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Peter Marnet

Der Kaiser ohne Namen

Published by Peter Marnet at Smashwords

Copyright 2011 Peter Marnet

Chapter TEIL 1

Chapter 1. Die Frau und der Junge mit dem Apfel

Die anderen Kinder hatten Ritter gespielt und ihn zum Räuber be­stimmt. Ein Räuber war immer allein und hatte kein Schwert. Damit sie ihn nicht aufspüren konnten, hatte sich der Junge in dem fremden Baum versteckt. Sollten sie doch beim nächsten Mal einen zum Räuber be­stim­men, den sie auch finden konnten!
Die Frau stand im Garten. Der Morgen hatte ihr freund­lich begonnen. Mit ein paar Vo­gel­stimmen hatte er das Fen­ster berührt. Der Baum hatte soviel Licht herein­gereicht, dass es ihr zum Kosten genügte.
Sie war in den Garten gegangen, ohne gegessen zu haben. Auf der Treppe fiel es ihr ein, aber sie kehrte nicht um. Ihr Haus hatten sie neu bekommen, und sie freuten sich dar­an. Es waren nicht viele Beamte am Hof des Fürsten, und so waren es nicht mehr als vier Häuser. Sie standen mit dem Rücken und den Gärten zuein­ander. Obwohl sie gleich aussahen, taten sie, als seien sie nicht mitein­ander bekannt.
Vor ihrem Haus war eine schmale Straße mit glänzendem Pflaster und einem schmalen Gehsteig. Die Straße führte um die vier Häuser der höfischen Beamten herum, als wolle sie eine Grenze ziehen zu den Häu­sern auf der anderen Seite, die dort standen, ohne Atem und um ihren Stand fürch­tend, weil sie von den hin­te­ren, die nicht anders zur besseren Gegend gehören woll­ten, nach vorne ge­drängt wurden.
Die Frau stellte sich den Garten als das Kleider ihres Hause­s vor - die Blu­men, die wan­dernden Schatten der Bäu­me, der lispelnde Brunnen, die feuchten Steine im weichen Gras. Darin unterschied es sich von den anderen.
Wie jeden Tag stand sie auf der Treppe zum Garten. War­tete als Besucherin, forderte nicht wie eine Herrin ihren Einlass. Wie jeden Tag schritt sie umher und sah zu den Bäumen hoch. Von manchen kannte sie nicht ein­mal die Früch­te. Aber musste sie von allem wis­sen, worin sein Zweck bestand? Wenn es nur schön war und sich darin er­gab, sollte es ihr genügen.
Sie stand im Gar­ten und teilte mit den Blumen ihre Ge­danken. Ein kurzarmiger Wind gesellte sich dazu, bis es sie frö­stelte. Sie sah zum Him­mel em­por. Schatten hatten sich vor das Blau ge­schoben. Schon immer war sie wetter­fühlig gewe­sen. Ein Stimmung hatte sich auf ihr Herz ge­legt. Schwere Wolken würden das Licht ver­drängen. Noch ein­mal würde sie her­um­ge­hen, aber eine graue Last drückte auf ihr Herz und die Farben des Gartens.
Wo der Baum stand, war eine Sandflä­che, die glattge­stri­chen war. Jeden Morgen begann sie mit einem Wort. Dem­sel­ben oder einem anderen. Dabei sie konnte nicht schrei­ben wie ein Mann. Aber sie fand Freude daran, etwas zu malen, das einem Worte glich. Viel­leicht war es ein Wort und sie wusste es nicht. Sie malte das Zeichen, das sie sich ausge­dacht hatte, in den Sand und wieder in ihre Erinne­rung.
Als es gerade begonnen hatte, sich eine Bedeu­tung zu suchen, fiel vor ihren Augen ein roter Apfel auf den Rasen. Er tupfte zwei, drei Mal auf, wie ein Kin­derball auf einem weichen Teppich. Sie sah den Ap­fel an, ohne sich zu rühren. Sie spürte, wie die Angst Blei in ihre Füße fließen ließ. Ein Apfel durfte ihr keine Angst ma­chen! Sie hatte noch nie den Fall eines Apfels gese­hen - das war es!
Die Schale glänzte. Ein kerngesunder Ap­fel war zu Ende gewachsen, und vom Baum auf ihren Rasen gefallen. Die Blätter des Baumes raschelten. Sie bewegten sich zur neuen Form. Im Unwohlsein verzog der Baum das Gesicht. Sie vernahm aus ihm ein ihr fremdes Ge­räusch, ein Ächt­zen und dann einen lei­sen, deutlich ge­sprochen Fluch. Erst sah sie ei­nen Jun­gen­fuß. Dann eine zweiten. Dem folgte ein Junge nach, der aber in der Luft hing, weil der Baum einen Zipfel von ihm in seinem Maul festhielt. Der Bauch des Jungen war frei und weiß und nicht ganz sauber. Dann spuckt der Baum ihn aus. Wie der Apfel lande­t der Junge federnd auf ihrem Rasen. Als sie ihm fest in die Augen sah, nahm die Hand in sei­nem Rücken verstohlen den Apfel auf.
"Hast du mich beobachtet?", fragte sie.
Der Junge schüttelte stumm den Kopf. Er hatte ja von oben nichts sehen können. Wenn er sie gesehen hätte, dann wäre er dort geblieben, bis sie fort war. Aber das ver­stand sie nicht. Sie sah ihn nicht einmal streng an.
"Ich bin ein Räuber", sagte er, "aber nur im Spiel."
"Ich bin eine Fee", sagte sie, "aber nur in meinem Garten."
"Die anderen sind Ritter", erklärte er, weil sie ihm nicht glaubte. "Ich muss mich verstecken. Da bin ich eben geklettert, damit sie mich nicht finden."
Stumm sah die Frau den Jungen an. Er war sich si­cher, dass die Frau eine Fremde war. Aber er wusste es nicht genau, weil er Er­wachse­ne immer so schnell vergaß.
"Sind sie auch mal geklettert?", fragte der Junge. Das war ein Trick. Damit sie nicht an den Apfel dachte, den er versteckt in seinem Rücken hielt.
Sie bemerkte, wie sie einen roten Kopf bekam. Dem Jun­gen waren einige Strähnen in die Augen gefallen, die sie ihm am liebsten zur Seite gestrichen hätte. Seine Augen sahen tief in die ihren hinein.
"Schämen sie sich, weil sie nicht klettern können? ... Ich konnte auch mal nicht klettern, aber jetzt kann ich es!"
Sie spürte, daß ein Lächeln ihr auf das Gesicht wollte. Sie er­laubte es nicht, aber das Lächeln hatte eine eigene Kraft. So begann sie zu lä­cheln. Das Gefühl davon breite­te sich auf ih­rem Ge­sicht aus und drang kitze­lig bis in die Haar­spit­zen vor.
"Ich gehe jetzt", sagte der Junge. Die Frau nickte, aber der Junge ging nicht.
"Haben sie keine Kin­der?", fragte er.
Sie schüttelte wortlos den Kopf. Mit einem Mal war sie weit weg, und die Traurigkeit war näher als der Junge.
"Dann darf ich den Ap­fel mit­nehmen? Er ist ja nun run­ter­ge­fallen und weil sie keine Kinder ha­ben ..."
"Ja", sagte sie, "nimm den Apfel, ich habe kei­ne Kin­der. Was soll ich mit einem Apfel? Da kann ich ihn dir gleich schen­ken."
Der Junge nahm be­hutsam den Apfel auf, als könne er ihn zer­brechen.
"Die meisten wollen als Kind einen Jungen", sagte er. "Ich bin ja einer, da weiß ich es."
"Ich habe es mir noch nicht überlegt", sagte die Frau und war nicht ehrlich. Der Junge hatte einen Mund, den sie nicht anzuschauen wagte.
"Aber vielleicht bekommen sie einen", sagte der Junge, "ich mei­ne, wenn sie wollen ..."
"Doch", sagte sie, "ein Kind will ich schon - jeden­falls heimlich."
"Ach, sie be­kommen be­stimmt ein Kind. Ich bin ja auch da, und meine Eltern sa­gen, sie ha­ben mich gar nicht ge­wollt. Ich bin einfach so gekommen ... dann gehe ich jetzt."
Sie sah ihm traurig nach. Er hatte den Apfel in den Mund geschoben, um die Hände frei zu haben. Dann kletter­te er über den Zaun. Es war ein schmutziger Junge und ein saube­rer Zaun. Aber sie störte sich nicht daran, sondern freute sich, dass er mit ihr gesprochen hatte.
'Die ist aber ein bisschen ko­misch', dachte der Jun­ge, 'aber der Apfel ist toll!'

Chapter 2. Die Hochzeit des Füsten

Der Fürst saß im Halbdunkel und be­trachtete das Gesicht seiner schlafen­den Frau. Die Hochzeitsnacht hatte Reste von Stim­men und Musik in sei­nem Kopf zurück­gelassen. Er saß da und fror ein wenig, weil es früh am Morgen und der Kamin kalt war. In den letzten Tagen hatte er ständig ge­froren. Seine Haut war gelb und voller Kältepusteln.
Er war der Fürst von einem sehr unbedeutenden Fürsten­hof. Er selber sagte, ein Fürstenhof, der so weit ent­fernt vom Kaiserhof liege, könne nicht bedeutend sein. Aber die Leute sagten, dass er unbe­deutend sei, liege daran, dass er sehr klein sei. Wahr­scheinlich wisse der Kaiser nicht ein­mal, dass es diesen kleinen Für­stenhof gebe. Sagten die Leu­te und wa­ren für sich froh darüber.
Das Fürstentum be­stand aus einer kleinen Stadt und drei Dör­fer, die sich nicht entschei­den konnten, ob sie hin- oder weg­sehen sollten. Es gab sehr viel Wald drum­her­um und da­hin­ter gro­ße Weiten öden Lan­des. Die dort Ansässi­gen sag­ten, dass dies Land nicht mehr zu seinem Fürsten­hof ge­hörte. Aber es wa­ren Her­umzie­hende, die nur wenige Worte ver­stan­den. Der Für­sten­hof selbst lag in ei­ner Senke und war erst zu sehen, wenn man davor stand.
Noch niemals zuvor hatten Hergereiste in den drei Dör­fern nach dem Weg dorthin gefragt. 'Der alte Fürst heira­tet', wussten die Leute mit einem Mal zu sagen. Sie waren trau­rig, dass der Fürst so arm war, dass er sie nicht einladen konnte, aber sie wünschten ihm trotzdem Glück. Das sagten sie den Reisenden, die von weither kamen.
'So unbedeutend kann unser Für­stentum nicht sein, wenn sie es kennen', sagten die Äl­te­ren. 'Sicher kommen sie, weil ihnen die Braut bekannt ist', sag­ten die Jüngeren.
Niemand hatte gedacht, dass der Fürst einmal heiraten würde. Und wirklich fiel ih­nen erst bei seiner Heirat auf, dass der Fürst bis in sei­ne späten Tage hinein ­ver­gessen hatte, einen Nach­kommen zu zeugen.
Die Freunde des Fürsten waren alle zu seiner Hoch­zeit gekommen, hat­ten mit ihm ge­fei­er­t, sich am Wein und an al­ten Ge­schichten gewärmt und ihn hoch­leben lassen. Aber er konn­te sich nicht so fühlen wie sonst. Was folgen wür­de, be­drück­te ihn. Sei­ne Freunde hatten ihre Wit­ze über ihn und sein Schicksal gemacht. Nicht mehr als ein wenig wollten sie ihn damit quä­len.
Kendir hatte sich eine Hand vor die Augen ge­hal­ten, als sei­en sie ihm verbunden, und taste­te mit der anderen den Fürsten ab, mit Ausrufen des Ent­zückens. Die bei­den ande­ren Freunde hatten die Szene mit lustvol­lem Stöh­nen be­glei­tet.
"Zieh dich aus, du Schö­ne!", kam es von Ken­dir. Er war dem Fürsten durch das wenige Haa­r ge­strichen und hatte gerufen: "Was für volles Haar du hast! Ich werde mich damit zudec­ken."
Von hinten hatte Tenkho ihm in den Wams ge­faßt und in die dün­ne Brust gekniffen: "Das ist Milch ge­nug für ein Ge­schlecht von Helden und die Söhnen von Helden!"
Nell hatte ihm das Ge­sicht abgetastet: "Deine Haut ist wie das Ufer des Flusses. Die Nase wie eine Weide, der Schatten meiner Jugend!"Was hat­ten sie gelacht, aber dem Für­sten war es nicht leichter gewor­den.
Dann - wie es die Sitte verlangte - wurden ihm die Au­gen ver­bunden und seine Frau hereingeführt. Es war mit einem Mal still gewesen, als sie den Saal be­trat. Sei­ne Freunde wa­ren ver­stummt. Er hörte noch ihren Atem neben sich und roch den Dunst des Weines.
Nun musste er sich zu seiner Braut vortasten. Er stieß gegen einen Tisch. Die Hand geriet ihm dabei in die Soße von ei­nem Teller, die andere bekam einen kal­ten Kno­chen zu fassen. Die Gäste riefen ihm, wohin sei­ne Schrit­te ihn führen soll­te. Gegen alle vier Wände glaubte er, gerannt zu sein. Er trat auf Füße und Röcke. Betastete Frauenhaar und kam dem Feuer sehr nah. Es dau­erte unend­lich lang, bis er bei seiner Frau war, die mit zwei spitzen Fin­gern seine bekleckerte Hand auf­nahm und ihn hinaus führ­te.
Da wusste er noch nicht, dass sie es war, aber die Gäste hatten ge­klatscht. Man­che Gä­ste hat­ten ihr Lachen nicht unter­drüc­ken kön­nen. Lachen und Klatschen liefen zusammen und hatten einen falschen Ton.
Schira hieß seine Braut, und fremd wie ihr Name war ihr Gesicht. Für andere Männer war sie sicherlich eine Schön­heit. In ihrem schma­len Gesicht zeichneten sich Brauen und Wimpern mit feinen Tusche­striche ab. Ihre Lippen waren voll, und sie besaßen viel Wei­ches.
Wie es Sitte war, hatte er das Tuch nicht von den Augen nehmen dürfen, als er mit ihr al­lein war. Immer noch blind war er in ihrem Brautzimmer gestan­den. Sie hat­te ihn losgelassen. Hinter ihm war die Tür leise zuge­fal­len. Sie sag­te nichts, während er sich durch den Raum tastete. Es brauchte eine lange Zeit, bis er sie ge­funden hatte. Sei­ne Hände berührten zuerst ihr langes Haar. Er fühlte, daß seine Hände noch schmutzig waren von dem vorangegan­genen Mal­heur. Langsam ertastete er sich ihr Gesicht. Sie war nur we­nig klei­ner als er. Weil es Sitte war, zog er sie aus. Sie ließ es gesche­hen wie eine Schan­de, für die sie sich ge­wapp­net hatte. Viel lieber hätte er mit ihr gere­det. Und noch viel lieber wäre er bei seinen Freunden ge­blie­ben.
Jetzt im frühen Halbdunkel lag das Gesicht, das sie zur Hochzeit getragen hatte wie eine Maske neben ihr. Das Morgenlicht hatte sich behut­sam ihrem Schlaf und ihrem Haar genä­hert. Sie hielt die Hand ge­schlos­sen. Die Haut war weißes Papier, die Tusche­striche darauf Zeichen in ihrer fremden Sprache. Das Erschrecken ließ sein Herz klopfen. Er dachte zum ersten Mal in seinem Le­ben, daß er etwas völlig falsch gemacht hatte. Da hatte er nach lan­ger Zeit endlich ge­hei­ratet und fühlte nichts als schuldschwe­re Fremdheit!
Die Bilder der Nacht begannen, das Bild der Schlafen­den zu überdecken: Mit verbundenen Augen hatte er sich ausge­zo­gen. Als er damit fertig war, stellte er fest, daß sie ihren Platz verlassen hatte. Wieder tastete er sich durch den Raum auf der Su­che nach ihr. Schließlich stand sie vor ihm, aus­gezogen und still, und ihre Haut fror. Was für ein Bild er abgab, konnte er sich den­ken - mit seinen schmut­zigen Händen, die den Raum absu­chten, ohne ein Kleidungs­stück, umweht vom Atem des Wei­nes.
Der Bauch war ihm schwer. Auf Blase und Darm drückten die Ge­nüsse der letz­ten Stunden. Er hät­te eigent­lich ein Geschäft er­ledigen müssen und spür­te dabei, dass sie ihn ansah. Er fror in ihrem Blick. Als er ihren gepressten Atem hörte, berührte er sie nicht, sondern hob die Hände und ließ sie fal­len.
Jetzt am Morgen lächelte ihr Gesicht. In ihren Traum war das Glück ihres Herzens getre­ten. Er sah eine Frau, die er von dem, was sie geliebt, fortgerissen hatte. Es war nicht seine Schuld, aber mit seinem Namen wür­de sie ihren Verlust immer ver­bin­den. Ihre Hand hatte sich ge­öff­net. Ihre Lippen sagten etwas, was er nicht hören durfte.
Im Nachbarzimmer schnarchten seine Freunde. Das Ge­räusch kratzte sich die Wände empor und ließ sich von dort er­schöpft hin­untergleiten. Immer wieder hinauf die An­strengung und hin­ab die Erschöpfung - und hinauf und wieder hinab. Wenn er bei seinen Freunde wäre, dann hätte er wie sie geschlafen. Um die Wette wären sie die Wände emporge­klet­tert.
Aber er lag wach und fand zwischen dem Schnarchen sei­ner Freunde und der unbekannten Stille von Schiras Atems kei­nen Schlaf.

