!"
Chapter 133. Nadim und die Kaiserin
Alle Mägde waren in ihrer Verkleidung gekommen. Die eine den Busen mit Pocken übersät, in unförmigem Rock die zweite, mit schwarzen Zähnen verunziert der schöne Mund der dritten und der vierten gegen ihr Wehren die schönen Haare mit Mehl und Küchenfett verschmiert.
Dahinter vier Soldaten, die sich stritten. Denn wer die Schönheit einmal gesehen hat, der vergisst sie nicht. Immer wieder musste Baldeina sie ermahnen. Aber sie schubsten, drängten und wechselten in einem fort ihre Plätze. Den Mägden gefiel das, wenn sie auch jede für sich bedauerte, dass ihnen soviel von der Rangelei in ihrem Rücken entging.
Die Prinzessin ging vorneweg und war in Gedanken. In ihrem weißen Kleid schritt sie langsam daher und war in ihrem Ansehen über all die Hässlichkeit und das Stoßen der Soldaten erhaben. Einmal nur warf sie Baldeina von der Seite einen spöttischen Blick zu, denn er schwitzte sehr, weil ihm die Hässlichkeit der Prinzessin nun, da sie auf dem Weg war, nicht geheuer war.
"Was wollt ihr sagen?", flüsterte er, "Ich meine, die Worte, wie werden sie sein?"
"Was sorgt ihr euch", etngegnete ihm Nadim. "Glaubt ihr, sie lassen mich im Stich, und ich kann mein Versprechen nicht halten?"
"Nein eigentlich nicht - eher etwas anderes", aber dann schwieg er, weil er nichts abwenden konnte.
Er musste auf die Soldaten achten, die sich nicht einigen konnten, die sich stießen und auf die Füße traten. Baldeina hatte einen Oberen vergessen, da war es immer schlimm mit ihnen.
Als einer von den Soldaten stolperte und hinschlug, war es mit seiner Geduld am Ende, und er schickte sie fort. Da waren die Mägde sehr enttäuscht. Aber als sie sahen, dass andere Soldaten, nicht minder augenfleißig, das Gemach der Kaiserin bewachten, nahmen sie den Verlust der ersten tapfer hin. Drei Soldaten waren es, und nun rangelten die vier Mägde, bis Baldeina auch sie zur Ordnung gerufen hatte.
"Ihr seid die Dienerinnen der Prinzessin, benehmt euch", ermahnte er sie. "Die Kaiserin kennt keinen Spaß. Sie will euch hässlich sehen, nicht laut, nicht frech."
Alsdann öffnete er ihnen die Tür, und sie traten hinter der Prinzessin in das Gemach der Kaiserin und waren still vor soviel Pracht. Keine von ihnen dachte im Staunen an irgendeinen Soldaten. Es war so still, dass den Dienerinnen zum Fürchten war.
Die Kaiserin stand auf einem Podest und damit in gleicher Höhe wie ihr Bild auf der Leinwand. Ein Junge saß auf der Stufe, hielt ein Bündel Pinsel und hatte einen neugierigen Blick.
Der Maler stand zur Leinwand und zeichnete mit feinen Strichen an den Linien des Gesichtes.
Die Kaiserin stand ohne Bewegung und machte die Mägde mit ihrer Schönheit ganz klein. Keine von ihnen hätte einen Schritt weitergetan. Sie hielten sich an den Händen gefasst und blickten ängstlich der Prinzessin nach, die vortrat. Aber die Kaiserin bewegte sich nicht. Kein Sehen, kein Erkennen ging von ihr aus.
Neben ihr sahen die Mägde eine alte Frau, die für die Kaiserin sprach. Unter einer Kutte verbarg sie ihren Kopf, eingewickelt darin die Hände und verborgen unter dem langen Fall die Schuhe. In seiner Art war der Stoff roh und gewöhnlich. Der Stoff war einfach, kostbar aber war der Schnitt.
Die Kaiserin war so schön, dass Baldeina die Augen senken musste. Die Frau an ihrer Seite war grimmig und einsam, wie der Abend von einem Wintertag.
"Die Prinzessin, warum ist sie nicht hässlich?", fragte die Frau den Hofgünstling.
"Die Prinzessin, sie spricht für sich selbst", sagte Nadim. Neben ihr schluckte Baldeina an einem ersten Schrekken.
Nun wandte sich die Frau der Prinzessin zu. Langsam waren ihre Bewegungen, als sei sie alt oder krank.
"Meine Hässlichkeit ist nicht zu sehen", erklärte Nadim, ohne gefragt zu sein, "aber wohl zu hören. Meine Worte haben Warzen und gekrümmte Glieder, viel schlimmer als ihr es bei den Mägden sehen könnt."
"Hört nicht auf sie", sagte die Frau, der Kaiserin zugewandt. "Es schadet, was sie sagt. Ich werde sie fortschicken."
"Ihr habt mir nicht anzuordnen", sagte Nadim fest.
"Ihr wisst, Prinzessin, dass die Kaiserin nicht sprechen darf. Ich spreche ihren Willen aus."
"So weit ist es schon", fragte Nadim, "dass die Kaiserin ihr Antlitz dem Maler und ihren Willen euch überließ? Was ist dann übrig von ihr, darf ich fragen."
"Bitte, ich -", sagte Baldeina, um zu vermitteln.
"- den Hof überließ sie ihrem Günstling, euch ihren Willen und dem Maler ihr Bild! Ich stelle fest, dies Land ist ohne Kaiserin!"
"Ihr seht doch, dass sie dort steht und nichts sagen darf."
"Ich sehe keine Kaiserin", so Nadim. "Wohl sehe ich ein Podest und darauf eine Frau. Und es will mir scheinen, als sei sie aus dem Leben geschieden. Seid wann ruhen die Toten im Stehen?"
"Sprecht zu mir", sagte die Frau, "wenn es unbedingt sein muss. Lasst sie in Frieden! Sagt mir, was ihr sagen wollt. Ich werde sehen, was davon zu gebrauchen ist für unsere Sache."
"Habt ihr sie nicht angesehen?", fragte Nadim als Besorgte. "Fiel euch als Wundertäterin nicht auf, dass die Lider und die Augen der Kaiserin starr sind? Saht ihr nicht, dass es Kiesel sind? Lasst euch sagen, ich war dabei, als mein Vater diese Augen aussuchte. Am Strand fanden wir sie. 'So wünsche ich die Augen meiner Frau!', sagte er. Nach den Augen fand sich leicht der Rest, das war nicht schwer!"
"Nadim, bitte", versuchte Baldeina ihren Wortstrom zu bremsen, wusste aber, dass es vergeblich war, denn nichts anderes als solche Redeweise hatte sie beabsichtigt und versprochen.
"Die Haare, ich vergaß die Haare!", unterbrach sich Nadim. "Eine Dienerin am Hofe trug sie. Wiederum blickte mein Vater wehmütig, als er diese Haare sah. 'Denk an die Kiesel, die wir fanden, jetzt haben wir beides!' sagte ich. Und er sagte: 'Ja, die Haare und die Kiesel ... Nadim, mein Kind, wie du mich verstehst.' Die Lippen dann suchte ICH für ihn aus, denn ich wollte ihn überraschen. So wurde SIE seine zweite Frau, mit am Strand gefundenen Augen, Haaren, geliehen von einer anderen, und Lippen, die ich mir als fette Würmer von den Gärtnern geben ließ."
"Ich kann so nicht", klagte der Maler. "Es geht nicht - meine Hände - das Gesicht der Kaiserin - dies Gerede macht meine Hände taub!"
"Seht ihr!", so vorwurfsvoll die Frau. "Ich sagte es doch. Ihr werdet alles verderben!"
"Meister Maler", rief Nadim, "das Kleid, die Arme, die Hände, alles wunderbar! Was sorgt ihr euch?"
Stolz blickte der Junge zu seinem Meister hoch und erschrak über dessen verdrehten Blick. So wie er ihn einmal gesehen hatte, als er in einem Brot auf etwas gebissen hatte, was sich als sein eigener Zahn herausstellte, die Hälfte von seinem Zahn. So ein Blick war es.
"Was sorgt ihr euch?", so Nadim weiter. "Die Haare, die Augen, was sind das für Dinge? Ich kann sie euch finden. Kommt mit mir an den Strand, ich find euch welche! Die Wangen, die Lippen, braucht sie nur aufzusammeln. Bedenkt, ihr seid am Kaiserhof!"
"Bringt sie zum Schweigen!", rief der Meister. "Ich kann nicht mehr, heute nicht, morgen nicht, ich weiß nicht -"
"Nun habt ihr es verdorben", sagte die Kaiserin und stieg von ihrem Podest.
"Diese Ähnlichkeit zu einer Lebenden!", rief Nadim.
"Die Prinzessin", sagte die Kaiserin, eine tiefe Furche unüberbrückbar zwischen den Augen, "hat uns genug geschadet. Den Richter vertrieb sie mit ihren Launen und nun verdirbt sie mir mein - dieses Bild!"
"Ich vertrieb den Richter?", gab Nadim empört zurück.
"Sieh dich nur an! Wer hielte es lange mit dir aus? Ist nicht der erste, welcher floh."
"Vor eurer Willkür floh er. Ihr habt ihm das Testament meines Vaters in den Mund gelegt, als sei es ein leeres Blatt? Da floh er aus Angst für seine Freveltat. Und zum ersten kann ich sagen, dass dieser nicht floh, er -"
"Lasst sie abführen, Günstling", sagte die Kaiserin zu Baldeina. "Veranlasst, dass diese Prinzessin, die nie einen Mann bekommen wird, als alte Frau, als Jungfer gegangen kommt, wie das Schicksal es ihr zugedacht hat. Klappt das Ende ihres Lebens auf den Anfang! Jeder soll gleich sehen, was es sein wird!"
"Ha, wie wollt ihr selbst -", rief Nadim, aber Baldeina hielt ihr von hinten den Mund zu. Nicht zu stark, ritterlich eigentlich, aber dennoch dicht hielt er den Mund, sodass Nadim nichts sprechen konnte, jedenfalls nicht so, dass sie durch die Hand von Baldeina hindurch zu verstehen gewesen wäre.
Chapter 134. Der Steckbrief
"Findet mir ... ihn", sprach die Kaiserin.
"Wen meint sie?", flüsterte der Hofmarschall.
"Wie spricht sie?", gab ihm der General leise zurück.
Baldeina spürte die Last der Fragen in seinem Rücken. Das steife Lächeln zur Kaiserin gewandt, kroch ihm ein hautiges Unbehagen unter den feuchten Kragen.
"Er ist in den Augen, all den Gedanken", sagte die Kaiserin rauh, "schaut und denkt sich Angst für mich aus."
"Kaiserin, seid gewiss ...", sprach Baldeina sich verbeugend aus. Als er sein Lächeln wieder aufnehmen wollte, traf ihn von hinten schmerzvoll ein feiger Tritt in der Ferse.
"Dieser da? Wer ist dieser da?" Die Kaiserin blickte stierend auf den schwergebauten Alten, der in losen Fesseln vor ihr stand.
"Es ist Treufuß." Baldeina war an die Seite des Mannes getreten, dass er nicht mehr Hofmarschall und General in seinem Rücken hatte. "Ihr habt verlangt, ihn zu sehen."
Die Kaiserin hob wehrend die Hand. "Er soll nicht lächeln. Versagt ihm dieses Lächeln."
"Bitte, ihr hört den Wunsch der Kaiserin." Baldeina trat freundlich auf Treufuß zu. Er wartete, geduldig schauend, bis dessen Lächeln verschwunden war.
"Nun soll er sprechen!", befahl die Kaiserin.
"Ihr habt mich rufen lassen, damit ich euch von Asari, dem Kaiser der Tränen, berichte", sagte Treufuß unter Baldeinas forschenden Blicken.
"Kaiser der Tränen!", zischte die Kaiserin erbost. "Der Name von einem toten Vater, was nützt ihm der!?"
"Ein Kaiser immerhin war Asaris toter Vater", erwiderte Treufuß gelassen.
Schnell trat Baldeina in Gestalt vor ihn und trieb das Lächeln mit düstersten Blicken aus.
"Ich will ihn fragen, was seine Absicht ist. Was gibt ihm das Recht, mich zu ängstigen?", so die Kaiserin mit auffahrender Geste.
Vorsichtig hob Treufuß seine lose gefesselten Hände.
"Heißt das, ihr könnt nichts für mich tun?"
"Ich weiß nicht, wo er ist", antwortete Treufuß. "Eigentlich hat er - wie ihr sagt - keinen sehr festen Ort."
Die Kaiserin nickte. "Er treibt sich in den Augen umher, die mir, der Kaiserin, gehören. Das ist ihm nicht erlaubt."
"Er würde nicht auf mich hören", stellte Treufuß bedauernd fest, misstrauisch beäugt von Baldeina, dem die sich von den Schläfen her glättende Stirn verdächtig war.
"Wie schaut er selber drein? Seine Augen - wie sind sie?" Die Kaiserin sprach Treufuß wie einen Verschwörer an.
"Sind unbestimmt in ihrem Ausdruck", erwiderte Treufuß kurz. "Wenn ich sagen darf, ein wenig schwimmend."
"Sind sie leer, sagt, sind sie leer?"
Treufuß nickte. Wenn die Kaiserin meinte, dass nichts zum Wiedererkennen sich darin fand, so hatte sie den rechten Ausdruck wohl gefunden.
"Aah", sagte die Kaiserin, "sieh dir ..." Es klang erschöpft und einen Gedanken klammernd.
"Wie meint sie?", fragte Treufuß zur Seite.
Langsam sagte die Kaiserin: "Wenn nun ich seine Augen mit mir ... meinem Bild füllen würde. Was, anders als mich, sähe ich in den Augen der anderen dann?"
"Befehlt nur, befehlt!", rief Baldeina frohlaut.
"Irgendetwas", flüsterte bissig der Hofmarschall, "das sich fassen ließe."
"Fassen ...", sagte die Kaiserin, ebenso hellhörend wie tiefsinnend.
"Wir fassen ihn!", rief Baldeina krächzend. "Die Kaiserin befiehlt, dass wir ihn fassen. Jeder hat es gehört."
Unsicher griff die Kaiserin nach ihren Lippen. War es das, was sie gedacht hatte? Waren dies die Worte des Gedanken, der sich mit einer Finte davongeschlichen hatte?
"Soldaten werden ihn greifen!", rief Baldeina, ein Nikken des Generals einfordernd.
"Ja, es ist ein Befehl der Kaiserin", sagte der Hofmarschall matt.
"Sehen sie", warf Treufuß ein, "ich will nicht Schlechtes von Asari sagen - schließlich, mehr als ein Ziehsohn, viel mehr ist er mir! - nicht Schlechtes, aber dies: Zu Fassen ist Asari nicht!"
"Meine Soldaten - sie sind nicht schlechter als die ihren waren!", empörte sich der General.
"Das ist es nicht", beruhigte ihn Treufuß. "Sie sind, wie ich sah, nicht minder gut." Die Fesseln fielen ihm zu Boden vor die Füße, wo sie der Kaiserin Blicke banden.
"Was ist es dann? Sprecht frei heraus!", forderte ihn Baldeina heraus.
"Sehen sie", fuhr Treufuß bedächtig fort, "ich stehe ich doch gewissermaßen selbst gefesselt vor ihnen. Wie könnte ich behaupten, dass Menschen nicht zu fangen sind! Sagen muss ich aber, dass Asari mehr einer Erscheinung gleicht als einem Menschen mit Blut und Treu und allem."
Erschreckt fuhr die Kaiserin auf und sank, sich umblikkend, in gefesseltes Grübeln zurück.
So fügte Treufuß hinzu. "Da hat sie, die Kaiserin, schon recht, dass er sich restlos frech in fremde Augen stiehlt, wo wir noch glauben, in sein Angesicht zu sprechen."
"Das ist doch alles Unvernunft!", rief Baldeina dagegen.
"Die Worte der Kaiser, bedenkt ...", hämte der Hofmarschall.
"Ich habe die Lösung!", warf Baldeina ein. "Dieser da, der sich Treufuß nennt und sein Ziehvater ist, soll ein Bild von ihm zeichnen."
"Ich kann nichts malen", sagte Treufuß. "Nicht einmal ein Pferd könnte ich malen ... nicht einmal den Sattel von einem Pferd."
"Er ist Soldat wie ich, hat nichts als das Kämpfen gelernt", pflichtete der General ihm bei.
"Wir haben genug, die malen können. Sie sollen nach seinen Worten ein Gesicht malen!" Kein Einwand, der an Baldeinas breiter Brust nicht zerprallt wäre!
"Also ein Gesicht, wie ihr es euch vorstellen mögt, besitzt Asari nicht", gab Treufuß zu Bedenken.
"Wir werden ihn zwingen, ihn foltern!" Baldeina hob die lose liegenden Fesseln auf und schwenkte sie vor dem alten Soldaten. "Es wird schon etwas herauskommen."
"Er hat ein Muttermal auf der Wange, das fiele mir ein." Das preisgegeben, nahm Treufuß Baldeina die Fesseln aus der Hand.
"Seht ihr, seht ihr!", rief Baldeina triumphierend der Kaiserin zu.
"Es scheint sehr einfach zu sein", sagte der Hofmarschall.
"Kann ein Bild mir einen solchen Menschen fangen?", fragte die Kaiserin aus tiefstem Schweigen.
"Hoho, wenn das Bild mit Soldaten kommt einher, hoho!", gröhlte der General.
"Wenn er in vielen Augen ist, wie wollen wir ihn mit einem Bild fangen?", fragte die Kaiserin fort.
"Wie, was?" Baldeina suchte, den Oberlauf seines Halses kratzend, ein Verstehen.
"Wir malen viele Bilder", entschied der Hofmarschall. "Wir setzen alle Schreiber daran. Soviele Bilder, wie in der Stadt Menschen sind, werden wir malen."
"Ist er von großer Schönheit?", fragte die Kaiserin.
"Nee, eigentlich nicht", dazu Treufuß mürrisch. "Aber ich bin Soldat und von diesen Dingen -"
"- dann wird es gehen", unterbrach ihn die Kaiserin. "Nicht möglich ist es, das Schöne in mehr als einem Bilde festzuhalten."
"Wer schreiben kann, der kann auch malen", zeigte sich Baldeina beteiligt. "Die Li ... das ist die Chronistin von Woi ... also eigentlich ein Mädchen, das nur mitgekommen ist -"
"- die vielen Bilder fangen mir den Hässlichen!" Die Kaiserin hatte sich erhoben und stand wie durch alle Mauern blickend.
"Bleibt es dabei?", fragte Baldeina die anderen. "Es ist schließlich meine Idee."
"General, kommen sie mit ihrem Treufuß", überhörte der Hofmarschall ihn und führte die zwei stapfenden Genossen fort. "Wir wissen den Befehl der Kaiserin zu deuten."
"Wenn ich erst in seinen Augen bin, wird er mir teilhaft untertänig sein." Richtungslos die Worte der Kaiserin, von feinsten Rissen durchzogen ihr Klang.
Fremder als nie sah Baldeina die Augen seiner Kaiserin glänzen. Für einen Augenblick der Verwirrung war ihm, als habe sich der Kaiser der Tränen ihrer bereits bemächtigen können.
Chapter 135. Die Jugend verkleidet sich
Frau Biebald stritt sich mit ihrem Jungen. Was denn dieser erreichen wolle? Niemand könne ein anderer sein, von außen nicht und um wieviel weniger von innen! Wisse er denn überhaupt, was ein Kaiser der Tränen sei? Sie sei sicher, dass er es ebensowenig wisse wie seine Mutter. Ob er nicht denke, dass er sich in große Gefahr bringe, wenn er geradezu aussehen wolle wie einer, den die Soldaten überall in der Stadt nach seinem Bild suchten? Ob er nicht denken, dass sie in großer Sorge über solchen Unsinn sei. Ob er niemanden anderen habe als seine Mutter, der ihm vernünftig zurede.
Nein, hatte ihr der Sohn geantwortet, nein.
Was das heiße, fragte sie ihn. Höre er nicht ober habe er niemanden, der vernünftig rede.
Als sei er nun auch taub, versuchte ihr Sohn dem Jungen auf dem Bild die eingefalteten Lippen zu stehlen.
Als sie dachte, dass es vorbei war und gerade zu weinen begonnen hatte, da war der Junge ins Bad gegangen, hatte sich gegen alles Flehen und Drängen eingeschlossen, und als er herauskam, hatte er sich die Haare ab und kurz geschnitten und sie allesamt schwarz gefärbt.
Ihre Haare, rief sie entsetzt und zeterisch, er habe ihre blonden Haare schwarz gefärbt. Die habe er nämlich von ihr, von niemandem anderen als von seiner Mutter.
Dabei waren ihre Haare allesamt braun gewesen, bevor sie grau wurden, und sie wusste es. Nur seine waren richtig hell. Wenn es nur nicht schon geschehen wäre, sie hätte gekämpft und gesiegt. Doch es war geschehen und vorbei, und da hatte sie nicht einmal die Kraft zu streiten.
Des weiteren trug er eine Warze im Gesicht, wie der Junge, den sie mit dem Bild suchten. Weiß der Himmel, wie er die zu Wege gebracht hatte? Er ließ es nicht zu, dass sie sein Gesicht berührte. Beruhigt war sie jedenfalls, dass dieses Ding zu entfernen war.
Wenn er nur nicht aus dem Haus gehe, sagte sie, wolle sie diesen Unsinn vergessen und vergeben, und er könne es halten, wie er wolle, und jeden Tag ein anderer sein, wenn ihm das Gesicht, in dem er geboren sei, nicht gefalle.
Er habe dieses, was sie Unsinn nenne, für nichts anderes gemacht, als dass es sich zeige, entgegnete er ihr.
Er habe dieses gemacht, um seine Mutter in Sorgen und Ängste und Verzweiflungen zu stürzen, rief sie.
Jeder Sohn in dieser Stadt stürze seine Mutter in diesem Augenblick des Sprechens in solche Dinge. Das solle sie sich vorstellen und ihr Schicksal mit den anderen Müttern teilen.
Nolo Weisch hatte drei Brüder, die sich allesamt mit seiner Tinktur die Haare färben wollten. Sie kniffen ihn, aber er wehrte sich. Sie sagten, sie würde alles der Mutter sagen. Aber das war ihm ebenso nicht wichtig. Sie sagten, wenn er nur aus dem Haus gehe, würden sie von seiner Schokolade essen. Da aß er die Schkoloade ganz auf, und sie schauten dumm.
Die Brüder sagten, sie würden der Janine von der Frau Nilie sagen, dass der Nolo in sie verliebt sei. Eigentlich dürften sie nicht darüber sprechen, würden sie ihr sagen, weil es geheim sei und der Nolo sich schäme.
Da gab Nolo ihnen von der Tinktur, und sie reichte wirklich für die Köpfe von allen seinen drei Brüdern. Nur beim Kleinsten reichte sie hinten nicht mehr, aber sie taten alle so, als sähe er so aus wie sie.
Dem Nolo war schlecht, weil er die Schokolade ganz gegessen hatte und weil er dachte, dass die Mutter nicht wusste, was er und die anderen Brüder angestellt hatte. Die Brüder sagten, dass sie der Janine schon alles gesagt hätten. Worauf Nolo so schwitzte, dass die Farbe auf seine Stirn lief. Der Kleinste schrie: 'Ti', 'Ti'! und zeigte auf ihn. Die anderen lachten, weil er so aussah wie der weiße Stofftiger mit den schwarzen Streifen.
Tho war Soldat. Weil er ein einfacher Soldat war, der jüngste und eigentlich der einfachste Soldat von allen, nannten ihn alle nur 'Soldat', wenn sie ihm überhaupt einen Namen gaben. Er färbte sich die Haare schwarz. Sie waren ein wenig kurz, aber sein Gesicht war zum Verwechseln dem Gesicht auf dem Bild ähnlich. Vor lauter Übermut klebte er sich eine kleine Warze dorthin, wohin sie gehörte. Es war die falsche Seite, weil sie beim Gesicht andersherum war, aber es war eine schwarze Warze.
Eigentlich war die Ähnlichkeit zwischen ihm und dem anderen Kaiser so groß, dass er es zumindest zum Oberen bringen konnte, wenn der andere einmal Kaiser war. Dann würde seine Mutter stolz sein. Sie hatte ihm immer gesagt: 'Sieh zu, mein Junge, dass du du etwas aus dir machst!' Sie nannte ihn 'mein Junge', aber das war etwas anderes, als wenn die anderen ihn nur 'Soldat' nannten. Und der Vater hatte immer gesagt: 'Der Tho, der macht was aus sich!'
Der Vater war ein Bauer und hatte nichts aus sich gemacht. Das sagte er auch, und die Mutter sah dann traurig drein. Das einzige, sagte er, was er gemacht habe, sei Thos Mutter zur Frau genommen zu haben. Da sah sie wieder glücklich drein. Sie sei eine gute Frau, sagte der Vater. Er sei eine ebenso guter Mann, sagte die Mutter. Und Tho hatte nicht gewusst, wohin er blicken sollte, wenn sie sich so ansahen.
Das Lächeln von Treufuß ging durch die ganze Stadt. Es besuchte die Plätze, sah in die Winkel, streifte durch die Gassen, nahm Platz, wo es einen fand. Versteckte sich nicht, machte sich nicht gemein. Mal ging es Treufuß voraus, dann wieder spiegelte es sich wartend in den niedrigen Fenstern .
Überall in der Stadt sahen ihn die vielen Gesichtern mit einem Blick an, der ihm vertraut war. Nicht anders schaute Asarai aus seinem eigenen Gesicht, als sei es ein fremdes, als wolle er sagen: 'Hier ist jemand, der euch anschaut, aus einem Gesicht, das ihm nicht gehört.' Wie ähnlich waren sie darin Asari, ohne es wissen zu können!
Asari besaß nur diese fremde Gesicht, während jeder von seinen Gesichtsbrüdern ein eigenes besaß, das er für heute gegen ein fremdes getauscht hatte. Aber war das von Wichtigkeit? War es nicht kleinlich, ein Leben gegen einen Tag zu wiegen. Wer würde darüber sprechen wollen?
Chapter 136. Der General im Wirtshaus
"Die Kaiserin hat angeordnet, ihn suchen zu lassen", sagte der General, "so suchen wir ihn."
"Was sie sich davon verspricht ...?" Langsam schob Treufuß sein Glas kreisend über den Tisch, bis der Wein im Rund schwingend den oberen Rand benetzte. Dann schob er das Glas in die Mitte des Tisches und ließ den Wein in langen Schwenkern seine Ruhe finden.
"Mit Hilfe des Bildes ist es leicht, ihn zu finden", sagte der General und vermied es, Treufuß anzusehen. Dieser musste selbst wissen, ob er klug beraten gewesen war, den Schreibern am Hof beim Anfertigen des Suchbildes zur Hand zu gehen.
Treufuß drehte das Bild ein und legte es nachlässig neben sich. Er machte nicht den Eindruck, als erwarte er, dass die Suche Erfolg haben würde.
"Ist das Bild von seinem Gesicht nicht genau genug?", fragte der General weiter. Sorgsam beobachtete er, wie Treufuß auf seine direkte Frage dreinschaute.
"Er ist nicht jemand, den man nach seinem Gesicht finden kann", sagte Treufuß und fügte, um einer Frage zuvorzukommen, hinzu: "Ich kann es nicht erklären. Es ist eben so."
Der General schüttelte den Kopf. Das verstand er nicht. Aber er hoffte, dass Treufuß es richtig wusste.
"Wenn er nicht in der Stadt ist, dann könnten die Soldaten ihn natürlich nicht finden ..." Zufrieden blickte der General drein, als er an diese Möglichkeit dachte.
"Asari ist in der Stadt. Er kennt die gewöhnliche Furcht nicht", sagte Treufuß nachdenklich. "Was nicht heißen soll, dass er mutig ist. Es ist etwas anderes ..." Treufuß suchte grübelnd ein Wort in seinem Glas, fand aber keines.
Der Wirt kam an ihren Tisch und wartete. "Sie haben ihn", sagte er. "Draußen sind Soldaten, die sagen, dass sie ihn haben."
"Wir müssen nachsehen", sagte der General.
"Ich bringe den Wein nach draußen an den Tisch", sagte der Wirt.
Treufuß trank sein Glas leer und drückte es dem Wirt in die Hand. Der General ließ sich nicht bitten und trank ebenso aus.
Sie schwankten durch die Tische, die sich mit anderen Gästen gefüllt hatten, und schoben sich langsam zur Tür. Draußen standen zwei Soldaten. Einer hielt ein Bild hoch, während der andere einen jungen Mann nach vorne schob.
"Ist er nicht", sagte Treufuß.