Chapter 3. Der Schreiber wünscht sich eine Tochter

Der Fürstliche Schreiber stand vor dem kleinen Tor des Gartens und hantierte an seinen Schu­hen. Das Leder war wie eine Schale hart, und an den Schnallen hatte er sich ein­mal die Fingernägel ab­gebrochen. Nach den Schuhen zog er auch die Strümp­fe aus und ging zum Haus, nicht auf den Trittstei­nen, son­dern mit den nackten ­Soh­len im kit­zelnden Wei­ch des Grases.
Eigentlich moch­te er den Gar­ten nicht. Für einen solch kleinen Garten hätte sie nicht einen Gärtner ein­stellen müs­sen! Was sah sie in einem Gar­ten, der her­um­stand wie zum Spaziergang eine Dame mit einer an­deren, die nichts zu tun hatten, als dar­auf zu war­ten, dass das Wet­ter schön blieb?
In den letzten Tagen war seine Frau anders gewesen. Ihre Augen, die ihn anblickten, hielten nichts richtig fest. Die Bewegun­gen ihrer Hände waren unachtsam, als messe der Kopf ihnen ein falsches Maß. Er hatte sich gefragt, ob seine Arbeit, die so viel geworden war, eine Schuld an ihrem Zustand hatte. Aber es kam von ihr, aus ihr, stellte sich vor sie hin wie eine frem­de Person zur Wache gegen die gewöhnlichen Dinge.
Heute hatte sie nicht auf ihn gewartet. Aber sie war in ihrem Garten gewesen, kurz bevor er gekommen war. Ihr Ge­ruch lag noch in der Luft. Es war der Duft des Wal­des. Geschlagenes Holz, dem der Regen die harzigen Trä­nen ab­zuwaschen begann.
Sie würde in ihrem Zimmer sein. Er sah die Treppe hoch. Seine Sa­chen lagen nicht unten, wo sie sonst immer lagen. Einen Ruf nach ihr ge­stattete er sich nicht. Er merkte, dass seine Füße die Feuch­te des Ra­sens in das Haus getra­gen hat­ten. Stufe um Stufe ging er langsam die Treppe hoch. Mit jedem Tritt ermahnte sie ihn, schonungsvoll und leise zu sein.
Die Dinge sahen ihn streng für eine Ungehörigkeit an, von der er nichts wusste. Ein­zig der kleine Affe auf dem Bild, das der Fürst ihm zum Geschenk gemacht hatte, tat es ihnen nicht gleich. Er leckte im hohen Baum an einer Frucht, die seinem roten Hinterteil glich, und wollte ihn nicht bemerkt haben. Schläulich blickte der Affe aus und spürte wohl dabei die Blicke der neidenden Feinde.
Die Tür zu ihrem Zimmer war einen Spalt offen. Die Scha­niere erschreckten sich vor dem eigenen Ge­räusch. Sie lag im Kleid auf dem Bett, das Ge­sicht zur Wand. Leise trat er von hinten an sie heran. Machte die Schritte mit den Zügen ihres Atems langsam. Berührte die Haare mit den Au­gen und besaß keine Hände.
"Der Hegad ist gestorben", sprach er leise. "Der Lehrer der Lehrer ist tot. Er war auch mein Lehrer am Kaiserhof. Wie viele hat er unterrichtet!? Nun ist er tot. Die Schreiber sprechen davon."
Er sprach nicht weiter, weil niemand seiner Stimme zu­hörte, nicht einmal er selbst. Das Gesagte hatte er sich auf dem Weg vorgesprochen. Nun war es herausge­fallen, als er nicht aufgepasst hatte.
"Ich werde ein Kind bekommen", sagte sie und sah weiter zur Wand. "Ich ahne es, ich weiß es - ein Kind."
"Ja", flüsterte er zurück, "ein Kind - ich habe es ge­wusst."
"Du konntest es nicht wissen", sagte sie ärgerlich. "Niemand vor mir konnte es wissen. Was redest du da?"
"Natürlich", sagte er, um ihr nicht die Freude zu ver­derben, "niemand konnte es wissen."
"Heute war ein Junge in meinem Garten. Er sprang aus dem Baum, so plötzlich. Er hatte sich ver­steckt, weil er im Spiel ein Räuber war."
"Es wird ein Mädchen", sprach er leise an die Wand. "Ich fühle, dass es ein Mädchen wird."
"Er war so schmutzig! Ob er keine Mutter hatte? Ich habe ihm einen Apfel gegeben."
"Wie du soll es sein", flüsterte er in ihr Ohr. "Ein kleines Wesen aus Weinen und Lachen, aus Tränen und Son­nenschein. Wie ein Regenbogen, mit dem der Himmel die Blu­men berührt, die im Nebelgrund stehen."
Da hatte der Schlaf schon ihren Atem geglättet und ihm die schönen Worte ungehört zurückgegeben. Sie träumte von einem hohen Baum. Darunter stand sie als kleines Mäd­chen in einem wei­ßen Kleid. Im Baum ganz oben saß ein Junge.
'Soll ich zu dir run­terrut­schen ?', rief er.
'Ja, aber worauf willst du rutschen?'
'Siehst du nicht den Regenbo­gen vor deinen Fü­ßen?'
Er ließ sich los, und als er zu rutschen begann, da sah sie, dass er wirklich auf einem Regenbogen rutschte und vor ih­ren Füßen landete.
'Ich habe einen Apfel in deinem Baum versteckt. Ein Ap­fel bringt Glück.'
'Ja', sagte sie, 'nur wir wissen, wo das Glück versteckt ist.'
'Wie schön du bist', sagte der Junge. 'Ich will dir ein Stück von meinem Regenbogen schenken und dir daraus einen Umhang machen.'
Der Mann hatte die Decke über seine Frau gebreitet und sich an ihre Seite gesetzt. Er sah, dass ein tiefes Ver­gessen ihre Schultern bewegte. Leicht glitt ihr Atem im­merglei­chen Tä­ler und Höhen nach. Er wagte nicht, der Schlafenden über das Haar zu streichen. Scham wie von ei­ner Treulo­sigkeit leg­te sich heiß auf sei­ne Stirn.
In der vergangenen Nacht war seine Frau im Schlafen auf sei­ne Sei­te hinüberge­rückt. Er hatte es geschehen las­sen, war unter dem dün­nen Rest eines Traumes herausge­glitten und lautlos aus dem Zimmer ge­treten.
Der Affe, der niemals schlief, hatte ihn ange­se­hen und keinen Laut gemacht, nur seine menschengroßen Augen ihm zur Begleitung nachgesandt. Dann war er die Treppe hinun­terge­schlichen, wo keine Stufe sich wecken ließ. Wie ein frem­des Tier, ein Schatten in einem Schat­ten. Draußen die Nacht hatte ihn aus Mond­schlitzaugen angesehen.
So war er in der Tür gestanden und hatte zur Treppe zurückgeschaut, ob seine Frau ihm nicht nach­gegangen war. Sie und sich vergessend, hatte er in das Weite hinausge­flüstert: "Ich wünsche mir ein Kind, ein Mädchen - ganz für mich!"
'Dein Wunsch soll dir in Erfüllung gehen, träumender, wacher Mann', hatte die Nacht ihn mit ferntönender, dabei selt­sam knarzender Stimme angesprochen.
Schniefend hatte sie die Luft durch windengen Schlund einge­sogen und gesagt: 'Hach, Röch. Kannst glau­ben, was ich dir weissage. Habe nur einen schreck­lichen Schnup­fen.'
Stumm hatte er genickt. Wie auch hätte er sie ansprechen sollen? Was hätte er erwidern sollen?
'Nur soviel sag' ich: Niemand darf von dir und mir wissen - deine Frau nicht und niemand.' So die Stimme der Nacht, waldtiefer Rabenchor hoch in schwer altem Geäst.
'Es sei dein und mein Kind', hatte die Nacht ihm gedeu­tet. 'Un­ser Kind sei es, wenn niemand davon weiß!'
"Ich verspreche mein Schweigen." Das war von ihm so in Hast und leise ge­sagt, dass er Angst gehabt hatte, sie habe es nicht ge­hört.
Nun saß er am Bett seiner Frau und dachte verwundert, dass die Nacht ihr Wort ge­halten hatte. Schließ­lich, in der Lang­sam­keit des Abends kam das Glück über ihn.

Chapter 4. Oberer Medith erfüllt seine Pflicht

Er war Soldat des Fürsten, und als solcher würde er al­les ausführen und keine Fragen stellen. Dass der Fürst ihn um diese späte Stunde zu seinen Privatgemächern bestellt hatte, würde ihn nicht wundern. Dass der Fürst ihn bei seinem Namen genannt hatte, darüber sollten sich seine Kameraden nicht den Kopf zerbrechen.
Rührungslos stand er vor der gro­ßen, mit Fa­bel­wesen bemalten Tür, als hande­le es sich um eine ganz nor­male Torwa­che. Es war ein Drache darauf dargestellt. Die ande­ren Tiere kannte er nicht. Manche hatten Flossen wie Fische. Es war ein einziges Gefresse zwischen ihnen.
Der Soldat war der einzige auf dem Gang. Die Diener wa­ren längst gegan­gen, und aus dem Zimmer drang kein Ge­räusch. Wenn ihn der Fürst vergessen hatte, dann war das nicht weiter schlimm. Er war von Wachen her gewöhnt, dass nichts ge­schah.
Da öffnete sich die Tür, leise und heimlich. Der Fürst sah für einen kurzen Augenblick auf den Gang und winkte den Soldaten mit der Hand herein. Als der Soldat eingetre­ten war, schloss er die Tür und stell­te sich von außen davor.
Soll­te der Soldat sich nur wundern, dass er nun allein im Zim­mer stand! Der Fürst musste überlegen. Noch war er sich nicht schlüssig, ob er richtig handelte. Er hatte mit sei­ner späten Heirat einen schlimmen Feh­ler gemacht. Viel­leicht vergrößerte er ihn, mit dem, was er vorhatte.
Der Soldat stand drinnen ebenso stramm, wie er draußen gestanden hatte. Sei­ne Augen wa­ren zur Decke gerichtet, wo ein Maler mit Tu­sche kleine Hände gemalt hatte, die Zweige und Blumen­kränze
hiel­ten und sich eine Leier zuwarfen. Die Kinder, denen diese Hände gehörten, hatte der Maler hinter Wolken, die aus Gips geformt waren, versteckt.
Dann be­trach­tete der Soldat das rie­sige Bett, welches in der Mitte des Rau­mes stand. So ein Bett hatte er noch nie gese­hen. Es hatte die Größe eines kleinen Reisfeldhau­ses. Ein weißer Schleier war dar­über geworfen worden, viel größer als jedes Stech­mückennetz, das er in seinem Leben gesehen hatte. Einem solchen Bett konnte er nichts abge­win­nen. Für dieses Bett schon wollte er ein Fürst nicht sein! Sein Wunsch war, den Schlaf im Stehen zu finden. Eigent­lich war das der Traum eines jeden Sol­da­ten.
'Habe ich wirklich eine Wahl?', dachte der Fürst, wäh­rend er draußen über den Gang schritt. Ein Fürst musste ei­nen Nach­kom­men haben. Das war der Zweck seiner Ehe mit Schira gewesen, sein Versprechen an ihren Vater. Einen Sohn zu ha­ben, war auch der Zweck der Zeugung gewesen, die ihn zu einem Fürsten gemacht hatte. Ohne ei­nen Sohn hätte er ein Verbrechen an sei­nem Vater und des­sen Vätern began­gen. Ein kleines Fürstentum brauch­te einen Sohn drin­gender als ein großes!
Wenn er warte­te, würden Ge­rüchte laut werden. Man würde genau hin­sehen. Hatte man doch im Stillen erwartet, dass das Fürstentum zu Ende gehen würde. In der Überraschung der Heirat waren all diese Zweifel verstummt.
Jetzt war der Zeit­punkt günstig für das Vorhaben des Fürsten. Nie­mand würde arg­wöh­nisch sein. Alle würden ihn geradeheraus be­glück­wün­schen. Dann hatte er seine Ruhe, und auch Schira ihre. Eine Sohn sollte sie bekommen! Den würde sie lie­ben können und hatte etwas für sich!
Er kehrte zur Tür zurück. Blieb kurz davor stehen, gab sich dann einen Ruck und öffnete sie mit fürstlichem Schwung. Der Soldat verzog keinen Miene und nichts als Mut stand auf seinen Lippen geschrieben.
"Wie ist euer Na­me?", fragte der Fürst. Das Kommando für eine lockere Haltung gab er nicht.
"Oberer Medit bin ich, von der Torwache", meldete der Soldat. "Im Dienst bei euch im fünften Jahr." Er warf den Kopf zurück und nahm eine noch starrere Haltung an.
"Ich werde etwas sehr Ungewöhnliches von euch verlan­gen", sagte der Fürst. "Seid ihr verschwiegen?"
"Ich bin Soldat, Fürst. Ich würde töten und mich töten lassen, wenn ihr es befehlt. Reden ist nicht meine Art."
Der Soldat war so groß wie der Fürst, aber ganz an­ders als die­ser von kräftiger Sta­tur, die ihn jetzt im besten Mannes­alter noch nicht dick er­scheinen ließ.
"Es geht nicht um das Töten", entgegnete sanft der Fürst. "Seid ihr verheiratet oder steht euch der Sinn danach?"
"Ich bin nicht verheiratet und kann sagen, dass ich kei­ne sagen kann, nach der mir für eine Heirat ist. Meint ihr es so?"
"So war es gemeint, Oberer Medit. Richtig verstanden habt ihr das! Wie ich gehört habe, habt ihr fünf Brüder."
"Jawohl, Fürst, es sind fünf. Aber ich bin der einzige, der Soldat geworden ist. Die anderen sind Bauern wie mein Vater."
"Fünf Söhne also hat euer Vater bekommen und keine Töch­ter, nein?"
Oberer Medit schüttelte den Kopf. "Fünf Brüder sind wir, alle im Alter von einem Jahr auseinander, und der Jüngste mit zweien dazwischen. Der Älteste bin ich und habe ihnen oft den Vater machen müssen."
"Nehmen wir an, ich würde euch befehlen, zu einer Frau zu gehen, ohne dass ihr wisst oder fragt, wer sie ist. Das wür­det ihr tun?"
"Das würde ich tun. Mein Bestes würde ich geben, wenn euch das genügt?"
"Gut, Medit, ich glaube, ihr seid der richtige Mann. Seht her! Macht eure Haltung locker! Seht her, was ich habe: Es ist ein schwarzer Überzug, der keine Augen hat. Nur eure Hände sind darin frei. Wollt ihr freimachen und ihn über­ziehen?"
Oberer Medit stand wieder stramm, lockerte seine Glieder aber sofort wieder durch. Auf Zeichen des Fürsten zog er alle seine Kleidungsstücke nach und nach aus und legte sie sorgfältig übereinander. So stand er vor dem Fürsten, der ihn wirk­lich prächtig gewachsen fand. An den Hüften neigte er ein we­nig zur Fülle. Alles andere war mehr als vor­zeigbar, ja, muss­te des Fürsten Neid erregen.
Der Fürst hatte den schwarzen Überzug nach der eigenen Größe anferti­gen lassen, und Medit hatte diese Grö­ße. Der Stoff war schmiegsam und sanft. Von der Hüfte hinab war er weit geschnitten und ließ sich so leicht nach oben strei­fen. Man sah von Medit nichts als seine breiten Hände mit den Fin­gern, die ein wenig kurz geraten waren. Seine stramme Körper­haltung ließ sich trotz des Umhanges erah­nen.
Der Fürst führte Medit zum Bett und befahl ihm, Hal­tung anzuneh­men. Er unterwies ihn aufs Neue, sich nicht zu rüh­ren und nichts zu sagen, was immer ge­schehen möge. Der einzige, der etwas sagen werde, sei er, der Fürst.
Dann ging er zu dem Gemach seiner Braut. "Schira", sagte er, "komm, er ist da. Wir sind so­weit. Hast du dich ferti­gemacht?"
Sie trat hinter dem zweiteiligen Schirm hervor. Einen leichten Umhang hatte sie über die Schulter gezogen, den sie vorne mit den Händen geschlos­sen hielt. Auf dem weißen Stoff waren knospende Wei­denkätzchen ge­zeichnet. Diesen Stoff hatte er für sie und diesen Tag ausgesucht. Fast war ihm, als ahme sie die Haltung seines Sol­daten nach.
"Dann komm", sagte er. "Wir wollen ihn nicht warten las­sen. Du darfst kein Wort sagen. Keinen Laut, nichts. Hast du gehört? Hast du eine Essenz benutzt? Nichts darf dich verraten ..." Er beschnup­perte sie, konnte aber nichts feststellen. Dann nahm er sie bei der Hand und führte sie hinaus. Sie folgte ihm, ohne Laut und Schwere.
Niemand begegnete ihnen. Selbst wenn sie jemand gesehen hätte - was war dabei, wenn er die Fürstin in sein Ge­mach führ­te?
Er schloss die Türe hinter sich und schob den unte­ren, dann den oberen Riegel vor. Schira hatte keinen Blick für die Gestalt, die schwarz und soldatisch am Bett warte­te. Sie ging von allein, schob die Vorhänge zur Sei­te und legte sich so auf das Bett, wie es sein musste. Schwarz zeich­nete sich die Scham ab, schärfer noch als die Brauen.
Der Fürst führte die Hände von Medit. Er führte sie über den Rahmen des Bettes und zeigte ihnen alles - eben alles, worauf es an­kam.
Dann setzte er sich neben seine Braut und nahm ihre Hand. Ein Blick ihrer glühenden Augen stieß einen Dolch in sein Herz. Aber er sah zur Decke und betrach­tete die schweren Wolken aus Gips.

Chapter 5. Die Wahrsager

Wenn die Frau des Schreibers sich in ihrem Garten auf­hielt, dann wurde ihr das Stehen schwer. Sie mied die Blumen, die einen schweren Duft aus den hängenden Blüten absonderten. Die Stelle war ihr die liebste, wo der Apfel­baum sich einen selbst­gesprä­chi­gen Schatten ga­b.
Alle die Äpfel waren herunterge­fallen, und der Gärtner hat­te sie weggebracht. Leer stand der Baum, sich tröstend in ihrem Versprechen, dass das Fremde in ihrem Körper nichts vergessen machen konn­te.
Ihr Ge­sicht hatte sich verändert. Die Au­gen waren her­vor­getre­ten. Flüssig­keit hatte sich unter der Haut ge­sam­melt und die Linien des Gesichtes aufgeweicht. Obwohl sie sich langsamer bewegte, wurde ihr oft der Atem kurz. Die Freude in ihr brauchte keinen Anlass, eben­sowe­nig die Traurig­keit. Sie kamen ungerufen und blieben, als trenne sie nichts.
Ihr Körper roch jetzt anders. Er hatte den Geruch einer anderen Frau angenommen. Da wusste sie, dass es eine Tochter war, die sie bekommen würde. Sie versuchte, diesen fremden Geruch zu über­decken, aber er war stärker als ihre Duftmit­tel.
Ihre ge­liebten Haare hat­ten allen Glanz verloren. Manch­mal ver­gaß sie einen Tag lang, sich zu kämmen. Die Hände waren ange­schwol­len. Sie mochte nicht darüber streichen. 'So', dachte sie, 'muss es sein, wenn ich alt geworden bin.' Es war ein Grauen, dem man den Tod wünschte.
Am Morgen war sie aufge­wacht, hat­te sich lange im Spie­gel angesehen und auf ein Ge­fühl des Glücks gewartet. Sie hatte gewar­tet, dass ihr davon die Röte ins Ge­sicht stieg. Aber sie fand, dass sie nur immer blas­ser aussah.
'Ein Kind ist es', dachte sie. Sie malte ihr Zeichen dafür mit Spucke auf den Spiegel: KIND. Sah ihr Gesicht im Spie­gel, auf dem sich Blasen und Tropfen von der Spucke gebil­det hatten.
Der kleine Jun­ge mit dem Apfel war nicht mehr in ihren Garten gewesen. Heute würde sie Besuch von einem Wahrsager bekommen. Sie hatte ihn nicht ge­wollt. Von ihrem Mann war er herbestellt worden. Was er sich davon versprach? An solche Dinge glaubte er nicht. Es war, als wollte er sie von etwas ablenken.
'Ein Hellse­her', hatte er ge­sagt, 'ein Arzt der Zu­kunft, der das Ge­sicht be­trachtet, die Hände, sogar die Fußsoh­len, al­les mögli­che, und da­nach den Charakter des Kindes be­stimmt und auch sein Ge­schlecht.'
Die Frau seines Vorstehers sei begeistert gewesen. Er komme aus einem frem­den Land und habe ihr geweissagt, dass sie einen Sohn bekommen werde, ei­nen Zehn­pfünder. Geld habe er keines genommen, nur Wein­brandt, eine ganze Fla­sche, und zwei ihrer sehr teu­ren, geschliffenen Wein­glä­ser, weil es zwei Hell­seher waren. Der eine habe ge­sagt, Geld­noten könne er in sei­nem Land nicht tauschen. Der andere habe geschwiegen, aber er sei der Kluge und Hell­sehende gewesen. Das habe die Frau seines Vor­stehers gesagt, so ihr Mann.
Dabei wusste sie, dass sie ein Mädchen bekommen würde. Da brauchte es keinen Hellseher. Das kostete nur Geld. Sie dachte an ihre Mut­ter, die sie nicht mehr gesehen hatte, seitdem ihr Mann hierher versetzt worden war. Nun musste sie sich für das Kind eine Amme nehmen. Die würde Geld kosten, der Gärtner war nicht zu hal­ten. Ihr schöner Gar­ten würde ver­fallen.
Die Nach­barn wür­den ihr nachsehen und über sie sprechen. 'Ja, ja', würden sie un­überhörbar tuscheln, 'die Frau ist sie, die, welche diesen wun­derbaren Garten hat­te: die Äpfel wie lackiert, die Bäume, das ahnen sie nicht, und ein Gärtner, ein ei­gener Gärtner. Eine Tochter hat sie bekom­men, jawohl - und ist einmal eine sol­che Schön­heit ge­we­sen, dass man neidisch werden konnte.' So würden die Nachbarn reden, lauter und immer lauter.
"Dür­fen wir hereinkommen?", rief in ihren Rücken eine Ge­stalt, die schon mitten im Gar­ten stand.
Es waren beim Hinsehen zwei Gestalten, die zu einem tiefbau­chen­den und hoch­hagernden Wesen verschmolzen waren. Der Kleine war schwer be­la­den mit Bün­deln, in denen es klirr­te, dass man an das Schlimmste denken musste.
Er ver­beugte sich stän­dig in alle Richtungen und rief flö­tend: "Bitte sehr, be­achten sie, meinen Herrn und Mei­ster, er weiß alles über sie. Bitte sehr, ihr Le­ben, ihre Zu­kunft, er kennt sie!"
Der andere, dieser sein Herr und Meister, war groß und dürr und besaß lange Zähne, die an den Rän­dern faul waren. Sein furchiges Kinn war ständig in Bewe­gung, weil er nicht aufhörte, damit zu kauen. Vor langer Zeit einmal war sein Mantel schwarz gewesen. Nun be­saß er den Oberflä­chenglanz des Speck­schie­fers.
Beide sahen sie aus und ro­chen, als hätten sie die letzte Nacht im Frei­en ver­bracht und ihre Ein­nahmen ausge­trunken. Der Kleine fuchtelte mit den Armen, während der Große sie auf dem Rücken verschränkt hielt.
Die Frau stand auf und lächelte. Dann setzte sie sich wie­der, weil die Kniee sich nicht durchdrücken ließen. Sie sah die beiden an und war nun doch froh über die Abwechs­lung und darüber, dass sie sich einen Spaß mit ihnen aus­gedacht hatte.
"Bitte sehr", flö­tete der Kleine, "wir sind gekommen - bestellt gekommen - wegen der Zu­kunft zu sagen, die fer­ne."
"Ja, aber wissen sie denn nicht?", fragte die Frau auf der Bank in völligem Erstaunen. "Sie als Hellseher müssten es doch wissen ..."
Der Kleine drehte sich klirrend um und sah zu seinem Mei­ster hoch. Dieser bewegte weiter mal­mend die Kie­fer und hatte nicht zugehört. Der Kleine zog ihn am Rock, worauf der Große ein Nicken spendete.
"... ääh", sagte der Kleine, "solche Dinge, wenn sie nicht sind hell genug, spricht er dunkel aus."
"Der gerade geborene Sohn von der Frau", erklärte sie ihnen, von der Bank hochblickend, "die hier wohnte, ist gestorben. Und die Frau ... vor Gram ist sie aus dem Leben gegangen."
"Meine Schuld, welche ich trage", rief der Kleine und deutete auf den ande­ren. "ER hat es gewusst, aber gespro­chen mir sehr dunkel da­von. Nun ich weiß, er hat gewusst alles. Die Frau, die gnädige, werte Frau des Höflichen Schreibers ist -"
Er wartete das traurige Nicken ab, faltete die Hände und setzte fort, "- ver­stor­ben ist sie. Un­ser Bei­leid, un­ser Mitge­fühl. Das ewige Leben, wir kennen ewiges Läben. Sie wol­len wis­sen die Zukunft der Frau im ewigen Le­ben? ... Nein? ... Sie wollen Gu­tes tun der Frau aus diesem Haus, dass sie allein nicht ist in die­ser schwe­ren Stun­de, für sich allein gelas­sen im ewigen Leben? ... Nein?"
Der Kleine suchte den Himmel nach einer Weisung ab, wäh­rend der Große die Augen wie weiche Steine aus dem Gesicht heraushängen ließ. Die Frau auf der Bank war schläfrig geworden. Hatte sie nicht zu schnurren begonnen wie eine Katze, wie eine mittagsmüde Katze? Also gab der Kleine einer letzten An­sprache einen kräftigen Stoß.
"Sie wollen Zu­kunft für sich alleine gese­hen? Wie fürch­tet Schick­sal von Menschen meinen Mei­ster, weil er sieht hin­durch sie wie ein Glas ... nein, e­ben­so nicht!" Er schüt­telte traurig das letzte Klirren aus dem Sack her­aus.
"Mein Mei­ster und ich, werte Frau, wir ha­ben Kin­der zu­hau­se, fünf frie­rende und hung­rige Mäu­ler", er hielt eine Hand hoch, die Kinder zu zählen. "Die Mut­ter ist gestor­ben. Die Ernte ist ver­brannt. Die Pferde sind davon­gelau­fen. Es ist ein Schick­sal! Die Trä­nen rührt es, wo Her­zen sind. Geben sie uns eine klei­ne Gabe, dass die Kin­der leben können... Oh, Mei­ster, sie hat ein Herz nicht von Güte. Hart ist es, haarig wie eine Kokosnuss, nicht ein Trop­fen Erbarmen darin. Die Frau, die ist gegangen vom Leben, sie war eine gute Frau ..."
Auseinandergebrochen unter der Erkenntis, dass sie zu spät gekommen waren, die Milde mildtätig zu finden, machte der Kleine eine Kehrtwendung. Er fasste den Mei­ster am Mantelsaum wie an einem Zügel, wor­auf­hin dieser den Hals drehte und sich abwandte. Beide gingen sie müden Wanderer­schrittes durch den Garten, hinausbegleitet vom Klang der Gläsern und der leeren Fla­schen.

Chapter 6. Medith als Kindmutter

Der Sohn des Fürsten bekam den Namen Woi. Seine Mut­ter starb, kaum dass sie ihn geboren hatte.
Auch der Kaiser erfuhr, dass Fürst Alta einen Sohn be­kom­men hatte. Dabei ließ er sich nicht anmerken, dass er noch nie von ei­nem Für­sten mit diesem Namen gehört hatte. Aber weil der Kaiser ver­gesslich geworden war - auch in den Augen der anderen - merkte er sich den Fürsten Alta, gerade weil die anderen diesen Namen gleich wieder ver­gessen hatten. In Abständen sprach der Kaiser nun von dem Für­sten Alta und sagte, dass man ihm DEN nicht ver­ges­sen soll­te.
Augen, Brauen und Wimpern des Fürstenkindes waren schwarz wie bei seiner Mutter. Auch die Zeichnung der Lip­pen hatte er von ihr, wobei das Gesicht aber breiter in seiner An­lage war. Wie dem Fürsten versichert wurde, war sein Körper, wenn nicht groß, so doch kräftig. Das Kind hatte funkelnde Augen. Die Leute sagten, es wären rechte Fürsten­augen. Sie freuten sich, dass es einen jun­gen Fürsten gab, und die Frauen wussten sich viel zu erzäh­len.
Soldat Medith erwies sich dem Kind als geduldiger und fähi­ger Ziehvater. 'Was soll ich die Aufgabe an jemanden anderen ge­ben', hatte der Fürst gedacht, 'wo er sich doch als Vater schon bei seinen vier kleineren Brüdern bewiesen hat?' Also wies der Fürst ihm eine ältere Frau zu, die für die kör­per­liche Pflege des Kindes be­reit­stand. Außerdem bekam Medith ein eige­nes Zimmer mit einer an­grenzenden Kam­mer für das Kind.
Im Ganzen verrichtete Medith gehorsam und wohl auch glücklich sei­nen neuen Dienst. Für Nachtwachen standen genug andere bereit, und es war nicht unüblich, dass die Erzie­hung eines Fürstensohnes in die Hän­den von einem alt­ge­dienten Solda­ten gelegt wurde.
Die Kameraden schauten herein und sahen nach dem kleinen Sohn. Da Me­dith einer von ihnen geblieben war, sahen sie es nicht anders, als dass der Kleine auch ein Sol­dat und da­mit ei­ner von ihnen war.
Woi schlief in einem Bett, das von Medith selbst gezim­mert worden war. Es war nicht eines von diesen zugedeckten Betten, so groß wie das Haus eines armen Bauern. Darin hatte sich Medith durchgesetzt. In keiner anderen Frage über­ging er den Fürsten und mit keinem Blick verriet er, was sie verband.
Es war nicht Mediths Art, und es war nicht die Art eines Soldaten, den Jungen vor jedem Windhauch zu beschützen. So lernte der Junge schnell, wo es am meisten weh tat. Er konnte heulen vor Wut, dass ein jeder Angst bekam. Er schrie so laut vor Freude, dass Medith sich in Sorge fragte, ob er sich nicht wehgetan hatte.
Wenn er hochgewor­fen wur­de, fingen ihn die gro­ßen Hände sicher wieder auf. Wie ein kleiner Sol­dat ließ er nichts über, aß alles auf und kratzte solange den Teller aus, bis Medith sich die Ohren zuhielt und eines von seinen Gesich­tern machte. Von Beginn an schlief er die Nächte durch.
Eines Morgens war Woi einfach aus dem Bett geklettert und hielt sich mit den Händchen am Rand fest, bis ihm die Knie wegknickten. Er fiel hin, war aber zu stolz auf sei­ne Leistung, um den Schmerz zu bemerken.
"Du bist mir ei­ner", flüsterte Medith in sein Ohr, "kommst auf deinen Va­ter und auf wen auch immer." Ein klein wenig waren seine Augen bei diesen Worten feucht geworden.
Dann hatte Woi versucht, Medith zu füttern. Der hatte einen schön großen Mund, der nach dem Löffel schnappte, sobald er ihn erhoben hatte. Das war einfach. Schwierig war es, den eigenen Mund zu finden. Blöd, dass man ihn nicht sah. Es klatschte so schön, wenn der Brei auf den Boden fiel.
Nach dem Mittagsschlaf machten sie einen Ausritt auf Me­diths Schultern. Sie ritten zu den Soldaten am Tor. Alle wollten sie sehen, wie gut er schon reiten konnte. Und Woi konnte reiten! Selbst Galopp machte ihm nichts aus, wenn er nur mit beiden Hän­den fest in die Haare von Medith gegrif­fen hatte.
Er berührte ganz vorsichtig die glänzenden Spit­zen der Speere. Mit einem Stein durfte er solange auf die Rü­stung hauen, wie er wollte. Krach machte ihm am meisten Spaß. Die Helme waren alle zu groß für ihn, und die ro­ten Federn durfte er lei­der nicht aus­reis­sen. Aber er bekam eine weisse Feder, die er nicht mehr aus den Hän­den gab.
Schon etwas langsamer ging es mit seinem Pferd weiter. Es fand es nicht toll, wenn Woi ihm die Haare aus­zog oder mit der Feder piek­ste. Wenn dem Pferd das Wasser über die Stirne lief, dann war es müde.
Die richtigen Pferde waren riesig. Aus ihren Nasen kam Dampf, und ihre Gesichter konnte sich Woi gut merken. Sie hatten Schuhe wie die Soldaten, aber eine weiche Rüstung, an der er nicht klopfen durfte. Ihre Zähne waren riesig und gelb. Vor ihnen ging Medith im­mer ein Stück zu­rück.
Wenn sie schnaubten und wieherten, lachte Woi. Das gefiel ihm, und er hätte gerne Medith auch schnauben und wiehern gehört. Das konnten aber nur die richtigen Pferde mit dem langen Hals. Woi durfte auf einem Sattel sitzen, der auf dem Boden im Stall lag. Ganz allein hielt er sich fest. Er zeigte auf ein Pferd, aber das schüttelte den Kopf.
"Nein, nein", sag­te auch Medith, "zum Reiten ist es viel zu früh. Üb du mal noch ein biß­chen auf meinem Rüc­ken. Gerit­ten wird erst, wenn du laufen kannst."
Wie er aber den Jungen so allein auf dem Sattel sitzen sah, war er richtig stolz. 'Das erste Mal, dass ich ihn sitzen sehe', dachte er, 'sitzt er in einem Sattel. Wenn das nicht etwas heißen will!'
Dann nahm ihn Medith zum Aufsitzen hoch. Woi durfte dem Pferd ei­nen Bund Hafer geben. Es schmeckte dem Pferd. Es nickte mit dem Kopf, dass Woi auch mal davon probieren sollte. Aber er mußte husten, öchöchich, und es kratzte. Medith schüttel­te nur den Kopf über solch einen Unsinn. Er mochte bestimmt auch keinen Hafer essen. "In deinem Brei ist ge­nug von dem Zeug drin", sagte er. Woi hob die Nase und ver­suchte zu schnauben. Medith wischte sich mit einem Tuch über die Haare. So ein Kind war eine feuchte Angele­gen­heit!
Sie ritten weiter zur Küche. Auf dem Weg trafen sie einen Gärtner, der Woi eine Blume schenkte, die ihm aber nicht schmeckte. Wois Pferd musste sich ausruhen, und er rollte sich im Gras immer eine Seite weiter, bis die Gärtner schrien, weil er an den Blu­men zog. Sie mussten schnell wegreiten.
In der Küche verbeugte sich Medith mit Woi auf den Schul­tern. Alle klatschten, dass der Junge sich so gut festhal­ten konnte. Was auch ein Glück war, denn es war ein biss­chen gewagt von Medith, ihm solche Kunst­stücke zu zeigen! Jede der Frauen durfte ihn einmal auf den Arm nehmen.
"Ist er nicht ein wenig feucht unten herum, Herr Sol­dat?" wurde Medith von einer gefragt. Er fühlte und wuss­te nicht so recht.
"Wir legen ihn einfach hierhin und ma­chen ihn sau­ber", sagte die Magd, welche gefühlt hatte. So wurde Woi auf eine krumme Holzbank gelegt und gesäu­bert. Er be­trach­tete die schweren Balken an der Decke, von der die Köp­fe wie wollige Bälle herab­hingen. Zwi­schen den Mündern flogen die Hände wie Vögel umher, und vom Ge­hörten nahm er auf, dass sie nur das Beste von ihn dachten.
Jeden Tag kam Woi einmal in die Küche gerit­ten und hielt Hof. Er durfte mit einem Holzlöffel gegen die Töpfe hau­en, und wenn er lachte und schrie und vor Vergnügen mit den Händchen ruderte, dann machten sie alle mit ihm Musik. Die Teller drehten sich im Kreis, die Löffel schlugen sich die Köpfe ein, und Medith haute 'DUMM-DUMM' auf den großen Topf. Jede Flasche hatte einen anderen Ton, und die Hände konn­ten klatschen, dass es wirbelig wur­de. Un­über­trof­fen, das Pfeifen des Kochkes­sels, erst weit weg, dann im­mer lauter und größer, bis außer dem Pfeifen nichts mehr zu hö­ren war - da konnten sie alle hauen, wie sie woll­ten.
Von einer Näherin bekam er eine Puppe, die Augen hatte, an denen er ziehen konnte. Wenn die Näherin sie hoch­hielt, dann konnte sie sprechen. Also nahm Woi sie mit. Er setzte sie auf seinen Rücken, damit sie wie er Reiten lernte. Sie bekam von seinem Brei zu essen, aber Medith nahm sie fort und sagte, dass sie seinen Brei nicht möge. Er verzog das Gesicht, und die Puppe verzog das Gesicht. Sie mochte wirklich seinen Brei nicht essen: Es war alles auf ihrem Gesicht geblieben!