"Aber das Bild?" Der Soldat hielt es hoch, ganz dicht neben das Gesicht des jungen Mannes. "Er sieht doch genauso aus!"
"Lasst ihn laufen! Das Bild verwirrt nur", sagte der General.
Treufuß setzte sich an den Tisch. Statt einer Erklärung streckte er sich und sagte: "Ah, schön draußen, die frische Luft und das alles."
Dann saßen sie bei ihrem Wein. Irgendwann zeichnete Treufuß mit dem Finger eine Weinlinie und erklärte dem General, an welcher Stelle sie für die Schlacht am Berg Schekan eine Aufstellung genommen hatten. Damals sei er der General gewesen, lange her das. Aber der General erinnerte sich, weil er ein Oberst gewesen war, und zeichnete die Hügel ein und die Krümmung des Flusses.
Wieder stand ein Soldat an ihrem Tisch, hielt mit der Hand einen jungen Mann am Arm fest und beugte sich vor, weil er nicht laut sprechen wollte: "Er sagt, er sei es - sieht ihm aber nicht gleich, oder nur ganz wenig."
"Wie kann das sein!", protestierte der junge Mann. "Wenn ich so aussehen würde wie der auf dem Bild, dann würde die Soldaten mich ja gleich entdecken."
Einige der Gäste sahen aus dem Fenster und lachten. Das Flüstern bildete auf dem Boden verlaufende Kreise. Dann wieder Gelächter. Schließlich rief jemand einen Namen und ein Wort.
"Ich bin wirklich dieser Kaiser der Tränen! Was wissen denn diese Betrunkenen!" Er nahm die herunterfallene Hand des Soldaten wieder auf und versuchte sie an seinem Arm festzumachen.
"Ist er nicht", sagte Treufuß und hatte sich nicht einmal umgeblickt.
"Ab mit ihm!", sagte der General. "Nur stören, wenn es wirklich der Sohn des Kaisers ist."
Der Wirt stellte zwei neue Gläser mitten auf die Linie, wo die Straße verlaufen war. Schnell bildete sich anstelle des Berges ein kleiner See, der mit einem dünnen Ausläufer zum Rand des Tisches strebte.
"Woran sollen wir ihn erkennen?", fragte der General und sah traurig, dass an eine Fortsetzung der Schlacht nicht zu denken war.
"Das Erkennen ist es nicht, das Finden ist es", sagte Treufuß. Die Gespräche an den Tischen waren verstummt. Der Wirt brachte schlürfend Nüsse. Dann war es wieder still, als habe Treufuß für sich um Ruhe gebeten. Aber er hatte nur das Glas erhoben und es in den kleinen See abtropfen lassen.
"Woran ist jemand zu finden, der von allem etwas hat?", fragte er in die Runde. "... als Junge spielte er gerne Dinge. Da war er ein Diener, manchmal eine Soldat, oder er stand wie ein Schäfer mit einem Stab und starrte auf die Felder. Und ernst war es ihm! Da durfte ich nicht lachen."
Als Treufuß sein Glas zum Mund hob, taten es ihm die anderen Gäste nach. Doch Treufuß trank erst, als die anderen schon wieder abgesetzt hatten. Dafür war er zu lange General gewesen und hatte immer vor oder hinter den Reihen gestanden.
"Ich meine, wenn ER sich in jemanden verwandeln kann, dann kann auch jeder Bauer oder Schäfer, sogar ein Soldat sich in ihn verwandeln. Dann ist es unmöglich, ihn zu finden."
Einen Soldaten, der sich in der Tür zeigte und mit Blicken um Rat nachsuchte, winkte der General ärgerlich weg.
"War bestimmt nicht leicht für sie", sagte der General und sprach aus, was alle dachten.
"Er hätte ein Sohn sein können, wenn es in ihm gewesen wäre", sagte Treufuß grüblerisch. "Erst dachte ich, er wäre ein Sohn, aber das ist eben, dass man sich täuschen lässt."
"Wir haben wieder zwei neue", rief ein Soldat, der sein Gesicht nicht zeigen wollte. "Sie sagen beide, dass sie dieser eine sind."
"Lasst sie frei", befahl der General barsch, "und sagt allen, dass wir die Suche abbrechen."
"Sie verstehen nicht, dass die Richtigen IMMER die Falschen sind", sagte Treufuß und hob sein Glas zum gemeinsamen Trinken.
"Seht ihr diesen Mann?", fragte der General, als sie den Wein wieder abgesetzt hatten.
Der Mann stand auf der anderen Straßenseite und sah zu ihnen hinüber. Sein Blick hielt sich an ihrem Tisch fest und tauchte tief in den Wein, der die Karaffe füllte. Auf seinem kahlen Kopf glänzte der Schweiß, in seinen Augen glänzte der Durst.
"Diesen?", fragte Treufuß.
Der General nickte und sagte nachdenklich: "Das ist so eine Sache mit der Ähnlichkeit ..."
Bei dem Mann hatte sich eine Dame eingehakt, die ihn fortdrehte und auf dem Gehweg weiterzog. Eng und rundgeformt trug sie das schwarze Kleid und ging auf vornehmen, lauten Schuhen, sprach mit dem Mann leise vertraut.
Der General sah mit zusamengekniffenen Augen zur anderen Straßenseite. "Ich könnte sicher sagen, dass dieser Mann dort unser Hofdichter LoBe ist. Mein Wort, ich würde schwören ... aber wie kann er es sein? Er ist kein Tagesmann für sittenschwere Damen. Sein Umgang sind die leichten Mädchen, die alles tun, was er vorab bezahlt."
Treufuß betrachtete derweil lächelnd das Bild von Asari und sagte zu sich. "Das Alter mit der Klugheit, die ihm blieb - sieh nur an, was es zustande bringt!"
"Ihr meint, er ist doch unser LoBe?" Der General schüttelte entschieden den Kopf. "Wie kann er es sein? Er würde kommen und sich zu uns setzen und trinken, was nicht getrunken ist, und reden, wo ein Wort hineinpasst!"
"Es gibt kein besseres Versteck als die Ähnlichkeit", sagte Treufuß und dachte, wie über sein Erwarten gut sein Plan aufgegangen war.
Chapter 137. Das Heiratsverbot
Die Kaiserin war nicht zufrieden. Etwas fehlte. Sie wusste, dass der Maler das Fehlen bemerken hatte. Alles war recht, nur dieses nicht. Sie wollte ihn nicht zwingen. Das andere war so wunderbar geworden, wie sie es nie gedacht hätte. Von allen Kleidern, die sie besaß, war dieses, das sie auf dem Bild trug, das schönste. Ihre Hände waren ein Traum! Wie sehr hatte er sich in vielen Skizzen um die richtige Haltung bemüht. War dabei mürrisch geworden, sogar ihr gegenüber.
Er war ein Meister, und sie musste es ihm überlassen, den richtigen Moment zu wählen. Ganz allein ihm und seinem Empfinden für den Teil der Schönheit, der sie vor die Kaiserinnen aller Zeiten stellen würde. Sollte er ruhig ihr Gesicht umschleichen und sich auf die Lauer legen. Sie würde ihm eine Schönheit als Vorlage liefern für seine unsterbliche Kunst. Warum nur zögerte er weiter ...?
Ihre Haut hatte sich gestrafft. Die Blicke, in denen sich ihre Schönheit spiegelte, waren wie ein Bad, dass duftig in ihre Haut einzog. Es war eine seltsame Mixtur, aus Hass und Neid bei den Frauen, aus Bluthitze, aus Empörung und etwas anderem bei den Männern.
Manchmal kam es ihr vor, als würden ihr auch die Blumen neidvolle und giftige Blicke zuwerfen. Die Bäume flüsterten über die Kaiserin, was sie getan hatte und und wofür. Es war ein falscher Ton im Gesang der Vögel. Die Luft war erfüllt vom Duft ihrer Haut, hatte den eigenen Geruch vergessen.
Und doch fehlte etwas. Sie konnte es nicht beschreiben. Es war ein Gefühl, dass der Kopf nicht richtig unter der Haut saß. Als müsse sich das Gesicht erst gewöhnen und zurechtfinden. Manchmal brannten ihr die Augen, als seien sie geschliffen worden und empfindlich für die Unterschiede des Lichtes.
Die Frau musste wieder her! Sie war über alle Ärzte und Ratgeber gehoben worden. Hatte gleichgültig die kostbarsten Geschenke angenommen. War unlustig über Leckereien und süßen Weinen gesessen. Hatte ihre Dienerin fortgeschickt. Nun aber sollte sie ihren ganzen Zauber einsetzen! Vielleicht war es das, was sie wollte - dass die Kaiserin, der Hof, die Stadt sich völlig in ihren Dienst stellten! Dennoch musste die Kaiserin ihr zu Willen sein und sich und jeden zum Opfer bringen!
"Die Frau muss kommen", rief die Kaiserin und nahm ein Fläschen mit Rosenöl in die gestreckte Hand.
"Holt die Frau!", fast schrie sie, "ich halte das Fläschchen, bis ich nicht mehr kann, dann - wirklich! - lasse ich es fallen!"
Es hatte weniger als einen Moment gedauert, da stand die Frau im Zimmer, unhörbar gekommen und erschienen in dem Geruch von verwelkten Totenblumen, der ihrer Kutte anhaftete.
"Kaiserin", die Dienerin kniete vor der ausgestreckt angestrengt zitternden Hand. Ein wenig Öl traf ihren Scheitel, "Kaiserin, sie ist gekommen. Alles ist gut. Ich bitte euch!"
Die Kaiserin nickte stumm und gab ihr das Schälchen in die Hände, geformt wie ein kleines Nest für Vogelkinder.
Vorsichtig trug die Dienerin das Rosenöl hinaus. Sie mochte die Kuttenfrau nicht und hatte mit der Zeit mehr Angst vor ihr als vor der Kaiserin. Besser war es, keinen Fuß in das öde Land zu setzen, in dem sie herrschte. Dort würde sie niederstoßen wie ein Raubvogel, der jede Bewegung in den Köpfen erspähte und die Gedanken der Furchtsamen riss.
"Ach, da seid ihr ja", sagte die Kaiserin, stolperig die Überraschung ablegend.
"Was soll ich?", fragte die Frau und schwieg verwelkten Duft.
"Ihr sollt mir euer Gesicht zeigen", sagte die Kaiserin im Spaß.
"Nicht einmal meine Hände dürft ihr sehen, ohne verdammt zu sein."
"Und was würde geschehen", verlangte der Übermut der Kaiserin zu wissen.
"Dann hättet ihr euer Gesicht an mich verloren. Für alle Zeit verloren."
"Noch ist die Zeit für dies kleine Geschenk nicht gekommen", sprach die Kaiserin. Aber ihr wäre lieb gewesen, sie hätte dieses Gespräch anders angefangen. Die Frau zeigte keine Angst, als wisse sie um ihre größere Macht.
"Helft mir!", forderte, flehte die Kaiserin.
"Was ist es?"
"In meinem Kopf ... es stimmt nicht. Außen ist es gut. Aber innen passt es nicht zusammen. Es wird mir fremd und schwer zu denken. Ich greife, und die Leere höhnt. Ich trage, was mir nicht gehört. Etwas fehlt! Versteht ihr? Etwas verbirgt sich und weiß Verstecke. Ich verstehe nicht, ich kann nur spüren ..."
"Der Maler fertigt noch keine Studien?"
"Nein", sagte die Kaiserin, "nichts, keine einzige Skizze. Dabei ist das andere wie ein Traum geworden!" Ihr fasste das Weinen an den Hals.
" Ihr wollt, dass ich meine ganze Kunst einsetze?"
"Habt ihr das nicht schon getan?", fragte die Kaiserin und trug zum schweren Herzen die Zunge wieder neckisch auf.
"Nichts mehr als ein paar Kunststückchen habe ich euch gezeigt, das wisst ihr!"
"Ich traue euch aber nicht. Ihr seid Teslas Geschenk. Sie ist die Fürstin der Nachtstadt, wie alle dort meine Feindin. Manchmal denke ich, ihr seid ein Fluch!"
"Dann schickt mich doch zurück, wenn ihr wollt."
"Nein, nein", sagte die Kaiserin verhastet, "das war nur so gesagt, weil ich überlegt habe. Ich bitte euch darum - zeigt an mir eure ganze Kunst! Was verlangt ihr?"
"Mich lasst aus dem Spiel. Eure Schönheit will es. Die verlangt es."
"Meine Schönheit will es", wiederholte die Kaiserin.
"Nichts ist euch wichtiger?", sagte die Frau ihr vor.
"Nichts!"
"Alles hat sich unterzuordnen?"
"Alles!"
"Dann sei es", sagte die Frau langsam und wenn sie ein Gesicht gezeigt hätte, dann auch ein Lächeln.
"Was muss ich tun?" Die Kaiserin war ohne eigenen Willen.
"Sagt mir den Tag der Krönung."
"Ich weiß keinen", die Kaiserin war erschöpft. "Bestimmt ihr den Tag. Ich kann nichts sagen."
"Euer Geburtstag soll es sein", sagte die Frau ruhig.
"Zur gleichen Zeit? Das ist bald!" Etwas war nicht richtig daran, aber wichtiger war das andere.
"Niemand, hört ihr, darf bis dahin heiraten. Am Hof und in der Stadt nicht! Habt ihr verstanden!?"
"Ja, ich werde jede Heirat ab sofort untersagen."
"Nichts, kein Liebesgebaren ist den Mädchen erlaubt."
"So werde ich befehlen."
"Kein Werben um Blicke und seien die Mädchen noch so jung!"
"Nichts ist erlaubt."
"Kein Rot soll die Wangen der Mädchen schmücken, kein Schwarz ihre Augen zeichnen. Die Sachen des Alltags sollen sie tragen, bei schwerer Strafe der Zuwiderhandlung. Nichts als EURE Schönheit darf zu sehen sein, versteht ihr!?"
"Ich werde es befehlen."
"Am besten ist, die Mädchen bleiben drin. Keine Frau, die jünger ist als ihr, darf hinaus an diesem Tag!"
"Das ist am besten."
"Jede Heirat, zu der bereits geladen wurde, wird untersagt, bei Strafe des Besitzverlustes."
"So soll es sein."
"An diesem Tag werdet ihr gekrönt und durch die Straßen ziehen -"
"Ja, ich werde."
"- und dem Maler wird euer Antlitz in der größten Schönheit gelingen, mein Ehrenwort!"
"In der größten Schönheit ..."
"So ordnet das an!", befahl die Frau. "An diesem Tag, an keinem anderen, wird er eure Schönheit sehen und malen!"
Dann war die Frau fort. Die Kaiserin bemerkte es, weil der Duft, der bekannt und fremd war, sich nicht mehr im Raum befand. Keine Spur davon war zurückgeblieben.
Lange sah die Kaiserin aus dem Fenster. Sie betrachtete die Bäume, die älter waren als die ältesten der Kaiser. Sie dachte: 'Ich bin eine Frevlerin. Das, was ich tue, darf ich nicht tun. Ich darf nicht die Bäume fällen lassen. Selbst eine Kaiserin darf solches nicht befehlen. Sie ist Kaiserin, weil die Bäume es ihr gestatten.'
Aber nein, das waren alles Hirngespinste! Das Bild musste fertig werden! Sie konnte nicht als Kaiserin ohne Gesicht dastehen. Das würde ihnen so gefallen, den anderen Kaisern! Mit ihren Frauen, die wie die Rückseite derselben Häßlichkeit waren. Wie würden sie sich umsehen, wenn sie, die Kaiserin ohne Kaiser, sich einreihte! Und würden wissen, dass es für immer war. Was dieses Wort IMMER bedeutete, konnten nur die ermessen, die tote Kaiser waren.
Nein, das Gesicht musste fertig werden! War sie Kaiserin geworden, um nun kleinmütig zu sein? Was die Menschen dachten, war ihr nicht wichtig. Wenn sie das Bild ihrer Kaiserin erst sahen, dann war alles vergessen!
Chapter 138. Woi in der Stadt
Die Drachenzähne schliefen noch. Tatze lag in tiefsten Träumen. Er hatte sich aus seiner Decke gewickelt und im Schlaf Wois Decke zu sich herübergezogen. Hinter Tatze lag der Zwerg. Jeden seiner Atemstöße beendete ein scharrendes Krächzen. Während Schädel im Schlaf grimmige Rede führte, lag der Narbige still wie ein Toter.
Wo war Asari? Er saß im Schatten und hatte Woi die ganze Zeit beobachtet. Er konnte sich durchsichtig machen, wenn er es darauf anlegte.
'Brauchen Schlafwandler keinen Schlaf?', fragte sich Woi.
"Du willst uns verlassen?", fragte Asari. Irgendwo in seinem Rücken hielt sich der Mond versteckt.
"Ja, ich gehe", sagte Woi zu ihm und zog an seiner Dekke, die Tatze im Schlaf nicht loslassen wollte.
"Willst du nicht wissen, wie es ausgeht?", fragte Asari.
"Ich will meine Decke", sagte Woi und zog vergeblich. Als er Tatze Finger gelöst hatte, packte die andere Hand die Decke und ballte sich zur Faust.
"Wenn eine Person etwas bekommen hat, was mir gehört, kann ich es dann zurückfordern?"
"Denke doch", antwortete Woi. "Wenn du meine Decke meinst, die hätte ich schon gern zurück!"
"Eine Decke meine ich nicht. Nimm an, sie hat Liebe bekommen, die eigentlich mir gehört. Kann ich sie zurückfordern?"
"Ich wäre schon froh, wenn ich meine Decke bekommen würde!" Tatze hatte nun seinen ganzen Körper auf die Faust gewälzt, welche die Decke festhielt.
"Wenn diese Person MICH lieben würde, dann wäre es doch so, als bekäme ich meine Liebe ZURÜCK!"
"Du meinst, ich sollte Tatzes Decke statt meiner nehmen? Keine schlechte Idee, aber da liegt er auch drauf!"
"Du meinst also, dass ich die Liebe, die mir gehört, zurückbekommen kann wie du deine Decke?"
"Tatze liegt drauf. Das ist der Unterschied!"
"Weißt du, ich denke an diese Dahima. Sie hat die Liebe bekommen, die eigentlich mir gehört. Es wäre nur gerecht, wenn sie mich solange liebt, bis ich alle Liebe von ihr zurückbekommen habe."
"Ich glaube, sie würde dich eher verstehen als eine andere", zeigte sich Woi überzeugt.
"Meinst du wirklich?"
Woi runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. In der ganzen Zeit hatte Asari nicht einmal etwas Vernünftiges gesagt! Woi hatte von dem ganzen Unsinn genug. Den Hof würde er noch einmal besuchen, um Nadim zu sehen. Dann würde er zurück nach Hause reisen, wo es langweilig, aber vernünftig zuging.
"Ich schenke Tatze die Decke", sagte Woi. "Er ist mein Freund, da kann ich sie ihm auch schenken!"
"Nein", sagte Asari zu sich, "er hat mir nicht nicht zugehört, oder es interessiert ihn nicht."
Woi zog statt einer Antwort seinen Beutel zu.
"Hast du keinen Wunsch", fragte Asari. "Du hast mich befreit, da kannst du dir etwas wünschen."
Woi schwieg. Es war ihm alles zu dumm. Er packte seine Sachen. Und betrachtete angewidert die Essensreste auf dem Tisch.
"Wenn ich erst Kaiser bin, kann ich dir jeden Wunsch erfüllen. Lass mir nur ein wenig Zeit."
Woi traute diesem Asari alles zu, weil er sich maßlos überschätzte und nur darauf wartete, dass er jemanden, der wirklich mächtig war, herausfordern konnte. Dazu kam noch seine Mutter, die ihm alles versprach.
"Es ist schade, dass du nicht an Menscherfinder glaubst", sagte Asari.
Ein Knurren kam von Woi statt einer Antwort. Ein letzter Blick auf Tatze, der ein guter Freund gewesen war, auf seine Decke, dann hatte er die Leiter vom Baum geworfen und war heruntergestiegen.
Sein Pferd Prinz begrüßte ihn und warf den Kopf nickend hoch, als freue es sich, dass Woi nun endlich und für immer vernünftig geworden war.
Als er auf dem Weg war, dachte er an Nadim. Es war falsch, dass ausgerechnet er ausgesucht worden war, eine Prinzessin zu heiraten. Er dachte an Baldeina. So einer war der Richtige für Prinzessinnen! Er konnte sich verlieben, ohne seine Prinzessin einmal gesehen zu haben, nur weil sie eine Prinzessin war. Woi fand, dass Nadim schon als Mädchen, ohne dass sie Prinzessin war, zu schwierig für ihn war.
Er zweifelte nun, ob es überhaupt vernünftig war, sie zu besuchen. Vielleicht war sie in Gedanken weit fort und hatte ihn bereits vergessen. Oder sie war bereits verheiratet. Oder sie war ihm immer noch böse. Eigentlich wollte er nur sehen, für welche von den Möglichkeiten sie sich entschieden hatte. Es gab keinen Grund, von ihr Abschied zu nehmen, und schon gar keinen vernünftigen.
Weil er tief in Gedanken war und in seinem Entschluss schwankend war, bemerkte er nicht, dass in der Stadt, überall auf den Straßen Soldaten zu Fuß unterwegs waren.
Nicht weit an einer Häuserwand stand ein junges Mädchen. Die Soldaten hatten über ihrem Kopf einen vollen Holzeimer Wasser ausgegossen. Sie zitterte, weil sie fror und weil sie weinte. So musste sie stehen und sich anhören, was die Soldaten ihr vorwarfen.
Von der Seite hörte Woi, dass niemandem als der Kaiserin erlaubt war, schön zu sein. Angriffslustig sahen sich die Soldaten nach dem Reiter um, der ihnen zu langsam ritt, als sei er Freund mit diesem Mädchen. Aber Woi grüßte freundlich und übersah das an der Hauswand zitternde Elend des Mädchens.
In der nächsten Straße sah Woi Soldaten in ein geschmücktes Haus gehen und die Girlanden vom Dach abschneiden. Einen alten Mann, der die Blumen einsammeln und hereintragen wollten, lachten sie aus. Ließen ihre Pferde mit den Hufen darüber laufen und drohten ihm, worauf er mit krummem Rücken im Haus verschwand.
Jede Hochzeit und jedes Schöntun sei von der Kaiserin persönlich untersagt, hörte Woi sie ausrufen. Besser die Mädchen blieben im Haus, wenn sie ein Wasserbad scheuten, fügte einer von ihnen als seine Meinung hinzu.
War ein Mädchen nicht bereit, auf ein Haus zu zeigen, in dem die Soldaten auf ihrer Suche fündig werden würden, dann wurde sie zweites Mal übergossen. Aber die meisten zeigten gedemütigt und zitternd auf das Haus einer Nachbarin oder Freundin.
Von ihren geschlossenen Fenstern aus sahen die Menschen auf die Straße, wo berittene Soldaten in schweren Waffen patroullierten, um Angst zu verbreiten. Überall schleppten Diener vom Kaiserhof Wassereimer herbei und reichten sie den Berittenen an.
Woi ritt langsam weiter, indem er sich in der Mitte der Straße hielt und nur aus den Augenwinkeln das Geschehen beobachtete. In einem Haus wollte ein Mann den Soldaten den Zutritt verwehren. Sie lachten nur und fragten den Mann, ob ihm Feuer lieber sei als Wasser.
Dann gingen sie hinein und trieben ein junges Mädchen, das wie eine Braut geschmückt war, auf die Straße und übergossen sie wie die anderen. Die Männer, die dabeistanden, waren fassungslos über das, was geschah, starr vor Wut und Hilflosigkeit.
Woi ritt nun schneller, weil er die Blicke der Männer in seinem Rücken spürte. Sie machten in ihrer unterdrückten Wut keinen Unterschied zwischen ihm und den Soldaten. Eine alte Frau zeigte auf Woi und rief etwas, was er nicht verstand. Immer wieder rief sie diesselben Worte, und niemand wollte sie beruhigen.
Die Straßen rings um die Mauern des Kaiserhofes waren von Menschen verlassen. Aber überall auf dem Pflaster sah er Wasserlachen, die davon zeugten, dass die Soldaten ihr Werk bereits vollbracht hatten. Die Häuser waren still, aber sie warfen hasserfüllt ihre Augen auf den Reiter, als wollten sie nicht glaubten, dass er zufällig vorbeiritt.
Chapter 139. Die geworfene Hand
Die Wachen waren verdoppelt worden. Es waren vier, und Woi kannte keinen von ihnen. Nachdem sie ihn durchsucht hatten, durfte er passieren. Sie redeten nicht mit ihm, sondern erledigten ihre Pflicht schweigend. Auch untereinander redeten sie nicht. Wenn er es recht erkannte, dann waren die Wachen neu zusammengestellt worden und sich fremd.
Die Soldaten, die ihn erkannten, zeigten es nicht. Sie blickten in eine andere Richtung oder beachteten ihn nicht. Vom Oberen bekam er einen freundlichen Blick, dann einen, der ihn gütlich warnte, sich vorzusehen.
Viele Bedienstete standen im Hof. Auch sie redeten nicht miteinander. Manch einer erkannte ihn kurz, ließ sich aber nichts anmerken. Es gab für sie nichts zu tun, als regungslos herumzustehen. Es war, als sei auch ihnen der Schreck in die Körper gefahren und traue sich nicht mehr heraus. Woi sah sich nach Wasserlachen um, konnte aber keine entdecken. Ihm fiel auf, dass die jungen Mägde, die sonst für die niederen Arbeiten nach draußen geschickt wurden, alle fort waren oder sich nicht zeigten.
Als ein Pferdejungen seinen Prinz genommen hatte, ging er langsam zum Haus der Prinzessinnen. Ihm schien, als wäre überall die Arbeit liegen geblieben. Wenn irgendwo eine Hand frei war, dann war sie den Soldaten zu Dienste. Ein ganzer Trupp kam so rücksichtslos hinter Woi in den Hof geritten, dass er eiligst zur Seite springen musste.
Weil er eigentlich noch nicht wusste, wie er seinen Abschied mit Nadim anfangen sollte, ging er erst einmal um den Trakt der Prinzessinnen herum, setzte sich an eine Stelle, wo ihn niemand umreiten würde, dachte an nichts und flötete, beides zur gleichen Zeit.
Irgendjemand warf Steine. Als ihn einer beinahe getroffen hätte, sah er sich ärgerlich um. Eines der oberen Fenster wippte wenig, eine Hand erschien und winkte ihm zu, wenn er sich nicht täuschte. Wen als ihn konnte sie meinen, diese Hand?
Nadim hatte ihn kommen sehen. Sie strich sich durch das Haar, bis das Herz nicht mehr so klopfte. Sie tat vor ihrem Herz, als sei nichts. Was für ein albernes Herz! Sah es nicht, wie ruhig sie war?
Schließlich, als die Haare glatt waren und glänzten, da war nur noch Freude in diesem Herzen, gerade soviel Freude, dass er sie nicht bemerken würde.
Sie durfte kein Puder mehr auf der Haut tragen, die Brauen nicht schwärzen, den Mund nicht bemalen. Aber das Haar zu kämmen, hatte ihr niemand verboten. Wenn sie allein war, trug sie es sogar offen. Doch nun band sie es im Rücken zusammen. Wenn er nicht sah, was für ein Haar es war, trug er die Schuld bei sich.
Die Dienerin kam und meldete, dass ein junger Herr unten sei und warte. Dieser sei der Prinzessin bekannt und genau dies, dass er bekannt sei, habe er gesagt.
Die Dienerin war sehr erstaunt über Nadim. Wer hätte gedacht, dass ihre Prinzessin ein wenig von ihrem Herzen verloren hatte? Dazu noch, dass es dieser war, zu dem es gegangen war! Er hatte sie immer so böse gemacht, wie niemand anderer es je vermochte. Da hatte die Dienerin schon gedacht, dass es mit ihm etwas Besonderes war. Aber mit einem Mal war er fortgeblieben, ohne ein Wort, keinen Brief, keinen Blick. Nichts hatte die Prinzessin sich anmerken lassen, aber eine Dienerin weiß eben, wie ihrer Herrin zumute ist.
Wer Woi draußen gesehen hätte, wäre überzeugt gewesen, er habe gerade ein gutes Geschäft gemacht oder sei sicher, eines in Aussicht zu haben. Aber es beachtete ihn niemand, und mit einem Geschäft hatte seine Zufriedenheit nichts zu tun.
Er war einfach glücklich, dass das Verrückte alle in der Stadt und im Hof angesteckt hatte, nur ihn und Nadim nicht. Das freute ihn. Sie hatte auf ihn gewartet, damit sie sich zusammen anstecken konnten. Sofort verbot er sich den Mund. Das war nun wieder eine Bemerkung gewesen, die sie geärgert hätte.
Lange musste er warten, bis er von der Dienerin hereingelassen wurde. Er glaubte schon, sie habe ihn vergessen, und klopfte erneut. Aber die Dienerin beschied ihn ungeduldig, dass er zu warten habe, bis die Prinzessin sage, dass sie ihn empfangen wolle. Nur fortgehen dürfe er nicht. Das sage die Dienerin, nicht die Prinzessin.
Also wartete Woi weiter, ging um das Haus herum und versuchte nicht zu denken, dass Nadim wieder ein Spiel mit ihm spielte. Es konnte viele Gründe geben, ihn nicht zu empfangen. Ihm fiel zwar keiner ein, aber er verbot sich zu denken, dass sie ihn nur ärgern wollte.
Er ging um das Haus der Prinzessin herum. Dort warf er mit kleinen Steinchen auf eine Blume, die einen roten Kelch hatte, der so hoch auf einem schmalen Hals saß, dass er im Wind von einer Seite zur anderen schwankte und schwer zu treffen war.
Währenddessen stellte er sich Nadim immer genauer und schärfer vor. Er gab sich nicht zufrieden mit ihrem Bild, sondern betrachtete in der Erinnerung jede Einzelheit, so es ihm möglich war. Aber er stellte fest, dass ihre Augen sich nicht für eine bestimmte Farbe entscheiden konnten. Er sagte sich Worte mit ihrer Stimme vor. Dann diesselben Worte mit einer anderen Stimme, die auch möglich war.
Als er so vor sich hinsprach und mit den Händen ihre Stimme durch die Worte führte, winkte die Hand am Fenster dringlich und auf eine bekannte Weise ungnädig. Also winkte er zurück und hatte vergessen, dass er zum Abschied gekommen war. Damit trat die Dienerin aus der Tür und machte sich bemerkbar.
Er wurde in die unteren Räume des Prinzessinnenhauses geführt. Dort hatte sich nichts verändert. Alles stimmte mit seiner Erinnerung überein.
Eine alte Frau kam langsam die Treppe herunter. Sie hatte im linken Bein Schmerzen, denn sie stützte sich durch einen krummen Gehstock ab. Das Haar hatte sie im Rücken zusammengebunden, vorn hing es ihr strähnig über die Stirn und die Augen. Brabbelnd und vor sich sehend, tockte sie mit dem Stock die Treppe von Stufe zu Stufe ab.
Woi sah die Dienerin Rat suchend an, doch sie zog die Vorhänge gegen das Licht herunter. Irgendwo hatte er die Frau schon einmal gesehen, aber das war an einem anderen Ort gewesen, sicherlich nicht bei den Prinzessinnen oder am Hof. Vielleicht in einem Wald bei sich zu Hause. Dort gab es eine alte Hütte und eine Alte, die dort wohnte und von der Kälte kaum laufen konnte. Nein, die war es nicht! Zumindest war es nicht ihr Stock.
Die Alte ging direkt auf Woi zu und blieb vor ihm stehen, als sie mit ihrem Stock gegen seine Füße gestoßen war. Sie schob die Strähnen aus ihrem Gesicht und betrachtete Woi, in dem sie mit dem Stock auf der Stelle tockte, auf der sie stand.
"Was wollt ihr, junger Mann?", fragte sie. "Seid ihr bekannt, dann sagt es mir."
"Ich will zu Prinzessin Nadim", sagte Woi. "Sie wird mich wohl noch kennen."
"Erkennt auch ihr sie, eure Prinzessin?"
"Natürlich erkenne ich sie! Sie soll nur kommen. Ihr werdet sehen, dass wir uns kennen."
"Seid ihr sicher, dass ihr sie erkennt?", fragte die alte Frau und schob sich die Haare aus dem Gesicht.
"Was stellt ihr für Fragen?"
"Ihr wart eine lange Zeit fort. Sie wird sich verändert haben. Die Arme ist alt geworden, mit den Sorgen krumm und führt einen Stock, der letzte Freund, der ihr geblieben ist, aber ein treuer."
Die Augen der Alten lächelten ihn auf eine bekannte Weise an. Die Hand war zu jung und zu fein für die Haare, die sie beiseite schob.
"Nun hat er mich doch erkannt", sagte Nadim zu ihrer Dienerin. "Jaja, mein Freund aus frühen Tagen", kratzte ihre Stimme wieder, und der Stock tokte weiter, "so schnell geht sie dahin, die Jugend, und geht an einem Stocke krumm, als er zurückkehrt von der langen Reise."
"Keine lange Reise war das!"
"Husch, siehst du, ist die Jugend fort und eilt, das treulos Ding, zu einer anderen, der sie Verweil verspricht, was die ihr gerne glaubt und -"
"- was soll der Aufzug?", fragte Woi streng und nun empört.
Nadim sah ihn ernst an: "Die Kaiserin will es so."
"Warum denn? Was hat sie davon?"
"Mit meinem Alter macht sie sich jung. Von meiner Häßlichkeit borgt sie sich ihre Schönheit."
"Das glaube ich nicht!"
"Willst du es sehen?"
Statt auf seine Antwort zu warten, winkte ihm Nadim, ihr zu folgen. Er half ihr langsam die hohe Stufe hinunter auf das Pflaster und ging neben ihr über den Hof. Sie wies mit dem Stock auf Dinge, die sie sah, und stütze sich auf seinen Arm. Er hörte ihr zu und nickte und sammelte von den Worten auf, was er verstand. Jeder, der sie so sah, blieb stehen und sah ihnen verwundert nach.
Da die Kunde schneller lief als das seltsame Paar, stand der Hof bald mit Leuten voll. Während Nadim das Schauspiel genoss und immer wieder Dinge erfand - ja, sie spuckte sogar auf den Boden und hustete! - ging Woi dicht bei ihr und tat sehr ernst. Es war seine Idee, sich auf eine Bank zu setzten, inmitten der Menschen, dass sie statt des Himmels aufgerissene Augen und offene Münder sahen. In eine Lücke drängte sich eine niedrige Wolke hinein, welche die Neugierde vom Weg abgebracht hatte.
Als Nadim sich die Bemerkung erlaubte, wie schön es sei, wenn zwei ihr Alter nicht allein verbringen müssten und gemeinsam den Himmel betrachten könnten, teilte sich die Kuppel der Köpfe über ihnen, und die Diener traten ängstlich flüsternd zurück.
Die beiden Alten kümmerte das nicht. Nadim rutschte ein wenig näher an Wois Seite. Er nahm ihr den Stock aus der Hand und legte ihn auf ihrer beider Kniee. So saßen sie zusammen auf einer Bank, zwei alte Leute, die sich soviel gesagt hatten, daß das Nichtgesagte nun gnädig mit ihnen war.
Chapter 140. Nadim und Woi werden gemalt
"Platz da für die Kaiserin! Alle weg, die ihr nicht zum Ärgernis werden wollen!", rief Baldeina, und ließ seine Stimme von Soldatenschritten herantragen.
"Du?", fragte er erstaunt, als er Woi erkannte.
"Und sie", antwortete Woi und zeigte auf Nadim, die strahlend aufsah und alle Zittrigkeit vergessen hatte.
"Zurück von deinem Abenteuer?", fragte Baldeina spöttisch.
"Geht es voran mit Dessa?", fragte Woi zurück.
Baldeina warf einen bösen Blick auf Nadim und fragte Woi mit Bitterkeit: "Was willst du überhaupt hier? Ich denke, du hast alles hinter dir gelassen."
"Ich bin eben da", sagte Woi und zuckte die Achsel.
Die Kaiserin war hinter Baldeina hervorgetreten und breitete ihr Schweigen aus. Nadim spürte, dass sich Wois Körper neben ihr angriffslustig straffte, ihr nicht einmal die kleinste Ängstlichkeit zu spüren gab. Mit einem Mal war ihr bang um ihn. Dann warf sie die Anwandlung fort. Um was sollte sie ängstlicher sein, wenn er bei ihr war - weniger Grund gab es, sich zu fürchten, zweimal weniger!
"Er ist doch der Sohn eines bedeutenden Fürsten?", fragte die Kaiserin an Baldeina gewandt.
"Der Sohn eines Fürsten gewiss, dessen Bedeutung ein wenig ungewiss", bestätigte Baldeina. Von dieser Spitze aber wollte die Kaiserin nichts wissen.
"Was macht er dann bei dieser Frau, die alt und hässlich ist und jüngst aus jeder Gnade fiel?", fragte die Kaiserin.
"Ich weiß es nicht", sagte Baldeina.
"ER soll es sagen!", herrschte die Kaiserin ihren Günstling unwillig an.
"Auch ich bin alt, und von der Schönheit brauche ich erst in einem neuen Leben", sagte Woi, worauf Nadim einen verzückten Schrei ausstieß, der ihr den bösen Blick der Kaiserin eintrug.
"Die Gunst der Kaiserin, die am Hof das Wichtigste ist, die braucht er nicht?", fragte die Kaiserin sanft.
"Die Gunst der Prinzessin ist ihm wichtig. Fragt sie, wenn ihr einen Teil davon wollt", entgegnete Woi laut und fest.
Ein Raunen bildete das Echo auf seine Worte. Das Licht am Horizont hatte sich verändert. Wenig, ganz wenig, gerade so, dass die Augen tiefer in den Schatten lagen.
Der Maler hatte sich zur Kaiserin gestellt und flüsterte ihr etwas zu. Von ihrer Miene verzogen sich die Wolken und die Schwingen der Brauen glitten in ruhigem Flug dahin.
"Euch wird eine Ehre zuteil", sagte sie zu Nadim und Woi gewandt. "Ihr werdet auf dem Großen Bild direkt in meiner Nähe stehen. Begleitet ihn nun! So wie ihr seid, will ich euch für immer in meiner Nähe sehen."
Sie gab zwei Soldaten einen Wink, welche sich sogleich hinter der Bank aufstellten und dem Paar folgten, als es sich ohne Zittern erhoben hatten. Der Maler nahm den Stock, den Nadim auf der Bank hatte liegenlassen.
Er ließ sie in die Gemächer der Kaiserin führen, wo sein Junge wartete, und gab den Soldaten einen ärgerlichen Wink, dass er sie nicht bei sich duldete. Dann drehte er das Große Bild zu ihnen hin und wartete, was sie sagen würden.
"Wird das die Kaiserin?", fragte Nadim.
In ihren Blicken sah er, wie schön sie das Kleid und den Schmuck fand. Ganz unwillkürlich suchte sie die rätselhafte Haltung der Dargestellten anzunehmen, aus welcher der Maler alles Eindeutige und mit Erkennen befrachtete herausgewogen hatte.
Stolz sah er, welchen Eindruck das Große Bild auf die Prinzessin machte. Das Urteil des jungen Mannes an ihrer Seite war ihm von geringerem Wert. Nicht länger als die Soldaten hatte dieser das Bild betrachtet.
"Der Kopf ist das schwerste", erklärte er der Prinzessin, "wir warten noch auf den Moment, wo wir das Gesicht in seiner wahren Schönheit vollenden können."
"Dafür muss ich als alte Frau gehen?", fragte sie ihn, ohne dass sie einen Vorwurf damit verband.
"Es war nicht meine Idee", sagte der Meister entschuldigend, "aber ihr habt recht, dafür ist es."
"Gibt es denn diese ... wahre Schönheit?"
"Stellt euch vor, ihr seht einen Toten. Sein Gesicht ist bekannt und nicht weniger fremd geworden. Die Menschen starren ihn an und wissen nicht, was sie denken sollen. Der Tod und der Mensch sind ein Neues geworden, und wenn es eine wahre Schönheit gibt, dann -"
"- ihr denkt nicht etwa dran, die Kaiserin zu enthaupten?", fragte Woi grinsend. "... mir könnt ihr es ruhig sagen."
Bevor der Meister etwas entgegnen konnte, sagte Nadim: "Ich verstehe es, Woi. Ich verstehe es wirklich."
"Die wahre Schönheit ist noch ungnädiger als der Tod, duldet nichts vom Menschen an sich. Das ist, was ich meine!", erklärte der Meister und war immer noch ärgerlich.
"Und was sollen WIR auf dem Bild?", fragte Woi. "Das verstehe ich immer noch nicht!"
"Wenn du es wissen willst - ihr seid das, was die Schönheit beiseite gelegt hat."
Woi sah Nadim an. Wieder schien sie das Gesagte verstehen zu können.
"Stellt euch hierher", sagte der Meister. Er rückte sie zurecht und dichter zusammen. Wois Gesicht drehte er zu Nadim. Deren Haltung bog er nach vorne, dass ihr Blick den Stock entlang zum Boden ging.
"So ist gut", sagte er schließlich, als sie sich von allen Seiten angesehen hatte, "fasst euch jetzt bei den Händen."
Das war ein Gedanke, der ihm gefiel. Er griff persönlich zu, um ihre Hände ineinander zu legen. Nadim starrte stumm ihren Stock herunter zu Boden. Derweil durchbohrte Woi mit Blicken die kopflose Kaiserin.
Der Maler wandte sich dem Bild zu. Einige Male sah er noch zu ihnen hin. Machte sich an den Vorhänge zu schaffen, zog sie schließlich ärgerlich ganz zur Seite. Dann malte er aus dem Kopf und hatte wohl vergessen, dass zwei junge Menschen im Modell standen, die sich an den Händen gefasst hielten und lange nichts zu sagen wussten.
"Baldeina wollte wissen, warum du zurückgekommen bist", flüsterte Nadim. Sie fürchtete, den Maler zu stören.
"Ich weiß nicht", sagte Woi.
"Du traust dich nicht, es zu sagen", flüsterte Nadim.
"Es ist durcheinander", so Woi. "Das ist, woran es liegt."
"Sie hat es verboten", flüsterte Nadim und gab ihm dabei ihre Hand zu spüren.
Woi schwieg.
"Das Heiraten - hörst du? - hat die Kaiserin verboten", kam es leiser als geflüstert von Nadim.
"Würdest du es denn wollen?", fragte er.
"Ich würde es, glaube ich, wollen", sagte sie.
"Ich auch!", sagte er, als wäre es nichts.
"Sie hat es aber verboten!", warf Nadim eiligst ein. "Wie kann sie DAS verbieten?"
"Das Heiraten?"
"Nein, das andere!"
"Würdest du mein Versprechen wollen", fragte sehr leise Nadim.
"Hhmm", sagte Woi.
Nadim glaubte sogar, dass er genickt hatte. "Dann gebe ich dir mein Versprechen", flüsterte sie.
Es dauerte eine Weile, bis die Hände vergaßen, zu wem sie gehörten. Kurz erinnerten sie sich wieder. Dann war auch diese Erinnern fort. Die Hände hatten Nadim und Woi vergessen.
Chapter 141. Die Kaiserin bei Baldeina
Der ganze Hof hatte sich versammelt. Die Gärtner hatten sich zwischen den Soldaten und den Köchen aufgestellt. Sie waren als letzte erschienen und suchten noch ihre Ordnung und Zugehörigkeit. Am Himmel, der den Tag so heiter begonnen hatte, umstellten nun Wolkenberge das Blau des Mittags.
Zum zweiten Mal hob die Kaiserin an, etwas sehr leise zu sagen. Es war still geworden, damit nicht wieder Worte von ihr in die Unachtsamkeit fielen.
"Ich werde das Diadem nicht tragen", sagte sie und versuchte es von ihrem Haar zu entfernen. Niemand rührte sich, nicht einmal die Dienerin, die ihr eigentlich hätte zur Hand gehen müssen.
"Eigentlich, nicht wahr, ist es IHR Tag", sagte die Kaiserin und zeigte auf das Bild, an dem nun, abgesehen von Augen nichts mehr fehlte. Die Haare hatte der Maler an diesem Tag vollendet, ebenso das Diadem, welches die Stirn schmückte.
Baldeina hatte das Gefühl, alle warteten darauf, dass er etwas sagen würde.
Der Hofmarschall hatte eigene Gedanken, angenehme Gedanken, die ihm nicht wütig gegen die Schläfen klopften.
Währenddessen betrachtete der General den Hofdichter, der mit einem sehr jungen Mädchen gekommen war. Es bestand wirklich eine große Ähnlichkeit zwischem diesem LoBe und dem Mann, den er an der Seite einer Dame im stramm gefüllten Witwenkleid gesehen hatte.
"Ich möchte, dass du mir die Haare hochbindest", sagte die Kaiserin zu der Dienerin, die aus einer eidechsenhafte Starre erwachte. "Ihres ist das schönere Haar", fügte die Kaiserin sehr leise hinzu.
Der Kämmerer nahm das Diadem entgegen, welches vorsichtig aus dem Haar entfernt worden war. Während die Dienerin der Kaiserin das Haar aufband, waren alle weiter still und warteten, dass sie noch etwas sagen würde.
Als sie nichts sagte, sondern sich selbst einer Abwesenheit überließ, begann der Maler leise mit seinem Lehrjungen zu flüstern. Hinter dem Rücken der Hofwichtigen schlich sich der Lehrjunge davon, als fürchte er ihre fragenden Blicke.
"Sie fährt in einem eigenen Wagen", sagte die Kaiserin. Während Baldeina nicht wusste, von wem die Kaiserin sprach, gab der Hofmarschall ein paar schnelle Anweisungen, die er mit einer Entschuldigung für seine Unachtsamkeit abschloss.
Die Kaiserin ging umher, als sei sie allein. Schließlich blieb sie vor dem Mädchen stehen, das an der Seite des Hofdichters gekommen war, und fragte, ob dieses Mädchen eine Schwester habe. Nein, sagte das Mädchen leise, sie habe keine Schwester. Dann habe sie einen kurzen Namen, der Anfang und Ende in einem sei, sagte die Kaiser. Das Mädchen nickte und verschwand hinter dem Rücken des Hofdichters. Die Kaiserin sah sich zufrieden um.
Als der Wagen gekommen war, stieg der Maler auf und nahm vorsichtig sein Bild entgegen. Er half auch seinem Lehrjungen hoch, der sich, mit zwei Rücksäcken beladen, eingefunden hatte. Wieder hatte der Hofmarschall einen schlaueren Blick als Baldeina.
"Ich bitte sie, die Zügel zu nehmen. Ich mag nicht einen Lenker, der mir fremd ist", sagte die Kaiserin leise, nachdem sie Platz genommen hatte.
Baldeina vergaß nicht, den Hofmarschall wie einen Besiegten anzusehen. Doch der Hofmarschall schien sich mit seiner Niederlage abgefunden zu haben. Nichts Feindseliges lag in seinem Blick.
Weil Baldeina so in Gedanken lenkte und neben dem anderen Wagen fuhr, wäre er beinahe gegen das Tor des Kaiserlichen Hofes gefahren, denn beide Wagen passten in ihrer Breite nicht hindurch.
"Sie soll zuerst fahren", sagte die Kaiserin, als Baldeina sich verwirrt umblickte.
So erschien der Wagen mit dem Bild der Kaiserin als erster den in der Stadt wartenden Menschen. Dann folgte die Kaiserin, die Soldaten und alle Bediensteten.
Die Blicke der Menschen wechselten zwischen den beiden Kaiserinnen hin und her. Die Blumen, die sie in den Händen hielten, waren allesamt welk.
'Es ist ein Tag, der ganz still ist', dachte die Kaiserin. 'Ein wunderbarer Tag. Niemand sagt etwas. Niemand ruft Dinge. Es ist ein Tag, wie ihn die Augen sich gewünscht haben.'
Sie war den Mädchen für ihren Gehorsam dankbar und hatte doch nichts zum Schenken dabei. All die Wangen, all die Augen, all die Lippen, bleich und spröde, fortgegeben das Schöne, damit es im Schönsten aufgehoben war und der Maler ihm eine Heimat geben konnte, nicht eine Unterkunft, nein, einen Adelssitz - die im Vergessen emporgetauchte, jungfräuliche, für alle Zeit unbewohnte Insel der Schönheit.
'Wie wissen die Häuser, wer in ihnen wohnt?', dachte die Kaiserin. 'Erkennen die Wolken die Ferne wieder? Wie findet das Licht die Schönheit? Wissen die Häuser um die Traurigkeit, die sich in Schattentücher betten muss?' Eine Frage hatte die andere gerufen und würde rufen, endlos rufen, bis sie sich selbst wieder fand. So dachte die Kaiserin mit einem Lächeln.
Auf dem großen Platz standen die Häuser dicht nebeneinander, ließen keine Lücken zwischen sich. Dicht umstellten sie die beiden Wagen und warteten im Kreis, als gehöre jedem von ihnen der gleiche Teil am Recht, das Bild zu schauen.
"Seht ihr nicht, dass sie friert", sagte eine Stimme.
Wo konnte diese Stimme herkommen? Die Wolken hatten dunkle Stimme, da war sich die Kaiserin sicher. Die Häuser würden im Echo der Menschen sprechen. War es eine Stimme, die vom Gestern übrig geblieben war? Wälzte sich das Morgen im Schlaf?
"Seht ihr nicht, dass die Kaiserin friert?" Die Stimme stand in einem jungen Mann. Wenn er verstand, dass die andere Kaiserin mehr als ein Bild war, dann verstand er als ein Freund.
"Ich werde ihr meinen Mantel geben", sagte die Stimme, die in dem jungen Mann stand.
"Wenn SIE euren Mantel hat, dann friert doch IHR", gab die Kaiserin als Bedenken vor.
"Ich tausche meinen Mantel gegen ihr Frieren", entgegnete die Stimme im jungen Mann. "Das soll unser Handel sein."
"Ich könnte ihr meinen Mantel geben", schlug die Kaiserin vor.
"Das ist nicht dasselbe!", entgegnete die Stimme aus dem Mund des jungen Mannes.
"Nein, da habt ihr recht. Euer Mantel war der erste, und das ist der wahre vor dem zweiten", sagte die Kaiserin, nahm seinen Mantel entgegen und sorgte, dass der Maler ihn der Kaiserin auf dem Großen Bildes um die Schulter legte.
"Wer seid ihr? Kennt sie euren Namen?", fragte sie, ängstlich, dass die Stimme den jungen Mann wieder verlassen hatte.
"Sie kennt mich, wie sie euch kennt", sagte die Stimme. "Einen Namen würde sie gleich vergessen und nur ärgerlich darüber werden."
"Aber ihr wisst, wer ich bin?"
"Niemand weiß, wer er ist", antwortete die Stimme.
"SIE weiß, wer sie ist", sagte die Kaiserin und zeigte auf das Große Bild.
"Das ist etwas anderes."
"Ja, etwas anderes ... Kommt ihr uns besuchen?" Das war ein Wunsch, den sie für die andere Kaiserin aussprach.
"Ich werde kommen", versprach die Stimme, die ein Freund geworden war.
"Wann wird es sein?"
"Sie bestimmt den Tag. Was hätten WIR für SIE zu bestimmen!"
"Ja", sagte die Kaiserin leise, "sie soll den Tag bestimmen. Das werden wir ihr überlassen."
Chapter 142. Die Enttarnung
Baldeina hatte fest geschlafen. Sein Kopf lag auf dem Arm, weil das Kissen bei seinen Füßen lag. Von der Decke lag das meiste unter seinem Körper. Weil er wieder zu reichlich gegessen hatte, hatte er sich lange gewälzt, bevor er eingeschlafen war,
Etwas hatte ihn ganz leicht berührt.
'Nein', sagte der Schlaf, 'es ist nichts.'
Wieder berührte ihn etwas, diesmal an seiner Schläfe. 'Es ist eine Hand, nichts als eine fremde Hand. Es lohnt nicht, nachzusehen', sagte der Schlaf.
Jemand sprach ihn leise an.
'Ich habe mich geirrt', sagte der Schlaf. 'Es ist die Kaiserin. Sie steht und schaut uns zu.'
Da schreckte Baldeina hoch und sah mit schweren Augen, dass der Schlaf nicht gelogen hatte. Vor ihm stand die Kaiserin in einem weißen Nachtkleid, unter dem sie etwas verborgen hielt.
"Der Maler ist fort, ohne seinen Lohn", sagte sie leise.
"Ja, er ist abgereist", sagte Baldeina, obwohl er nichts davon wusste.
"Er weiß etwas", sagte die Kaiserin. "Etwas macht ihm so große Angst, dass er ohne seinen Lohn abgereist ist."
Baldeina kratzte sich am Bauch und hörte erst damit auf, als er den Blick der Kaiserin bemerkte.
"Er weiß etwas über SIE", sagte die Kaiserin bestimmt. "Er weiß ihr Geheimnis. Das macht ihm große Angst."
"Wen, wie?", fragte Baldeina, und beinahe hätte die Hand den Bauch erneut gekratzt.
"Die FRAU", sagte die Kaiserin. "Es ist etwas mit ihr. Der Maler weiß darüber Bescheid. Ich muss - muss ihr Geheimnis erfahren."
"Die Frau mit der Kutte?", fragte Baldeina.
Statt ihm eine Antwort zu geben, zog die Kaiserin etwas unter ihrem Schlafgewand hervor, streckte den bloßen Arm aus und stach hinein. "Kein Blut", stellte sie fest. "Hast du Blut? Ich habe keins."
'Es ist eine Schere', dachte Baldeina. 'Deshalb kommt kein Blut.'
"Sie ist eine böse Frau. Also ist es ein böses Geheimnis. Und ich muss wissen, was es ist."
Baldeina sah den Kopf eines Soldaten in der Tür. Der Soldat erkannte erst glotzend die Kaiserin, dann konnte er seinen Blick nicht von Baldeinas nacktem Bauch lösen. Als dieser eine Decke darüber schlug, verschwand sein Kopf wieder.
"Sie sind ein Mann und ein Günstling der Kaiserin. Zusammen müssen wir die Frau zwingen, uns ihr Geheimnis zu sagen. Erst dann werde ich wieder schlafen können."
'Ich kann warten' sagte der Schlaf zu Baldeina. Saß auf dem Kissen und spielte mit Baldeinas Zehen.
"Ich werde - ich muss ihr Gesicht sehen. Unter der Kutte - sie hat es verboten - was ist, wenn sie kein Gesicht hat?"
"Jeder hat ein Gesicht", behauptete Baldeina und hätte beinahe hinzugefügt, dass es nur mit dem Schlaf etwas anderes sei. Der Bursche am Fußende grinste und kniff ihm in den Zeh.
"... ach, was wisst denn ihr!", sagte die Kaiserin traurig, öffnete dabei die Schere und zerschnitt einen Gedanken in der Luft.
"Werden wir gebraucht?", fragte der Soldat, der wieder hereingesehen hatte, ob es etwas Neues gab.
"Wir brauchen nur eine Schere", sagte Baldeina, "aber die haben wir."
"Ah so", sagte der Soldat und verschwand wieder und stellte sich horchend wieder dorthin, wo er gestanden hatte.
"Ich muss mich anziehen", sagte Baldeina.
"Nein", sagte die Kaiserin, "das ist nicht nötig. Das Wichtigste ist, dass wir die Schere haben."
"Nur den Wams, die Hose, die Stiefel", bat Baldeina.
"Die Stiefel, nur die Stiefel, und einen Gürtel!"
"Gut" sagte Baldeina.
'Kratz dich am Bauch', sagte der Schlaf. 'Das mag sie nicht.'
Bevor Baldeina sich erhob, trat er mit den Füssen nach dem Frechling und seinem Kissen. Dann nahm er seinen Gürtel und wählte, nachdem er tief eingeatmet hatte, eine enges Loch. Als er sich bückte, um in die Stiefel zu steigen, bekam er keine Luft und japste, als er schließlich drinsteckte.
Die Kaiserin zeigte auf ihre nackten Füße und sagte nichts. Baldeina zog seine weißen Schlüpfpantoffeln unter dem Bett hervor, die er dort vor Woi versteckt hatte.
Als sie die Tür öffneten, hatte der Soldat immer noch an der Wand gehorcht und sich über die Geräusche gewundert, die er gehört hatte. Sein Kamerad hielt eine Kerze und stellte sich in Positur.
"Haben sie etwas beobachtet?", fragte Baldeina streng.
"Ja, wie soll ich sagen, eh ...", stotterte der eine, der an der Wand gestanden hatte.
"Nein, nichts. Keine Vorkommnisse", sagte der andere mit der Kerze.
"Gut beobachtet, Soldat", lobte ihn Baldeina dafür und scheuchte sie zusammen fort.
"Ich muss erst nach IHR sehen", flüsterte die Kaiserin und drückte die Klinke des Empfangssaales herunter, in dem das Große Bild stand.
Das Bild stand nicht mehr auf seinem Podest, sondern mit dem Fuß auf dem Boden und war somit im Flackerkerzenlicht von einer wirklichen Person kaum zu unterscheiden.