Chapter 7. Selma

Die alte Frau war stehen geblieben. Sie war eine runde Person, die mit stämmigen Beinen langsame Schritte gemacht hatte. Dabei hatte sie zu den Bäumen gesehen, die kein Laub mehr trugen, und hinauf zum Himmel, an dem sich die Wolken we­gen der Kälte eng aneinander schmieg­ten.
Sie beweg­te ihre Lippen, die Augen, ein wenig die Hän­de. Was die Leu­te wohl dachten, wenn sie mit sich selber sprach? Ihr Mann war noch nicht lan­ge tot - das sollten die Leute wissen! - drei Mona­te, weniger zwei Tage war es her, und nur seine Stimme war ihr geblie­ben. Es war eine gute und lange Zeit mit ih­m gewe­sen, und sie wollte dank­bar sein. Vier Kin­der hat­ten sie groß­gezo­gen, das dritte Enkelkind war unter­wegs.
'Mom Selma', sagte sie zu sich, 'halt dich aufrecht! Die Welt braucht dich, grad' wo es ihn nicht mehr gibt.'
Das war sicherlich so, und sie wollte es damit halten, solange sich ihre Beine noch in Bewegung halten konnten. Und sie wollte weniger Nüsse es­sen. Die aß sie nur, weil sie keinen zum Re­den hatte. Knabberte vor sich hin, ohne es zu merken, und die Erinne­rung kam und setzte sich auf ihre Schulter, als wie die Katze von einer alten Hexe, ganz nah am Ohr. Aber schließlich hatte sie soviel geknab­bert, dass ihr der Ma­gen schwer geworden war und das Herz noch schwerer, wenn sie ein­schlafen wollte.
Immer wenn sie eine Strecke ging, muss­te sie sich bald hier, bald dort niedersetzen. Dann kehrte der Atem zurück, der mit immer schnelleren Schritten vorausgeeilt war. So war es ihr recht, dass die neue Ar­beitsstel­le kaum zehn Minuten Weg entfernt sein würde.
Sie kann­te das Haus. Die Nachbarin sagte, dass sie die Frau, die in dem Haus wohnte, niemals auf der Straße gesehen hatte, nicht allein und nicht mit ihrem Kind.
Die Frau war mit ihrem Mann von weit herge­kommen. Er trug die Schuhe der fürstlichen Beamten und konn­te lesen und schreiben. Das sagte die Nachbarin, weil er lange Rollen bei sich trug, die ganz leicht waren. Spät kam er nach Hause, und manchmal blieb er fort. Die Nachbarin hörte es bis zu ihrem Haus, wenn er auf dem Pflaster ausschritt.
Die Frau war al­lein, keine Mutter oder Schwie­ger­mut­ter, da war ihr alles zu­viel gewor­den. Es war wohl ihr erstes Kind.
Manches Mal hatte Selma die Frau gese­hen, wie sie in ihrem Garten stand. Selma hatte ge­wartet, ob die Frau zur Straße hin­sah. Aber sie hatte kei­nen Blick für die Men­schen gehabt, die vorbeikamen. Es war eine schöne Frau, aber ein trauri­ge Frau, dass Selma nicht mit ihr hätte tauschen wollen.
Nein, wie Selma so vor dem weißen Gartentor stand, voll­gesogen das Unter­kleid mit Schweiß, der ihr kalt auf dem Kör­per klebte, da wusste sie wieder nicht. Was würde die Frau denken, wenn sie Selma sah? 'Eine alte Frau', würde sie denken, 'vom langsamen Gehen ist sie außer Atem. Eine sonderbare Person vielleicht, die es mit ihrer Einsamkeit nicht aushält.' So würde die Frau denken!
'Selmchen', sag­te da ihr Mann und hatte die Stimme, die ihm eigen war, seid er tot war, 'das ist doch das Richti­ge für dich. Mach es dir nicht so schwer. Das kannst du doch!'
Sie nickte. Immer hatte sie ihn für alles ent­schei­den las­sen, und es war nie das schlechteste gewe­sen. 'Ja', sag­te sie leise zu ihm, 'das hast du gut ge­macht, immer rich­tig entschieden und vorher viel nachgedacht. Wirst auch jetzt wohl das Rechte für mich wissen.'
Einen wun­der­schö­nen Gar­ten hatte die Frau, das wollte Selma anerken­nen. Es war grün dar­in, trotzdem dass es Win­ter wur­de. Die Bäume waren nicht groß, aber sie trugen ihr Laub noch, sahen nicht wie abge­storben aus. Der Garten - wie die Frau - kümmerte sich nicht, was draußen war. Von den Bäumen kannte Selma die meisten nicht. Sie waren fremd hier, und es war ein Wunder, dass sie zu Wuchs gekommen waren.
Die Frau stand begrüßend auf der Treppe. Da hatte sie gestanden und zugesehen, wie Selma sich in ihrem Garten umsah. Als Selma sagte, dass es ein sehr schöner Garten sei, da sagte sie nichts, weil sie ihren Blick auf den Steinen verloren hatte. Da wusste Selma, dass die Frau mit sich selber sprach, wenn sie allein war. 'Manchen Menschen braucht für das Traurige niemand zu sterben', dachte sie für sich.
Die Frau wandte sich um und ging Selma zum Haus voraus. Sie hatte einen leichten, fast schwebenden Gang über den Steinen, und Selma musste an eine durch­scheinende Blume denken, eine Blume, die schön war und doch vom Händler am Abend ver­schenkt wurde.
Im kleinen Empfangsraum bot sie einen Platz an und tat, als wäre Selma zu Besuch und auch eine sehr feine Dame. Die Stüh­le waren schlank und fein, und Sel­ma saß sehr vor­sich­tig auf dem ihren. Alles war vornehm und nicht für das Berüh­ren be­stimmt.
Die Dame trug ein hell­grünes Kleid. Auf dem wei­ßen Kragen stieß das glänzende Haar in Wellen auf. Nichts in dem Haus ließ die Anwe­sent­heit eines Kin­des ver­muten.
Die Frau sagte, dass sie eine Tagmutter für ihre kleine Tochter suche. Selma sprach lange über sich, wobei sie mehrmals vorsichtig ihr Gewicht auf dem Stuhl verlagerte. Sie sprach über ihre Kinder und Enkelkinder. Das Herz und die Füße wurden ihr warm. Sie berichtete vom Tod ihres Mannes, und nur ihre feingliedrige Sitzgelegenheit verhin­derte, dass sie die Hände vor das Gesicht schlug.
Sie erzähl­te, wie sehr ihr Mann seine Kinder geliebt habe. Dass er ihnen Geschichten erzählt habe, Märchen und Fabeln. Fürch­ten habe sie sich müssen, so seien ihr die ver­zauberten Prinzessinnen in ihrer Gruselwelt an den Wänden erschienen. Er habe in seinem Erzäh­len kein Ende fin­den können und die Kinder zu spät den Schlaf. Selma schwieg in grausigem Rückerin­nern.
'Selm­chen', sagte ihr Mannes mit der anderen Stimme, 'ich bin nicht gestorben, in deinem Herzen lebe ich doch fort.' Ein Nebel von Tränen hatte sich vor Selmas Augen ge­legt. Sie hielt die Lippen fest verschlossen. Kein Wort durfte sie ihren Mann sprechen lassen! Die Stille im Raum war undurchdringlich geworden. Selma schwankte auf ihrem Stühlchen, aber sie fiel nicht.
"Da wäre noch die Frage des Lohnes", sagte die Frau. "Eine richtige Amme können wir uns nicht erlauben."
Sel­ma nick­te schwach. 'Ja', sagte ihr Mann, 'ich hab es dir gesagt: Die Reichen, die tra­gen, wo andere ein Herz ha­ben, ihr Gespar­tes.'
Von oben hörte sie ein Kindchen weinen. Ihre eigenen Jungens hatten immer wütig gebrüllt. Selbst das Mädchen hat­te es ihnen nachgetan wie ein Schwalbennest. Dieses Kind­chen da oben schien ihren Namen zu rufen. Es war, als ru­fe es SEEL­MAA. Die Frau nann­te eine Summe. Selma nick­te.
Es war ein süßes Kind. "Tuck, tuck", sagte Selma, und das Kindchen lächelte. "Sischi, Sischi", flüsterte Selma in sein Ohr, und das Kind lachte wie eine kleine Sonne. "Gna na", sagte es, und Selma nickte.

Chapter 8. Der Mann auf dem roten Stuhl

Wois Wagen hat­te viele Räder. Der Wagen konnte viel schnel­ler laufen als Woi, aber Medith konnte schnel­ler als der Wagen laufen. Wenn Medith rief, hörte der Wagen nicht auf ihn. Dann lief er einfach weiter. Der Wagen freute sich, wenn Woi in ihm drin war. Wenn er sich freute, dann wippte er. Dann freu­ten sie sich zusammen und wippten zusammen.
Manchmal kam ein Mann. Er hatte Füße, die klapperten laut auf dem Boden, und Woi fand es schade, dass sein Wagen nicht auch solche Füsse hatte. Der Mann hat­te eine leise Stimme, die er mit der Hand strei­chelte. Medith hatte eine Stimme, an der er ganz fest kratzte. Manchmal machte er Seife auf seine Stimme und schnitt die Seife mit einem Messer ab. Woi hätte gerne das Messer gehabt, aber Medith legte es oben auf den Schrank.
Der Mann mit den lauten Füßen fuhr ihn manchmal zu einem Mann, der in einem roten Stuhl saß. Der Stuhl war so hoch, dass Woi beim ersten Mal nicht bemerkt hatte, dass dieser Mann darin war, aber dann hatte er gespro­chen. Es waren immer ganz viele Menschen bei ihm, und sie waren sehr still, wenn er etwas sagte.
Woi woll­te zei­gen, wie gut er schon aus dem Wa­gen klet­tern konn­te, aber der Mann mit den lauten Füßen hielt ihn mit der Hand fest. Da lachte der Mann in dem roten Stuhl, aber Woi fand das nicht lustig und machte einen bösen Blick. Auch der Mann in dem Stuhl machte einen bösen Blick, und alle Menschen, die da­beistan­den, lachten, so laut, dass sich Woi erschreck­te.
Der Mann war überhaupt ein langweiliger Mann. Die Sol­daten machten keine Späße, wenn dieser Mann mit ihnen sprach. Er klap­perte nicht mit Töpfen und kannte keine Tierstimmen. Außerdem durfte Woi ihn nicht füttern. Und an den Haaren konnte er ihn nicht ziehen, weil der Mann zu weit weg war. Es waren lan­ge, wei­ße Haa­re, die Woi bestimmt gut auszie­hen konnte. Das Pferd würde sie mögen, da war sich Woi sicher. Sie sahen aus wie Hafer.
Woi wurde in eine Ecke des Raumes geschoben und deckte die Puppe dort mit der Gardine zu. Dann wurde er in eine andere Ecke des Raumes geschoben. Da stand eine kleine Vase, die Woi aber nicht fangen konnte, weil sie sehr schnell auf den Boden sprang.
Der Mann auf dem roten Stuhl schimpfte mit der Vase. Die lauten Füße waren ganz still. Selbst die Vase weinte nicht, obwohl sie sich weh getan hatte.
Der Mann hatte ein Gesicht wie ein alter Käse. So einen bekam Woi manchmal in der Küche zum Spielen. Meistens sprang ihm der Käse aus den Händen, und alle sprangen zur Seite und hielten sich die Hand vor den Mund. Bestimmt konnte sein Käse auch sprechen, wenn er auf den großen Stuhl saß! Dann würden die Menschen ganz still sein, ob­wohl es nur ein Käse war, der nicht einmal richtig spielen konnte.
In der anderen Ecke war eine rote Tür. Da war ein Kopf drauf, der auch rot war. Weil er sich in dem Wagen auf­stellt hatte, durfte Woi ihn anfassen. Der Kopf hat­te eine lange Stimme mit weißen Zähnen. Die Augen sahen Woi böse an, als er mit den Fin­gern an ihnen piekste.
Der Kopf hatte den Mund aufgerissen wie Medith, wenn er ganz laut niesen musste. Aber der Kopf nieste nicht­. Er mochte Woi nicht, schaute immer nur böse drein, und alle schienen sich vor ihm zu fürchten, weil er nicht niesen konnte.
Nur der Mann in dem roten Stuhl war ein Freund von dem Kopf auf der roten Tür. Er zeigte auf ihn und sagte: "Dra­che, Woi, das ist ein DRA­CHE."
"Metith", sagte Woi und zeigte auf die Puppe, die keinen Namen hatte.
Der Mann in dem roten Stuhl redete sehr viel. Neben ihm saß ein Mann und hatte eine weiße Fahne in der Hand. Dieser Mann machte die weiße Fahne mit seinem Finger schmut­zig. Einer seiner Finger war länger als die anderen, war vor­ne spitz und kratzte. Mit ihm malte der Mann die Fahne schwarz an. Wenn sie schwarz war, nahm er sich eine neue. Keiner außer Woi wollte bemerken, dass er alle Fahnen schmutzig machte.
Der Mann auf dem roten Stuhl zeigte auf den Mann mit dem schmutzigen Finger und sagte: "Schrei­ben, Woi. Das ist Schreiben. Das musst du auch ein­mal ler­nen."
"Muust, muust", sagte Woi und zeigte allen seinen Fin­ger. Wenn jemand vor dem roten Stuhl stand, sagte er ein sehr langes Wort. Der Mann mit dem Ha­ferhaar redete ein kur­zes Wort, dann rede­ten die anderen immer längere Worte, sovie­le, wie sie finden konn­ten. Niemand sah, dass der Mann mit dem kratzenden Finger wieder eine Fahne schmutzig gemacht hatte.
Niemals rede­ten sie über Woi. Das spür­te er ganz ge­nau. Sie be­ach­teten ihn überhaupt nicht! Wenn er ihnen wenig­stens et­was hätte zeigen dür­fen. Aber es war nichts da! Er zeig­te dem Mann mit den lauten Füßen seine weiße Fe­der. Der Mann woll­te sie ihm ab­neh­men, aber Woi schrie so laut und böse, dass er sich nicht traute. Seine Feder durf­te er behalten.
Dann wurde Woi zur Seite geschoben. Ein Mann drückte an dem Kopf von der Tür ein Ding her­unter­, das aussah wie der Schuh von einem Pferd. Jetzt nieste der Kopf, und das ganz fürch­terlich. 'Ouuuoii', nieste er. Der Mann, der herein­kam, er­schreckte sich so sehr, dass er auf den Boden fiel. Als der Kopf wieder an seinen Platz gescho­ben wurde, nieste er noch ein­mal: 'Oouuuuii'. Aber Woi konnte er durch sein Niesen nicht er­schrec­ken. Er hatte keine Angst, nicht vor dem Kopf von einem Pferd, nicht vor dem Kopf von einer Tür.
Woi zeigte allen, dass nicht einmal seine Puppe Angst vor dem Niesen hatte. Der Mann, der auf den Boden gefallen war, konnte wieder gehen, als ihm der Mann auf dem ro­ten Stuhl einen sehr langen Löffel auf den Rücken gelegt hatte. Ob seine Pup­pe auch laufen konn­te, wenn er ihr einen Löf­fel auf den Rücken leg­te?
Der Mann auf dem roten Stuhl hatte einen so langen Löffel, dass er Woi damit hät­te füt­tern kön­nen. Er hatte be­stimmt oft Hunger. Alle hatten sie Hunger, und am mei­sten Woi!
"Hat, hat", rief Woi immer. Sie mussten doch wissen, was er meinte, aber sie verstanden nicht die Sprache der kur­zen Worte. Sie sagten Worte, die niemals aufhör­ten.
"Hathathattathathattat", rief Woi, so laut und so lang er konnte. Dann weinte er. Das mussten sie doch verstehen, dass er Hunger hatte! Nein, sie waren dümmer, viel dümmer als Me­dith!

Chapter 9. Selma und Li

'Li' hatten die Eltern das Kind geheißen. Für Selma war sie die 'kleine Prinzessin'.
Lange bevor sie laufen konn­te, fielen ihre Haare dicht und schwarz. Auch die weiße Haut und die hohe Stirn hat­te sie von ihrer Mutter. Zierlich war sie und blieb immer ein gutes Stück kleiner als die Kinder ihres Al­ters. Vom Vater besaß sie die Augen. Kein Funkeln war in ihnen, keine Glut, eher ein vielfach träumerisch getönter Widerglanz. Als gehöre das, was vor sie hintrat, zu einer schönen Geschich­te, zu einem Lied, dass die kleine Li in die Ferne entfüh­ren wollte. Das war der Va­ter in ihr.
Sie lachte nicht, strahlte nicht vor Glück. Ihre Stim­mun­gen erkannte Selma am weichen Mund, der einzig von ih­rem Inneren preisgab. Es war, als gehe die Freude nur die kleine Li etwas an, sei somit unteilbar und für andere wert­los.
Sie ließ den Din­ge, die sich ihr anboten, Zeit. Wenn das Feu­er knisterte und knackte, zischte und flü­ster­te, dann lag sie da, wie er­starrt, hatte die Äuglein ge­schlossen, um den Lauten nah zu sein.
Sie lieb­te das Singen der Vögel. 'Da, da', riefen ihre Händ­chen. 'Hör nur, Selma, die Vögel sind wieder da.'
Und waren die Vögel auch nah ge­nug, sie zu sehen, so lag Li doch mit geschlossenen Augen in ihrem Bettchen, als könne ein Blick sie alle verscheuchen. Waren die Vö­gel fröhlich, dann war ihre Stirn glatt, und die kleinen Augen schienen den Lau­ten zu fol­gen. Stritten die Vögel aber, zetter­ten und zankten, dann zit­terte ihr der kleine Mund.
Nie hat­te Selma ihre Prinzessin weinen sehen. Wenn es gegen die Scheiben reg­ne­te, ein Vogel nicht blei­ben woll­te, ein Lärmen sich zu ihr verirrt hatte, dann war sie trau­rig. Es war, als flös­sen ihr die Trä­nen nach in­nen, um sich in ihrem Herzen zu sam­meln.
Dann wagte Selma nicht, sie anzu­rühren. 'Warum weint das Kind nicht?', fragte sich Selma. Kinder la­chen doch schon wieder, wenn die Trä­nen noch auf ihren Backen sind! Im kleinen Haus von Lis Kinder­seele war die Traurigkeit ein bevorzugt umsorgter Gast.
Die Mutter ließ Selma gewähren. Wenn sie herbeitrat, näherte sie sich dem Bett­chen behutsam, als müsse sie Selmas Zorn fürch­ten. Das Kind war ver­wun­dert, jemanden anderen als Selma zu sehen. Die Mutter sagte kein Wort. Li lag still und schau­te, als spreche die Mut­ter durch ihre Blicke zu ihm. 'Die Gedan­ken ihrer Mut­ter wird sie lesen', dachte Selma, wenn sie die beiden be­obachtete.
Ruhig verbrachte die Prinzessin die Ta­ge, schaute und schlief, und die Klugheit wuchs in ihren Augen heran.
Wenn sie etwas in die Hand bekam, war sie vergesslich damit, sah mehr auf ihre Hände, wie sie sich bo­gen und drehten, als auf die Gegenstände, die sie hielt. Sie schien keine Wün­sche zu haben, kein Ding von außen zog sie den an­deren vor.
Manchmal spielten die Hände mit sich, ohne etwas zu halten. Wenn Selma sie nach­machte und mit den Hände die Luft werkelte, dann lächelte Li, als sehe sie nach, dass Selma es nicht ver­stand.
'Ganz das rechte Kind für eine alte Frau', dachte Sel­ma. 'Aber es fehlen ihr die Geschwister, dass sie lernt, sich zu strei­ten.'
Doch dann sagte sie sich: 'Was soll eine Prin­zes­sin das Streiten lernen?', und hatte sich beruhigt.
Der Vater kam immer so spät, dass Selma das Kind schon ge­wickelt und zu Bett gebracht hatte. 'Es ist eingeschla­fen', sag­te sie ihm, und die Frau ermahnte ihn mit Blik­ken, leise zu sein. Dann schlich er sich nach oben, wo es völlig dun­kel war, und die beiden Frauen saßen beieinander in ihren Ge­danken.
Einmal, als die Frau aufsah, fragte Selma leise: "Was macht er oben?"
"Er spricht zu ihr", sagte die Frau ebenso leise zurück, und für einen Augenblick horchten sie wie zwei Frauen, die nichts unterschied.
"Aber das Kind schläft doch", sagte Selma. Doch die Frau hatte sich wieder in ihre Ge­danken hineinge­schwie­gen.
Selma horchte nach, aber nur, wenn sie sich vom Schlaf berühren ließ, vernahm sie das Sprechen des Mannes. Sie war sich sicher, dass er dem Kind nichts erzählte. Er redete zu ihm, dass es keine Bedeu­tung hatte. Die Laute und Silben bildeten einen singenden Klang und machten sich lustig über den, der sie belauschte.
'Vielleicht ist das Schweigen der Frau auch eine solche Sprache', dachte Selma, 'für die Prinzessin zu ver­stehen, für niemanden sonst.'
Früh begann Li, in der Sprache des Vaters zu erzählen. Wenn Selma eine Lücke darin fand, ver­suchte sie, dem Kind ein oder zwei richtige Worte beizubringen. Aber Li erzähl­te weiter in ununterbroche­nem Ernst, als sei sie es, die Selma die Sprache beibrin­gen müsse.
Selma verstand kein ein­ziges Wort. "Prinzess­chen-klein", sag­te sie zu ihr, "was er­zählst du für schöne Ge­schich­ten?"
'Hör ein­fach nur zu!', befahlen die Lippen. Dann fuhr Li in ih­rer Erzäh­lung fort, wurde schnell und auf­geregt, die Augen jagten ihr hin und her, die klei­nen Händchen malten Schrec­ken in die Luft. Den Lau­ten wurde es eng, sie stie­ßen sich, stolperten, fielen über­einander. Er­schöpft waren sie schließlich, die schöne Ordnung war dahin. Da erhob sich vom Boden ein einzelnes I. Es sah sich vor­sichtig um, überlegte nicht lang, das treue E zu rufen, das O, wel­ches sich wie­der Zeit ließ, das stol­ze, in der Hüf­te etwas steife A. Zusammen lasen sie ihre weiteren Mitstreiter vom Boden auf, setzten sich auf neue Wagen, fuhren aus al­ten Erzählun­gen heraus und sprachen sich neue Ziele vor.
Selmas fertige Worte waren nichts als ausgezäunte Hügel, dichtge­strüpp­ter Wald und wohl verlassene Gehöfte, die übersehen am Rand des We­ges standen, den Li ihrem Sprechen gesucht hatte.