Schweigend und starr stand die Kaiserin vor dem Bild, war bewegungslos geworden wie die Kaiserin auf der Leinwand. Ja, dieser allein schien ein Lächeln den Mund zu bewegen, als das Mondlicht durch einen lose schwingenden Vorhang ihre Lippen berührte.
"Sie schläft nicht", sagte die Kaiserin. "Niemals schläft sie. Solche Schönheit hat keinen Schlaf."
Baldeina fand, dass das Gesicht nur ernst schaute. Schien nicht bereit zu sein, sich in seiner Gegenwart an einem weiteren Lächeln zu versuchen. Aber das war doch alles Unsinn und ein Spiel des Mondenscheins aus Langeweile!
"Es ist das Werk dieser Frau", sagte die Kaiserin leise, als wolle sie nicht, dass die andere sie hörte. "Vergessen wir nicht, dass es ihr Werk ist. Sie weiß mehr darüber als der Maler."
"Das Bild ist doch fertig, warum lassen sie die Frau nicht einfach fortschicken. Wäre doch das Einfachste!", schlug Baldeina vor.
"Sehen sie nicht, warum? Sehen sie nicht, wie traurig die Kaiserin schaut."
"Eben hat sie noch gelächelt"
"Das war das Licht vom Mond, welches sie getäuscht hat. Niemals sah ich sie lächeln. Unglücklich ist sie! Kein Wort kommt über ihre Lippen, nicht einmal, wenn wir miteinander allein sind."
"Ich finde Bilder wirken immer ein wenig starr", sagte Baldeina und bereute seine Worte, als die Kaiserinnen, die eine wie die andere, ihn gleicherweise streng ansahen.
"Ich habe ihr gesagt, dass ihr Meister vor dem dunklen Geheimnis dieser Frau geflohen ist!"
"Was machen wir also?", fragte Baldeina, um sie mit seinem Gehorsam zu versöhnen.
"Wir erfüllen IHREN Wunsch", sagte die Kaiserin.
"Und der wäre ...?", schritt Baldeina fest in Glaube und Gehorsam aus.
"Aber das sagte ich doch: Sie schickt uns, das Gesicht der Frau zu erforschen, ihr das Geheimnis zu entreissen."
"Das ist IHR Wunsch?" Als Baldeina ins Straucheln geriet, zog die Bildkaiserin spöttisch die Augenbraue hoch.
"Natürlich ist es IHR Wunsch. Ich allein hätte Angst, es zu tun. Aber einen Wunsch von IHR muss ich erfüllen. Was bedeutet Angst?"
'- oder Müdigkeit?', dachte Baldeina.
"Ich wollte nur sehen, ob sie nicht schwankend geworden ist."
"Und? Ist sie schwankend geworden?"
"Macht sie diesen Eindruck auf sie?", fragte die Kaiserin streng.
"Nein", antwortete Baldeina begütigend, "sie will, glaube ich, dass wir es tun."
"Dann kommen sie! Was stehen wir hier und sind in den Augen der Kaiserin ängstlich und ungehorsam!"
Chapter 143. Die Kaiserin erwacht
"Die Frau schläft", flüsterte Baldeina und hielt die Kerze so, dass die Kaiserin sehen konnte.
Das Bett war nicht bezogen, keine Decke, kein Kissen, bloß die Kutte der Frau lag darauf. Dass jemand darunter lag, war nichts als Baldeinas bloße Annahme.
"Ich spüre, dass sie nicht schläft", flüsterte die Kaiserin. "Ihr Körper ist leblos, aber nicht tot."
"Was machen wir?"
"Wir sind zu zweit. Es wird geteilt. Ihr seid der Mann im besten Saft, für euch also der Körper. Mir als Frau und Kaiserin gehört ihr Gesicht!"
"... wie es euer Wille ist!"
"Nehmen sie die Schere! Ich halte die Kerze."
Baldeina tat, wie sie ihm geheißen hatte. Es war zu spät, der Kaiserin Vernunft einzureden. Das Licht der Kerze vereinigte sich in ihren Augen mit dem Feuer des Hasses. Er hätte nicht einmal sagen wollen, ob es Hass war oder nur ein wildes Flackern ohne Bestimmung.
"Soll ich nun schneiden?", fragte er leise.
"Ja, beginnen sie mit dem Schneiden. Was ihr Körper ist, will ich nicht sehen? Ich weiß, dass ich ihn verabscheuen würde." Die Kaiserin wandte ihr Gesicht zur Wand und hielt die schräg abtropfende Kerze zur Seite.
"Wollen mal sehen, ob überhaupt jemand drunter liegt. Könnte sein, dass Lumpenhaus ist leer." Baldeina bemühte sich um einen Tonfall, der dem Gruseligen unerschrocken entgegentrat.
"Schneidet!", sagte die Kaiserin tonlos, als spreche sie ein Urteil gegen sich selbst.
Weil sie es nicht anders wollte, zog Baldeina das Tuch nach unten glatt, setzte die Schere an und machte einen tiefen ersten Schnitt, dann einen halben zweiten, der ihn der Füße angesichtig werden ließ - knochige, steinweiße, eigentlich gepflegte Füße, wie er sie nicht erwartet hatte.
"Was seht ihr, Baldeina?", fragte die Kaiserin ungeduldig.
"Ihre Füße, ich bin bei ihren Füßen."
"Ja, was denn? Fehlen euch vor Schreck die Worte?"
"Nein, nein", beruhigte sie Baldeina. "Es sind die Füße ... einer vornehmen Frau. Nicht durchgeschunden, keine Haut dick wie eine Sohle. Gepflegt ist die Haut, feiner und weicher als Papier."
"Sonst noch etwas?"
"Ich fühle mit dem Finger ... kalt sind sie, wie man es nicht glauben würde."
"Schneide, Baldeina! Ihre Waden will ich sehen."
"Der Stoff der Kutte ist feiner, als er ausschaut ... ich sehe, Kaiserin, nun die Wade."
"Wie sieht sie aus? So sprecht. Macht mich nicht ungeduldig!"
"Nicht die Waden einer Frau, nicht die eines Mannes, ein Ding dazwischen, sehr dünn würde ich sagen."
"Erregt euch ihr Anblick?"
"Was ich sehe, kann nicht mich oder einen anderen erregen."
"Dann schneidet weiter!"
Baldeina machte einen Schnitt bis Kniehöhe, wechselte dort flötend die Richtung und schnitt die Wade frei, hoch hinauf, bis zur Erhebung der knochigen Hüfte.
Er hörte, wie die Kaiserin vor Spannung die Luft anhielt und sagte schnell, damit sie ihn nicht wieder fragen musste: "Ob es ein Weib ist, könnte ich nicht sagen ... die weißen Glieder wie gemeißelt, niemals von einer Hand in zärtlicher Absicht berührt, die Schenkel, altfräulich, jungfräulich - wer würde sich festlegen wollen!"
"- weiter, schneide weiter!"
"Das will ich tun, wenn ihr es sagt", gehorchte Baldeina und legte mit sicherem Schnitt die knochige Hüfte frei.
"Ich höre nicht, was ihr seht", drängte die Kaiserin.
"Sie liegt auf der Seite. Wo soll ich mit dem Betrachten beginnen, vorne oder hinten?"
"Das überlasse ich euch!"
Baldeina betrachtete sich von hinten den Po, der flach war, ohne jede Rundung, mit einer tiefen querlaufenden Falte an seinem Ende, wo das Bein ansetzte. Mit einem Finger prüfte er: "Kalt wie die Füße und die Beine, ohne jeden Reiz, nichts Weiches, nichts Festes, niemals von einer anderen Männerhand als meiner berührt. Die Kutte ist ein Fest der Sinne gegen dieses Unterrückenteil!"
"Von vorne nun!"
Also betrachtete er das vordere: "Ebensowohl nichts, nicht das Nachgebilde einer Weiblichkeit, wie eine Puppe, nicht wie eine Frau, kein Geheimnis hinter bewachsenen Hügeln ..."
"Sagt ihr mir auch alles?"
"Hier ist nichts, was ich der Unterschlagung wert gewesen wäre", rechtfertigte sich Baldeina.
"Den Bauch bis zu den Brüsten!"
"In einem Schnitt?"
"Jeden Teil für sich!"
"Das ist ihr Bauch ..."
"Was seht ihr?"
"Sie hat keinen Nabel, als wäre sie nicht von einer Frau geboren!"
"Wisst ihr nicht, dass eine Frau niemals einen Nabel hat. Auch ich habe keine Nabel ... keine Frau hat einen Nabel, wusstet ihr das nicht!?"
Es war in der Tat so, dass Baldeina dies unbekannt war. Eigentlich hätte es ihm auffallen müssen, aber es war immer recht dunkel gewesen und gewissermaßen eilig. Das seien so Dinge, die ein Mann nicht wissen müsse, hätte sein Vater gesagt.
"Das nächste ...!"
Vorsichtig schnitt Baldeina für seinen Teil die Kutte bis zum Hals auf und achtete darauf, dass er einen Kranz von Stoff zum Schneiden übrigliess.
"Es ist der pure Geiz", berichtete er eifrig, "Nippelhöfe, schwarz und runzlig, und Milch für einen Fingerhut -
"Ich mag euren Spaß nicht!"
"Entschuldigt, euch zornig zu machen lag nicht in meiner Absicht."
Ungnädig wischte die Kaiserin seine Entschuldigung beiseite: "Hier, haltet die Kerze, und wendet euch ab. Vorsicht! Haltet sie gerade, auch wenn ihr nicht hinseht ... Gebt mir die Schere. Schaut ihr auch weg?"
"Ich sehe nichts als eine Wand und ein Fenster, gefüllt mit dunkelster Nacht."
Er vernahm, dass die Kaiserin die Schere langsam öffnete, hörte einen vorsichtigen, langsamen Schnitt und kurz darauf einen Schrei, der in schrillster Höhe abbrach.
Erst dachte er, dass er draußen einen Tierlaut gehört hatte, der durch dem Fenster gekommen war. Im Augenblick der Verwunderung schlug ihm die Kaiserin die Kerze aus der Hand. Als er sich umdrehte, war die Kerze zu Boden gefallen und erlöschen. Er stand im völligen Dunkel und wusste nicht, was geschehen war.
"Haben sie gerufen, Kaiserin?", fragte er unsicher. "Ist etwas geschehen?"
"Sie hat in der Tat gerufen", sagte eine andere Stimme. "Hat etwas verloren, etwas sehr Wichtiges."
"Ja, was denn ...?"
"Ihren Verstand - hinaus und hui in die schwarze Nacht!"
"Wie denn ...?"
"In meinem Gesicht erblickte sie das ihre. Gewarnt war sie genug!"
"Und dieser Trug erschreckte sie so sehr ...?"
"Kein Trug - ich nahm ihr Alter bei mir auf, machte einen Handel mit der Zeit."
Baldeina verstand nicht das geringste. Er hoffte, dass nicht auch er einen Teil seines Verstandes verloren hatte.
"Ihre Schönheit gab sie fort an ein Bild, ich nahm ihr Alter auf. Was ist sie nun? Nicht alt, nicht jung, nichts blieb von ihr - alles gehört mir und der anderen!"
"Sie ist MEINE Kaiserin!", empörte sich Baldeina.
Aber die Frau ließ ihr Lachen mit einer aufgeschreckten Abteilung Wildgänse in den Nachthimmel davonfliegen.
Chapter 144. Der Vater am Tor
Das Gefühl, dass sie etwas vergessen hatte, war zu ihr ins Bett gekrochen. Aber sie tat so, als läge der Schlaf noch in ihr und kümmere und rühre sich nicht.
Dabei waren der Schlaf nur in den Beine, die schwer davon waren. Die Arme waren ganz leicht, und im Brustkorb war ein großes Loch, durch das der Himmel sah. Dünn und leicht wie Papier hatte das Gesicht die ganze Nacht wachgelegen.
Ein Gefühl flüsterte ihr leise zu, ob sie nicht wisse, dass sie jemanden vergessen habe. Der Schlaf boxte es beiseite. Doch weil es geflüstert hatte, und weil es die rechte Stunde für das Flüstern gewesen war, hatte sie zugehört.
Hatte sie jemanden vergessen? Sie konnte sich an niemanden erinnern. Und doch war das Gefühl überzeugt gewesen, dass sie jemanden vergessen hatte.
"Wie geht es der Kaiserin heute?", fragte die Stimme einer Frau.
Das war es - sie hatte vergessen, nach der Kaiserin zu sehen!
"Ich weiß es nicht", sagte sie leise und spürte, wie der Vorwurf ihr den Hals eng machte. "Ich habe noch nicht nach ihr gesehen ... es vergessen. Wie konnte ich?"
"Sie haben NICHT nach der Kaiserin gesehen?", fragte die Stimme und erlaubte nicht, dass sie die Augen öffnete.
"Im Schlaf - war bin war im Schlaf", sagte sie und wusste doch, dass die Pflicht leise, leise von irgendwoher gerufen hatte.
"Die KAISERIN aber wacht!", sagte die Stimme streng. "Wie hätte sie schlafen können?"
"Ja", sagte sie und legte sich die Hand auf die Stirn, "die Kaiserin kann niemals schlafen."
"Öffnen sie die Augen und sagen sie, ob sie mich erkennen?"
Die Frau saß ganz nah an ihrem Bett, obwohl ihre Stimme entfernt geklungen hatte. Was verbarg sie ihr Gesicht hinter einer Kutte? Nur der Duft von trockenen Blumen war ihr Gesicht.
"Sagen sie, ob sie mich kennen!", sagte die Frau streng.
Sie schüttelte den Kopf. Wollte das 'Nein' aber lieber nicht aussprechen. Das gedachte 'Nein' musste der Frau als Sicherheit genügen.
"Aber die KAISERIN kennt mich", stellte die Frau fest.
Nun durfte sie eifrig nicken. Ja, das war es gewesen! Ihre Kaiserin kannte diese Frau. Und war es nicht so für sie ein Kennen im zweiten Grade?
"Die KAISERIN hat nach ihnen verlangt", sagte die Frau. "Wollen sie nicht zu ihr gehen?"
Wie gern sie das wollte! Die Erscheinung der Frau sollte nur fortgehen. Dann würde sie den Schlaf in das Bett legen können, damit er ihr nicht nachlief. Denn es gehörte sich nicht, dass er sich zeigte vor der Kaiserin. Auch gab es noch Worte, die sie suchen musste. Ohne diese Worte durfte sie nicht vor die Kaiserin treten.
"Bestellen sie der Kaiserin, dass sie mich nicht mehr braucht. SIE sind da und werden für die Kaiserin sorgen." So sprach die Frau und legte das Glück ihr auf die Stirn.
Dann war es still. Der Schlaf ließ sich fangen und allein ins Bett locken. Es blieb ihr nichts zu tun, als auf die Worte zu warten.
"Ist der Kaiserin nicht wohl?", fragte ein Gesicht in der Tür.
"Die Kaiserin ist sehr krank", erklärte sie unwillig. Einem Löffel gleich rührte Sorge die Stirn des jungen Mannes um. Er tat, was er nicht durfte, und nahm ihre Hand. Wo er sie hielt, war es weich und feucht, dass sich ihre Hand schämen musste.
"Behalten sie die Hand", sagte sie zu ihm. "Ich muss nach der Kaiserin sehen. Wenn sie genug von ihr haben, legen sie die Hand in die Kühle, vielleicht dort auf den kleinen Tisch ..."
"Was ist mit der Kaiserin?", fragte der Mann, dem sie ihre Hand gegeben hatte.
"Es ist, weil sie so schön ist", erklärte sie. "Erst war sie nicht so schön, nun ist sie es. Dazwischen ist etwas, durch das niemand hindurchgehen darf. Sogar mir ist es verboten ..."
"Hmm, weil sie so schön ist ..." Nun hatte der junge Mann verstanden. Beinahe wäre ihm die Hand hingefallen. Hatte er schon vergessen, dass er sie auf den kleinen Tisch legen sollte, wenn er mit dem Anfassen fertig war.
"Sie findet sich nicht mehr zurecht?", fragte der junge Mann, gab damit zum Vorschuss sein Verstehen.
"Ja, ja, mehr und auch das", sagte sie traurig. "Die Dinge kommen nicht heran, eben weil sie so schön ist. Da müssen sie von weitem rufen. Manche verstecken sich auch. Andere macht es übermütig. Das ist nicht fein."
"Nein, nein", sagte der junge Mann und schüttelte den Kopf, bis er nichts verstand.
"Ich werde nun in ihr Zimmer gehen", erklärte sie ihm. "Die Kaiserin braucht die möglichste Ruhe. Ich werde sie pflegen. Sagen sie den anderen, dass ich bei ihr bin und sie pflegen werde."
"Ich werde sie begleiten", sagte der junge Mann und verbeugte sich so tief, dass sie die Haare sah, die in seinem Nacken wuchsen.
Als sie an den Soldaten vorbeigingen, sprang das Licht vom Helm des einen zu dem des anderen. Dabei stritten die Schuhe in einer knarrenden, fremden Sprache miteinander.
Weiter ging das Licht ihnen voraus. Dann folgte der junge Mann und schließlich sie. So war es wohl recht für eine, die nichts als eine Dienerin war.
Das Licht lief in einen anderen Gang und saß schließlich wartend in den kleinen Bögen, die ein Übermütiger für vier Himmelsblicke in die Wand geschnitten hatte.
"Ist dort das Zimmer der Kaiserin?", fragte sie leise, "Das ist ihr Zimmer, wenn es nichts anderes ist", antwortete der junge Mann. Er hob einen zeigenden Arm über einem Achselfleck auf. Sein Geruch kam nah an sie heran, weil er nicht achtgab.
"Wer ist diese Frau?", fragte sie, hielt sich das Atmen zu, weil er seinen Geruch nicht wohl erzogen hatte.
"Ich diene der Kaiserin?", antwortete sehr ängstlich diese Frau.
"Ich ALLEIN werde bei ihr sein!", sprach sie gebietend aus. "Wenn jemand der Kaiserin etwas sagen will, dann soll er zu MIR kommen. Sie will mit niemanden sprechen als mit mir. So hat sie entschieden. Es ist nicht leicht, aber es ist wichtig, dass sie es verstehen!"
Der Schweiß des jungen Mannes hatte sich auf der Stirn dieser Frau niedergelassen. Der Geruch suchte einen neuen Platz und fand ihn nicht. Sie konnte sich nicht erwehren, war sie doch nicht mehr als eine Dienerin und besaß nicht den Schutz der hohen Damen.
Dennoch war sie dem jungen Mann dankbar, dass er die andere Frau fortschickte. Er verstand, dass die Kaiserin niemanden brauchte, der fremd war. Die andere Frau hatte sie böse gemacht, weil sie so unterwürfig war. Aber ihre Kaiserin brauchte keine solche Dienerinnen. Niemand mit einem fremden Herz war nötig. Und die Ruhe vor solchen würde ihr gut tun.
Schnell wischte sie sich den übergekommenen, eklen Schweiß des jungen Mannes von der Stirn und rieb ihn an der Türklinke von draußen ab. Bevor sie die Türe öffnete, wartete sie stumm, bis er verschwand und seinen Geruch entfernt hatte.
Dann trat sie ein und schloss sehr leise die Tür hinter sich, weil die Kaiserin ganz still mit sich in ihrem Zimmer stand. Wie sehr es der Kaiserin behagte, wenn vertraute Blicke bewundernd auf ihrer Schönheit lagen.
Es war still, als übe sich das Innen im Vergessen, um nichts als die Schönheit sich zu erhalten. Das Lächeln der Kaiserin bot den Fragen keinen Halt. Vergeblich hatte die Zeit versucht, sich an ihr festzuhalten. Nun war sie fort. Eine andere Zeit war gekommen - vorher, nachher, oder beides, oder nichts von beidem. Da stand sie und sah ihre Dienerin an, als wolle sie sagen: "Tu es mir nach. Es ist ganz einfach. Lass es uns zu zweit versuchen!"
"Und wer pflegt dich dann?", fragte sie die Kaiserin nachsichtig. "Nein, achte du nur auf deine Schönheit. Für mich lass den Rest. Viel ist es nicht, grad genug, für eine Frau zu tun."
"Ja", antwortete die Kaiserin, "das ist mir recht. Du sprichst draußen mit der Zeit und handelst ihr unsere Stille ab. Ich spreche mit der Schönheit und sage ihr, dass wir zu zweit sind, als Freundinnen eins."
"Liebste Li, es steht ein Mann am Tor", sagte LoBe und gestattete sich, dem Mädchen den Bogen zu entziehen, auf dem sie gerade schrieb.
"Was tut ihr da?", fragte Li empört, weil er die Zeile und das Ganze durch sein plötzliches Wegziehen unleserlich gemacht hatte. "Nun kann ich von vorne beginnen!"
"Wartet nicht in jedem Tag, in jeder Stunde ein anderer Beginn?", fragte LoBe.
"Ich meine es ernst, schließlich sind es eure Gedichte, die ich abschreibe!"
LoBe drehte das Blatt um. Nun lag die leeren Seite zuoberst auf dem Tisch.
"Es steht ein Mann am Tor", sagte er wieder.
"Wollt ihr nicht, dass ich euer Gedicht zu Ende abschreibe?"
"Mein Kind, nichts lieber säh ich dich tun, doch dieser Mann, er fragt nach dir", sagte LoBe und strich ihr über das Haar.
"Was habe ich zu tun mit einem Mann, den ich nicht kenne?"
"Willst du nicht hören, was er dir zu sagen hat?"
"Soll er sich ein anderes Mädchen suchen, dem er etwas sagen kann."
"Aber er will es DIR sagen!"
"Was geht mich an, wonach es ihn verlangt!"
"Lass ihn doch für sich sprechen."
"Ich will ihn aber nicht sehen!"
"Komm mit! Von der sicheren Mauer herunter wollen wir ihn uns ansehen!"
"Immer noch - ich will es nicht!"
Aber LoBe zog und zerrte weiter an ihr. Da er stärker war und nicht von ihr lassen wollte, ehe sie nicht eigene Schritte tat, da er immer wieder von diesem auf Li wartenden Mann rief, bis ein Aufsehen um sie war, folgte sie ihm über den Hof zu einer Treppe, die hoch hinauf zur Mauer führte. Aus einer schmalen Sparte im Stein lugte LoBe hinaus.
"Dort, dieser ist es!", rief er und winkte sie heran.
Vorsichtig ging sie zu der Scharte, steckte den Kopf in die Aussparung und sah hinaus. "Welcher Mann - der mit dem Karren?"
"Nein, nein, der Mann mit den zwei Eseln ist es!", rief LoBe so laut, dass der Mann zu ihnen hochsah.
"Schscht!", zischte Li und verschwand blitzartig mit ihrem Kopf.
"Ich sprech mit ihm", sagte LoBe, und Li konnte nicht verhindern, dass er sich über die Mauer beugte und den Mann ansprach.
"Ich hab sie bei mir!", winkte er.
"Zeigt sie sich nicht?", fragte der Mann. Er sprach leise, aber seine Stimme drang leicht durch die Mauern hindurch.
"Sie traut sich nicht", rief LoBe so dröhnend, dass es auf beiden Seiten der Mauer zu verstehen war.
"Weiß sie vom Schicksal ihres Vaters?", fragte der Mann.
"Mehr davon als jeder, der ein Fremder mit zwei Eseln ist!", rief Li aus LoBes Rücken.
"Sie hat sonst diese Launen nicht!", entschuldigte sich LoBe und hielt Li am Zipfel des Hemdes gefasst, damit sie nicht fortrannte.
"So leidet sie mit ihm an seinem Schicksal?", fragte der Mann.
"Ich spreche nicht darüber!" Li riss sich von LoBe los und stand auf der ersten Stufe, bereit hinab- und fortzulaufen.
"Wenn sie vernünftig spricht", so LoBe begütigend, "ist sie ein gutes Mädchen."
"Meint ihr, sie will ihm nah sein?", fragte der Mann.
"Ich würde für ihn in die Verbannung gehen, wenn es gestattet wäre!", sagte Li so fest und laut, dass er es hören konnte.
"Das braucht sie nicht", sagte der Mann ruhig und fügte leise hinzu: "Von Verbannung lasst uns lieber nicht sprechen."
"Was weiß denn ER von meinem VATER!", rief Li zornig.
"Ich kann nicht sprechen", antwortete der Mann. "Nur soviel - ich kann sie zu ihrem Vater führen!" Er blieb geduldig, als spreche er mit seinen Eseln.
"Sie folgt keinem, den sie nicht kennt!", rief Li und trat auf die zweite Stufe, weil LoBe wieder seine Hand ausgestreckt hatte.
"Auch nicht zu ihrem Vater?", fragte der Mann.
"Wollt ihr mich totfragen! Warum ist euch nicht genug, was in den WORTEN steckt!"
"Gebt ihr ein wenig Zeit", schlug LoBe vor. "Euren Vorschlag soll sie allein und in Ruhe prüfen."
"Ihr glaubt ihm doch nicht etwa!?", empörte sich Li. "Er ist ein Lügner mit dem, was er spricht!"
LoBe beugte sich über die Zinne und schaute angestrengt schweigend hinunter. "Nein", sagte er schließlich, "dieser Mann ist kein Lügner."
"Wie könnt ihr das sehen!", fauchte Li und riss sich los.
"Es ist nicht weit", sagte der Mann. "Es wäre nur besser, sie käme ohne Aufsehen mit."
Li hörte, dass er seine Esel nahm und wieder fortging. Vorsichtig sah sie hinaus. Der Mann ritt langsam und gleichmäßig, als sei er die Wanderschaft gewöhnt. Einer der beiden Esel trug keine Last und keinen Reiter. Im Erschrecken war ihr, als hätte der Mann sie auf der Stelle mitgeführt, wenn sie ihm eingewilligt hätte.
"Ihr habt mir versprochen, dass wir zusammengehen!", sagte Li entschlossen.
"Ich kann nicht mitkommen", sagte LoBe und zwängte sich aus seiner Zinne. "Ich habe eine Bekanntschaft gemacht ... sie würde mich nicht gehen lassen."
"Und unsere Reise in die Verbannung ...?", fragte Li bitter.
"Muss es immer WEIT sein?", so LoBe, auf das Unerschöpflichste freundlich.
"Da kommt der Mann euch gerade recht, mich auf einem Esel fortzuführen."
"Das Kind glaubt nicht an meine Ehre?", klagte LoBe vor sich selbst und den Zinnen.
"Ihr sucht die Gedichte über den Tod und ich meinen Vater ... all unser Planen vergessen?"
"Kind, mag sein, ich finde die Gedichte bei ihr, der Witwe, und du den Vater ganz nah ..."
"Und euer Wort, dass ihr mitgeht? Habt ihr euer Versprechen vergessen?"
"Ist ein Dichterwort!"
"Ein Lügenwort!"
"Gut, mein Kind, ich gebe zu, die Wahrheit ist verkleidet!"
"Ich wette, sie ist eine REICHE Witwe!", sagte Li ahnend.
"Ihr Mann war ein Händler, immer auf Reisen. Er ließ sie oft allein!"
"Ich wette, sie ist REICH!", sagte Li unerschüttert.
"Ich schreibe die Gedichte!", versprach LoBe.
"REICH! REICH! REICH!", sagte Li bösebitterblass.
Chapter 145. Der Traumgänger
Der Vorhang in Wois Zimmer hatte das Schaukeln vergessen und dachte ins Leere hinein. An den Wänden flossen die letzten feingesiebten Geräusche ab. Was die Ohren vernahmen, gaben sie zurück. In den Augen war dicht der Nebel aufgestiegen. Vergeblich suchten die Bilder des Tages ihren Weg. Wer anderer als einen Geist hätte Woi ansprechen können, hier im Grenzgebiet des Schlafes?
"Bin ich ein geträumtes oder ein wirkliches Wesen?", fragte Asari.
Das Aufmerken hatte sich nach der Gewohnheit mit schwerem Magen eingerollt. Woi ließ seinen Kopf zur Seite fallen. Hinter einem Schleier stand eine Gestalt, die er ansprechen wollte.
"Bist du es wirklich, Asari?", fragte er.
Die Gestalt bewegte sich nicht. Eher noch der Schleier, der sich an den Rändern doppelt nahm. Eher noch der Kopf, der die Stimme nicht wieder herauslassen wollte.
"Dann träume ich dich", sagte Woi und war ruhig. Nur der Kopf blieb in einer pendeligen Lage und bewegte die Gestalt.
"Im Kerker waren Wirklichkeit und Traum dasselbe. Wie hätte ich lernen sollen, sie zu unterscheiden."
Die Stimme besaß viele lange Arme, die nackt waren und biegsam und sich in einem Knäuel niederlegten. In solcher Weise war es eine mächtige Stimme, oder jedenfalls eine reiche.
"Wenn ich ihnen glaube, dann ist die Kaiserin verrückt geworden ... hat sich eingeträumt, fort gestohlen aus dem Traum der Wirklichen, ist gegangen, sich in eigenen Träumen zu suchen."
Woi hörte und sah, aber wechselseitig bezeichneten sich das Hören und das Sehen des Truges. Sie stritten und schoben, statt sich an der Hand zu nehmen und gemeinsam zu gehen.
"Jetzt frage ich mich: Werde ICH die Schale sein oder der KAISER? Füllt der Kaiser MICH aus oder ICH den Kaiser?"
Einen solchen Traum hatte Woi noch nicht gehabt! Dieser Traum drehte sich beständig im Kreis um Asari. Solange er auch wartete, dass der Traum von Asari genug hatte, so begann der Traum doch stets von neuem und immerfort von Asari zu sprechen.
"Traum", sagte Woi und war so wach, wie man sein durfte, wenn man einen Traum ansprach, "du bist im falschen Zimmer. Warum gehst du nicht zu Asari? Sicherlich wartet er auf dich und ist es überdrüssig, sich mit einem von meinen Träumen zu plagen."
Es klopfte an der Tür. Das musste der neue Traum sein, der sich nicht hereintraute!
"Komm herein!", rief Woi vorfreudig.
"Ich bin es, Baldeina, dein Freund", rief es zurück.
"Dann bist du mir der rechte Traum!"
"Ich bin es, Baldeina, kein Traum!"
"Du bist es wirklich?", fragte Woi enttäuscht.
"Und wer ist das?", fragte Baldeina zurück.
"Das ist mein Traum", antwortete ihm Woi.
"Woi, wach auf! Ich meine diesen da, der in deinem Zimmer steht und nichts sagt ... warte, ich kenne sein Gesicht!"
"Das ist Asari oder jedenfalls das Gesicht von ihm."
"Sie suchen ihn überall", sagte Baldeina erschreckend.
"Da hast du ihn", zeigte sich Woi großzügig. "Nimm ihn mit und lass mich schlafen!"
"Aber wie weiß ich, dass er es ist", Baldeina kniff die Augen zusammen, weil die Gestalt bei längerer Betrachtung etwas Nebeliges an sich hatte. "Sie sehen sich jetzt alle gleich!"
"Wenn du ihn reden hörst, dann weißt du, dass er es ist!"
"Aber es - ich meine, er redet nicht." Baldeina fand, dass die Gestalt sich nicht einmal bewegt hatte.
"Eben hat er geredet", versicherte Woi. "Wie er Sinn und Unsinn mischt, daran erkenne ich ihn unter all seinen Gesichtern heraus."
"Woi übertreibt gerne", ließ Asari sich vernehmen.
"Es - er hat gesprochen!", rief Baldeina.
"Wundere dich im weiteren über nichts", riet Woi hohltönend. "Am besten du hörst nur halb zu."
"Was macht er hier?", fragte Baldeina.
"Sie haben mich zu ihm geschickt", erklärte Asari und zeigte mit dem Kinn auf Woi.
"Warum zu ihm?", Baldeina konnte sich keinen Grund denken, welcher Woi am Hof herausgehoben hätte.
"Er soll sagen, dass ich wirklich der Sohn des Kaisers bin", antwortete Asari. "Er weiß das besser als ich selbst."
"Da siehst du", brummelte Woi, "ES fängt wieder mit seinen sonderlichen Reden an."
"Er ist WIRKLICH der Kaiser der Tränen?", presste Baldeina restzweifelnd hervor.
"Ich schwöre", kam Wois Antwort, "dass er auf die ihm gegebene Weise wirklich ist. Ich denke, mehr werden wir von ihm erwarten dürfen."
Asari ließ den abgeschnittenen Teil eines Lachens heraus.
"Aber dies ist doch ein wunderbarere Augenblick", wagte sich Baldeina in eine vorläufige Begeisterung, "der Sohn des Kaisers, unser neuer Kaiser ... warum so missgestimmt, Woi?"
"Ich möchte schlafen", antwortete Woi, ohne zugehört zu haben. "Was er redet, macht mich entsetzlich müde."
"Unsere Kaiserin - weißt du nicht, was der Kaiserin zugestoßen ist?", fragte Baldeina.
Ein gleichgültiges "Neee!" drehte Woi auf den Bauch. Ein dumpfes "Lass mal bis morgen!" hob den Arm in gastunfreundlicher Weise über sein Gesicht.
"Woi, es ist wichtig: Die Kaiserin hat leider - wie soll ich sagen? - eine Schwäche des Gemüts. Sie hat sich gewissermaßen geteilt, dient sich selbst als ihre Dienerin, wenn du verstehst ..."
"Asari wird sie alle anstecken!", sagte Woi zu sich.
"Du bist bereit, mir zu versichern", fragte Baldeina mit großem Ernst, "dass er der passenden Mensch zu diesem Gesicht ist. Du verstehst, was ich sagen will?"
"Ich habe sie beide befreit: Gesicht Asari, Mensch Asari ... kann ich versichern, wenn du willst!"
"Ich nehme ihn dann mit zur Kaiserin, wenn dir das recht ist", verkündete Baldeina. "Gewissermaßen kommt er gerade recht ..."
Das Kissen sprach einen dumpfen Dank aus, erkärte sich, geradezu redselig geworden, für wunschlos und bei Baldeina in der Schuld stehend.
"Dann kommen sie bitte, Herr Kaiser", flüsterte Baldeina und fasste die Gestalt an der Hand, wohl auch, weil er letztes Zweifel an der Tatsächlichkeit des Erlebten beseitigen wollte.
Hinter ihnen wischte die Stille mit weichem Tuch die restlichen Geräusche auf. Irgendwo weit fort quietschte eine Tür in der Angel. Vielleicht nicht einmal eine Tür, sondern ein Karren, den man ausgespannt und vergessen hatte, eine Diele, die zu nichts als zur Beschwerde nutze war, ein Fenster, welches sich wachhielt.
Es klopfte an der Tür. Vorsichtig, mit kleiner Knöchelhand. Vertrauend auf das Willkommen. Behutsam über das Zerfallene tretend.
"Wer ist es?", so Woi, der Dämmernde.
"Es ist ein Traum, der gerufen kam."
"Was für ein Traum?", so Woi, der Sinkende.
"Die Drachenzähne. Haben ein Abenteuer gefesselt. Schweigt sich aus und sagt zu ihnen nichts."
"... ein Traum für mich?", so Woi, der Ertrinkende.
"Ist die Müdigkeit da?"
"Schon lange hier!"
"Dann bin ich spät!"
"Was tun die Drachenzähne?"
"Das Abenteuer, sie wissen nicht, was damit tun."
"Sie sollen auf mich warten!"
"Das sagte ich ihnen bereits", so der Traum und schüttelte ein taubfeines Lächeln von den Lippen, weil Woi so wenig von ihm und seiner Art verstand.
Chapter 146. Der Umzug
"Ist es erlaubt, die Kaiserin um etwas zu bitten?", fragte ein dicker Mann, der aus einer Tür getreten war, die sie nicht bemerkt hatte. Er war wohl aus zwei gleichermaßen hässlichen Männern gemacht, so groß und hässlich war er. Ganz aus weichem Teig war er geformt und wurde beständig von unsichtbaren Händen geknetet.
"Die Kaiserin ist zu krank", gab sie ihm Bescheid. "Sie muss auf ihrem Zimmer bleiben. Niemand darf zu ihr. Ich habe die Vorhänge zugemacht wegen der Sonne."
"Es würde genügen, wäre geradezu geboten, wenn ihre Dienerin die Stelle der Kaiserin einnimmt", sagte der Mann zu ihr. Dabei machte er seinem dicken Bauch mit den Finger merkwürdige Zeichen.
Sie werde kommen, hatte sie dem Teigmann versprochen. Erst müsse sie nach der Kaiserin für die Nacht sehen, dann werde sie kommen und ihre Herrin vertreten.
Im Kaiserlichen Zimmer hielt der Abend ihrer Herrin sein silbernes Tablett hin, damit sie sich einen der blauschweren Gedanken wählen konnte. Einen Abschied durfte die Dienerin nicht nehmen, denn Ende und Anfang gab es nicht in der Schönheit. Die Kaiserin würde nicht wissen, etwas damit anzufangen.
So schlich sie sich für den Umzug des zweihäßlichen Mannes aus dem Zimmer und machte sich schön, obwohl es ihr als einer Dienerin nicht zustand. Doch vertrat sie die Kaiserin, musste sich an ihrer Stelle zeigen. Kein Blick der eitlen Selbstbeschau war erlaubt. Dies wenige sollte blind genügen.
Furchtsam trat sie dann in das dunkle Frei des Hofes, heraus in die Blicke, die Lichter, die Fackeln der Menschen. Die Soldaten wichen zurück. Das gebot ihnen der Respekt vor der kranken Kaiserin. Am liebsten hätte sie ihnen Tröstendes gesagt. Aber wen von ihnen hätte sie ansprechen sollen? Sie machten alle dasselbe Gesicht, weil der Kaiser herausgetreten war.
Sie sah verwundert, was die Krankheit einem Menschen antun konnte. Sie kannten den Kaiser von früher. Da war er ein dicker Mann gewesen, der gerne in der Sonne saß und bis in den Abend hinein schlief. Manchmal schlief er so fest, dass sie glaubten, er sei für immer entschlafen, und sogar die Diener aufgeregt herbeigerannt kamen. Doch wenn die Sonne fort war, wischte er sich die Kälte vom Gesicht, immer auf's neue, bis er die Augen öffnete und voller Ärger zum Himmel hinaufsah. Dann stöhnte er leise, wohl weil ein Kaiser dem Himmel nichts befehlen konnte.
Eines Tages aber war er krank geworden. Die Diener legten ihn auf eine Bahre, wo er tagaus, tagein schlief. Er war so krank geworden, dass er sich an keiner Kälte auf seinem steinigen Gesicht mehr störte. Er wurde nicht mehr in die Sonne gebracht, wie er es gern hatte. Schließlich kam er für seine Ruhe in ein dunkles Zimmer, wo niemand ihn stören durfte.
Die Ruhe hatte ihm gut getan, denn als entschieden junger Mann war er wieder herausgekommen. Sie dachte, dass die Zeit sich sonderlich stellte zu den Kaiserlichen. Bei ihm hatte sich die Zeit zurückgestellt, würde wieder vorlaufen und wieder zurückgestellt werden. Während ihre Kaiserin völlig von der Zeit erlöst war, trug der Kaiser sie auf wie ein Kleid nach dem anderen.
Zwei Soldaten waren an ihre und ihrer Gedanken Seite getreten und hatten jeder auf seiner Seite die Hand genommen. Wer hatte ihnen dies erlaubt? Sie war keine Kranke, die man führen musste! Der Kaiser aber verstand sich auf ihr Befinden und machte ihnen einen Wink. Er zeigte auf den Platz neben sich, wo sie sich setzen sollte. Er saß auf einem Wagen, der große Räder hatten, die das Mondlicht silberbeschlagen hatte. Sah er nicht, dass an seiner Seite düster die Macht saß und schreckliche Gesichter schnitt?
Mit vorsichtigen Schritten ging sie auf den mondsilbernen Wagen zu. Sie wollte der Macht ihren Platz nicht streitig machen. Vorne war ein kleiner Sitz, auf den sie sich setzte. Sie hielt sich an der seitlichen Stange fest, die kühl war, während aus den Pferderücken der Dampf aufstieg.
Es ging durch das große Tor hindurch und unter dem Mond in die Stadt hinein. Still standen die Häuser, hatten die Augen fest im Schlaf geschlossen. Was träumten sie? Waren es ihre eigenen oder die Träume ihrer Bewohner?
Da pochten die Soldaten mit ihren langen Lanzen auf den Boden und schlugen mit den wachscharfen Spitzen gegen die Augen der Häuser. 'Klick, Klick, Klick!' machten die Lanzen an ihrer Spitze. 'Pumm, Pumm, Pumm' machten sie auf dem Boden.
Sie kamen herausgerannt, die weichen Gesichter, die verwirrten Haare, die dünnen Kleider auf nackten Füssen, die Kleinen mit Fragen, die Großen mit leeren Mündern.
"Hört, was diese euch zu sagen hat!", rief laut der dickste der Soldaten und zeigte zu ihr auf den Wagen, wo ihre Hand die Stange hielt.
'Pog, Pog, Pog!' machten die Lanzen der Soldaten.
"Hört, was sie sagt!", rief der dicke Soldat.
'Pug-pug, Pug-pug!' begleiteten die Lanzen sein Verkünden.
Aber die Dienerin sagte nichts. Sie verstand nicht zu sprechen, zeigte nur still auf den Dicken und seine Lanzen. Wie hätte sie über die Krankheit der Kaiserin zu sprechen sollen?
"Die Kaiserin ist erkrankt. Es geht ihr so schlecht, dass sie alle Geschäfte niedergelegt hat", rief der Dicke heraus.
'Hört-hört!' pochten seine Lanzen.
Bloß ein Nicken wollte er von ihr. Das gab sie ihm.
"Wir haben wieder einen Kaiser. Er ist es!", rief der Dicke und zeigte mit kurzem Arm und doppeltdickem Finger auf den wiedergenesenen Kaiser. "Wir stehen alle hinter ihm. Verkündet sei es allen!" Und die Lanzen der Soldaten ließen den Boden im Echo erbeben.
Der Kaiser hatte plötzlich viele eigleiche Gesichter unter die Menschen geworfen. Er ließ sie in Jubel und Lachen ausbrechen und machte, dass ihre Händen wie die Hufe der Pferde klapperten. Der Kaiser durfte das. Er hatte die Zeit zurückgestellt. Nun freute er sich an einfachen Dinge.
Ihre Kaiserin - da war sie sich sicher - hätte nicht fremden Menschen ihr Gesicht gegeben. Es war gut, dass die Dienerin an ihrer Stelle zusah, denn unanständig wäre der Kaiserin solches Ausleihen vorgekommen und als ein Frevel.
'Was für ein Spiel ist dies?', hätte sie gefragt. 'Welchen anderen Sinn kann es haben, als mich und jeden in Verwirrung zu stürzen?'
Was für eine Antwort hätte ihr die Dienerin darauf geben können? Dass es dem Kaiser ein Spiel war, wie das Zurückstellen der Zeit, hätte die Kaiserin nicht verstanden.
"Es ist gut, dass es wieder einen Kaiser gibt", rief der dicke Mann und glänzte von Schweiß. "Der ist euer Kaiser jetzt. Auch wenn er dem alten nicht gleicht, ist er doch euer Kaiser." Dann trat er stampfend auf den Boden, weil die Lanzen den Takt vergessen hatten.
So trug der Boden die Nachricht vor und hinter dem ziehenden Wagen durch die ganze Stadt. Überall schlugen die Soldaten mit ihren Speerspitzen an die bleimüden Augen der Häuser und schrien Dinge in die tauben Gesichter der Menschen hinein.
Sie kamen zu den armen Hütten, die keine Augen hatten und sich eng zusammendrängten, als die Soldaten vor sie traten. Die Menschen, die hier wohnten, waren in schlürfend zusammengebettelten Tageskleidern gekommen, als hätten sie drinnen auf den Schlaf warten müssen, weil der sie immer als letzte bedachte.
Die Kinder zogen ihr am Kleid, weil die Soldaten mit den stumpfen Speeren nach ihnen gestoßen hatten. Sie riefen mit hohen Stimmen, die kein langes Leben hatte. Die Pferde kamen nicht von der Stelle, bis die Soldaten mit ihren spitzen Speeren auf die Dächer schlugen und Schimpfungen in die Münder stopften.
'Schließ die Augen für mich', hörte sie die Kaiserin sagen. 'Höre dich in das Weite der Nacht hinein. Trage Geräusch und Lärmen hinaus. Der Wind, höre, wie der Wind herbeikommt, der Dieb. Er gibt nicht Acht auf seinen Raub, hat sorgschnell verloren, was er dir aus den Händen stahl.'
Chapter 147. Die Reise
"Komm", hörte Li eine Stimme an ihrem Ohr. Als sie aufblickte, sah sie erschreckt in das Gesicht des Mannes, der ein Führer zu ihrem Vater sein wollte.
"Komm", sagte der Mann noch einmal, "ich bringe dich zum Haus deines Vaters."
Leise, fast zweifelnd fragte Li: "Ich habe doch gesagt, dass ich nicht mitkommen will ..."
"Verstehe doch", sagte der Mann. "Ich kann nicht länger warten, weil es gefährlich für mich ist."
"Ich muss zu LoBe, dem Hofdichter, und ihn fragen."
"Nimm deine Sachen. Es ist ein Tagesritt. Dort brauchst du nicht viel", sagte der Mann und hielt ihr einen Sack hin, damit sie ihre Sachen darin verstauen konnte.
Leise folgte der Mann ihr durch den Gang und betrat mit ihr LoBes Zimmer. Li schüttelte den Körper ihres Dichters, der schnaubend und röchelnd und stöhnend erwachte.
"Er ist wieder gekommen, der Mann", sagte sie leise und schüttelte ihn an der Schulter.
"Welcher Mann?" LoBe glotzte sie an.
"Der Führer mit den zwei Eseln. Ihr wisst, mit dem wir über meinen Vater gesprochen haben."
"Den meinst du, ach ja, den ... Grund mich zu wecken?"
"Er ist da und will fort, weil es gefährlich ist."
"Gefährlich ... will ich glauben."
"Soll ich mitgehen? Was ratet ihr?"
"Geh nur, Kind. Es ist recht ... dein Vater ... er ist dein Führer ... recht nur recht, dass ich schlafen kann."
"Ihr seid es schuld, wenn mir etwas passiert", sagte Li. "Nicht einmal die Augen habt ihr aufgemacht."
"Ich bin schuld, ja ... wenn ich nicht schlafen kann ... bin ich meinen Augen schuldig."
"Ich komme mit", sagte Li entschlossen und wandte sich um. Sie nahm dem Führer ihren Sack fort und ging ihm nach. Vor dem Tor warteten seine Esel.
"Ich bin froh", sagte der Mann. Ein Esel stupste ihn mit der Nase, aber das bemerkte er nicht. Es war etwas Trauriges in seinem Gesicht, als erkenne er in Li eine andere Person, an die er denken musste.
Sie bestiegen ihre Esel. Die Hufe machten munterkleine Klapperschritte. Das Geräusch erfüllte bald die ganze Stadt, kam ihnen entgegen, bog ab und fand seinen Weg wieder zurück. Es ließ sich in den blinden Enden der Gassen fangen, suchte seinen Weg vom Sims zu Sims und lief über die Dächer, um sie in der Höhe einzuholen.
Li hatte nicht das Gefühl, dass sie vorankamen. Auch ihr Führer sah sich suchend um, als wisse er den Weg aus der Stadt nicht. Er suchte wohl das Licht, welches die Sonne ihrem Aufstieg vorausschickte. Aber die Stadt schlief fest, eingewickelt in die eigenen Schatten.
Mit einem Mal war die Luft kalt und die Geräusche der Hufe verstummt. Eine fadenfeine Linie aus Licht zeichnete die Umrisse der Berge nach. Die Häuser waren zu grauen Schwaden niedergeschmolzen. Nur die Bäume standen am Wegrand und wuchsen, vergessen und geisterhaft.
"Ich muss mich entscheiden", sagte Li laut.
Keiner hörte ihr zu. Die Sprache der Menschen war in der Stadt zurückgeblieben. Dort lag sie achtlos, und Kinder spielten damit herum, bis sie davonliefen. Hunde schnupperten heran und setzten ihre Marken.
"Noch kann ich umkehren!", rief sie laut.
Nicht einmal ein Hall hielt sie einer Antwort für würdig. Langsam wickelte sich der Tag aus den Decken. Er konnte sich nicht entscheiden, ob es Zeit für ihn war, und schloss die Augen wieder, als das Gähnen ausblieb. Der Mann hatte sich nicht einmal umgewandt.
"Also kennen sie meinen Vater!", sagte Li.
"Hast du das vergessen, dass du es bist, die ihn nicht kennt?"
"Wie kommt es dann, dass mein Vater nicht mehr verbannt ist? Ich möchte das wissen, sonst reite ich zurück!", versprach sie entschlossen.
"Wärst du ihm wirklich in die Verbannung gefolgt?" Der Mann hatte sich wenigstens umgewandt. Aber die Esel schritten fort, verächtlich Li und ihrer Drohung.
"Keine Ausflüchte!", erinnerte ihn Li drohend an ihr Versprechen.
"Dein Vater schrieb eine Chronik über diesen, der jetzt Kaiser geworden ist."
"Weiß ich!", unterbrach ihn Li. "Das weiß ich alles schon!"
"Haben wir keine Zeit", sagte der Mann verwundert und zeigte auf die zusammenrückenden Berge.
"Ich habe KEINE Zeit", rief Li. "Ich muss mir überlegen, ob ich umkehre. Noch geht es ja!" Aber als sie sich umgeblickt, war die Stadt nicht mehr da.
"Es ist nicht lange her, da kam Fürst Alta, um sich diese Chronik zu holen. Als frühes Zeugnis von des Kaisers Recht hat das Geschriebene nun einen hohen Wert."
"- und mein Vater", unterbrach ihn Li, atemlos und stolz.
"Denk nur, wie überrascht er war, dass Fürst Alta die Chronik nahm und IHN vergaß!"
"Ritt er ihm nicht auf der Stelle nach?"
"Doch, auf diesen Eseln hier mischte er sich unter das Fürstengesinde und kam in Freiheit."
"Das soll ich glauben ...?", sagte Li zweiflerisch. Aber sie suchte nicht mehr die Stadt in ihrem Rücken.
Der Führer zuckte die Achsel. Er ritt nun neben ihr und sah herüber, wenn sie fortsah.
Auf dem Weg lasen tiefe Wolken die Reste der grauen Schwaden auf. Flügelschlaglos kreiste ein Vogel, als habe er am Himmel schlafend die Nacht verbracht.
"Was für ein Mensch ist er?", fragte Li forsch und schaute dem Ton ihrer Frage mit sanfter gestimmtem Blick nach.
"Ich - hörst du? - bin dein Vater, niemand sonst!", sagte der Mann und sah Li kopfschüttelnd in die verschreckten Augen.
"Ich - du - sie - nein ...", stammelte sie. "Nein, das stimmt nicht, und ich will zurück!"
"Stell mir eine Frage, Kind, wenn du dich überzeugen willst."
"Ich bin nicht ihr Kind! Mein Vater hätte es mir gleich gesagt, wenn er mir begegnet wäre."
"Vor den Wachen am Tor? Wie hätte ich da anders sprechen sollen?"
Li zerrte an ihrem Esel.
"Und heute morgen!?"
"Hast du nicht gehört, was LoBe gesagt hat? 'Dein Führer ist dein Vater', sagte er. Er hat mich gleich erkannt. Ich dachte, du hättest zugehört, was er sagte."
"Was er gesagt hat, war im Schlaf, und ich habe es NICHT gehört!", entgegnete Li voller Unwillen. Was war, wenn der Mann doch ihr Vater war? Nein, er war es nicht! Es gab kein Gefühl, dass sie so hätte betrügen können!
"Sehr weit ist es nicht mehr", sagte der Mann begütigend, und Li wusste nicht, ob er es zu ihr oder zu ihrem Esel gesagt hatte.
Schweigend und ohne sich umzusehen und vermutlich ohne zu lächeln ritt er vor ihr her. Und wenn er nun doch ...? Nein, Li spürte sicher, dass dieser Mann nichts mit ihr gemein hatte! Sie konnte nur hoffen, dass die Sache gut ausgehen würde.
Chapter 148. Gold-Hanga
Baldeina war blendender Stimmung. Zu Hofe war heute sein Vater eingetroffen, geladen als der mächtigste der Fürsten zur feierlichen Einführung des jungen Kaisers.
Mit einem Mal war Baldeina wieder guten Mutes in den Dingen des Heiratens. Er schämte sich nicht, dass der Vater ihm anwesend Mut gemacht hatte. Er dachte nicht daran, sich dafür zu schämen! Der Vater hatte Baldeina angesehen, Baldeina seinen Vater, und der Stolz aufeinander war beiderseits derselbe gewesen.
Ein wunderbares Kostüm hatte der Vater für ihn dabei. Ein wenig schlanker war Baldeina geworden, das stellten sie beide fest. Mit dem Appetit, das werde wieder, hatte der Vater gesagt, und so tönend gelacht, dass Baldeina allein schon vom Klang seines vollen Lachens satt geworden war.
Das Kostüm werde sich ändern lassen, es brauche 'korrektierend' nicht viel, sagte der Vater, weil es ja wieder werde mit seines Sohnes 'Prominenz'.
Der Vater legte immer die falschen Worte aus, aber es gab niemanden, der ihn in seiner Rede nicht verstanden hätte. Wenn der Vater die Freiheit in Gebrauch nahm, dann brauchte es keinen Mut, ihm zu folgen. Es war wunderbar, einen solchen Vater zu haben!
Der Zweck seiner Reise seien eigentlich mehrere, sagte der Vater. So könne er gerade lange genug bleiben, dem jungen Kaiser bei seiner Krönung beizuwohnen und nach seinem Sohnes zu sehen, den er mit Stolz betrachte und in dessen Glücksgeschäft er von einer geradezu kausalen Neugier sei. Darauf war Baldeina hauchrot geworden, weil er dachte, dass der Vater in seiner Annahme vielleicht das Falsche sich vorgedacht hatte.
Wie es denn mit der 'Inkarnation' der Prinzessin stehe, fragte der Vater mit gefasstem Blick. Darob wurde Baldeina grundrot und wusste zu diesem Mal nicht, was der Vater mit seinem falschen Wort in richtiger Weise meinte. Doch der Vater lachte und drohte mit dem Finger. Ein Schelm sei der Baldeina, sein Sohn, und sei im Verstehen weiter als der Vater in seinem Sagen.
Baldeinas Blick wich den Vateraugen aus, fand an der Grenze zwischen Ferne und Weite Woi vor, den er herbeirief, um ihn vor den Vater zu stellen.
Er, Woi, solle nur gleich herbeikommen, rief Baldeina und stellte ihn als einen Freund vor.
Dies sei sein Vater, sagte er zu Woi und sah zu, wie sich die beiden die Hände schüttelten. Der Vater schüttelte allen Menschen, denen er begegnete, sehr lange die Hände. Während der Vater schüttelte, sah Woi mal seinen Freund an, mal an seinem anderen Arm herunter, der ungeschüttelt von der Schulter herunterhing.
Es sei eine 'Honorigkeit', sagte der Vater und wenn er sagen dürfe, eine 'Blessur'. Dabei betrachtete er Wois Kleidungsversuch mitleidig. Ebenso wie seine Hände waren die Augen des jungen Mannes von einer losen, ja baumelnden Art. Wie anders sein Sohn, der alle Kraft in einen entschlossen freundlichen Blick und und einen kräftigen Handshake legte!
Baldeina übernahm Wois Hand von seinem Vater und führte sie über den Stoff seines neuen Kostüms.
Ja, hatte Woi gesagt, schön, sehr schön das.
Er sei schlanker geworden, sagte Baldeina stolz, da müsse es geändert werden.
Der Vater drehte das Kostüm, damit es Woi auch von hinten sehen konnte.
Ja, sagte Woi, sehr schön das. Steckte aber die Hand in die Hosentasche und gab sie zum Fühlen nicht wieder her.
Ob Woi eine 'Identität' habe, fragte der Vater.
Nein, sagte Woi, eigentlich nicht.
Den Sohn vom Fürsten Alta habe sein Vater vor sich, trompete Baldeina und tippte an den blauen Himmel mit seinen weichen Tupfefingern.
'Ah ja ...', sagte der Vater, und 'So ja ...' Dann war er still, als müsse er mehrere Dinge, auf einer schwierigen Seite stehend, bedenken.
Sein Sohn riss derweil Fetzen vom Himmel herunter und schnupperte daran.
Den Vater von Woi kenne er, sagte der Vater von Baldeina. Mehr war ihm nicht zu entlocken. Er überlegte inständig, was er sagen dürfe, ohne den jungen Mann zu verletzen. Es war aber sehr wenig, was er zusammenbrachte, und reichte nicht, ohne schonungslos zu sein, für eine 'Konservation'.
Woi habe zum selben Zwecke die Reise an den fernen Hof des Kaisers angetreten, rief Baldeina.
Auch die Prinzessin, fragte der Vater.
Die andere, rief Baldeina, die andere sei es, und wollte nicht bemerken, dass er sich die Stille des Hofes zum Feind gemacht hatte. So wäre es nie zum Streit zwischen ihnen gekommen. Denn schließlich, sei eine Prinzessin jedem der Freunde genug und genug. So gutgelaunt, ja geradezu übermütig, zeigte sich Baldeina, der glücklose Glückliche, vor des Vaters nachfassenden Augen in dieser Sache.