Chapter 10. Botschaft vom Kaiser

Als die Tochter des Kaisers sechs Jahre alt ge­worden war, verlangte der Brauch von den Für­sten, dass sie dem Kind Glück­wünsche und Geschenke zu überbringen hatten.
Es war dies ein bedeutender Tag, denn mit ihm war dem Kaiser eine Prinzessin erwachsen, an deren Zukunft jeder der Mächtigen im Lande wohl eine eigene Vorstellung knüpf­te.
Die Sitte schrieb den Fürsten vor, dass sie dem Mädchen ein Geschmei­de für das Haar, eine Kutsche zum Ausfahren, ein weißes, sanftes Ross, eine klangreine Laute und einen Schrei­ber zu stel­len hat­ten.
Die ersten vier waren bedeuten­de Ge­schenke. Um sie war schon im fünften Le­bensjahr des Kin­des ein sol­cher Streit entbrannt, dass er durch ei­nen Kaiserli­chen Richtspruch ge­löscht wer­den musste.
In der Erregung und der Bitterkeit des Streitens aber war das fünfte Ge­schenk vergessen worden - ein Schreiber war der kleinen Prinzessin unter allen Dingen und von kei­nem der ein­fluss­reichen Fürsten zuge­dacht worden!
Darauf bestimmte der Kaiser - mit strengem Blick hat­te er für sich das Wort und von ihnen Schweigen erbeten - dass das Fürsten­tum Alta, wel­ches er sich wohl im Gedächt­nis aufbewahrt hat­te, den Schreiber stellen durfte. Zu seiner gehei­men Freude war das Er­stau­nen der Für­sten groß, dar­über, dass es ein solches Für­stentum gab, und darüber, dass der Kaiser es im Gedächtnis bei sich trug. Wi­derstand von ihrer Seite war aussichtslos. Zuviel ver­band den Kai­ser mit dem Fürstentum Alta. Wieder sagte er, dass man es ihm nicht vergessen solle.
So kam es, dass der Fürst den Besuch von einem ihm gut be­kannten Kaiserlichen Boten erhielt.
Kendir war ein Freund von früher. Schnell hatte er sein Anlie­gen überbracht, und schon hatten sie von den Ka­mera­den ge­spro­chen, die sie ge­mein­sam kann­ten. Darauf hatte der Fürst von seinem Sohn zu sprechen begonnen. Es war leicht, von einem Sohn zu sprechen, der ganz nach dem Geschmack eines Mannes wie Kendir war. Dessen Blicke gaben auf ehrliche Weise den Stolz des Fürsten zurück.
Von der Hoch­zeit und der früh gestorbenen Frau des Für­sten hatte Kendir rück­sichtsvoll nicht gesprochen. Dann hatten sie getrun­ken, und ein­ander in den Sätzen abwech­selnd, von vergange­nen Tagen erzählt.
Nun saß der Fürst in seinem Spieleraum und wartete auf sei­nen Gast Kendir. Das Spiel, welches sie in der gestri­gen Nacht abgebrochen hatten, stand unberührt auf dem Tisch. Es war wieder Abend geworden und die beste Zeit für ein Gespräch mit einem Freund.
Der Fürst betrachtete seine Hände im abnehmenden Licht, tauchte sie in das Dunkle unter den Tisch und beugte sich vornüber, die Ellebogen auf den Knien, um zu sinnen. Es waren nur wenige Figuren vom Spiel übrig geblie­ben, und so konnte er langsam seine Gedan­ken über die leeren Fel­dern des Brettes bewegen.
Er dachte an Woi. Un­ver­kennbar besaß der Junge das Erb­teil sei­nes wirk­li­chen Va­ters. Er stellte sich als be­herzt, ja furchtlos heraus. Jeder Tag machte den Fürsten sicherer in seinem Urteil. Nur wenn Woi ihm in die Augen ­sah, dann lag störend Fremdheit darin und et­was, das er nicht be­nennen konn­te.
Für Woi und für Medith hatte der Fürst ge­sorgt, wie er für seine Frau nicht hatte sorgen können. Er hat­te Schlechtes getan, aber Gutes darauf gepflanzt. Es war ge­wach­sen und stand zur Blüte. Vor dem Gewissen hatte er seine Schuld begli­chen. Der Jun­ge war als sein legiti­men Nach­folger aner­kannt und würde ihm nachfolgen. Nur in einer einzigen Nacht war der Fürst nicht sein Vater gewe­sen! Längst war diese Nacht von all den Tagen aufgewogen worden, die ihr ge­folgt waren.
Den tatsächlichen Vater mit all dessen Liebe hatte er Woi gelassen. Es wäre in sei­ner Macht ge­stan­den, den Obe­ren Medith zu verbannen oder gar ihn tö­ten zu lassen. Ja, brachte sich der Fürst durch seine Güte nicht selbst in Ge­fahr? Machte er sich nicht abhängig von der Treue und von der Ver­schwie­genheit eines Menschen, wenn auch eines Solda­ten?
Gegen diese Besorgnis hatte er zum Besten des Jungen gehandelt. Wois Erzie­hung würde die eines Fürsten sein. Er würde Reiten lernen und Kämpfen. Angeln und Jagen. Das Wetter würde ihn härten, und in einsamen Nächten würde er jede Furcht ver­lieren.
Von Anbeginn an hatte Junge keine Angst gekannt, wenn er es recht sah. Manches Mal war der Fürst auf ihn wie auf ei­nen ei­genen Sohn stolz gewesen. Aus Woi würde ein Fürst wer­den, wie es wenige gab. Ihm würde dies kleine Für­sten­tum nicht genügen. Der Fürst sah ihn in ei­ner glän­zenden Rü­stung einen Berg hochreiten, gefolgt von ebenso schnel­len und wendigen Reitern.
'Wer weiß', dachte der Fürst, 'wieviele Für­sten, große Fürsten, in Wahrheit nicht die Söhne ihrer Fürstenväter waren. Sie mochten gespürt haben, dass ihre Existenz eine Mas­kerade ist, und sind zu Eroberern geworden in einer Welt, die sie eigent­lich nicht als Fürsten hätten betreten dürfen.' In eigenen Herzen würde Woi immer ei­ner von diesen Rechtlosen bleiben - da war es gut, dass er bei den Sol­da­ten auf­wuchs.
Der Fürst selbst war so weich wie sein Vater. Niemand hatte ihn an­ders gewollt. Seine Unter­tanen woll­ten ihr Leben leben, wie sie es ge­wohnt waren. Ein Fürst gehörte zum Gewohnten dazu. Er be­drängte sie nicht, opfer­te ihre Ruhe nicht ir­gendwelchen Abenteuer, die schlimm enden konnten. Er warf nicht von ihrer Ern­te fort und hatte ei­nen Sohn gezeugt, damit gesorgt war, dass das Leben der Kinder nicht anders verlief als das ihrer Eltern.
Eine lange Zeit des Friedens hatte sich schon von seinem Vater her fortgesetzt. Die Grenzen waren sicher geworden, weil niemand sie sich anders denken konn­te. Die Söhne ei­ferten ihren Vätern nach, die Töchter wollten wer­den wie ihre Mütter.
Nachdenklich saß der Fürst in seinem Zimmer vor dem Brettspiel, das sie in der letzten Nacht begonnen hatten, betrachtete den Stand der Figuren und wartete auf seinen Freund Kendir.
"Nicht schummeln!" rief Kendir übermütig und sprang in das Zimmer. "So schlecht stand ich nun wirklich nicht auf dem Brett."
"Ich schummele nicht", sagte der Fürst und senkte den Blick.
"Nun, seid nicht gleich böse. Es war ein Spaß. Ich weiß, dass ihr ehrlich seid, wie man ehrlich nur sein kann", ent­schuldigte sich Kendir sogleich und legte ihm die Hand auf die Schulter.
Der Fürst zog eine erste Flasche unter dem Spieltisch hervor, und Ken­dir nick­te. Er würde keinem Freund etwas ab­schlagen, schon gar keinen Wein! Sie wollten sich ver­tragen, und dieses blöde Spiel, das so schlecht für Kendir stand, ver­gessen.
"Wie steht es zu Hofe?", fragte ihn der Fürst, als sie den ersten Schluck genossen hatte.
"Der Wein dort ist nicht halb so gut wie eurer. Die Hof­politik ist kaum mehr genießbar."
"Es ist alles, wie es immer war?" fragte der Fürst und lächelte aus Stolz über seinen Weinkeller.
"Niemand schenkt dem Kaiser einen Sohn - sollte sagen, die Kaiserin nicht, denn von den anderen weiß ich es nicht."
"- wisst es, sagt es nur nicht!", versuchte der Fürst seinen Freund zur Nachrede anzustiften.
"Der Kaiser hat sich wohl eine gewählt aus der Nacht­stadt, höre ich. Es soll eine Blinde sein. Doch die Mäd­chen reden nicht! Werd' ich aus ihnen jemals schlau? Sagen nur, dass sie schön ist und für die Nacht keine Au­gen braucht."
Der Fürst schwieg, damit sein Freund sich auf weiteres besann, doch Kendir schnitt sich ab: "- und ihr denkt mir an den Schreiber, den ihr schicken sollt. Oft spricht der Kaiser von euch. Öfter, als es den anderen lieb ist."
"Ich werde daran denken", versprach der Fürst. Dabei tat er so, als sei die Ehre der Kaiserlichen Erwähnung selbst­verständlich geworden.
"Die Tochter? Was ist sie für eine?", fragte er.
"Hat schon die Launen für ihre Schwester mit! Höre das, wenn ich so bei den Näherin­nen bin", sag­te Kendir und sah zu seinem Hosenschlitz her­un­ter.
"Wegen dem Nähen sei ihr dort?", fragte der Fürst la­chend.
"Wenn es wo spannt oder zwickt, lass ich eine nach dem Untermaß se­hen", sagte Kendo, die Augen zur Unschuld erho­ben. "Muss es gleich immer eine neue Naht sein, frage ich dich?"
Der Fürst lachte und schüttelte den Kopf. Drei waren seine Freunde gewesen, und alle von Kendirs Art! Wie schade war es, so fern von ihnen zu sein!
Da sah der Fürst wohl betrübt in sein Glas, worauf sich Ken­dir genötigt sah, ihm nach­schütten. Hob das Glas und rief: "Kommt, Fürst, lasst uns auf euren Jungen trin­ken, den die Soldaten lieben, wie ich es gerne glauben will!"

Chapter 11. Fürst verschenkt Lis Vater

Vor dem Haus des Schreibers hatte ein Wagen gehal­ten. Ein Soldat stand davor und ein Alter, der die Zügel hielt. Angespannt waren zwei Pferde mit dem Schmuck des Fürsten. Umringt wurde der Wagen von all den Leu­ten, die schnell genug gekommen waren. Kleine Jungen hiel­ten die Räder, und wer von ihnen keines zu fassen bekommen hatte, hielt an seiner Stelle den Zaun fest, als gehö­re auch dieser zur Fürstlichen Abordnung.
"Ich bitte Sie, ihre kleine Tochter zu nehmen und auf­zusteigen", rief der Soldat, als er die Frau in der Tür stehen sah. "Der Fürst ver­langt, die Fa­milie des Schreibers zu sehen."
"Bringen Sie das Kind herunter, Selma!", rief die Frau.
Selma nahm die kleine Prinzessin, die sich über der Stimme ihrer Mutter erschreckt hat­te, und ging Treppe hinunter, so schnell es ihre Knie zu­lie­ßen.
"Das Kind soll mit mir zum Fürsten", sagte die Frau. Sie sprach so laut, dass alle Leute hör­ten, was sie sagte.
"Aber das Kind wird sich verkühlen", warf Selma lei­se ein.
"Das Kind - dann geben Sie ihm etwas!", rief die Frau, dass es von draußen nach drinnen und wieder zurück schall­te.
"Ich komme mit", entschied Selma so laut, dass die Leuten es auch von ihr vernehmen konnten.
"Dann bitte kommen sie!", drängte versöhnend die Frau.
Zu dritt bestiegen sie den Wagen. Da die Mutter woll­te, dass Li aufrecht saß, hielt Selma das Kind fest und ebenso die Decke, die das Kind völlig bedeckte.
Nach­dem der Soldat einmal um den Wagen her­umgegan­gen war und ärgerlich gesehen hatte, dass ihm keine Sitz­gelegen­heit ge­blie­ben war, fügte er sich in sein Schicksal und ging zu Fuß hintendrein. Ihm folgte die Schar der Jungen und die mahnenden Zurufe der Älteren.
Die ganze kleine Stadt sah ihnen auf ihrem Weg zu, und die begleitenden Jungen erklärten jedem, dass der Soldat eigentlich nicht hatte laufen wollen. Dabei mache er das Laufen fein, riefen die Spötter aus, denen sie berichtet hat­ten.
So kamen sie schließlich zum Hof des Fürsten. Der Weg war recht weit gewesen und hatte durch einen Wald geführt, und die Jungen wuss­ten nun, warum dem Soldat einen Sitz­platz gesucht hatte.
Der Fürst empfing in einem großen Raum, dessen Tür ein zorniger Drachenkopf zierte. Er selber war ein freund­li­cher Mann, der er auf einem solch hohen Stuhl saß, dass er mit den Füssen nicht auf den Boden kam.
Selma war sehr stolz, dass ihre kleine Prinzessin beim Fürsten empfangen wurde. Sie trug Li so, dass jeder das feine Ge­sicht des Kindes sehen konnte.
"Sieh dich um", flüsterte sie ihr leise zu, "in solchen Häusern woh­nen die Fürsten und die richtigen Prinzessi­nen."
"Das ist aber ein süßes Kind", sagte der Fürst.
Dann ließ er den Vater des Kindes und den Onkel in den Saal rufen. Ein Diener führt die beiden vor den Fürsten, wo sie sich verbeugten.
"Die Tochter des Kaisers ist nun sechs Jahre alt", sagte der Fürst. "Damit ist sie eine Prinzessin geworden, und es ist Sitte, dass die Fürsten, die dem Kaiser be­deutend sind, ihr ein Geschenk zu diesem Tag machen."
Der Fürst wandte sich an Lis Vater und sag­te ernst: "Sie, mein Guter, sind ausersehen, der Toch­ter des Kaisers ein Schreiber zu sein. Sie werden den Boten, meinen Freund Kendir, zum Kaiserhof be­glei­ten."
Lis Vater verbeugte sich und war im Gesicht ganz weiß geworden. Nach einer weiteren Verbeugung trat er mit verpressten Lippen zurück.
"Sie werden das Haus in der Stadt behalten", verkündete der Fürst, "und ich bestimme, dass die Familie der Fürsor­ge seines Bruders unter­stellt wird, der zukünftig die Stelle meines Ersten Schreibers ein­nehmen wird."
Der andere Mann, der an der Seite von Lis Vater gestan­den hatte, verbeugte sich tief, und trat mit einem sehr geröte­ten Gesicht fort.
Selma verstand nur soviel, dass sie die kleine Prinzes­sin behalten durfte, und da war sie froh und glück­lich, dass der Fürst so entschieden hatte.
"Ich habe auch einen kleinen Sohn", sagte der Fürst. "Er ist wohl so groß wie euer Sohn."
"Dies ist ein Mädchen", sagte Selma.
"Nun", sagte der Fürst, "das ist nicht schlimm. Auch wenn es ein Mädchen ist, so will ich doch sagen ..." Er machte eine Pause und sagte dann zu seinen Dienern: "So holt mir doch den Woi, dass er sich das Mäd­chen ansehen kann."
Zwei von ihnen eilten, und währenddessen er­zählte der Fürst von den fünf Geschenken, und dass man eines davon völlig vergessen hatte. Da habe der Kaiser sich erinnert - der Kaiser habe eine be­sondere Wei­se sich zu erinnern - und habe ent­schieden, dass es die Ehre des Fürsten Alta sein solle, seiner Tochter einen Schreiber zu schenken.
"Wo bleiben die Diener mit meinem Sohn?", rief der Fürst in den Saal, und Selma wunderte sich, dass er nicht wuss­te, wie­viel Zeit es mit einem Kind brauchte.
Der Fürst erzählte voller Stolz, dass er seinen Sohn einem alten Sol­daten zur Obhut gegeben habe und nicht einer der Frauen. Fürsten müssten sich her­ausbilden, erklärte er und versank in einem Schweigen.
In seiner langsamen Art zu Sprechen erinnerte der Fürst Selma an ih­ren eigenen Mann. Zwar war der Fürst jünger, aber in dem aufrechten Sitzen und langen Hinausschauen, wenn die Worte schon auf ihren Weg eingeschlagen hatten, waren sie sich ähn­lich.
Die beiden Diener fuhren den kleinen Sohn des Fürsten in einem Wagen herein, wie ihn Selma noch niemals für ein Kind ge­sehen hatte. Sie war sicher, dass er dem Ursprung nach ein Wagen von Soldaten gewesen war, in dem diese statt Kriegs­ge­rät nun den Sohn des Für­sten spa­zieren fuh­ren. Dieser hielt fest den Rand des Wagens gepackt, weil es ihn or­dentlich auf den schweren Rädern schüt­telte.
Der Fürst gab Selma zu ver­stehen, dass sie ru­hig mit ihrem Kind näher treten sollte. Dann wies er die Die­ner an, den Jungen aus dem Wagen zu heben.
So legte Selma ihre Li vorsichtig auf den Bo­den, als auch die Diener den Sohn des Fürsten aus dem Wagen gehoben und hin­gestellt hatte. Sie fand es dabei unwür­dig, dass die Kinder wie zum Schildkrötenrennen aufgestellt wurde.
Der Junge konn­te bereits lau­fen und kam mit kleinen Schrit­ten auf Li zu. Der Fürst folgte ihm mit Blicken voller Stolz.
Woi stand schwankend über Li, die am Boden lag und zu ihm hochsah. Dann überreichte er ein gerolltes Band, das sie mit dem kleinen Händchen griff. Alle lachten und freu­ten sich.
Es war ein weißes und sehr schönes Band. Li betrach­tete es sich sehr ge­nau und lächelte, weil sie sich darüber freute. Sie legte sich auf den Rücken und hielt das Band in das Licht. Woi betrach­tete Li, und als er fand, dass sie sich ge­nug gefreut hatte, nahm er ihr das Band wieder ab.
Li begann zu weinen, und Selma hätte es ihr am liebsten gleichgetan. Der Fürst lachte sehr herzlich und klatschte in die Hän­de. Darauf klatschten auch die Diener und jeder, der im Raum war, außer Selma.
"Mir scheint", sagte der Fürst, "er mag das Mäd­chen lei­den. Wir wollen sehen, dass sie einmal mit mei­nem Sohn spielt - ich meine, wenn sie laufen kann."
Am Abend fand Selma der kleinen Li ein anderes weißes Band. Es war noch ein wenig schö­ner und sauberer als das Band des Für­stenjungen, aber Li nahm es nicht ein­mal in die Hand.