Ob es mit Wois 'Kasus' ebenso gedeihlich bestellt sei wie bei seinem Sohne, fragte der Vater.
Wenn der Vater Fürst das meine, was er, Woi, denke, dann wolle er nicht darüber sprechen.
Was er denn denke, was er meine, so spötterisch der Vater.
Doch Woi bekannte sich zu keinem Ding. Er schloss sich die Lippen und streckte das Kinn dem Vater entgegenwehrend aus.
Vorsichtig fragte der Vater, ob er verstehen dürfe, dass keinem der beiden die Hand von irgendeiner der Prinzessinnen versprochen sei.
Nun sagte Baldeina nichts mehr, und Woi schwieg fortgesetzt.
Wie es denn mit der 'Gradualität' der Prinzessinnen stehe, fragte behutsam der Vater weiter.
Die Prinzessin Nadim zeige sich am Orte, antwortete Baldeina, dafür aber sei sie, wenn er für Woi sprechen dürfe, ein wenig unnahbar, ja 'diffizil'.
Die Prinzessin Dessa, gab Woi zurück, zeige sich nicht. Ihr Mund sei ebenso verschlossen geblieben wie ihre Tür. Weil sie 'disponierlich' sei, glaube sein Freund Baldeina daraus, auf ihre 'Affirmation' schließen zu können.
Nein, stritt Baldeina, nicht auf ihre 'Affirmation' wage er zu schließen, sicherlich aber sei ihre 'Affektation' größer, wenn er etwas davon verstehe.
Ob den wenigstens eine Vorversprechung erfolgt sei, fragte der Vater vorsichtig.
Doch - Baldeina zeigte sich gelöst und verdienstsicher - da gebe es zahlreiche und inständige, wenn er für seine Seite sprechen dürfe.
Woi schwieg fortgesetzt in den mitleidigen Blick des Vaters hinein, während Baldeina überlegte, ob er etwas vergessen hatte, was in dieser Sache für Woi hätte sprechen können.
Die eine, so Baldeina erklärend, werde nur glücklich, wenn es auch die andere sei. So hätten es die Prinzessinnen sich versprochen. Und der Vater müsse glauben, dass es ihnen ernst damit sei. Nicht EINMAL habe das Glück sie in Gegenwart der Fürstensöhne ZUSAMMEN angetroffen.
Er habe dem Sohne etwas mitgebracht, sagte der Vater und rieb den Schweiß aus seinem Kragen. Mit der Fertigstellung hätten die Handwerker nicht auf den Anlass warten können. Es sei eben gewissermaßen vor der Zeit eingetroffen und sei nun da und könne nicht anders, als unübersehbar zu sein.
Baldeinas Augen weitete sich. Nichts füllte seinen Kopf, nicht der Freund, nicht einmal Dessa, nichts als eine dem Glück entgegensehende Erwartung.
Es sei ein Hochzeitsgeschenk, sagte der Vater, und nichts könne besser entschuldigen, dass es eines sei und in gleicher Weise auch keines, als ein Blick darauf.
Den wolle er wagen, rief Baldeina.
Ob Vatersohn ihn weiter brauche, fragte Woi.
Das Schicksal habe ihn mit dem Glück seines Sohnes verschränkt, rief der Vater. Was das Schicksal verlange, solle man ihm geben, und sei es so schwer, wie es sei.
Ob es zu sehen sei, fragte Baldeina.
Das Schicksal könne man nicht sehen, erwiderte ihm im Scherze der Vater. Es mache sich unsichtbar, ebensowohl wie die Prinzessin seines Sohne.
Das Hochzeitsgeschenk meine er, so leise der bespottete Sohn.
Wenn das ein Fenster sei, das zum Hafen blicke, dann könne man es sehen, sagte Vater.
Nicht dieses, aber jenes blicke zum Fenster, sagte Baldeina.
Baldeinas Vater tat, als vernehme er keine Worte. War ein Menschenstimmen nicht hörender Vogel. Hob die Arme und drehte er im gedachten Flug eine Runde. Landete als ein Schwan auf dem Wasser. Schlug seine weißen Flügel auf, legte das Gefieder an, hob den Kopf zum Notenschlüssel und glitt majestätisch klingend aus.
JENES Fenster blicke auf den Hafen, insistierte Baldeina.
Da lud Baldeinas Schwanenvater, als schaufele er ihre Blicke auf, zur Besichtigung.
Die Sonne hatte sich am Tage sattgesehen, saß auf der Senke des Berges und kehrte das filzige Licht durch die Straßen zum Marktplatz, wo eine große Lache entstanden war, die in ädrigen Bächen austrat und zufällige Gässchen benutzend zum Fluss hin ablief.
"Dort ist der Hafen", rief Baldeina. "Dort!"
Baldeinas Vater trat hinter seinen Sohn, führte dessen Hand durch die Reihe der Kähne und verblieb bei dem schönsten von ihnen allen: einem Schiff mit blauen Segeln, der weiße Bug, schmal wie der Schnitt der Wellen, die runden Augen der Kabinen goldumrandet, einem schwimmenden Herrensitz gleichend, der seinesgleichen vergeblich gesucht hätte.
Wie sehr erkannte Baldeina den Vater darin wieder! Seine Wendigkeit, welche die Wellen des Lebens vor sich teilte, seine Machtfülle, die auf ein Zeichen den Wind herbeirufen würde, seine Majestät, welche die Dinge um ihn herum ärmlich und klein erscheinen ließ. Wie sehr vertraute der Vater ihm, wie glänzten die Fensteraugen in Freude und Stolz!
"Ich habe meine Liebe im Herzen", rief Baldeina, "und nun ein solches hochzeitliches Geschenk. Was sollte mir zu meinem Glück da noch fehlen!?"
Darauf umarmte er seinen Vater solange, dass Woi Zeit hatte, sich zu entfernen.
"Mein Sohn", fragte der Vater mitleidig, "ist es wirklich DIESER, mit dem die Prinzessinnen dein Lebensglück verschränkt haben?"
Baldeinas Augenlider zählten für beide, das windgestraffte Glück des Hafenblicks und das wirtlose Weh des Schicksals, die gleichgerechte Zahl der Tränen ab.
Chapter 149. Die Krönung
"Die Prinzessin bittet zu sich, wenn es genehm ist", sagte die Dienerin.
"Es ist genehm", rief Baldeina so laut, dass ihn wohl beide Prinzessinnen in ihrem Gemach hören konnten. "Ganz und überaus genehm, nicht wahr, Woi!?"
Woi sagte nichts. Baldeina verstellte ihm mit der Wehrreihe seiner Zähne den Weg und wartete auf einen ebenso Genehmlichkeit versichernden Ausruf aus Wois Mund. Als er einsah, dass es vergeblich war, folgte er, ohne sich weiter nach Woi umzublicken, der Dienerin.
Die Prinzessin stand in ihrem Zimmer, umgeben von anderen Dienerinnen, die beschäftigt waren, das Licht günstigst ihrer Erscheinung anzupassen. Hier ein Farbwischer am Kleid, dort eine ausgestrichene Taille und erneut ein Strich und Wedel am Haar, den herabgefallenden Glanz wieder hinaufwerfend.
"Wie gefällt sie euch?", fragte die Dienerin leise, die ihrer Herrin das Sprechen abnahm.
"Wie wunderbar das Heimliche ist", rief Baldeina laut genug, dass Dessa seine Worte für sich verwenden konnte, "eine Weide für die Sehnsucht, als dürfe sie nie weitergehn und - wenn ich mir erlaube zu sagen - eine ungesehene Schönheit, die mich - nur für mich kann ich sprechen - in eine andere Welt entzückt, wo der Tumbe keinen Zugang hat und der Übereifrige ungehört am Tore sich festklopft. Eine Schönheit des Inneren, das keiner Blicke bedarf."
Woi sagte nichts, auch wenn Nadim ihn ansah. Bei solchen Gelegenheiten war Baldeina nicht zu schlagen. Es war eine Schlacht, in der die Kämpfenden sich mit Süßspeise bewarfen und Sirup von den Mauern schütteten und auf Pferden über das ausgekratzte Kuchenblech ritten. Es war ebenso widerwärtig wie eine Niederlage gewiss war.
"Wollt ihr von dem anderen noch hören, Prinzessin?", fragte die Dienerin.
Die Prinzessin Nadim schüttelte vorsichtig den Kopf. Licht fiel auf ihre Schulter, und ein Herzschlag bekam seinen Platz in der Reihe der anderen nicht zurück.
"Bitte begleiten sie die Prinzessin zur Krönung des Kaisers", sagte die Dienerin.
Baldeina ging dicht neben Nadim und besprengte den Boden vor ihr mit Dessa zugedachten Blicken der Huld. Nadim suchte Schritt für Schritt den Weg durch die Pfützen, und Woi schaffte es, noch langsamer als sie zu gehen.
Er ließ sich zurückfallen, soweit es ihm die Dienerin gestattete. Diese trat ihm fast in die Fersen, so nah war sie ihm und so zürnte sie mit ihm an Stelle ihre Herrin, der solches nicht gestattet war. Nichts verstand dieser Bursche von den Dingen des Herzens! Für IHN hatte die Prinzessin das alles erduldet! Wenigstens einen Blick wäre es wert gewesen. Aber er starrte nur kalt und wurde mürrischer als mürrisch. Was hatte ihm ihre Prinzessin denn getan, dass er wie ein Gefangener hinter ihr hertrottete, die Ketten so schleifend über den Boden zog, damit jeder nur ja auf ihn sehe und auf sein Schicksal und nicht auf die Schönheit und das Verlangen, die seine Wärter waren.
Langsam paradierten sie zum Kaiserzimmer. Baldeina führte Nadim in seinem Schritt. Vom Licht nahmen sie sich zu gleichen Teilen. Baldeina ein wenig mehr, aber das war keine Absicht. Vor Woi ging der sich vereinigende Schatten der beiden und in seinen Fersen die Dienerin, die unablässig ihre Herrin vertretend, neue Vorwürfe und Klagen auf den heißen Schmiederost legte.
Im Kaiserzimmer hatte sich alle versammelt und warteten schweigend, dass sich der Wille des neuen Kaisers in seinem Erscheinen äußere.
Die Reihe der Fürsten stand hinter einer Reihe von Soldaten des Hofes. Von ihnen war nichts zu erkennen als ihr hohen zylindrigen Hüte, von denen jeder eine andere Farbe besaß, je nach Tradition des Fürstenhauses. Die Soldaten in ihren Helmen standen steif und gleich, wie die Zinnen einer Mauer, hinter welcher die Fürstenhüte schwankten und wackelten, weil sich die Fürsten leise untereinander austauschten.
Im Halbschatten des Thrones standen die Ranghöchsten des Hofes, dahinter im völligen Schatten die bevorzugten Diener.
An die linke Seite des Thrones wurde von zwei Dienern das Bild der Kaiserin gestellt, welches sie in ihrer natürlichen Größe darstellte und mit den Füßen den Boden berühren ließ. Die Fürsten, welche das Bild es zum ersten Mal sahen, wussten nicht, was sie mehr bewundern sollten, die gefasste Lebendigkeit oder ihre wesenlose Schönheit, die im wechselseitigen Betrachten voneinander abtraten.
Etwas zurück, aber näher als jeder andere, stand die Dienerin, auf die alle Blicke gerichtet waren, weil jeder in ihr die frühere Kaiserin erkannte und für sich ihren Geisteszustand erforschen wollte. Doch schien sie davon nichts zu bemerken, stand unscheinbar und ins Bescheidene gekehrt neben ihrer Herrin.
Die Prinzessin Nadim und ihre beiden Begleiter nahmen auf der anderen Seite des Thrones ihren Platz ein. Als alle zu ihr hinblickten, tat die Prinzessin so, als flüstere sie ein leises Wort in Wois Ohr.
'Ah', dachten sich alle, 'unsere Prinzessin hat ihre Wahl getroffen.'
Baldeina versuchte, die vielen Blicken, die auf ihn gerichtet waren, zu entziffern. Woi aber machte weiter ein unbewegtes Gesicht und war nicht gewahr, dass Nadim ihm vor allen Augen den Vorzug gegeben hatte.
Asari trat als letzter und völlig allein in der Raum. Nun sahen alle auf ihn, ja, sogar die gemalte Kaiserin schien ihren Blick zugewandt zu haben.
Er sah den leeren Sitz auf dem hohen, schwarzen Stuhl, deren Lehne als Drachenfigur gestaltet war. Dann sah er sich um, ob er nicht hätte woanders Platz nehmen können. Als er keinen sah, nicht einmal einen zum Stehen, so fest waren die Reihen gegen ihn geschlossen, fügte er sich, legte Woi kurz im Vorbeigehen die Hand auf die Schulter und nahm Platz.
Weil alle schwiegen, schwieg auch er. Lange schwieg Asari. Ohne jede Anstrengung. Ohne jede Ablenkung. Tief und gleichtönend. Doch seine Ruhe steigerte die Spannung auf den Gesichtern der Beistehenden, hielten sie doch sein Schweigen für eine List und blieben gewappnet. Schließlich zuckte er gleichgültig die Achsel und wandte sich halb zur Seite: "Mach du das, was sie wollen, Fürstensohn."
Woi sah sich unsicher um, bis sein Blick sich in Baldeinas Blick verfing. Doch dieser dachte nicht daran, gegen das Wort des Kaisers an Wois Stelle zu treten.
"Sie wollen euch ihren Gehorsam anbieten, die Fürsten", sagte Woi leise.
"- ihre Geschenke", flüsterte Baldeina.
"- und haben Geschenke für euch", ergänzte Woi.
"Sollen sie", flüsterte Asari ebenso leise zurück.
"Bitte", sagte Woi matt, "treten sie vor."
So traten die Fürsten der Reihe nach vor, kündigten wortreich ungeborene Pferde als Geschenk an, Teppiche, deren Entwurf sie priesen, Geschmeide, das in Arbeit war, Schwerter, die auf dem Feuer lagen, sich in der Niederschrift befindliche Schwüre, unbesehen und treu, auf das Leben des Kaisers.
Einzig Baldeinas Vater, der den Namen 'Gold-Hanga' trug, führte einen Ring bei sich, den er auf einer weißen, stoffbezogenen Platte vor sich hertrug und dergestalt langsam nach vorne schritt, dass alle Zeit hatten, ihn zu betrachten. Den bot er Asari an, forderte geradezu, dass dieser sich zur Entgegennahme erhob und händigte ihn schließlich Woi aus, als er seine Erwartung enttäuscht sah.
Als er mit seinem leeren Bezug an seinen Platz zurückkehrte, hatten sich der Neid der Zublickenden in Häme verwandelt und begoss ihn überaus großzügig.
Als der letzte der Fürsten mit herunterhängendem Kopf und schlürfend zittrig und immer wieder die Richtung verlassend, vortrat, erkannte Woi den alten Mann zu spät. Und als er ihn erkannte - was hätte er sagen sollen, als die Vateraugen die Fürstenbrauen beiseite schoben und ein Lächeln dem Sohn entgegentrat?
"Was ist das Geschenk dieses Fürsten?", fragte Asari von hinten.
"Das ist mein Vater", sagte Woi leise.
"Ich habe ein Buch hier ...", sagte der Vater, nahm sich stützend den Arm von Woi und stand im Altersbeben vor Asari.
"Ein Buch?", fragte Asari freundlich.
"Es ist eine Chronik von eurem frühen Leben, ein Buch bringe ich euch, das ist alles", sagte der alte Mann und sah an sich herunter.
"Ich habe mein Leben in einem Kerker UND in einem Buch gelebt?", rief Asari überrascht.
Von Zittern und Gelächter begleitet, überreichte der alte Mann das abgegriffenen Buch, das Asari behutsam, als sei es ein Nebel, entgegennahm.
Da wandete sich Asari der gemalten Kaiserin zu und sprach sie an: "Hörst du, Kaiserin? Das ist ein Geschenk, wie ich es liebe!"
Unter den Fürsten erhob sich einzelnes Gelächter. Doch es verstummte, ohne sicher seine Richtung preisgegeben zu haben.
Asari sprach wirklich und voller Ernst die Kaiserin an: "Ein Teppich, was ist das? Eine goldene Kette, ein Pferd, ein Schwert, ein überaus hässlicher Ring? Was bedeuten sie mir? Aber dieses Nichts, das er mir bringt, ist ein Geschenk, das SICH schenkt, und nicht seinen Bringer!"
So sprach er, erhob sich von seinem Thron und ging allen voraus, an der Seite der Kaiserin, die man zum Gespräch neben ihm hertrug, gefolgt von Nadim und Baldeina, den Fürsten und allen anderen.
Zurück blieb nur Woi und sein Vater, weil diesem die Füße zum Gehen nicht gehorchen wollten. Ordnete man die verbliebenen zwei Soldaten den steifen Fackelhaltern zu, dann waren die beiden allein in dem großen Saal.
Der Vater bewegte den Mund, aber er sagte nichts. Es war eine Schwäche der Muskeln, welche die Lippen nicht zusammenhielt, kein Sprechen. Er versuchte den Arm seines Sohnes loszulassen, aber es ging nicht. Sein Zittern konnte nicht auf eigenen Füssen stehen.
Die Haut über seinem Gesicht war durchsichtig geworden wie die von einem neugeborenen Kind. Struppig wie ein Winterbusch waren die weißen Haare über die Augen und aus den Ohren gewachsen. Die langen Haarsträhnen gingen unterschiedliche Wege.
"Zu Hause ...", sagte der Vater. "Ich bin alt geworden. Bald wirst du allein sein. Manchmal kommt der Tod und schaut nach mir. Ich sage ihm, wenn der Junge kommt, dann ist es Zeit. Er hat es nicht eilig, sagt er."
Langsam ging der Blick des Vaters durch den Raum. Machte bei einer schweren Vase, deren Schrift verwittert war, einen Halt. Betrachteten nachdenklich den hölzernen Schrecken des Drachenkopfes über ihm.
"Die Leute fragen nach dir", sagte er weiter. "Ich sage ihnen, bald, sicherlich bald wird er kommen."
Woi schaute zu den schweren Vorhängen, welche die Fenster verdeckten. Abwesend spielte er mit der Hand des Vaters, als wäre es eine vertrocknete Wurzel, die herumlag.
Der Vater entschied sich, den Sohn zu fragen: "Wolltest du nicht eine Prinzessin heiraten? Bist doch deswegen hier, nicht wahr?"
Woi musste in die aufmerksame Vateraugen sehen.
"Mag sie dich nicht? Mag sie einen anderen mehr?", fragte der Vater.
"Ich weiß es nicht", gestand Woi und war ehrlich.
"Aber du bist doch schon lange hier, nicht wahr? Da musst du doch wissen, ob sie dich oder einen anderen mag?" Die Hand des Vaters lag über die glänzende Sitzfläche des Thrones. Nun war sie eine im letzten Licht schlafende Eidechse, keine Wurzel.
"Mir haben sie immer gleich gesagt, dass sie mich nicht mögen", fuhr der Vater fort, indem er schelmisch blinzelte, "aber eine Prinzessin war nicht dabei."
"Ja", sagte Woi unglücklich, "sie ist eine richtige Prinzessin ..."
Wenn er an sein Unglück dachte, fühlte er sich mindestens so alt wie sein Vater. Irgendwo in seinem Inneren hatte das Zittern schon begonnen und würde sich langsam nach außen zittern.
"Du bist noch jung", sagte der Vater.
"Ich weiß", sagte Woi und seufzte tief.
Chapter 150. Die Ankunft im Dorf
Die Sonne war um den Berg herumgewandert und in seinem Rücken hinaufgeklettert. Als Li das kleine Dorf sah, fiel die Spannung von ihr ab.
Der Mann zeigte auf die weißen Häuser, die still lagen, als seien sie verlassen.Li konnte nur hoffen, dass der Mann sie nicht in böser Absicht hierher geführt hatte. Ein Hund bellte, dann ein zweiter, da war sie beruhigt.
Sie kamen auf einen Platz, wo zwei hohe Bäume hinter einem kleinen Brunnen standen. Hier räkelte und streckte sich ein Hund und war mit dem Mann und den Eseln wohl vertraut. Es war noch alles feucht von der Nacht. Als der Hund sich schüttelte, flogen von seinem Fell die Tropfen auf.
Die Häuser lagen ein gutes Stück weiter weg, als wollten sie einen Abstand zu dem Brunnen und seinem Hund halten. Der Esel des Mannes machte 'Gnaah' und trottete los, während Lis Esel beim Brunnen stehenblieb. Der Mann ritt weiter und hatte nicht bemerkt, dass er alleine ritt.
"Hallo", rief Li ihm hinterher, "der Esel - er steht!"
Der Mann richtete seinen Blick auf den Esel, der langsam und schuldbewusst seinen Kopf immer tiefer senkte. Dem Esel war im Ungehorsam ersichtlich nicht wohl. Schließlich trottete er weiter.
Das kleine Dorf hatte sich genügen lassen, drei und vier Häuser zu den Seiten des Weges aufzustellen. Ein Kamin stieß hustend den ersten Ruß des Tages aus. Eine Hand, die einer alten Frau gehörte, öffnete ein Fenster und schloss es schnell wieder, als sei sie erschreckt. Sonst schliefen die Menschen.
Der Mann ritt bis zum Ende des Dorfes und dann weiter. Auch Lis Esel trottete weiter, obwohl sie an seinem Zügel zog.
"Hallo!", rief Li wieder. "Reiten wir denn weiter?"
"Noch ein Stück", sagte der Mann, ohne sich umzudrehen. "Das Haus steht abseits."
Li beschloss, nur noch so weit zu reiten, dass man sie im Dorf hören konnte, wenn sie laut um Hilfe rufen musste. Vorsichtig lockerte sie den Halt in ihrem Bügel und überlegte, auf welcher Seite sie vom Esel herunterkommen sollte, ohne dass er ihr auf die Füße trat. Vielleicht war es das Beste und Sicherste, sich langsam Stück für Stück nach hinten zu schieben und sich dann von seiner Rückseite herunterzurutschen zu lassen. Das behagte ihr nicht, aber ihr fiel nichts Besseres ein.
"Dort ist es", sagte der Mann. "Es steht allein, weil dort ein Teich ist."
"Ich mag Teiche", sagte Li und hatte es nicht sagen wollen.
"Dann magst du mein Haus", sagte der Mann.
Zuerst sah sie das Haus nicht, weil ein Baum davor stand, wie ihn Li noch niemals gesehen hatte. Er sah wie ein Mensch aus, der seine Haare nach vorne gekämmt hatte und sie sich nun, so lang wie sie waren, über das Gesicht ins Wasser hängen ließ. Der halbe Kopf und der Rücken waren kahl und wiesen borstige Narben auf.
Das Haus lugte durch die Zweige nach dem fremden Mädchen, das der Mann von seiner Reise mitgebracht hatte. Dann sah es wieder in das glatte Wasser des Teiches, wo sein Spiegelbild war.
"Bitte tritt ein", sagte der Mann.
Doch Li blieb auf ihrem Esel sitzen, der sich nicht daran störte, sondern das Bündel Stroh auseinanderschüttelte, das der Mann ihm hingeworfen hatte. Zumindest der Esel des Mannes fand merkwürdig, dass Li nicht absaß. Er sah zu ihr hin, was sie tun würde, während seine Lippen am Stroh herumtasteten.
"Du wolltest mir eine Frage stellen", sagte der Mann.
"Ich weiß keine", antwortete ihm Li.
Vor dem Haus war ein kleiner Platz. Ein Bottich, eine Presse und ein paar Stangen hatten ihre Arbeit unterbrochen und sahen sich den Neuankömmling an. Die Spitze eine Bootes zeigte sich zwischen dem Schilf und zog sich gleich wieder zurück.
"Wir sind Papierschöpfer", sagte der Mann.
"Ich glaube, dass sie meinen Vater nur KENNEN", sagte Li. "Aber sie SIND nicht mein Vater, da lasse ich mich nicht täuschen."
"Das ist schwierig", sagte der Mann.
"Für MICH ist es schwierig", berichtigte Li ihn empört.
"Dort ist mein Lehrjunge. Ihm wirst du vielleicht glauben", sagte der Führer.
"Ich glaube nur, was ich sehe." Li sah einen jungen Mann in ihrem Alter, der vom Dorf herkam. Er winkte, und sie winkte zurück. Als sie merkte, dass er dem Mann hinter ihr zugewunken hatte, fühlte sie, wie ihre Wangen rot wurden.
Der junge Mann kam näher, aber er sah zum Teich und zum Baum. Der Esel des Mannes war der einzige, der fortwährend zu ihr hinsah. Als der junge Mann nah genug bei ihr war, sah Li, dass er helle Augen hatte und dem Mann nicht ähnlich war.
"Das ist Li", sagte der Mann zu ihm.
"Das ist Daid", sagte er dann zu ihr.
Der junge Mann sah zu ihr hoch, und sie sah zu ihm herunter. Seine Augen waren nicht so hell, wie sie gedacht hatte, und er wurde rot, als Li ihn fest ansah.
"Sie glaubt nicht, dass sie meine Tochter ist", sagte der Mann.
"Aber sie ist doch die Li?", fragte Daid besorgt. Wenn er seine Stirn hochzog, dann machte seine Besorgnis tiefe Falten und große Augen.
"Natürlich bin ich die Li!", sagte sie zornig. Dann fügte sie etwas freundlicher hinzu: "Ich glaube nur nicht, dass er mein Vater ist, weil ich ihn nicht kenne."
Daid sah Li an, als präge er sich ihr Aussehen genau ein.
Ein Streifen der Sonne lag ihm quer über dem Gesicht. Er blinzelte hinein und hindurch.
"Du bist jung", sagte der Mann, "vielleicht verstehst du sie ja."
"Doch, ich verstehe sie", sagte Daid.
"Dann verstehst du sicher auch, warum sie auf dem Esel sitzen bleibt?", meinte ein wenig grimmig der Mann.
Daid machte einen Schritt und reichte Li die Hand.
"Bitte", sagte er.
"Danke", sagte Li und nahm seine Hand als Hilfe, um von diesem Esel herunterzukommen. Als sie stand, war Li froh, dass die Reiterei vorbei war.
"Er ist wirklich dein Vater, Li", sagte Daid. Aber weil sie ihn unglücklich ansah, fügte er rasch hinzu: "Dein Vater hat mir viel von dir erzählt."
"Was weißt du GENAU?", fragte Lis Mund, und ihre Augen wogen das Herz des jungen Mannes, bis es leicht war und schwer zugleich.
"Von braunen Augen sprach er, die wie ein Kitz durch seine Geschichten gehuscht sind. So sprach er immer."
"Und was siehst du?", verlangte Li triumphierend zu wissen.
"Schwarz sind sie und huschen nicht", sagte Daid leise.
"Er ist nicht mein Vater", sagte Li fest. "Ich weiß es. Er ist ein fremder Mann und hat sich alles ausgedacht." In ihre Augen traten schwimmend die Tränen.
"Was willst du denn machen?", fragte der Mann besorgt.
"Fort von hier", gab Li leise dem Daid zur Antwort.
"Tu, was sie verlangt", sagte der Mann zu seinem Lehrjungen. "Weißt du einen Ort, wohin du sie bringen kannst?"
"Ich könnte Li zum Haus meiner Mutter bringen", sagte Daid, ohne überlegt zu haben, "Es ist nicht weit und ist im Dorf bei den anderen. Wenn sie es will, kann ich sie dorthin bringen."
Li nickte freudig, und schnell hatte das Sonnenlicht ihr wieder die Augen gefüllt.
Chapter 151. Fürst Alta
Ob sie die Prinzessin sei, fragte der alte Mann und sah von seiner Bank freundlich zu Nadim hoch.
Sie sei eine der Prinzessinnen eben, sagte Nadim.
Sei sie die, von der ihm sein Sohn erzählt habe.
Ja, diese Prinzessin sei sie wohl.
Woi habe keine Mutter gehabt, sagte der alte Mann. Er sei bei einem Soldaten aufgewachsen.
Das merke man gelegentlich.
Am liebsten hätte er DEN zum Vater gehabt.
Das Traurige des alten Mannes legte sich Nadim auf die Schultern. Es war dünn, was zwischen seinen Stimmungen stand. Bald würde nichts Trennendes mehr da sein.
Doch nun finde er Woi sehr verwandelt vor, sagte der alte Mann.
Das sei wohl das Alter, sagte sie.
Ja, das Alter.
Oder die Fremde sei es.
Ja, die Fremde.
Die Liebe vielleicht, rätselte er.
Nein, das wisse sie nicht, erschreckte sich die Prinzessin. Das sei es eben, dass man es nicht wissen könne.
Weil Nadim den Kaiserhof in ihrem Rücken hatte, blickte sie auf den Fluss, der heute so klar war, dass Wolken in ihm schwammen. Ein kleines Schiff hatte sich auf einer der Wolken niedergelassen und ließ sich ohne Segel auf ihr dahintreiben. Eigentlich war es ein schöner Platz für eine Bank.
An seinem Hof gebe es auch schöne Plätze, sagte der alte Mann und bot Nadim einen Platz an seiner Seite.
Und nun wolle Woi dorthin zurückkehren, sagte Nadim und legte ihren Blick vorsichtig auf eine der Wolken.
Habe er das gesagt, fragte der alte Mann.
Ja, wenig habe Woi gesagt, aber von dem wenigen habe er am meisten darüber gesprochen.
Er, der Fürst, kenne sich nicht aus in den Dingen der Zuneigung.
Ob er nicht von Wois Mutter erzählen wolle, fragte die Prinzessin
Wois Mutter sei eine schöne Frau gewesen, aber andere hätten sie für ihn, den Fürsten, ausgesucht, und sie sei gleich darauf gestorben.
Bei ihr gebe es keinen mehr, der für sie aussuche. Der Vater und die Mutter seien tot. Der Kaiserin sei verrückt, und der neue Kaiser habe andere Gedanken.
So könne sie ihrem Herzen folgen.
Ja, das stehe ihr frei, sagte Nadim ohne Mut.
Für einen alten Mann sei es leicht, seinem Herzen zu folgen. Er kenne es lang genug, und sie machten es einander nicht mehr schwer.
Sie habe - als es verboten war - Woi versprochen, ihn zu heiraten.
Was sei daran schlimm, wenn das Herz nicht lüge, fragte der alte Mann.
Nun wolle ihr Woi - mit den Augen nur - das Versprechen zurückgeben.
Wie er es sehe - als alter Mann - gehöre ihr das Geben nicht anders als das Nehmen. Zum Gesagten nickte er Gewissheit bestärkend den Kopf.
Sie denke manchmal, so die Prinzessin, ihr Herz habe eine Zeit und die Schritte der Menschen eine andere.
Das habe sie wahr und schön gesagt.
Aber traurig gemeint.
Später einmal, wenn sie zurücksehe, dann würden das Traurige und das Heitere ohne Unterschied im Schönen aufgehen.
Was er denke, ob sich die Wege irgendwo kreuzten. In der Ferne, meine sie, ob sie sich in der Ferne kreuzten.
Er habe nie etwas gekannt, was wirklich fern gewesen sei.
Und wenn der Weg des einen das Nebeneinander verlasse, um dem Weg des Vaters zu folgen.
Der Vater gehe in den Tod, da folge ihm kein Junger nach.
Am Rande des Lebens stehe ein leerer Stuhl, auf dem Woi sitzen wolle, um seinem Vater nachzusehen. So habe er es ihr, der Prinzessin, gesagt.
ZWEI Stühle ständen dort, sagte der Fürst lächelnd.
Das Gesagt solle er erklären.
Den anderen habe er dazugestellt, damit Woi nicht allein sei, wenn er seinem Vater nachblicke, denn das könne nicht gut sein.
Wer säße auf dem zweiten Stuhl, fragte die Prinzessin vorsichtig.
Ihr, der Prinzessin, habe er den Stuhl hingestellt. Wenn sie nur Platz nehmen wolle. Auf EINEM Stuhl nur könne Woi sitzen.
Das sei wohl war und schön habe er es gesagt.
Und schön habe er es gemeint.
Was solle aus zwei Menschen werden, die Hand in Hand sitzen und keine Worte finden.
Er sei ein alter Mann. Er verlange nicht, die Jungen zu verstehen.
Woher, fragte sie, indem sie auf das Wolkenspiel des Flusses zeigte, komme aus dem Nichts der Schmerz der Liebe, an einem Tag, der friedlicher sei als dieser dort.
Woher, fragte er, komme aus dem Nichts der Tod, an einem Tag, der begann, als kenne er keinen Abend.
Woher der Schmerz, als sei er es, den man liebt.
Woher der Tod, als sei er es, für den man gelebt hat.
Vielleicht liege vieles auf demselben Weg, sagte die Prinzesssin.
Es sei eine lange Reise an der Seite eines alten Mannes und seiner Gebrechlichkeit ...
- die habe keinen Schrecken für sie.
Eine lange Reise für einen Sohn, eine lange für eine Prinzessin ...
- wenn sie den beiden nur von gleicher Länge wäre.
Die Berge gehe es heran, die sich in den Weg stellten ...
- leicht gehe der Fuß ohne die Ketten der einsamen Stunden.
Flüsse gebe es, die nicht zu zähmen seien ...
- an ihrem Rand wolle sie sitzen und den Augenblick der Treue zum Köder auswerfen.
Nächte, die heulenden Wölfen gehörten ...
- darüber ein Himmel, der lange Netze ausspanne, um ein Wort darin zu fangen.
Wüste, schattenlos versengte Erde ...
- wenn sich zwei nur an den Händen gefasst hielten, bräuchten sie den Boden nicht berühren.
Ein Wald, in dem die Stimmen der Räuber zu Hause seien ...
- denen die Bärte im Dickicht festgewachsen sind.
Und einen Fürstenhof, der klein sei und bis auf seinen Namen nichts besitzte ...
- man habe ihr einen Stuhl versprochen.
Den solle sie haben.
- und einen zweiten Stuhl, wenn sich jemand setzen wolle.
Der werde sich finden lassen.
- und ein Schweigen aus zwei Herzen.
Wenn sich die Stühle finden ließen, dann verspreche er ihr gern das andere.
Chapter 152. Das Schiff
Es war ein schöner Tag, genau richtig für eine Fahrt auf dem Wasser. Alle Menschen, die Baldeina begegneten, machten ihm freundliche Gesichter, als sei es ihnen recht, dass der Tag nicht ihnen, sondern Baldeina gehörte.
Die Wachen fragten ihn, ob er ausreite, ihnen für morgen einen ebenso schönen Tag zu holen.
Wenn sie ihm Glück bringen würden, sagte Baldeina.
Wobei, fragten sie und sahen sich lustig an, als wüssten sie von der Prinzessin.
Das könne er nicht sagen, entgegnete Baldeina.
Dann habe er genug gesagt, so die Wachen. Er solle immer nur daran denken, wie sie ihm ihre Daumen drückten, dann sei ihnen um sein Anliegen nicht Angst. Sie zeigten sich, wie sie den Daumen zwischen den Fingern drückten, und waren sehr vergnügt.
Baldeina war so aufgeregt, dass er absaß und sein Pferd zum Hafen führte. Eine Frau reichte ihm einen Strauß. Sie sagte, dass sie kein Geld erwarte. Was solle eine alte Frau mit solch schönen Blumen? Er solle sie seiner Liebsten geben. Baldeina konnte ihr nicht sagen, dass seine Liebste eine Prinzessin war, deren Herz mit ein paar Blumen nicht zu gewinnen war. Aber er nahm die Blumen entgegen und dankte dem Muttchen, das er 'Gnädigste' nannte.
Die Blumen hatten kein Band. Weil er auch den Zügel hielt, verlor er erst eine, dann alle anderen. Das war sehr ärgerlich, aber es gelang, darüber hinwegzudenken.
Er ging nicht durch die engen Gassen, sondern machte einen Umweg, der ihn zu den besseren Häuser führte, deren Gärten gut versteckt hinter den hohen Büschen lagen. Hier begegnete ihm niemand. An und an reichte ihm ein Baum ein paar Früchte herüber. Wenn er stehen blieb und zum Himmel aufsah, dann traten die Bäume ein wenig zur Seite. So jedenfalls schien es ihm.
Weil er Zeit hatte und ein Spalt im Buschzaun war, sah er neugierig hinein. Ebenso neugierig sah ein Junge heraus. Er sah zu dem großen Pferd hoch, und Baldeina entdeckte, dass der Junge ein kleines Pferd aus Holz hinter sich führte. Der Junge zeigte auf Baldeinas Pferd und sagte etwas, das Baldeina nicht verstand. Baldeina zeigte auf das Holzpferd des Jungen, aber dann fiel ihm keine Frage ein, weil der Junge ihn weiter streng ansah und auf seine Antwort wartete.
Die Allee führte zum engen Anlegekreis des Hafens, sodass er langsam durch die Stände der Fischer zum anderen Ende des Hafens gehen musste, wo sein neues Schiff lag, in gehörigem Abstand zum letzten dieser geduckten, abgeriebenen und irgendwie teilnahmslosen Boote.
Die Fischer wussten, wer er war. Sie hatten denselben Blick wie die Fische, die tot auf den Tischen lagen und mit offenem Mund glotzten. Das Pferd hielt sich in der Mitte des Pfades durch den Gestank, der in jedem der ausgelegten Netzen lag und in der Sonne döste.
Die Prinzessin würde er nicht über den Kai führen können. Wenn er sah, wie die Fischer vor seinen Augen die Fische aufschlitzten, dann wurde selbst ihm übel, und ein noch so schöner Tag konnte enden, als habe ein Gleichgültiger über ihm die Gedärme ausgeschüttet.
Dort endlich lag sein Schiff und blies ihm zur Begrüßung einen frischen Wind herüber. Sobald es Baldeina hatte kommen sehen, straffte sich seine Erscheinung in der Manier eines Dieners, der auf seinen Herrn gewartet hatte.
Alles war bereit. Der Himmel war vom feinsten Staube befreit. Die flauschigen Wolken - gerade recht in der Größe - hatte jemand wie Kissen zum Besten arrangiert. Der Fluss nahm keine Notiz und auch der Weg aus verstreuten Steinen tat gleichgültig, aber das war nur, weil die Taue über Gebühr ihre Freunde zeigte.
Der Kapitän fragte ihn zur Begrüßung, wo denn sein Vater sei. Als Baldeina sagte, dass wisse er nicht, wunderte sich der Mann. Er ließ darüber sogar zu, dass der Schiffsjunge weiter faul herumstand und ihnen zuhörte, als ginge ihn das etwas an. Der Alte fuhr sich mit beiden Händen durch seinen Bart, und es wäre dem Schiffsjungen wohl recht gewesen, wenn er seine Hände nicht mehr daraus hätte befreien können.
Baldeina zeigte auf den Bug. Dort wolle er sitzen. Man solle es so herrichten, dass er zu zweit nebeneinander sitzen könne. Kurz blickte er in das Gesicht des Schiffsjungen, dessen Neugierde größer als sein Verstehen war. Der Kapitän zog eine Hand aus seinem Bart und drohte den Jungen an die Arbeit. Dieser verschwand flugs in einer Kabine, die tiefe Stimme des Kapitäns auf den Fersen hinter ihm her. Dort würde sie vor der Tür warten! Der Junge sollte sich nur ja nicht heraustrauen, ohne seine Arbeit gemacht zu haben!
Der Kapitän richtete die Stelle persönlich her, wie Baldeina es verlangte. Er tat es gerne, und seine Anteilnahme war verständig und voller Wohlwollen. So erzählte ihm Baldeina, dass sie eine Prinzessin sei. Die Augen des Mannes hatten genau die Farbe des Flusses. Sie wechselten ihre Farbe nicht anders als der Fluss. Nun waren sie tief und gaben kein Licht zurück. Baldeina fragte, ob der Kapitän den Tag für den richtigen halte. Das könne schon sein, brummte der Kapitän aus einem mundlosen Bart. Das Wasser seiner Augen wurde seicht und warm, gerade recht, dass man Anker und Angel auswerfen wollte.
Als Baldeina vorne auf dem Bug saß, und alles so war, dass er sich die Prinzessin gegenwärtig vorstellen konne, da war Fluss milde gestimmt und gerade so blau, wie es die Gedanken von zwei Schweigenden mögen, dass sie hierhin und dorthin treiben können, aber niemals auseinander.
Er stellte sich vor, wie Dessa und er vorn auf dem Bug beieinander saßen und in einer Art auf das Wasser hinaussahen, dass es für sein Anliegen fast keine Worte brauchte. Die Prinzessin würde nicken, wie der Bug des Schiffes in den Wellen nickte. Dabei würde sie ihn ansehen. Damit war es entschieden und gesagt. Sie würden zweisam wieder auf das Wasser hinausblicken.
Eine Zeit verging, bis Baldeinas Gedanken zurückgekehrt waren. Der Wind hatte vergeblich versucht, seine Aufmerksamkeit zu fangen. Der Fluss hatte stirnrunzelnd zugesehen, wie Baldeina immer weiter und weiter hinaustrieb. Erst jetzt sah Baldeina zum Weg, wo ein junger Mann auf einem Gefährt auf sich aufmerksam machen wollte.
Dieser junge Mann winkte und rief. Baldeina blinzelte auf die Entfernung und erkannte Woi an seiner Stimme. Ein Mädchen saß hinter Woi, neben einem alten Mann, wohl der Vater von Woi. Die schwarzen Haare des Mädchen flogen auf wie die grauen des Fürsten, als seien sie aneinandergebunden.
Was war das für ein Mädchen? Aus dieser Entfernung sahen für ihn alle gleich aus. Sie hätte auch die Prinzessin sein können. Keine hätte er von der anderen unterscheiden können, wenn er nicht ihre Stimme hörte. Baldeina blinzelte.
"Wir sind auf der Reise", rief Woi und das Mädchen winkte. Der alte Fürst rief etwas in seinen Husten hinein. Es war nicht zu verstehen.
"Wir wünschen alles Gute", rief das Mädchen. Es war Nadim - kein Zweifel war erlaubt! Baldeina winkte kräftig mit beiden Händen. Wie sehr wünschte Baldeina den beiden, Nadim und Woi, alles glückliche Gute!
Nun war alles leicht, auch für ihn! Nichts Trennendes stand zwischen ihm und seiner Prinzessin, wenige Stunden vielleicht, mehr war es nicht. Wie nah das Glück war! Das Glück des Freundes und der Schwester entfernten sich, das Glück von Dessa und das Glück von Baldeina kamen sich aus der anderen Richtung einander entgegen.
Er gab dem Kissen neben sich einen freundlichen Puff. Er war nun hungrig, und es war Zeit, zurückzukehren. Wenn er sich gestärkt hatte, wollte er zur Prinzessin gehen. Dann war der rechte Zeitpunkt gekommen, die Gewissheit auf ihren letzten Weg zu führen.
Chapter 153. Lis Vater erzählt
"Wenn du mitgehst", sagte Li zu Daid, "dann gehe ich zu meinem Vater."
Im Dorf war es still. Die Bank stand vor dem Haus, der Vater saß darauf und sah ihnen entgegen.
Daid nahm Li bei der Hand und sagte: "Sie weiß jetzt, dass sie eure Tochter ist."
"Dann wird es stimmen", sagte der Vater. "Ich zweifele nicht daran."
"Ich gehe dann ...", sagte Daid zögernd.
"Nein", sagte Li. "Ich will nicht, dass er geht."
"Bleib, Daid", sagte der Vater. "Ihr seid mir beide willkommen."
Sie setzten sich auf die Bank, Li in die Mitte zwischen ihnen. Ein kleiner Vogel hüpfte auf dem Boden. Lis Vater warf einen Krumen.
"Er ist scheu. Ich hoffe, wenn es kalt wird, kommt er zu mir herein ... Es ist eine lange Geschichte. Hast du Zeit, Li? Du auch, Daid? ... Seht ihr, der kleine Vogel wird zutraulich, hat keine Angst vor euch. Er kommt manchmal bis auf die Bank, wenn ich allein bin.
Ich war damals jung, noch nicht lang am Hof des Kaisers und unerfahren, wie ich es heute sagen würde. Ich war ein Lehrer für ein paar Schüler, die zu richtiger Arbeit nichts taugten. Und war zufrieden und dachte schon daran, wie ich meine Familie nachholen konnte.
Nun muss ich sagen, dass über uns Schreibern die Chronisten waren. Sie schrieben über alles mögliche. Manche von ihnen waren so wichtig, dass sie einen eigenen Schreiber hatten. Besonders einer war wichtig, weil er über das Leben des Kaisers schrieb. Das durfte er in seinem eigenen Haus tun. Er hieß Guo, und weil er aus einer Familie von wichtige Schreibern stammte, hieß er Guo der Vierte.
Zu diesem Guo wurde ich eines Tages gerufen. Ich weiß noch, wie ich staunte über seinen prachtvollen Garten, der nicht groß war, aber in die Höhe wuchs, wie ich es noch bei keinem gesehen hatte. Guo der Vierte war klein, noch kleiner als ich. Er musste zu mir hochsehen, und das tat er auch und nahm es mir nicht übel, dass ich größer war.
Der Schreiber sei krank, sagte er, für lange krank, wenn er es recht sehe. Gleich darauf sagte er, dass er es mit mir probieren wolle. Ich sagte nichts, aber nun schwieg auch er. So war es immer. Wenn ich etwas sagen wollte, kam er mir zuvor. Wenn ich nichts sagte, schwieg auch er. Ich glaube, in der ganzen Zeit bei ihm, habe ich kein einziges Wort gesagt.
Er setzte mich auf einen hohen Stuhl und lachte, weil der Stuhl mir viel zu hoch war. Zu der damaligen Zeit dachte ich, er würde über seinen Kleinwuchs lachen, weil er eben große Stühle brauchte, aber heute weiß ich, warum er lachte. Das Denken war meine Aufgabe nicht, so wenig wie das Reden. Ich hatte verstanden, was von mir erwartet wurde, ohne zu verstehen, was ich tat.
Seht ihr, wenn ich dem Vögelchen Gift geben würde statt Körner, es sähe mich nicht anders dankbar an als jetzt. Und Gift gab mir dieser vierte Guo, Schreibergift von der tödlichsten Art!
Am Morgen rief er mich. Überall in seinem Zimmer sah ich Striche an der Wand, wie man sie für Kinder macht, um zu sehen, wie sie gewachsen sind. Ob ich etwas bemerke an ihm, rief er, ob ich etwas bemerke. Als ich gerade sagen wollte, dass mir nichts auffalle und ich seine Hilfe brauche, um zu verstehen, da rief er bereits, er sei kleiner geworden, es sei wieder ein Schub, wie er ihn kenne. Dabei deutete er aufgeregt auf die vielen Striche an den Wände, welche die traurige Chronik seiner abnehmenden Kopfhöhe erzählen sollten. Ich sah ihn mitleidig an und glaubte ihm stumm, dass er litt.
Nun zog er mich zu dem Stuhl. Er war ernst, und das Lachen war ihm vergangen. Auf dem Tisch lagen Berichte, die - was lag anders auf der Hand? - auf eine sorgfältige Niederschrift warteten. Guo machte mir entsprechende Zeichen. Dann war er fort. Und ich begann meine Niederschrift mit der erdenklichsten Sorgfalt, was Sauberkeit und Vollständigkeit anging.
Es war ein wunderbares Schreibwerkzeug und das herrlichstes Papier, welches er mir gelassen hatte, und ich hatte die größte Freude daran. Guo aber blieb verschwunden. Wusste ich eigentlich, was ich da schrieb? Ich glaube nicht! Später hatte ich genug Zeit, darin zu lesen.
Ich schrieb über den Kaiser. Er war damals gerade so alt, dass man seine Mannesjahre zur Chronik hinzuzufügen begann. Ich schrieb, dass der Kaiser von der Kaiserin eine Tochter bekommen hatte. Meine Zettel waren hier sauber und vorgefasst.
Da waren aber noch andere, in Eile verfasste und von zittriger Hand geschriebene. Sie berichteten von einer anderen Frau, die dem Kaiser zur gleichen Zeit einen Sohn geschenkt hatte. Ihr Name wurde nicht genannt und auch nicht ihre Familie oder Tugenden. Also entnehme ich dem, dass sie eine Niedrige war, wohl ein Mädchen aus der Laternenstadt. Nach und nach schrieb ich alles nieder.
Als ich damit fertig war, suchte ich Guo den Vierten auf. Er lag in einem völlig dunklen Zimmer und sagte mit dünner Stimme, er wäre nun so krank, dass er Angst habe, es gehe zu Ende mit ihm, dem letzten der Guos. Ich solle doch, wenn ich fertig sei, dem Hofmarschall meine Niederschrift vorlegen und solle nur ruhig sagen, dass ich die Arbeit von Guo gemacht habe, der sehr an den Augen erkrankt sei und um sein Leben fürchten müsse.
Das wunderte mich, weil es nun nicht der Größenschwund, sondern die Augen waren. Aber was verstand ich von diesen höfischen Krankheiten! Ich fragte nach dem anderen Schreiber, weil ich wissen wollte, ob ich meine Stelle auf dem hohen Stuhl behalten durfte. Und ich hörte ihn sagen, dieser Schreiber sei in ähnlicher Weise erkrankt wie Guo. Auch er fürchte um sein Leben, und ich solle nur mein Glück allein versuchen.
Also ging ich treuherzig und sogar ein wenig stolz auf mein Werk zum Hofmarschall und legte es ihm vor. Er sah mich sonderbar dafür an, aber ich dachte mir nichts dabei. Ich kam denen, welche die Neuigkeit verbreiten wollten, gerade recht! Am nächsten Tag standen zwei Soldaten vor meiner Tür und holten mich aus dem Bett.
Sie brachten mich zu Guos Haus, wo der Hofmarschall mit Soldaten stand und einem sehr kleinen Guo. Sie fragte mich aus, woher ich mein Wissen habe. Ich deutete auf den Tisch, aber die Notizen waren verschwunden. Auch den Schreiber holten sie, aber wie Guo wusste er von nichts. Die Notizen blieben verschwunden und konnten nicht mehr verraten, wer sie geschrieben hatte.
Ich wurde verbannt, nicht einmal einem Richter legten sie mein Vergehen vor. Am nächsten Tag schon brachten mich Soldaten auf ein Schiff und ich erfuhr vom Kapitän, dass ich verbannt worden war."
Die Hände des Vaters lagen offen auf seinen Knieen. Das Erzählen hatte ihn angestrengt und ihm den Rücken gebeugt. Heiterleicht hatte er seine Geschichte erzählen wollen, an ihrem Ende saß er allein mit einer großen Traurigkeit.
Li legte ihre Hand in seine. Er legte nach einem langen Zögern die andere darauf. Daid hatte sich unbemerkt erhoben und war fortgegangen. Vater und Tochter saßen nebeneinander auf der Bank vor dem Haus, und ein Außenstehender hätte denken können, es sei ein Abschied zwischen ihnen.
Chapter 154. Asari fragt um Rat
Asari ging in seinem Hof umher. Er sah niemanden an, weil er auf den Boden sah. Sehr groß war der Hof des Kaisers. Weil er um viele Ecken gegangen war, wusste er nicht, wo er war. Alles war neu und fremd. Niemals wiederholte sich etwas.
Die Welt bestand aus Boden, rauhem und glatten, warmem und kalten, hallendem und schluckenden, bis er auf zwei Füße stieß. Sie gehörten zu einem jungen Mann, der mit einer Tür sprach.
"Ich bin es, Baldeina", sprach der junge Mann die Tür an. "Was stellst du dich wie eine Fremde vor mich hin? Hast du kein Herz, keine Seele? "
Dann wandte er sich an Asari: "Ich will ihr sagen, dass ich sie liebe, aber ich weiß nicht einmal, ob sie mir zuhört. Dabei war ich so voller Zuversicht."
"Ja", sagte Asari und sah ihn und die Tür mitleidig an, "manchmal geht der Mut schnell verloren."
"Ich verliere nie den Mut", sagte der junge Mann aber und sah die Tür geradezu herausfordernd an. "Nie! Warum sollte ich? Was würde sie denken, wenn ich den Mut verlöre?"
"Ist es diese eine?", fragte Asari. "Niemals eine andere?" Eigentlich hätte er gedacht, dass sie alle gleich waren. Wäre das ein Trost für den jungen Mann?
"Diese eine - auf ewig und mein ganzes Leben", sagte der und fiel auf die Knie.
"Die anderen ...", fragte Asari und zeigte die lange Flucht der Türe entlang, "... keine von denen?"
"Eine andere? Niemals, nein, wie können sie es denken!", rief der junge Mann. "Ich gäbe mein Leben für sie, wenn sie mich nur erhören würde!"
"Das ist etwas anderes", sagte Asari beruhigend und nach einer Überlegung: "Was wäre, wenn ich einfach öffnen ließe. Ich bin der Kaiser und könnte jemanden holen lassen."
"Nein, bei meinem Leben", rief der junge Mann und hob verzweiflungshalber die Hände, "was wäre mir dadurch gewonnen? Hätte ich, Gewalt anwendend, ihr Herz gewonnen? Würde sie mir jemals wieder ihr Vertrauen schenken?"
"Nein, wohl nicht", gab Asari zu. Wenn man der Tür auch nur ein Mindestmaß an Empfindung zusprach, dann hätte er der Sache des jungen Mannes durch seine Voreiligkeit sehr geschadet.
"Bitte lassen sie mich mit ihr allein", flehte der junge Mann. "Es kann sein, sie ist misstrauisch geworden. Sie kennt meine Stimme, soviel darf ich sagen. Vielleicht ist es nur ein wenig, was fehlt. Sie will sehen, dass ich geduldig bin. Könnte das nicht sein!?"
"Dann gehe ich", sagte Asari. "Ich glaube auch, dass sie geduldig sein müssen. Das darf sie erwarten."
"Bitte", hörte er in seinem Rücken den jungen Mann seiner Tür zurufen, "es ist niemand mehr da. Wir sind allein. Ist es nun besser. Sag wenigstens, dass ich hoffen darf! Nur ein einziges Wort!"
Asari sah nicht mehr nur den Boden entlang. Das war entschieden langweilig und in nichts zu vergleichen mit den Erlebnissen des jungen Mannes. Nachdenklich ging er den Flur entlang, um zu sehen, ob es nicht eine Sitte am Hofe war, die Türen um Liebe anzuflehen.
"Ich muss sie suchen", rief einer mit einer hohen Stimme, der den Gang entlangerannt kam.
"Sie haben mich gefunden", sagte Assari freundlich.
"Ja", der kleine Mann japste, "da bin ich froh. Ich muss gestehen, dass ich die Befürchtung hatte, sie nicht zu finden."
"Und nun? Was müssen sie tun, wenn sie mich gefunden haben?", fragte Asari.
"Das weiß ich nicht", japste der kleine Mann. "Ich bin nur ein Eunuch. Und sie haben gesagt, dass ich sie, den Kaiser, suchen soll."
"Nichts weiter gesagt, als dass sie mich suchen sollen?"
"Sie müssen wissen, es ist eine Ehre für einen Eunuchen, den Kaiser zu suchen", sagte der kleine Mann stolz.
"Entschuldigen sie, wenn ich es nicht weiß, aber was ist ein Eunuch?"
"Das wissen sie nicht?", fragte der kleine Mann und sah sehr unglücklich aus.
"Ich bin noch nicht lange - seit sehr kurzem erst Kaiser", entschuldigte sich Asari.
"Ein Eunuch ist kein richtiger Mann", sagte der Eunuch leise.
"Ein kleiner Mann?", fragte Asari ebenso leise.
"Kein - überhaupt kein Mann", antwortete der Eunuch noch leiser.
"Ah, dann ist es schlimm", hauchte Asari. Es MUSSTE etwas Schlimmes sein, wenn es sich so schwer erklären ließ.
"Es ist nicht so schlimm, wie man denkt", sagte der kleine Mann. "Es ist nur, weil alle immer daran denken. Sonst wäre es nicht schlimm."
"Das ist bei mir nicht anders. Alle denken immer dasselbe. 'Oh', denken sie, 'da ist der Kaiser.' Immer dasselbe, nie etwas anderes."
"Ja, so ähnlich ist es, wenn man ein Eunuch ist - also nicht ganz natürlich ..."
"Es ist aber ärgerlich - wie das Kaiser-Sein ärgerlich!"
"Ich glaube, ich kann mir vorstellen, wie es ist", sagte der kleine Mann sehr ernst.
"Wollen sie mein Vertrauter werden?", fragte Asari und wurde ganz rot, als er gefragt hatte.
"Das geht nicht, ich bin ein Eunuch!", rief der kleine Mann aus.
"Dann könnte ich IHR Vertrauter werden", schlug Asari vor. "Ginge denn das?"
"Um Himmels Willen", rief der kleine Mann und schlug mit den Händen gegen seine Backen, dass es klatschte. "Wenn sie erfahren würden, dass mir, einem Eunuchen, der Kaiser vertraut!" Da rannte er schon den Gang entlang und rief und warf die Hände hoch und rief und rannte.
"Eunuchen sind immer ängstliche, und dieser ist der kleinste und ängstlichste", sagte ein dicker Mann, der vornübergebeugt auf einem Stuhl saß und aus seinem Zimmer sah.