Chapter 12. Medith erzählt seine Geschichte

Oberer Medith war kein Freund vieler Worte. Bei seinen vielen Wachgängen war ihm die Sprache entbehr­lich gewor­den. Auch lief seine Zeit anders ab: Wohl hatte sie einen Anfang und ein Ende, aber für die Dauer dazwischen war ihm das Gefühl abhanden gekommen. So saß er manch­mal eine gute Stunde in sich hinein schweigend da und sah dem Kind zu.
Woi verstand, was er ver­stehen musste. Medith zeigte ihm die wichtigen Dinge und gab ihnen Namen, die sich Woi gut merkte.
Wenn Medith sagte: "Das ist ein Huf", dann vergaß Woi nicht, was ein Huf war. Er sagte: "Pferd, Reiten, Sat­tel, Hafer, Stall", zählte alles, was er kann­te, auf und sagte dann: "Huf". Worauf Medith nickte.
Es gab nichts, was im menschlichen Gebrauch war, von dem Woi nicht bald den Namen wusste. Die Unter­schiede zwi­schen verschiedenen Messern waren ihm namentlich geläufig, die Bäume hatte er zu unterscheiden gelernt, bald wusste er den Namen von jeder Person, von jedem Pferd und jedem Zimmer. Medith war kein Kenner der Kindersprache, aber er fand, dass Woi schon eine Menge Dinge sagen konnte.
"Spricht der Junge nicht?", fragte der Fürst ihn eines Tages.
"Doch, er spricht", antwortete Medith ihm. "Ge­stern hat er ei­nen Grind gean­gelt und ihn gleich benennen kön­nen. Wissen sie, die sind selten bei den Fischen! Er kann jetzt sogar 'Tran­chiermesser' sagen." Das stimmte nicht ganz, weil Woi immer 'Tanimesser' sagte, aber Medith würde ihm das Aus­sprechen schon morgen beibringen.
"... die Worte dazwischen, kann er die auch?" fragte der Fürst. "Ich mei­ne, kann er sagen: ein 'glückliches' Tran­chiermesser?"
"Soll ich ihm das beibringen?" fragte Medith.
"Unbedingt! Wenn er ein Fürst ist, muss er doch reden kön­nen. Da reicht es nicht, den Namen von etwas zu wissen. Das ver­stehen sie doch? Also erzählen sie ihm irgendetwas, eine Geschichte, mei­netwegen ein Mär­chen oder solche Din­ge."
Medith nickte, obwohl er eigentlich nicht verstand, was der Fürst meinte, und kein einziges Märchen kannte. Viel­leicht konnte er die anderen Sol­daten nach Ge­schichten fragen. Sicherlich wusste die Frau, die sich um Wois Wäsche kümmer­te, irgendwelche Märchen. Denn ein Fürst sollte der Junge wer­den, das woll­te Medith mit ganzem Her­zen!
"Also, Woi, hör gut zu", sagte er, als der Fürst gegan­gen war. "Ich erzähle dir jetzt eine Ge­schichte."
"Geschichte", wiederholte Woi und wartete darauf, dass Medith ihm einen Gegenstand zu dem neuen Wort zeigen wür­de.
"Geschichte", sagte Medith, "das ist, wenn ich dir etwas erzähle - hörst du? - das ist dann eine Geschichte. Ist doch klar oder?"
Woi nickte und sagte eifrig: "Erzähle Geschichte."
Medith war erleichtert, dass der Junge ihn so gut ver­stan­d. Lange überlegte er an einer Geschichte für den Jungen. Derweil übte Woi wieder Laufen. Er wollte gleich­zeitig mit beiden Beinen einen Schritt machen.
"Hopsen", sagte Medith, "das ist Hopsen."
"Pferd?", fragte Woi.
"Galopp", erklärte Mendit. "Das Pferd macht Galopp. Der Hase hopst."
"Ich?" fragte Woi.
"Du läßt es besser bleiben, oder bist du ein Hase?"
"Ich Woi."
"Genau", sagte Medith, "und da sag einer, du kannst nicht sprechen."
"Pferd Galopp. Hase Hopsen. Ich Woi."
"Ganz toll, Junge!" sagte Medith. "Aber mit der Ge­schich­te, Woi ... mir fällt nichts ein. Komm an meine Hand, wir gehen uns die neuen Hun­de an­sehen. Ein ganzer Wurf, fünf purzelige Hund­chen. De­nen kannst du zeigen, wie das mit dem Laufen geht."
Woi hielt sich an Mediths Hand fest. Jeden Schritt, den er machte, musste er sich erst vorstellen. Diese Dop­pel­schritte, erst den im Kopf und dann den mit den Bei­nen, strengten ihn sehr an. Medith musste ein kluger Mann sein, wenn er so gut das Gehen gelernt hatte.
Bei einem Mann, der nicht größer als Woi war, hielten sie an. Der Mann hatte keine Beine. Darum waren seine Arme so lang, dass er sie in der Erde ­stecken musste. Ach, da wa­ren die Bei­ne! Sie waren unter ihm ver­steckt gewesen. Mit den Beinen zusammen war er so groß wie Me­dith.
Den Gärtner kannte Medith. "Lassen sie sich nur nicht stören von uns", sagte Medith. Der Gärtner wollte sich aber sowie­so die Beine vertreten.
"Kennen Sie ein Märchen für den Jungen?", fragte Medith. "Ich weiß keines - weiß kein einziges, denke ich."
Natürlich kannte der Angesprochene ein Märchen. Wie es sich für einen Gärtner gehörte, kam eine Blume darin vor. Ja, die wollte Medith für seinen Jungen von ihm hören! Er setzte sich ins Gras und nahm Woi auf seinen Schoß.
"Hör gut zu, Junge", sagte er. "Der Mann erzählt dir jetzt eine Geschichte." Woi lehnte den Kopf an Mediths Brust und deckte sich mit dessen Armen zu. So ließ es sich gut aushalten.
"Also", sagte der Mann, "die Geschichte fängt so an, wie alle Geschichten anfangen: 'Es war einmal' - so fangen sie an und diese auch."
"Es war einmal ...", sagte Medith. "Gut."
"Ens war eilal ...", wiederholte Woi und nickte wie Me­dith mit dem Kopf.
"Ja", lachte der Gärtner, "ens war eilal ein Mädchen. Das war sehr arm, aber es war ein gutes Kind und ... "
"Ens war eilal", sagte Woi ernst.
"Es war einmal", berichtigte Medith ihn und sagte zu dem Gärtner: "Wissen sie, wenn er Fürst ist, muss er das richtig können."
"Da hat er ja noch ein bißchen Zeit zum Üben", sagte der Mann und setzte sein Märchen fort: "Dem Mädchen starb eines Tages der Vater. An dessen Bett saß das arme Mäd­chen. Da sagte ihm der Vater zu guter Letzt: 'Ich höre eine feine Stimme. Geh hinaus auf die Wiese. Die Stimme verlangt nach dir.' Als das Mäd­chen zu der Wiese kam, hörte es diese feine Stimme, die wie eine kleine Glocke war. Aber es war keine Glocke, sondern eine Blu­me, die das Mädchen anrief: 'Mäd­chen', rief sie. 'Hörst du mich, Mädchen?', rief die Blume mit ihrer Stimme. 'Komm her zu mir und hör dir an, was ich dir zu sagen habe.' Die Blume war die schön­ste, die das Mädchen jemals gesehen hatte -", da unterbrach sich der Gärtner und fragte Medith leise: "Soldat, schläft der Jun­ge?"
"Woi!", rief Medith leise. "Er erzählt doch das Märchen. Willst du es nicht hören?"
Aber Woi schlief bereits so fest, dass er ihn auf den Armen nach Hause tragen konnte, ohne dass er wach wur­de. Medith legte ihn in sein Bettchen und deckte ihn zu.
"Weißt du, wir Soldaten ...", sagte er leise zu ihm, "für uns sind solche Ge­schich­ten nichts. Wir werden nur mü­de davon!"

Chapter 13. Selma erzählt '1001 Nacht'

Dass der Vater nicht mehr kam, wollte die kleine Li nicht bemerken. In ihrem kleinen Kopf verschwammen die Dinge und die Menschen. Wie hätte es da ein Ver­lieren geben können? Zu selten war der Vater bei ihr gewesen und hatte immer nur am Schlaf­bett geses­sen.
Sie lernte das Laufen spät. 'Wie soll sie es früher lernen, wo doch ihrer Amme die Füße so schwer sind, das sie es ihr nicht zeigen kann!', sagte sich Selma.
Als Li endlich sicher auf ih­ren Bein­chen stand, da hat­te sie lange ange­fangen zu sprechen. Jetzt fand sie es lu­stig, eine 'Sche­gichte' zu erzählen. Das sei das Wort für eine Ge­schichte von Li, er­klärte sie.
"Oh, Prin­zessin", sagte Selma, "was sind das für Worte? So wird dich keiner ver­stehen!"
"Aber du verstehst das Wort doch, Oma Selma!", kam die Antwort. "Dann bist du ei­ne, und ich bin ei­ne. Zwei sind wir, die es ver­stehen. So ist das."
Am Abend durfte Selma nicht nach Hause gehen, bevor sie nicht selbst eine Geschichte erzählt hatte. Nie durfte es dies­selbe sein. Da war Li sehr streng. "Wenn du willst, dass ich rich­tig laufen lerne, dann will ich immer eine neue Ge­schichte hören, jeden Tag. Dann verspreche ich dir das Laufen."
Wollte Selma einmal wissen, was die kleine Li be­halten hatte, dann ließ sie sich ihre Geschichte zurück­erzählen. Sagte, dass sie die neue Geschichte nur gegen die alte herausge­ben dürfe, das habe sie versprechen müssen.
Dann er­zählte Li die Geschich­te, die sie - halb im Schlafe, wie Selma gedacht hatte - gehört hatte. Beim Zuhören war es Sel­ma, als sei von ihrer Geschichte kein einziges Wort abhan­den gekommen, so gut hatte das Kind sich das Erzählte merken können.
Nachdem Selma den Vorrat ihres verstorbenen Mannes an Geschich­ten, Fa­beln, Mär­chen und was es sonst noch gab, er­schöpft hatte, ging sie zu ih­ren Nach­barinnen, um neue zu holen, und so war Li im Laufe der Abende er­denk­lich jede Ge­schichte, die den Müttern und Großmüttern bekannt war, zuge­tra­gen wor­den.
Als Selma eines Abends endgültig keine mehr wuss­te, setzte sie sich an das Bett, streichelte dem Kind den Kopf, legte die Händchen unter die Decke und zog sie hoch, bis nur noch die leuch­tenden Augen unter der hohen Stirn zu sehen waren.
"Heute, Prin­zessin", sagte sie feierlich, "er­zähle ich dir noch EINE Ge­schich­te. Es ist die letzte, die ich oder ir­gend jemand, den ich kenne, weiß. A­ber es ist eine ganz be­sondere. Ich könnte sagen, es ist eine Art Prinzessin der Ge­schich­ten. Sie ist die berühm­teste und längste von ihnen allen. In ihr sind alle Geschichten zuhause - ja, glaub es, alle Ge­schich­ten, die du kennst, sind darin zuhau­se!"
"Diese Geschichte will ich hören", sagte Li leise, fern von Selma und nah, ganz nah, der Geschichte.
"Es war ein­mal eine kleine Prinzes­sin", begann Selma. "Sie war unserer Li sehr ähn­lich, einen Mund, der niemals Ruhe gab, zwei Augen, die nicht einschlafen konnten, und Bei­ne, die nicht lau­fen wollten.
Aber die Prinzessin war in ei­nem fer­nen Land zu­hau­se. 'Arabien' ist der Name des Landes, von dem sie eine Prin­zes­sin war. Dort ist es hei­ß, weil immer die Son­ne scheint, auch nachts, nicht so hell wie am Tag, aber sie scheint. Diese Prinzessin hat­te natür­lich eine Am­me, die ihr jeden Abend, und Abend für Abend neue Ge­schichten erzählen musste.
Gleichen sich nicht in allen Ländern die Geschichten, ob dort nun in der Nacht die Sonne scheint wie in Ara­bien, oder die Nacht dunkel ist wie bei uns, und der Mond durch das Fenster herein­schaut? Macht es einen Unterschied, ob eine Geschichte heute er­zählt wird oder vor langer, langer Zeit? Das ist wichtig, denn die Prin­zessin, musst du wis­sen, lebte vor wirk­lich langer Zeit. Und so kam es, dass diese Prin­zessin wohl alle Ge­schichten ­kann­te, die auch du kennst ... viel­leicht noch ein paar mehr. War­um ein paar mehr? Ja, liebe Prinzes­sin Li, ihre Amme war natür­lich eine richtige Mär­chenamme, und ich bin nur die Oma Sel­ma und erzähle, damit du mir bald ein­schläfst. Bist du nicht schon ein wenig müde? Nun, dann werde ich also weiter­erzählen.
Diese Prin­zes­sin war wie alle Prinzessinnen schön, aber sie war auch klug, und da war sie zu ihrer langvorhe­rigen Zeit und im ganzen und gro­ßen Ara­bien die ein­zige Prinzes­sin, die auch klug war. Unter all den Rit­tern Ara­biens durfte sie sich den schön­sten aussu­chen. Und - weil sie heimlich dar­auf gesehen hatte - war er auch der klüg­sten von den Rittern.
So waren sie sehr glück­lich. Ei­nes Tages aber rief der Kai­ser alle Rit­ter zum Kampf gegen einen mächti­gen Feind. Er sam­melte ein großes Heer zusammen und ritt in die Schlacht, mit ihm alle Ritter in sei­nem Gefol­ge.
Unsere Prinzessin aber blieb in ihrer Burg zurück, und zu Gast ka­men ihr die immer gleichen und immer leeren Tage. An ei­nem besonders langen Tag wurde ihre Burg von Räu­bern über­fal­len. Diese Räuber wussten, dass alle Ritter in eine Schlacht gezo­gen waren und hatten gedacht, dass die Burg eine leichte Beute sein würde.
Erst sammelten die Räu­ber alles Gold ein, die Edel­stei­ne, die schö­nen Klei­der, die Teppi­che und Bü­cher. Dann woll­ten sie die Menschen umbrin­gen, die in der Burg wohn­ten, auch die Prinzes­sin, aber vor­her woll­ten sie noch etwas essen und trinken. Dazu sollte ihnen die Prin­zessin eine Ge­schich­te erzählen, denn auch die Räuber hat­ten ge­hört, dass sie nicht nur schön, sondern auch klug war.
So kam es, dass unsere Prinzessin ihre erste Ge­schich­te erzählte. Sie handelte von einem König, der für seine Tochter einen Mann such­te. Und wie unsere Prinzes­sin die Ge­schichte erzählte - da hatte sie ein bißchen geschum­melt - heirate­te ei­n rei­cher und tapferer Räuber die Kö­nigstochter, und sie wurden sehr glücklich.
Also das ge­fiel den Räubern natürlich sehr! Es wäre viel zu schade gewe­sen, die Prinzessin umzubringen! Sie woll­ten noch mehr Geschich­te hören, und schließlich alle, die sie kannte. Und so er­zählte die Prinzessin Abend für Abend den Räu­bern eine Geschichte, die sie immer ein wenig so er­zähl­te, dass sie den Räubern gut gefiel.
Niemand merkte, wie die Zeit verging. In Arabien gibt es keinen Frühling, weil die Sonne alles Grün verbrennt, und keinen Winter, weil es viel zu heiß ist, um zu schnei­en. Nicht einmal die Prinzessin merkte, wie die Zeit verging. Sie erzählte und erzählte, und es verging die Zeit.
Eines Tages - sie wusste wahrlich nun keine Ge­schich­te mehr - sah sie in der Ferne eine Staubwolke. Sie hör­te vertraute Rufe, das Klirren der Rüstungen. Die Rit­ter waren sieg­reich von der Schlacht zurückgekommen. Die Räuber aber waren von den Geschichten der Prinzes­sin fett geworden, denn sie hatten bloß zugehört, gegessen und getrunken, weiter nichts und dies ohne Ende. Keiner von ihnen passte mehr in sei­ne Rü­stung, ihre Schwerter lagen schwer in ihren Hän­den. So konnten sie schnell von den Rittern überwäl­tigt werden.
Und die Prinzessin wurde weithin berühmt für ihren Mut und ihre Klugheit. Sie hatte wohl tausend Ge­schichten erzählt, um ihr Leben zu ret­ten.
Schlaf nun, kleine Prin­zes­sin, schlaf! Dann kommt sie in dieser Nacht zu dir, die Prinzessin aus Arabien, um eine von den tausend Ge­schichte zu erzählen. Sag ihr nicht, dass du sie alle kennst. Vielleicht ist eine dabei, die dir Oma Selma nicht erzählt hat."
Die Augen suchten noch ein wenig in Selmas Gesicht, ob nicht ein bisschen von der Geschichte übrig ge­blieben war. Dann schlossen sich die Lider langsam, und Li merkte nicht einmal, wie Selma ihr über das Haar strich.

Chapter 14. Woi reitet

"Weißt du alles?" fragte Woi.
"Nur das, was wichtig ist. Auch davon nicht alles", ant­wortete Medith und sah nicht von seiner Beschäftigung hoch.
"Was ist wichtig?"
"Dass der Mensch essen kann, ist wichtig. Dazu muss er sich auf die Jagd verstehen. Wenn er nichts fängt, muss sich im Wald etwas Essbares suchen ... und abends muss er ein Feuer machen und eine Schlafstatt herrichten, ja."
"Kannst du das alles? Es ist doch wichtig, sagst du!"
Medith überlegte. "Warte mal. Ja, ich glaube ...", sagte er langsam. Dann nickte er entschieden: "Ein Soldat muss das alles können. Kämpfen kann er ja, aber er muss sich auch ernähren können, wenn er im Wald ist oder wo ... Wenn ein Soldat völlig allein wä­re, der käme zurecht, denke ich."
"Das musst du mir alles zeigen. Weil ich Soldat werden will."
"Ja, ja", grummte Medith. "Das mach ich, ganz be­stimmt." Dann rieb er weiter seinen Stiefel glänzend.
"Heute noch!" sagte Woi.
Medith sah auf. Was wollte der Junge? Ach ja, er wollte Soldat werden. "Heute?" fragte Medith und kratzte sich am Kopf.
"Ja", sagte Woi ganz ernst. "Du hast ge­sagt, du kannst mir alles zeigen. Ich will nur sehen, ob das wahr ist."
"Also, du bist mir ein ganz Schlauer! Frag deinen Vater, was der dazu sagt!"
"Gut", sagte Woi. "Ich gehe meinen Vater fragen. Pack du schon mal die Sachen ein, die du zum Zeigen brauchst." Er funkelte so mit seinen schwarzen Augen, dass Medith sich nicht traute, den Stiefel wieder in die Hand zu nehmen.
Es dauerte nicht lang und Woi war wieder da.
"Nun, was hat dein Vater gesagt?" fragte Medith. Er hatte seinen Bogen geholt, den Kö­cher mit ein paar Pfei­len, den Kochtopf ... damit Woi sah, dass er von ihm aus, wenn es sein musste, heute noch Soldat werden konnte.
"Mein Vater hat gedacht, ich wäre schon Soldat. Aber ich habe gesagt: 'Nein, der Medith muss es mir noch zeigen.' Dann sei es aber Zeit, hat er gesagt, weil ich ja schon fast sechs Jah­re alt bin."
"Gut, wenn dein Vater es will, werde ich aus dir einen richtigen Soldaten machen", sagte Medith. Er legte für Woi ein paar warme Sachen und eine Decke zurecht und packte für sich alles ein, was er für eine Nacht im Wald benötig­te.
Als er gehen wollte, hielt ihn Woi fest. "Ich habe keinen Bogen und keinen - wie heißt der?"
"Ein Köcher ist das. Du kriegst einen. Haben wir einfach vergessen in den letzten vier Jahren."
Woi nickte. Endlich zeigte Medith die richtige Einstel­lung. Von ihm aus konnte es losgehen!
Das Pferd, das Woi bekam, war halb so groß war wie das von Medith. Es machte trippelige Schritte und war minde­stens so aufgeregt wie Woi.
"Ich reite mit ohne Sattel", sagte Woi.
"Du reitest mit mit Sattel", entschied Medith.
Das kleine Pferd bekam einen weißen Sattel. Eigentlich war es ein Pferd für Damen. Das durfte Woi auf keinen Fall wissen, weil ihm das Pferd gleich merkwürdig vorgekommen war. Es hatte einen geflochtenen Zopf mit grünen und roten Holzper­len und auf den Sattel war eine Blume gemalt.
Am Tor tat es Woi dem Oberen Medith nach und grüßte die Soldaten mit ei­ner Hand zur Schläfe. Die Soldaten grüßten auch ihn mili­tä­risch korrekt zurück.
"Ich werde heute Soldat!" rief Woi ihnen zu. Die Solda­ten standen stramm. Als Woi ihnen zuwinkte, zogen die Soldaten ihre Schwerter und ließen sie im Sonnenlicht auf­blitzen.
Die Reiter lenkten ihre Pferde in Richtung Wald. Noch war der Nachmittag hell. Ein paar Wolken mochten sich nicht für eine Richtung entscheiden. Es roch wie in dem Keller, in dem die vielen Fäs­sern waren. Der Boden federte die Tritte der Hufe leiser, und das Licht hing in dünn ge­schnittenen Scheiben von den Baumkronen herab.
Das kleine Pferd von Woi hatte genug! Es war noch nie in einem Wald gewesen und sah sich schon die Nacht über an einen Baum gebunden. Weil es immer langsamer ging, zog Woi an seinem Zopf. Nun hatte es wirklich ge­nug! Es ver­suchte, eine Kehrt­wendung zu machen. Aber nun hatte Woi genug! Das Pferd musste feststellen, dass dieser Reiter ein zügelloser Bursche war. Gut, es würde ihm gehor­chen, aber mehr als Gehorsam durfte er nicht verlangen! Freund­schaft, ausge­schlossen! Ver­trautheit, undenk­bar! Konnte dieser Rohling denn nicht unterscheiden zwischen einem Ausführpferd und einem Ac­ker­gaul!?
"Wenn ich einen Hasen schieße, essen wir den dann heute abend?", fragte Woi. Medith grunzte auf seinem Pferd.
"Dann brauche ich jetzt eine Bogen für meinen Hasen!"
Me­dith knurrte etwas von einem, der nicht mal Soldat war und schon rumkom­mandierte. Woi knurrte etwas von einem, der wartete, bis die Hasen alle fort waren. Er war abge­stie­gen und hatte sein Pferd an einen Baum ge­bunden.
Medith suchte für Wois Bogen einen biegsamen Stock aus. Woi fand ihn zu klein. Medith meinte, er sei genau rich­tig. Mit al­ler Kraft bogen sie den Stock von seinen Enden her krumm­. Dann spannte Me­dith die Sehne auf, mit einem Hand­schuh, weil sie sehr scharf war. Es war eine Sehne, wie sie Medith an seinem eigenen Bogen hatte.
Vorsichtig nahm Woi den Bogen auf. Medith hat­te recht ge­habt: Er war genau rich­tig in der Größe! Leider hatten die Hände viel Platz in dem Hand­schuh, den er von Medith bekommen hatte. Er steckte vier Pfeile in den Köcher und schlich zu der Lich­tung, die er Medith gezeigt hatte.
Er hielt den Bogen quer vor seinen Körper gefasst. Der Boden war weich und für einen Jäger zum Anschleichen genau rich­tig. Hinter sich hörte er ein Knacksen. Es war Medith, der mitgekommen war.
"Schscht!", machte Woi und sah ihn streng an. Medith verdrehte die Augen. Es tat ihm wohl leid, dass er nicht auf den Zweig geachtet hatte. Er hätte ruhig schon mal Feuer machen können. Woi deutete auf eine Stel­le, wo helles Gras zwischen den Bäumen stand.
Dort sahen sie einen Hasen mit glänzenden Augen und auf­ge­stellten Drehohren sein Abendgras zupf­en. Woi leg­te sich einen Pfeil auf die Hand und spannte lang­sam den Bo­gen. Er ziel­te und ließ los, als er keine Kraft mehr hatte. ZUNG mach­te die Sehne, und der Hase schoß davon, noch ehe der Pfeil seinen hohen Bo­gen voll­endet hatte.
"DER war aber schnell!" stellte Woi fest.
"Ja, sehr schnell, dieser Hase", bestätigte Medith.
"KONNTE man den treffen?"
"Nein, der war zu schnell. Das war ein ganz besonders schneller Hase."
Woi sah ihn mißtrauisch an. "Es war sowieso dane­ben", sagte er, und sein Magen knurrte laut.
Sie gingen zurück zu den Pferden. Medith zog zwei Stücke Fleisch aus der Satteltasche.
"Du hast wohl gedacht, ich treffe nicht", sagte Woi.
"Nein, nein. Ich dachte nur ... an so einem Hasen ist nicht viel dran, wenn man ihm das Fell abgezogen hat."
Er machte ein schönes Feuer mit dem Holz, das Woi gesam­melt hatte. Jeder hielt seinen Spieß in das Feuer. Das Fleisch schmeckte Woi sehr gut. Medith hat­te es auf ein Messer gesteckt. Es war innen ganz blu­tig, aber das machte ihnen nichts. Woi hatte viel Hunger und leck­te, als er fertig war, vorsichtig das Messer ab.
Anschließend legten sie sich in ihre Decken. Medith schlief so­fort ein. Woi lag noch wach und hörte die Tiere im Wald. Es war erstaunlich, wieviele Tiere es gab. Er hörte Vögel mit dunklen Stimmen, die jetzt wach wurden und ihr Jagdre­vier einteilten. Ganz nah hörte er das Knacken von Zwei­gen. Ein Reh war von den ande­ren ge­schickt worden, um sich die bei­den Jäger an­sehen.
Der Mond rollte sich langsam über die Krone eines dich­ten Baumes. Wie in einem Schat­tenspiel traten die Bäu­me einer nach dem anderen auf die Bühne.
Woi breitete die Arme aus und hielt die Augen weit geöff­net. Er stellte sich vor, dass er als ein Raubvogel über den Bäumen schwebte. Unter ihm kreisten die Kronen der Bäume. Laut blies der Wind in sein Gesicht. Langsam ließ er sich auf einen Baum her­abfallen. Seine Krallen bekamen einen breiten Ast zu fassen, der ihn federnd aufnahm. Unter ihm leuchtete der Mond die Lichtung aus.
Im schwarzen Blattwerk würde der Nachtjäger nun auf den schnellen Hasen warten.

Chapter 15. Li wartet auf den Onkel

Von der Mutter erfuhr Li nicht, was mit ihrem Vater geschehen war. Erst hätte sie es nicht verstanden, weil sie zu klein war, dann hatte die Mutter es immer weiter vor sich herge­schoben und schließlich allen Mut ver­loren, dem Kind eine Erklärung zu geben.
Es gab Momente, da dachte die Frau an ihren Mann. Sie stell­te sich vor, wie er auf dem Weg war und nach ihr rief. Wenn das Haus still war und ihr gegen die Einsicht scheinen wollte, als warte auch Li auf ihren Vater, dann nahm sie etwas, um ein Geräusch zu machen, und rief das Kind zu sich, dass es etwas tat.
Der Onkel hatte die kleine Li in sein Herz geschlossen. Er kam oft, fast jeden Tag. Selma ver­brachte die Nacht nun öfter in ihrem Haus. Sie war eine alte Frau und sagte, dass es ihr nur recht wäre. Das Kind sei groß. Was brauche es eine Nachtamme?
Der Onkel hatte ein Pult im Haus und eine kleine Ecke mit einem Schrank. Von An­beginn an hatte Li ihn 'Vater' genannt. Er hatte dem Wort seine Bedeutung gegeben. Besaß er nicht mehr Recht an diesem Wort, als einer, der nichts als ein Schatten war?
Oft ging Li ihm auf seinem Weg dorthin entgegen, wo eine kleine Brücke war. Unter ihr stand für sich allein eine schmale Bank. Von den vielen Men­schen, die über die Brücke gingen, hatten wenige einen Blick herunter für den Fluss.
Er besaß einen ruhigen Lauf. Wenn man gerade dachte, er bewege sich nicht fort, zeigte sich ein feiner Stru­del, wie ein Grübchen in sei­nem Gesicht, als lächele er und freue sich, die Menschen ge­täuscht zu haben.
Manchmal setzte sich ein Junge mit einer Angel auf die Bank. Es war ihm nicht recht, dass ein Mädchen dort saß. Li machte sich schmal und wartete, dass der Junge wieder ging. Er gab ihr einen bösen Blick, aber er fing nie etwas, wenn sie dabei war, und schließ­lich kam er nicht mehr an seine Stelle.
Von diesem Tag an war Li wieder allein. Der Fluss lä­chel­te über den Jungen, der gedacht hatte, er bekomme auch nur einen Fisch von ihm, wenn er diesem Mädchen Angst machte.
Oft saß Li so still, als halte sie eine Angel in den Fluss. Dabei war es nur ein Blick, der nichts als ein paar Gedanken fangen würde, die still unter der spiegelnden Ober­fläche lagen, um mit den wirbeligen Grübchen emporzu­steigen.
Der Fluss sah das Mädchen gern bei sich sitzen und wartete gedul­dig mit ihr auf den Onkel. Wenn die Beamten mit ihren hohen Schuhen die Brücke betra­ten, dann erst sah Li auf.
"Kind", rief der Onkel sie von oben an. Er hätte sie er­schrecken können, so versunken saß sie an ihrem Platz. Aber ihm war immer, als sei ihre Seele aus feinstem Glas. So wollte er nicht, dass sie von einem Kratzer Schaden nahm.
Schnell drehte sie sich um. Nie sprang sie auf und rann­te, wie er es bei anderen Kindern gesehen hatte. Ihm war es recht so, weil er sich nicht trauen würde, sie zu umarmen. Al­les, was er für Li empfand, die ganze Liebe und Fürsorge, legte er in seine Stimme und in seine Worte.
"Ich habe gewartet", rief sie, weil er sie bedrückt anschaute.
"Geträumt hast du! Nicht gewartet! Das sah ich wohl", rief er hinunter und stieg seinen Worten vorsichtig nach.
"Gut, ein wenig geträumt und wirklich nicht aufgepasst", gab sie zu.
Als er den Platz neben ihr eingenommen hatte, machte er sich schmal, ganz so, wie Li es bei dem fremden Jungen getan hatte. Dann erzählte er ihr von seinem Tag, und sie stellte Fragen dabei, die ihn oft vergessen ließen, was er hatte sagen wollte.
"Warum gibt es das Schreiben?", fragte sie.
"Wir halten das Wichtige fest, eben so, wie es gesagt wur­de", erklärte er. Dann musste er davon sprechen, was die Geset­ze sind, von Bü­chern und Ur­teilen, von seiner und der anderen Arbeit. Längst hörte sie nicht mehr zu, da sprach er fort und fort.
"Gibt es ein Wort für Libelle, das man schreibt?", frag­te sie und zeigte auf eine, die das Ufer absuch­te, immer wieder stockend, als habe sie sich den Weg schlecht ge­merkt.
Als er das Zeichen vor sie in den Sand gemalt hatte, fragte sie, was an einer Libelle wich­tig sei.
"Den Dichtern sind auch die schönen Dinge wichtig", erklärte er ihr. "Sie nehmen das Schöne fest in ihre Worte auf, geht nicht alles hinein, dann malen sie es, was ihnen ebensogut ist." Er war ein wenig stolz, wie er es gesagt hatte.
"Dann will ich Schreiben und Malen lernen", sagte sie leise, ebenso zum Fluss wie zu ihm, "damit ich die schönen Din­ge für immer festhalten kann."
"Wie stellst du dir das vor?", fragte er und meinte, dass sie ein Mädchen war. Hatte man je gehört, dass die Mädchen solches lernten? Nicht einmal die Fürsten und ho­hen Diener hatten das Schreiben und Malen gelernt!
"Glaubst du nicht, dass ich es kann, Vater?", fragte sie ernst.
Jedes Mal ließ ihn ihre Anrede einen feinen, aber tiefen Stich spüren. "Doch, meine Li, du könntest es bestimmt", sagte er, weil sie ihn forschend ansah.
"Was ist es dann, wenn es nicht das Können ist?"
"Nichts", sagte er. "Ich war in anderen Gedanken."
"Ist der Fluss nicht schön genug, wenn ich ein Dichter werden will?", fragte sie nach und sah trotzig drein.
Er wollte gerade antworten, als ihn eine Stimme von oben anrief: "Eine hübsche Tochter hast du da, Schreiber!"
Es war der Einweiser von den Gärtnern, der auf dem Heimweg war. Ein lauter Mensch war er und tat, als sei er mit jedem seit langem Freund.
"Ich werde um ihre Hand anhalten, wenn sie groß ist!", rief der Einweiser so laut, dass die Menschen auf der Brücke stehen blieben und auch heruntersahen.
Lis Onkel machte eine freundliche Miene, um sich nichts mit dem Mann zu verderben.
"Sie ist eine Blume", rief der Vorwitzige über die Brüstung. "Sag ihr, dass ich der Einweiser der Gärtner bin. Was kann eine Blume sich einen besseren Mann wün­schen!?"
Die Menschen um ihn herum lachten. Wie immer wollte er nur, dass sie über ihn lach­ten und ihn einen Spaßvogel nannte. Nun war es genug, und er machte sich wieder auf seinen Weg.
Dem Onkel tat es für Li leid. Er hätte sich gewünscht, dass er mutiger gewesen wäre. Aber so war es immer in seinem Leben gewesen: Er bekam eine schöne Stelle, weil sie von seinem Bruder übrig geblieben war, und eine Toch­ter, weil sich die Mutter nicht traute, ihr vom traurigen Schicksal des Vaters zu erzählen.
"Ich wünschte, ich könnte dir deinen Wunsch erfüllen", sagte er leise zu Li, um sie auf andere Gedanken zu brin­gen.
So saßen sie noch eine Weile nebeneinander, und was er gesagt hatte, verwandelte sich im Schweigen zu einem Ver­sprechen.

Chapter 16. Woi als Richter

Mit Medith konnte Woi über alles reden. Nur die Frage nach seiner Mutter wollte er Woi nicht beantworten.
"Geh zu deinem Vater", beschied er ihn. "Er wird dir alles sagen, was du wissen musst."
"Aber, Medith, ich will es nicht von ihm wissen. Ich will es von dir wissen. Du wür­dest mich nicht anlügen, das weiß ich."
Medith schüttelte den Kopf und wandte das Gesicht ab. Dann ging er einfach weg, ohne etwas zu sagen. Das hatte er noch nie getan, seit Woi ihn kannte. Wahr­scheinlich würde Medith irgend­wohin reiten. Aber Woi war kein kleiner Junge mehr und würde ihm nicht nachlaufen.
Warum sollte Woi den Vater nicht einmal besuchen, um ihm bei dessen Geschäf­ten zuse­hen? Oft hatte der Fürst ihn dazu eingeladen, aber Woi hatte immer etwas anderes vor­gehabt.
In der letzten Zeit hatten sie mit den Zim­merleuten ein Block­haus für die Jagd gebaut. Er hatte kräftig mitgehol­fen. Die Schießscharte war seine Idee ge­wesen, und alle hatten ihn dafür gelobt.
Sein Vater würde im Großen Zimmer sein und sich anhören, was ihm die Leute vortrugen. Ohne Eile ging Woi den Gang zu dem Trakt ent­lang und stellte verwundert fest, dass er wohl zum ersten Mal in diesem Teil der Gebäudes war.
Alle, die auf eine Audienz beim Fürsten warteten, blick­ten ihm neugierig nach. Einige flüsterten in seinem Rük­ken. Er blickte sich um, aber kei­ner wollte sich verraten. Nur ein alter Mann sah ihn an, während die anderen weg­schauten. Woi ging auf den alten Mann zu und sah ihm direkt in die Augen. So groß war er immerhin schon, und so klein war der alte Mann.
"Was gibt es an mir zu sehen?" fragte ihn Woi zornig. Der alte Mann schien auf ein weiteres Wort zu warten, aber Woi sagte nichts, sondern sah ihm nur fest in die Augen.
"Ich schaue mir den Sohn des Fürsten an", sagte der alte Mann. "Ich versuche die Zukunft des Landes in seinen Augen zu lesen."
"Und was seht ihr?" fragte Woi und wich dem Blick des Alten nicht aus. In seinem Rücken hörte er wieder leises Lachen.
"Ich sehe, dass ihr eurem Vater nicht ähnlich seid. Ihr sei ein zorniger Mensch und fürchtet den Kampf nicht. Ich glaube sogar, ihr sucht ihn. Hab ich recht?"
"Sagen wir mal so", sagte Woi und sah dorthin, wo er den Lacher vermutete. "Ich bin jetzt neun Jahre alt und ich mag es nicht, wenn einer über mich lacht."
"Ihr müsst euch die Feinde woanders suchen, Fürsten­sohn", sagte der alte Mann und legte ihm die knochige Hand auf den Arm. "Nicht bei uns findet ihr sie. In eurem Leben aber wird kein Mangel daran sein, dessen seid gewiß." Alle hatten diese Worte gehört, und nun lachte keiner mehr.
Woi ließ den Mann stehen und betrat das Zimmer. Sein Vater saß in dem hohen Stuhl, und außer dem Schrei­ber war niemand bei ihm. 'Warum lässt er die Menschen nicht vor?', fragte sich Woi.
Nichts am Gesicht des Fürsten verriet, dass er Woi hat­te kommen se­hen. War er müde? Oder krank? War er in Ge­dan­ken? Ein ebensolch unlesbares Gesicht machte der Schrei­ber.
"Medith sagt", begann Woi, "ich soll bei euch nach mei­ner Mutter fragen?"
Keiner der beiden Männer hatte zugehört. Der Fürst seufzte tief, als hätte er eine sehr schlechte Nachricht bekommen und denke darüber nach. Der Schreiber schien der besorgte Überbringer gewesen zu sein.
Woi betrachtete den Stuhl neben seinen Vater. Seit er sechs Jahre alt war, stand dieser Stuhl dort. Bisher hatte noch nie jemand darin gesessen, weil der Fürstensohn nicht aufzutreiben war, oder eins der Pferde bald fohlen würde, oder die Soldaten versprochen hatten, mit ihm auf Nacht­wache zu gehen.
"Kann ich dich sprechen?", fragte Woi laut und machte die Schritte, die nötig waren, um direkt vor dem Stuhl des Fürsten zu stehen. "Ich will etwas über meine Mutter fragen."
"Ich habe mir gedacht, dass es das ist", sagte der Fürst und sah seinen Schreiber an.
"Es ist schade, dass ich sie nicht gekannt habe", fuhr Woi fort. "Ich weiß nicht einmal, ob sie mir ähnlich war - nicht einmal das!"
"Ich spreche nicht gern von ihr", sagte der Fürst, "nicht wahr, dass kann man verstehen ..."
"Ja, das ist sehr verständlich", sagte der Schreiber. "Es ist schwer, über etwas Trauriges zu sprechen."
"Aber sie ist doch meine Mutter und eure Frau gewesen", sprach Woi den Fürsten an. "Ist es nicht schön, über sie zu sprechen? Denkt ihr nicht oft an sie?"
"Es macht mich traurig", sagte der Fürst.
"Ich kann das verstehen", sagte der Schreiber. Er legte eine Hand auf die Lehne des Fürstenstuhles und nahm sie wieder fort.
"Ich will nur das Schöne wissen", bot Woi an, "nur das, was euch nicht traurig macht."
"Es ist lange her", sagte der Fürst. "Da bleibt wenig im Gedächtnis."
"Aber das Schöne muss doch bleiben!", so Woi.
"Bei jedem Menschen anders ...", darauf der Fürst.
"Bei mir bleibt das Schöne", behauptete Woi. "Ich er­innere mich - glaube ich - sogar an meine Geburt."
"Er erinnert sich an seine Geburt", sagte der Fürst zum Schreiber und schüttelte verwundert den Kopf.
"Ungewöhnlich", sagte der Schreiber, "ungewöhn­lich, wenn ich das sagen darf." Ausdrücklich nickte der Fürst, um es zu erlauben.
"Ich finde es ungewöhnlich, wenn einer sich an nichts mehr erinnert", warf Woi ein.
"Du bist noch ein Junge, gewachsen zwar, aber ein Junge eben", sagte der Fürst.
"Er ist verständig", sagte der Schreiber, "aber eben ein Junge. Ja, das ist er."
"Es muss doch etwas geben, an was ihr euch erinnert", sagte Woi, "Warum habt ihr sie zum Beispiel geheiratet?"
"Nicht alle Menschen heiraten", sagte der Schreiber.
"Nein, nicht alle ...", sagte der Fürst.
"Der alte Mann draußen sagt, er sehe die Zukunft des Landes in meinen Augen - er sagt, ich sei nicht wie mein Vater!"
"Hat er das gesagt?", fragte der Fürst.
"Darum muss ich wissen, wie meine Mutter war! Wenn ich nichts von euch habe, dann eben von ihr!"
"Du bist Woi, niemand sonst", sagte der Vater mit mat­ter Stimme.
"Ist sie also richtig tot?"
"Natürlich, das ist sie!"
"Schaut sie uns vielleicht zu?"
"Nein, sie schaut nicht zu, nicht wirklich ...", sagte der Vater.
"Also wie dann?", fragte Woi und war sehr er­staunt.
"Wenn sie lebt, dann blickt sie dich in meinen Au­gen an."
Woi sah erstaunt in die wässrigen Augen seines Vaters. Lange forschend blickte er hinein und sagte schließlich: "Ich weiß schon, ihr wollt sagen, sie ist tot."
"Du stellst viele Fragen", sagte der Vater und hob die fürstliche Hand zur müden Schläfe.
"Der Junge ist sehr wissbegierig", sagte der Schreiber.
"Hmm, hmm", brummte der Vater.
"Wenn man ihn für seine Wissbe­gier etwas lernen ließe ...", sagte der Schreiber.
"Ja, hmm", sagte der Vater.
"Ich will nur eine Antwort darauf, wie meine Mutter war!", sagte Woi und hätte es am liebsten laut ausgeru­fen.
"Wenn man ihn das Schreiben lehren würde - wo er doch klug ist und viele Fragen stellt ...", so wieder der Schreiber.
"Er stellt kluge Fragen, ja, das tut er", sagte der Fürst. "Wir müssen darüber nachdenken, wie wir seine Wiss­begier befriedigen können."
"Ich will nicht Schreiben lernen!", rief Woi. "Niemand lernt Schreiben. Warum soll ich der einzige sein, der Schreiben kann!"
Der Schreiber wollte einwenden, dass er selber des Schreibens kundig sei, dann aber be­dachte er sich und führte langsam den Finger zur Lippe, dass es der Fürst sah.
"Schreiber, was habt ihr auf dem Herzen?", verlangte der Fürst zu wissen.
"Wenn er nicht alleine lernen will", sagte der Schrei­ber, als denke er im Sprechen nach. "... ich habe da ein klei­nes Mädchen zuhause. Li heißt sie und würde gerne, sehr gerne Schreiben lernen."
"Dann soll sie es an meiner Stelle lernen", gab sich Woi großzügig.
"Auch sie will nicht alleine lernen", sagte der Schrei­ber schläulich. "Bedenkt, sie ist nur ein Mädchen ..."
"Ich soll mit einem MÄDCHEN lernen!", entfuhr es Woi im Überdenken des Vorschlages. "Das würde Medith niemals erlauben!"
"Medith wäre stolz auf dich", gab sich der Fürst sicher. "Zu allen Dingen, die er dir beigebracht hat, würdest du auch noch Schreiben lernen."
"Er kann doch selbst nicht schreiben!", rief Woi und schüttelte über ihren Unverstand den Kopf.
"Eben deshalb wäre er stolz auf dich", sagte der Schrei­ber.
"Sie ist ein Mädchen?", fragte Woi, um sicher zu sein.
"Einen ganzen Kopf ist sie kleiner als ihr!", dazu der Schrei­ber.
"Was kann sie denn?", fragte Woi und sah verächtlich den Schreiber an.
Der Schreiber überlegte: "Reiten kann sie nicht, Bogen schießen nicht, im Wald würde sie sich fürchten, sogar das Laufen hat sie spät gelernt, wenn ich mich erinnere."
"Kann sie eine Schießscharte bauen?"
Der Schreiber schüttelte traurig den Kopf. Auch der Fürst sah voller Mitleid für das Mädchen drein.
Woi überlegte. "Wieviel vom Schreiben soll ich denn ler­nen?"
"Soviel in deinen Kopf hineingeht!", schlug der Vater vor.
"Nicht in meinen - soviel in den Kopf des Mädchens hin­eingeht!", hielt Woi dagegen.
"Das wäre ein Vorschlag", sagte der Schreiber.
"Er ist bloß faul", sagte der Fürst trocken.
"Ich verspreche, alles von der Schreiberei zu lernen, was in den Kopf von diesem Mädchen hineingeht - aber nicht mehr!", wiederhol­te Woi energisch.
"Es ist ein Versprechen", sagte der Fürst feierlich.
"Ja, ein Versprechen", sagte der Schreiber.
"Aber warum lächelt er so?", rief Woi und zeigte auf den Mund des Schreibers.
"Ich lächele nicht", sagte streng der Vater, "und ich bin der Fürst, nicht er!"
"Gut", sagte Woi, "also versprochen!"