Asari begrüßte ihn höflich, aber der Mann schien durch ihn hindurchsehen zu wollen, obwohl er mit ihm gesprochen hatte.
"Warten sie auf jemanden?", fragte er ihn schließlich.
"Es kommt gleich wieder", sagte der dicke Mann. "Es war da, aber ist gleich wieder fort."
"Ich habe nichts gesehen", sagte Asari, "aber ich habe auch die ganze Zeit auf den Boden geschaut, da kann es natürlich sein -"
"Hoho, Haha", lachte der dicke Mann sehr laut. "Was bist du für ein Spaßvogel."
"Es war kein Spaß, eigentlich."
"Ich bin der Hofdichter LoBe", sagte der dicke Mann, "und ich warte auf einen Gedanken."
"Der kommt hier herein?", fragte Asari erstaunt.
"Ich brauche nur die Tür aufstehen lassen. Ganz genau so ist es!"
"Man braucht sehr viel Geduld", sagte Asari und dachte an den jungen Mann und seine Tür.
"Und wer bist du?", fragte der dicke Mann.
"Ich bin ein - der neue Kaiser", sagte Asari und war beleidigt.
"Aha", sagte der dicke Mann, "das wusste ich nicht ... der Kaiser des Blauen Drachen. Das hätte ich mir denken können."
"Des Blauen Drachen? Nennt man mich so?"
"Alle Kaiser nennt man so, weil der Große Fluss wie ein blauer Drache ist. Keiner hat je anders geheißen."
"Aber ich heiße Asari. Da heiße ich doch anders."
"Wenn du Kaiser geworden bist, dann habe alle deinen Namen vergessen. So ist das eben - immer schon."
"Ich könnte ihnen befehlen, dass sie meinen Namen behalten."
"Die anderen Kaiser - alle siebenundzwanzig Kaiser vor dir - haben ihnen schon befohlen, dass sie deinen Namen vergessen sollen."
"Aber mir hat niemand etwas zu befehlen. Ich behalte einfach meinen Namen in der Erinnerung", sagte Asari trotzig.
"Hö", sagte der dicke Mann und sah auf seinen aufspringenden Bauch, "hö, hö, hö! Dann musst du mit dir selbst sprechen, wenn dich jemand bei deinem Namen nennen soll. Hö!"
"Ich spreche mit dem Mond", sagte Asari.
"Das ist etwas anderes", sagte der dicke Mann.
"Der Mond spricht auch mit mir", sagte Asari, aber er war sich nicht sicher, ob das etwas Besonderes war.
"Immerhin", sagte der dicke Mann, "das ist schon etwas."
"Meint ihr wirklich?", fragte Asari hoffnungsvoll.
"Ich kenne keinen, der mit dem Mond spricht", sagte der dicke Mann, "Also ist es etwas SEHR Besonderes!"
"Der Kaiser, der mit dem Mond spricht", sagte Asari leise.
"Wir werden uns verstehen, glaube ich", sagte der dicke Mann. "Du bist ein Kaiser ganz nach meinem Geschmack."
"Sprechen sie auch mit dem Mond?", fragte Asari.
"Ich bin oft allein, da spreche ich mit mir selbst. Ich bin der einzige, der 'Herr Hofdichter' sagt. Dabei verbeuge ich mich jedes Mal."
"Wissen sie, Herr Hofdichter", sagte Asari und verbeugte sich auch, "ich saß lange in einem Kerker. Der Mond hat oft auf ein Gespräch vorbeigeschaut. So kam es, dass wir Freunde geworden sind."
Erst hatte der Hofdichter wegen Asaris Verbeugung gelacht, dann war er still und traurig geworden.
"Ist es schlimm in einem Kerker?", fragte er flüsternd.
"Warum sollte es schlimm sein?"
"Ich fürchte mich vor dem Kerker. Ich gehe niemals hin. Unser Kerker ist unter dem Weinkeller, aber ich bin noch nie dort gewesen."
"Ich fürchte mich nicht", sagte Asari stolz. "Im Vertrauen gesagt - manchmal möchte ich lieber kein Kaiser sein, Herr Hofdichter ... ich werde sie immer 'Herr Hofsichter' nennen, wenn sie mich Asari nennen."
"Abgemacht", sagte der Hofdichter, "wenn das so ist, Asari, dann pfeife ich auf den Befehl der siebenundzwanzig anderen Kaiser."
"Ist jemand für immer verrückt?", fragte Asari unvermittelt.
"Ihr meint die Kaiserin ... hm", sagte der Hofdichter und überlegte, wobei er mit dem Finger auf seinem Bauch Worte schrieb. So jedenfalls erschien es Asari.
"Wenn sie für immer verrückt ist, dann bin ich für immer Kaiser? Das wäre ich nicht gern und darum frage ich!", drängte er.
Der Hofdichter bewegte die Lippen, als lese er die Schrift auf seinem Bauch. Schließlich sagte er: "Ihr müsst es ausprobieren. Wenn sie schweigt, dann habt ihr vielleicht Glück. Spricht sie dagegen lang und seltsam, dann steht es schlecht um eure Hoffnung."
"Das ist ein guter Rat", sagte Asari. "Ich gehe zu ihr. Dann weiß ich, ob ich für immer Kaiser sein muss!"
Chapter 155. Die Kaiserin spricht
Asari stand unschlüssig vor dem Zimmer der Kaiserin. Dann gab er sich einen Ruck und klopfte.
Der Kopf der Kaiserin erschien in der Tür und sah ihn streng an: "Wollt ihr zu meiner Herrin?"
Asari sagte kein Wort, weil er sich eigentlich gewünscht hätte, dass auch sie keines sagte.
"Habt ihr ein Buch?", fragte die Kaiserin. "Ihr könnt nur zu ihr, wenn ihr ein Buch habt."
"Ich habe ein Buch", antwortete Asari. "Ich wusste, dass ich eines brauchen würde."
Der Kopf der Kaiserin verschwand und kurze Zeit später tauchte sie wieder in der Tür auf.
"Ihr müsst das Buch so halten, als würdet ihr darin lesen", erklärte ihm die Kaiserin. "Ja, so ist es recht. Sie spricht nicht, wenn ihr sie anseht. Dann schweigt sie, wie es sich gehört."
Asari sah die Dienerin-Kaiserin schelmisch an, als müsse diese verstehen, dass alles nur ein Spaß war. Das aber tat sie entschieden nicht. Sie hatte die Augen zusammen gekniffen, als fehle ihr jegliches Verständnis. Zornig sah sie drein, wie eine Dienerin eben, die für ihre Herrin eine Belästigung fürchtet. Schnell neigte er den Kopf aus ihrem strengen Blick und blätterte in seinem Buch.
"So kommt", sagte die Kaiserin. "Sie hat bereits einmal nach mir gerufen."
Als er mit der Dienerin in das Zimmer trat, war er überrascht, wie wunderbar das Bild geworden war. Es sah so lebendig aus, dass der Gedanke auch ihm nicht fern lag, er habe die wirkliche Kaiserin vor sich. Besonders die Augen waren lebendig. Der Mund, als habe er gerade etwas gesagt, dass lange und gut überlegt war. Nur der Schmuck glänzte mehr Licht, als der abgedunkelte Raum hergegeben hätte. So stand die Kaiserin in all ihrer Pracht, als sei die Zeit etwas, das sie tragen oder auch ablegen durfte, wie einen Armreif oder eine Spange des Haares.
"Ist sie nicht schön?", flüsterte die Dienerin. "Sie ist so stolz, dass die Schönheit sich für sie entschied, vor all den anderen."
"Weiß sie, wer ich bin?", fragte Asari leise zurück.
"Nein, nein", erschreckte sich die Dienerin, "solche Dinge berühren sie nicht. Mich erkennt sie, sonst niemanden!"
"Schweigt sie immer?", fragte Asari behutsam.
"Manchmal spricht sie. Dann steht sie dort am Fenster und sieht hinaus. Dabei sagt sie seltsame Sachen."
Asari stellte sich neben die Kaiserin an das Fenster und sah hinaus. Er wartete, dass sie etwas Seltsames sagen würde. Lange Zeit geschah nichts. Es war still. Wenn er zu ihr hinsah, dann war sie lebendiger geworden. Ihm kam es vor, als zögere sie noch, als sehe auch sie ihn von der Seite an.
"Was trägst du für ein Buch unter dem Arm?", fragte die Bild-Kaiserin und erschreckte ihn beinahe. Ihre Stimme war freundlich und sehr nah.
"Es ist ein Buch über mich", antwortete Asari nach seiner ersten Erschrecken.
"In dem Buch ist dein Leben gut aufbewahrt. Keine Zeit kann ihm dort etwas anhaben. Wenn du nur behutsam mit dem Buch umgehst, dann passt es für immer auf dein Leben auf."
"Ja", sagte Asari, "ich sollte froh sein."
"Kann dein Leben denn ohne die Zeit auskommen? Ist es dafür stark genug?"
"Auf jeden Fall ... ich bin ganz sicher", sagte Asari. Aber eigentlich war er sich nicht einmal sicher, ob er sie richtig verstanden hatte.
"Die Zeit fällt ab ... die Dinge, die nicht hineingehören, verlassen es ... das Leben gehört sich selbst."
"Das Leben in dem Buch?", fragte Asari.
"In dem Buch ist es wie auf einem Bild. Es bleibt das Fremdeste übrig und mit sich allein."
Asari nickte. Er konnte sich gut vorstellen, dass sie recht hatte. In ihrer Schönheit machte sie wirklich einen sehr verlassenen Eindruck.
"Der Morgen kommt und legt mir das Licht vor die Füße. Gleich muss ich es wieder zurückgeben", fuhr sie fort, als sei sie wieder allein mit sich. "Immer kommt der Morgen mit seinem Licht als der Ersten zu mir. Dann nehme ich mir, was ich für meine Schönheit und für einen Tag brauche."
'Sie redet viel und sehr seltsam', fand Asari. 'Es steht erdenklich schlecht um meine Sache.'
"Dem Abend erzähle ich Geschichten, damit er müde wird. Er hört sie gerne. Sagt, dass ihm niemand solche erzählt. Die Menschen sehen nach der Zeit, wenn er sich zu ihnen setzt."
Asari musste für immer und alle Zeit Kaiser bleiben, ein ganzes neues Buch mit leeren Kaiserpflichten füllen müssen - das war gewiss!
"Der Fluss ist ein Blauer Drache. Ein alter Mann reitet darauf und stirbt, weil sein Sohn keinen Vater hat. Ein Buch hat leichte Flügel. Schwere Flügel hat ein Sarg."
Dass der Abend ihre Geschichten zum Einschlafen hören wollte, mochte Asari nicht recht glauben.
"Der Kaiser hat viele Gesichter. Kein eigenes ist darunter. Der Kaiser ist ein Schwarm von Fischen. Die Krone ein Räuberfisch, der jeden Tag einen anderen frisst, nur den richtigen nicht."
Asari hätte das Buch am liebsten fortgeschleudert. Das war nun doch unerhört! Sie suchte das letzte Fünkchen Hoffnung auszutreten.
"Seht ihr, dass die Sonne sich einen Spaß macht. Vor unseren Augen taucht sie ins Wasser ein und hält die Luft an, damit wir glauben sollen, sie sei ertrunken."
Das fand Asari übertrieben seltsam. Es wurde Abend, aber der Abend machte nicht viel Worte. Deutlich war zu sehen, dass die Sonne hinter dem Fluss in die Tiefe fiel.
"Die Nacht trägt eine Kapuzze über dem Gesicht, weil sie dem Kaiser eine Geliebte versprach. Merkt er nicht, dass der Tod ihm schöne Augen macht? Frage, Nacht, ihn nach der Kaiserin!"
Im Hof stand eine Kutsche ohne Pferd. Zwei Diener stritten sich. Die Füße eines dritten lagen auf der Kutscherbank und schliefen.Draußen wurden die Tore verschlossen. Die Wachen lösten sich ab.
"Ich trage sie fort", flüsterte die Dienerin-Kaiserin. "Sie darf nicht zu lange aus dem Fenster sehen. Alles strengt sie sehr an."
"Es ist für immer!", sagte Asari. "Ich weiß nun, dass es für immer ist!"
Er stand am Fenster und sah hinaus, wo das Blau des Himmels glasig wurde, wo die zuletzt gekommenen Wolken sich am Horizont eine Auflage für ihre Müdigkeit suchten, wo ein erster Stern den Rest des Tages aufwog und ein blasser Mond kein Wort des Trostes fand.
Chapter 156. Ein neuer Tag
An diesem Morgen wartete Daid auf Li, als wäre es nicht das Haus seiner Mutter, vor dem er stand.
Niemand sei da, sagte er. Die Leute aus dem Dorf, ihr Vater und seine Mutter, alle seien sie fort. Es sei Markttag, und Li habe sehr lange geschlafen.
Die Wolken türmten sich vor der Sonne auf, und Daid hatte ihr einen Schirm aus Papier mitgebracht. Diesen schwang er so freiweg und stolz, dass sie sich vorsehen musste vor seinem Übermut und dem Schirm.
Er hatte versprochen, mit ihr zu dem Teich zu gehen und hinauszurudern, und sie kam immer außer Atem, weil er lange und schnelle Schritte machte. Wenn sie atemlos stehen blieb, spannte er den Schirm zum Spaß über ihr aus.
Li zeigte auf eine Stelle, wo der Nebel streifig herabhing. Dort habe es zu regnen begonnen, sagte sie. Der Beginn des Regens sei sehr schwer zu malen.
Er sah sie an und schwieg.
Sie hatte nicht aufschneiden wollen, und nun hatte sie es doch getan. Es tat ihr leid, aber sie würde ihm nicht erklären können, dass hier etwas Besonderes war.
Ob sie eine Malerein sei, fragte Daid. Er sah sie nicht an, sondern suchte weiter den Regen im Nebel zu entdecken.
Nicht richtig, antwortete Li ihm. Sie sei nur interessiert. Er müsse nicht denken, dass sie eine Meisterin sei.
Ob sie ihm ihr Malen zeigen könne.
Nein, sie könne es nicht zeigen. Worauf denn solle sie malen?
Das werde sie sehen.
Wenn Daid ernst war, dann sah er beständig auf den Boden und konnte den Blick nicht heben.
Als sie zum Boot kamen, gab er ihr den Schirm. Mit stelzigen Schritten stieg er ein, nahm das Ruder in die eine Hand und reichte ihr die andere Hand. Geschickt balancierte er ihre Schritte mit seinem Ruder aus.
Li war ein schmales Bott für zwei nicht gewöhnt, machte ängstliche Blicke und lustige Bewegungen mit dem Schirm über ihrem Kopf. Als sie endlich ruhig auf ihrem Platz saß und ihn anschaute, stieß er das Boot vorsichtig mit dem Ruder vom Ufer ab.
Eigentlich sah Daid die Umgebung zum ersten Mal richtig an. Weil er heute keine Fische fangen wollte, brauchte er sich nicht um die Zeit zu kümmern. Der Nebel lag flach, fast durchsichtig auf dem Wasser. Ein Tauchvogel machte einen Punkt darin wie von einem Astloch. Ihm fiel auf, wie ähnlich sich Nebel und feuchtes Papier waren.
Während der ganzen Zeit hatte das Mädchen nichts gesagt. Daid saß bei ihr und sah ihren Blicken in die Ferne nach. Der See war so still, als sei er allein. Das gefiel ihm. Er war nicht allein, aber es war still.
Fast hätte er seine Überraschung für sie vergessen. Vorsichtig stand er auf und holte aus seinem Wams vor ihren verwunderten Augen alles heraus, was er ihr mitgebracht hatte: das Papier, den Spannblock, Tusche und vier Pinsel.
Li wollte gleich beginnen. Aber er hatte auch eine Decke für sie und wickelte sie darin ein. Dann erst durfte sie mit dem Malen beginnen. Er saß vor ihr und sah hinaus.
Den Tauchvogel würde er malen und einen zweiten. Das Schilf vorn, damit man sähe, dass die Vögel weit draußen waren. Die Bäume dort hinten. Ihr Stammm war schwarz und schwer, aber der Schlaf der Krone war leicht geworden.
Ein wenig heller war die Fläche des Wassers nun. Der Nebel und das Boot trieben langsam aufeinander zu. Immer noch sah er den Regen nicht, den sie ihm gezeigt hatte. Es wäre eine prächtige Zeit zum Fischen gewesen. Dazu würde er sie einmal einladen. Aber sie würde es nicht wollen. Das spürte er. Sie hatte einen Willen, wie ihn nicht einmal die Mutter hatte, die immer sagte, dass sie einen solchen starken Willen habe und nicht wisse, warum ihr Sohn keinen habe.
"Das Papier ist sehr schön", sagte das Mädchen.
Er hatte sich erschreckt, weil es das erste war, was sie beim Malen sagte.
"Ich habe das Papier gemacht", sagte er. "Dein Vater hat mir das Handwerk beigebracht. Er ist ein wirklicher Meister. Das bin ich nicht."
"Ist es sein Papier, oder ist es dein Papier?", fragte sie.
"Dies ist mein Papier", antwortete er ihr stolz. "Es ist noch ganz neu."
"Es ist das feinste Papier, das ich kenne", sagte sie. "Ich wusste nicht, dass es solches gibt."
Das hatte ihn so stolz gemacht, dass der Nebel vor seinen Augen eine andere Farbe bekommen hatte. Aber sie hatte ihn nicht angesehen, sondern immer nur auf ihr Gemaltes.
Wie brachte sie es bloß fertig, dass der Pinsel nicht tropfte? Ihre Hände waren geschickt, aber es waren ihre Augen, die malten. Man konnte denken, der Pinsel sei nur von Wasser feucht und verstreiche den Glanz ihrer schwarzen Augen.
Es war etwas Besonderes mit ihr, ohne dass sie darum wusste. Die anderen Mädchen, die er kannte, sagten zuerst ihren Namen. Jedes Mal sagten sie den, obwohl er ihn kannte. Wenn er sie nicht immerfort ansah, dann riefen sie ihm hässliche Dinge nach oder flüsterten über ihn. Seine Mutter stellte sonst viele Fragen zu den Mädchen, aber zu Li war ihr keine eingefallen.
Dann war das Bild fertig. Vorsichtig legte sie es sich auf die Hand und blies noch einmal darüber. Dann reichte sie es ihm auf beiden Händen herüber.
Der Nebel war durchsichtiger, als er ihm erschienen war. Eine Grenze zwischen Wasser und Himmel gab es nicht. Das Boot spiegelte sich kopfüber im Wasser. Er erkannte den Schirm, dachte, dass er aussah wie ein schräg sitzender Hut. Das Ruder glich einem Pinsel, der im Wasser den Worten nachsah, die über Bord gefallen waren. In feinen Fäden fiel der Regen auf sein Spiegelbild.
Es regnet nicht, sagte er. Sieh nur, der Nebel ist über uns, aber es fällt kein Regen auf die Haut.
Nur die Augen können diesen Regen sehen, sagte sie.
Ein von dir erdachter Regen?, fragte er leise.
Der Himmel weint ... meine Tränen, deine Tränen, die Tränen der Menschen, ich weiß es nicht. Ein Regen ist etwas anderes.
Das Ruder sieht wie ein Pinsel aus, sagte er.
Es malt ein Zeichen in das Wasser, sagte sie.
Wofür steht das Zeichen?
Es ist der Rest von einem Zeichen, nicht mehr als Hals und Kopf, wie von dem Vogel dort.
Dem Taucher?
Ja, dem Taucher.
Das Zeichen kann also viel bedeuten?
Ja, wenn du es als Zeichen sieht.
Ist es ein Zeichen?
Ich weiß es nicht. Es kann auch sein, dass es nichts bedeutet.
Ich kann nicht lesen, sagte er ernst. Dein Vater kennt alle Zeichen, aber ich bin nur ein Papierschöpfer.
Wie findest du das Bild, fragte sie und sah ihn an.
Ihm fiel nichts zu sagen ein. Er sah weg, dorthin wo die Wasserhalme schwarz und steif standen. Dorthin wo über das Wasser ein Schauer lief.Im Schilf rief der Tauchvogel sein Weibchen. Sie hatten ein Nest gebaut und Junge bekommen.
Er lacht über uns, sagte das Mädchen.
Nein, sagte er, es ist sein Rufen.
Chapter 158. Die Prinzessin spricht
Nach einigen Wendungen, die ebenso schmal wie ziellos waren, gab der Wald den beiden Aufsteigenden die Aussicht frei, die an einem hellen Abend wie diesem bis zur Kaiserstadt reichte.
"Kannst du ihn sehen?", fragte Woi leise.
"Ich weiß nicht", sagte Nadim unsicher. "Es ist alles sehr entfernt."
"Dort, was aussieht wie geschichteter Fladen - das ist euer Hof."
Nadim sah bedrückt drein. Es machte ihr das Herz schwer, so zu stehen und zurückzublicken. Es wäre ihr lieber gewesen, wenn Woi ihr eine andere Stelle gezeigt hätte.
"Ich werde Dessa vermissen", sagte Nadim. "Eigentlich vermisse ich sie schon jetzt ..."
"Ihr seid Schwestern, da seid ihr euch sehr nah." Woi überlegte, ob es nicht besser war, zum Lager zurückzugehen. Vielleicht war Nadim kalt. Schließlich war sie eine Prinzessin und den Wald nicht gewöhnt.
"Warum aber ich ... und nicht Dessa?", sagte Nadim plötzlich und wusste gleich, als sie Woi nachdenken sah, dass seine Antwort sie traurig machen würde.
"Baldeina hat das entschieden!", antwortete Woi.
"Du nicht ...?"
"Baldeina wollte gleich die Unsichtbare ... da war ich übrig."
"... also ich nur, weil Dessa vergeben war?" Eigentlich hätte sie Mitleid mit sich selbst haben müssen. Aber es war anders - Woi tat ihr leid. Aus diesem Gefühl heraus nahm sie seine Hand, sah aber zur Seite, damit er nichts dachte.
"Du musst wissen, ich wollte gleich keine Prinzessin. Ich war nur in Begleitung sozusagen."
"Ein Mädchen wolltest du, nicht wahr, keine Prinzessin? Das kann ich verstehen", sagte Nadim und war froh, dass sie darüber gesprochen hatten. Sie hatte vergessen, dass Woi sie oft als Prinzessin gesehen hatte.
"Ich muss dir etwas sagen", begann Woi und löste seine Hand aus der ihren, um damit einen Jackenknopf zu drehen.
Wenn Woi lange schwieg, dann sagte er immer das Flasche. Soweit hatte ihn Nadim schon kennengelernt.
"Ich kann dir dein Versprechen zurückgeben, wenn du möchtest ... ich meine, dass du mich heiraten sollst, wenn es wieder erlaubt ist."
Nun hatte Nadim ihren Kopf abgewendet, und Woi sah nicht, wohin sie blickte.
"Ich meine, das war es doch, warum du mit uns gekommen bist."
"Gab ich nicht einem anderen mein Versprechen?", fragte Nadim leise.
"Erinnerst du dich nicht?"
Nun blickte Nadim wieder zur Kaiserstadt. "Ich erinnere mich, dass ich jemanden mein Versprechen gab, der treu mit dem Herzen war. Er ging fort und blieb doch, wo ich ihn brauchte."
"Es war nicht so gemeint", entschuldigte sich Woi und fand, dass sie ein wenig recht hatte. Es war vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt, ihr das Versprechen zurückzugeben, aber schließlich war es die letzte Gelegenheit.
"Ich gab meine Versprechen einem, der meist stumm war. So stumm, dass ich ihm die Dinge aus den Augen lesen musste." Nadim hatte Spaß bekommen, Woi die Wahrheit zu sagen.
"Ich hätte schon früher damit kommen sollen ...", gestand Woi zerknirscht.
"Wenn er etwas sagte, dann war es immer das Falsche. Aber es war mir, als lerne er das Sprechen, lerne es für mich."
'Die Worte stehen klar auf ihrer Seite und nicht auf meiner!', dachte Woi.
"Wissen sie, wo er geblieben ist?", fragte Nadim. "Unbeholfen war er, und doch kann ich sagen, dass er Freude und Schmerz nicht ungerecht verteilte."
"Was meinst du, was ich machen soll?", fragte Woi. "Sag es einfach, dann reden wir nicht darüber."
"Ist er nicht mitgekommen, wie er versprach?"
"Also wirklich, es reicht!" Woi fand, dass Nadim ihren Spaß zu weit trieb.
"Sagen sie mir, wo ich ihn finden kann?", fragte Nadim und sah Woi zum ersten Mal in die Augen.
"Ich ... wie meinst du das?"
"Wenn ihr mit ihm bekannt seid, dann geleitet mich zu ihm", bot Nadim an. "Zeigt mir den Weg. Ich will euch vertrauen!"
"Lass mal ... lassen sie mal sehen", überlegte Woi. "Weit ist es nicht. Gebt mir die Hand, ich führe euch!"
"Wir wollen uns ihm vorsichtig nähern. Wer weiß, ob er nicht ängstlich ist?" Nadim rollte die Augen, als sie es sagte.
"Ich werde ihm sagen, wie schön eure Hand zum Anfassen ist."
"Ein Wegkundiger, der die schönsten Worte wählt ..."
"Scheu ist dieser Woi und wagt sich nur hervor, wenn er sich sicher glaubt."
"Hat er denn Angst vor mir?"
"Er war furchtlos ein Ritter, ein Drache, ein Bär!"
"War er auch ein Woi, nicht weniger furchtlos?"
"Es lastet ein Fluch auf ihm, das muss ich euch sagen."
"Ein Fluch? Von wem ein Fluch?"
"Niemals werde er gewahr die Liebe einer Frau, so verfluchte ihn eine Fee."
"Und diese Frau - diese Fee ist mächtig?"
"Er glaubt an ihren Fluch ..."
"Sagt ihm, die Prinzessin - er wird mich schon kennen! - wäre traurig gewesen, zum endlosen Weinen traurig."
"Aber warum denn? Was soll ich sagen, wenn er fragt?"
"Ihre Schwester ist fort. Der Wald ist dunkel. Sie geht an der Hand eines Fremden, und nirgends ist der, den sie sucht."
Der Führer hieß Nadim, vorsichtig ihre Füße setzen. Sie gingen auf Gestrüpp, einem weichen Boden, von dem nicht zu sagen war, ob er sie tragen würde.
"Es ist schwer, eine Prinzessin und zur gleichen Zeit ein Mädchen zu sein. Sagt ihm das. Vielleicht versteht er es, trotz des Fluches."
"Riechen sie nicht den Wald? Er will sie betäuben, Prinzessin. Der Schlaf der Tiere, das Rauschen der Bäume, die Zeit unter ihren Füßen, wie leicht lernt sich das Vergessen. Die Worte der Menschen, nichts als das Knacken kleiner Zweige."
"Was sagte er - wird er im Dunkel mich an der Hand nehmen?", fragte Nadim leise.
'Schsscht' hieß sie der Wind schweigen. Aus dem tiefen Schlaf der Bäume kam das Knarren wie Blasen aus morastigem Wasser auf. Irgendjemand hatte für ihr Glück einen feinen Regen von Sternen über den Himmel geworfen.
Woi führte sie auf einen festen Weg. Dort konnten sie sicher nebeneinander herschreiten. Es war nicht mehr nötig, dass sie sich an den Händen hielten. Noch wenige Schritte, und sie standen auf einer Anhöhe und sahen auf das Lager herunter, das Fürst Alta hatte aufschlagen lassen.
"Was ist mit Woi? Wird er kommen?", fragte Nadim.
"Ich werde auf ihn warten", sagte der Führer. "Er hat mir das Kommen versprochen. Morgen am Tag werdet ihr zusammen fortreiten."
Vorsichtig stieg Nadim durch das hohe Gras hinunter. Einmal blickte sie sich nach Woi um. Da saß er noch und hielt von ihrem Herzen mehr, als sie bei sich trug.
Er wartete, wie er ihr versprochen hatte. Der Mond schaute ihm noch eine Weile zu, bis ihm langweilig wurde und er sein Spiel mit den Wolken wieder aufnahm. Er wendete sie, eine nach der anderen, wie flache Fische, einmal die dunkle Seite nach oben, dann wieder die silbrig glänzende.
So saß Woi. Die Zeit machte ihm mit einem lose hängenden Zweig Striche für ihren Takt. Der Mond wendete weiter die Wolken auf den Bauch und auf den Rücken. Ein feiner Regen von etwas fiel auf sein Haar.
"Es ist schwer, Woi zu sein", sagte er nach einer langen Weile, "aber ich will es versuchen."
Er stand auf und ging hinunter, wo das Lager war.
ENDE
Tag der Veröffentlichung: 18.09.2011
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