Chapter 17. Li darf Schreiben lernen

"Li, kleine Li, süße, kleine Lieblingsli, wo hast du dich ver­steckt? Ich habe etwas für dich. Willst du es nicht? Dann nehme ich es wieder mit!"
Weil der Fürst ihm die Erlaubnis dafür gegeben hatte, war der Onkel früher gekommen. Eine gute Zeit frü­her, so früh, dass er sich sicher war, Li im Haus anzu­treffen und nicht unter der Brücke, wo alle Menschen ihnen bei ihrer Freude zusehen konnten.
Er brauchte nicht lange zu warten, dann sah er Li mit verwuselten Haa­ren und verrutschten Sachen die Treppe hin­untersteigen, Stufe nach Stufe, eine nach der anderen. Angestrengt sah sie auf ihre Füße, als sei sie ihrer Trit­te noch nicht sicher.
"Wo hast du dich ver­steckt?", rief er, weshalb sie ihn verwundert ansah und auf der untersten Stufe stehen blieb.
"Ich freue mich! Soll man nicht sehen, dass ich mich freue!?", rief er noch einmal, fast trotzig.
Li machte einen letzten, sorgfältigen Schritt und stand nun vor ihm, mehr neu­gierig als befremdet.
Der Onkel machte eine feierliche Verbeugung. "Wel­che Hand wählst du?"
Li überlegte. "Ist es die da?"
"Du sollst eine aus­suchen, nicht raten."
"Dann nehme ich die andere!"
Er streckte ihr die Hand entgegen, in der er ein weißes, rundes Gefäß mit ei­nem Korken in der Mitte hielt.
Li ver­suchte gleich, den Korken zu lösen.
"Nicht, Li, lass es zu, du machst dich schmutzig", sagte er und nahm es ihr wieder fort.
Li ver­zog ent­täuscht die Lip­pen.
Wieder verbeugt sich der Onkel: "Wel­che Hand?"
"Aah ... diesmal die andere."
In dieser Hand hielt er ihr ei­nen Pinsel ent­ge­gen.
"Vater, ist das für mich?", rief sie. "Tusche und ei­nen Pinsel! Für mich? Dann ist es doch wahr, dass du mir das Schreiben beibringst ... warte, da steht etwas drauf!"
"Al­so, laß mal sehen", sagte der Onkel und nahm den Pinsel umständlich entgegen. "Da steht drauf: 'Für Li, welche klein ist'. Dann folgt das Zeichen für 'Bild', dem folgt das Zeichen für 'Wort', siehst du!?"
Li hielt den Pinsel ganz dicht vor ihre zusammenge­kniffenen Augen und nickte zögernd. "Das ist aber schwer", sagt sie schließlich.
"Ja, das ist es wohl", sagte der Onkel und streichelte ihr den Kopf, einmal und noch einmal. Heute erlaubte er sich, seine Li zu berühren. Sie war so in ihren Gedanken über der Schrift auf ihrem Pinsel, dass sie nicht einmal aufsah.
"Ich habe noch etwas für dich", sagte er leise.
"Noch etwas?", fragte Li ungläubig.
"Ja, denn die eigentliche Überraschung ist eine andere!"
Unsicher sah sie, ob es außer den zwei Händen noch eine dritte gab.
"Ich bin seit heute der Schreib­lehrer von Woi, dem Sohn des Für­sten", verkündete er stolz.
"Ja, das ist schön", sagte Li traurig.
"Aber dieser Woi hat ge­sagt, er wol­le nicht schreiben ler­nen. Es sei ihm zu lang­wei­lig und au­ßer­dem zu schwer. So etwa hat er es gesagt."
"Ich würde gerne", sagte Li, im Stillen wieder hoffend.
"Das habe ich mir gedacht und ihm erzählt, wie gerne du Malen und Schreiben ler­nen würdest. Woi hat über­legt. 'Gut', hat er gesagt, 'Li heißt sie und ist ein Mäd­chen? Sie soll kommen. Al­les, was diese Li lernt, das will auch ich lernen, aber nicht mehr. Sie ist ja ein Mädchen, und alle Mäd­chen sind dumm.' Dann war es ver­sprochen, und er ist fortge­rannt."
"Vater", sagte Li ernst, "ich will so klug werden wie die Prin­zessin von Ara­bien. Morgen fange ich damit an. Und der Woi ist ziemlich dumm, finde ich!"
Der Vater lachte und schüttelte den Kopf. "Vergiss nicht, der Woi wird mal ein mächtiger Fürst sein. Viele, viele Menschen ge­horchen sei­nem Vater. Er herrscht über diese Stadt und das ganze Land, groß wie Arabien, be­stimmt! Nur der Kaiser ist mäch­tiger als der Vater von Woi."
Li hatte ihm nicht mehr zugehört. "Also, Vater, ma­len kann ich ja schon - das hat mir die Selma gezeigt - aber wie lernt man denn Schreiben?"
"Da wird sich der Woi aber wundern, dass du malen kannst, denn danach ist das Schreiben nicht mehr schwer. Pass auf, du malst etwas, und ich zeige dir, wie man es schreibt."
"Vater, ich hole schnell eine Sache. Den Pinsel und die Tusche heb ich für den Unterricht mit Wo­i auf."
Ganz schnell lief Li die Trep­pe hinauf, ohne auf ihre Füße zu sehen, und wäre bei­nahe ge­stürzt. Wenig später trug sie von oben vor­sichtig ein Ta­blett her­un­ter und stellte es auf den Bo­den, streute aus einem Säck­chen weißen Sand auf die dunkle Unter­lage, strich ihn glatt und fragte: "Was willst du, das ich ma­le?"
"Nun, wenn ich es aussuchen darf, dann male mir ein Haus."
Li setzte sich auf den Boden, nahm einen feinen Stab und zeichnete ganz langsam die Linien, wobei die Spitze ihrer kleinen Zunge jede Be­wegung nachvollzog.
"Soll ich auch einen Garten malen. Ich kann auch Blumen und eine Sonne -"
Der Onkel nickte und sah ihr zu. Ihm gefiel, was sie malte. Da war er nun Schreiblehrer am Fürstenhof, und Li hatte sich das Malen selbst beibringen müssen. Aber es war nicht anders gewesen bei ihm. Als kleiner Jun­ge hatte es ihm niemand gezeigt.
"Li, ich soll dir doch Schreiben beibringen?", unter­brach er ihr kleines Werk.
Zustimmend nickte Li und reichte ihm ihr klei­nes Holz­stäb­chen.
"Sieh mal, ich habe dir ein Wort gemalt, ein richti­ges Wort. Was könnte es bedeuten?" Es war das Zei­chen für Dach, ein um­gekehrtes V.
Li betrachtete das Zeichen. "Es sieht aus, wie ein Vogel am Himmel."
"Tatsächlich, wo du jetzt stehst, heißt es 'Vogel'. Aber, wo ich stehe, bedeutet es etwas anderes."
Li stellte sich vor ihn hin und bewegte die Zungenspit­ze. "Es sieht aus wie ein Berg. Nein, ein Berg hat be­stimmt ein viel größe­res Zeichen. Es sieht aus wie das Dach von einem kleinen Haus."
"Ja, es heißt tat­sächlich 'Haus'. Du siehst, das Schreiben ist gar nicht so schwer."
Li überlegte. "Hätte auch der Woi das Zeichen für 'Haus' lesen können?" Der Vater sagte nichts. "Und das Zei­chen für 'Vogel'?" Die Antwort des Vaters war ein deutli­ches Schwei­gen.
Darauf nickte Li stolz und war sehr zufrieden mit sich.

Chapter 18. Woi auf dem Baumkarren

Woi schlich sich sehr leise an. Niemand, nicht einmal Medith hörte ihn auf dem Flur. Er stellte sich vor, dass seine Füsse Ballen wie eine Katze hatten. Die Pan­toffeln, die ihm Medith geschenkt hatte, besaßen eine weiche Le­dersohle besa­ßen. Aber Woi trug sie nur ganz selten, eben nur, wenn er sich anschlei­chen wollte.
Als er vor Mediths Zimmer war, hörte er eine leise Stim­me. Erst dachte er, die Stimme komme von draußen, aber dann war er sich sicher, dass sie aus Mediths Zimmer kam. Also duckte er sich hinter die Truhe, ganz so wie Medith es ihm für die Dec­kung ge­zeigt hatte. Sie hatten es oft gespielt, doch nun war es fast im Ernst.
Es war jemand in Mediths Zimmer, aber es war nicht Me­dith. Die Stimme war leise, ja, sie flüsterte. Was gab es Ge­heimes zu flüstern für diese Stimme? Es gluck­ste aus ihr, als sei et­was Lu­sti­ges geschehen. Jetzt hörte er auch Me­diths Stimme. Erst keu­chte er eine Weile, dann folgte ein He­cheln, als gehe es mit seiner Luft zu Ende.
Schnell lief Woi um die Ecke und zog einen Diener, den er kannte, zur Tür von Mediths Zimmer. Auch der Diener horchte und war sehr erstaunt über die Stimmen. Doch dann kicherte er und gluckste.
"Oh, Sohn des Fürsten", sagte er leise zu Woi, "ich wür­de dir gerne helfen, aber ich glaube, wir können nichts für deinen Medith tun." Dann verschwand er kichernd und gluck­send dorthin, wo Woi ihn hergeholt hatte.
Nun hielt Woi nichts mehr! Niemand sollte von ihm sagen könne, dass er Medith nicht geholfen hatte. Behutsam drück­te er die Klinke herunter und betrat mit leise­sten Bal­len­füs­sen das Zimmer.
'Pnorisch' machte die Tür, als sie aufstand. Da sah Woi schon, dass Medith in höch­ster Gefahr war: Auf ihm saß eine Frau. Von ihr waren die ver­dächti­gen Ge­räusche gekom­men. Me­dith lag auf dem Bett und war ganz rot im Ge­sicht, weil die Frau mit den Händen seinen Hals gefasst hielt, so fe­ste, dass Medith nur keuchen konnte. Es wun­derte Woi sehr, dass eine Frau - nichts an­deres als eine Magd war sie - solche eine Kraft hatte, dass sie Me­dith er­würgen konnte.
Aber Woi bedachte sich nicht lange. Schnell lief er zu der Frau hin und zog an ihrer Hand, damit sie Mediths Hals losließ. Sie kämpften, bis er schließlich von ihrem aufge­lösten Haar das meiste zu fassen bekommen hatte.
"Ich kann jetzt nicht aufstehen", rief die Frau. "Es geht wirklich nicht. Lass das los!"
"Also was ist denn ...", brummte Medith.
Woi war sehr erstaunt, dass Medith ihm nicht half, ge­gen die Frau zu kämpfen. Er ließ das Haar los und sogar die Hand.
"Geh jetzt, Junge!", sagte Medith, und es klang sogar ein wenig ärgerlich. "Du hörst doch, es geht jetzt wirk­lich nicht. Warte draußen. Ich bin gleich bei dir."
"Ich bin doch eine Magd", sagte die Frau, als Woi große, fragende Augen machte. "Da habe ihm etwas Leckeres ge­kocht. Und er hat mich eingeladen, so war das."
"Aber er kann doch selber kochen", sagte Woi. "Das ist gelogen, was sie sagen. Er ist doch ein Soldat und kann alles selber machen."
Nun glucksten die beiden wieder, und Woi kam sich sehr dumm vor.
"Willst du denn auch Soldat werden?", fragte die Magd, weil sie mitleidig mit Woi war.
Er nickte und hätte am liebsten geweint.
"Dann ist es doch manchmal recht einsam als Soldat", sagte die Frau.
"Ich bin am liebsten allein", sagte Woi trotzig und schluckte etwas in seinem Hals herunter. Die Frau sah Medith an, und sie taten wieder so, als gäbe es Woi nicht.
Er ver­stand, dass Medith keine Hilfe von ihm brauchte und ging, so leise wie er gekommen, hinaus. 'Pnorisch' machte die Tür, als sie zuging. Der Die­ner fragte, ob Me­dith noch immer in dieser schrecklichen Situation sei, aber er be­achtete ihn nicht.
Woi setzte sich dorthin in den Hof, wo zwei dicke Gäule vor einem schweren Fuhrwerk standen, von dem viele Baum­stäm­men heruntergerollt wurden. Erst schickten ihn die Diener fort, aber dann beachteten sie ihn nicht mehr, so sehr mussten sie auf ihre gefährliche Arbeit achten.
Auf dem Karren blieb nichts als eine Decke zurück. Die Männer waren alle damit beschäftigt, die Stämme über den Hof zu den Ställen zu rollen. Einer der Gäule sah Woi mit großen, sehr trauri­gen Augen an. In dem einen Auge saß eine dicke Träne, auf dem anderen eine Fliege.
Ohne dass ihm andere als Pferdeaugen dabei zusahen, klet­ter­te er auf eines der Räder und dann hinauf, wo er unter die Decke kroch. Sie roch und stach in der Nase, aber Woi war ein Soldat, und es störte ihn nicht.
Im Dunkeln lief die Zeit anders ab. Er wusste nicht, ob sie schnell oder langsam lief. Dazu stellte er sich vor, dass er auf einer Nachtwache war und die Zeit vergessen hatte, wie Medith es ihm einmal erzählt hatte.
Gerade, als Woi nicht mehr an die Zeit dachte, hörte er Stimmen. Die Diener gingen zur Mahlzeit, und der Mann kam allein zu­rück. Gern hätte er am Hof etwas gegessen, aber sie hatten ihn nicht eingeladen. So schimpfte er leise auf den Geiz der Höfischen und schlug mit Wucht die Lade des Fuhrwerks hoch. Nicht einmal Wasser hatten die Diener den Pferden gegeben. So schimpfte er für sich und für seine Tiere.
'Haija' und 'Huija' rief er die Pferde und gab ih­nen ei­nen lauten Schlag mit dem Zügel. Der Wagen ruckte los, und Woi ließ sich hin- und herrollen, als wäre er ein Baum­stamm. Die Wachen, an die er in seinem Übermut nicht ge­dacht hatte, sahen nicht nach, was im Wagen war, son­dern riefen den Baumkar­ren brummig durch.
Woi versuchte, aufzupassen und sich blind zu merken, wo sie entlangfuhren. Aber er wurde darüber so müde, dass er fast ein­schlief. Mit einem Mal war esstill, und der Karren fuhr nicht mehr.
Als Woi die Decke zurückschlug, hörte er den Mann sa­gen: "Ja, wer bist denn du hier?"
Sie waren tief in den Wald gekommen. Es war so dunkel wie unter seiner Decke. Wie hatte der Mann ihn nur sehen können? Woi je­denfalls sah nichts und sagte auch nichts.
"Na, was für einer!", sagte der Mann, aber es klang eigentlich recht freundlich. "Nun muss ich dich wohl brin­gen, wo du herkommst ..."
Woi schüttelte den Kopf.
"Ja, du willst doch in den Wald nicht wollen etwa??"
Woi nickte dreimal zaghaft.
"Im Wald, so einer wie du, bei den Räubern?"
Woi nickte zweimal, aber er ließ den Mann sprechen.
"Und die Tiere, wo die Räuber sich sogar müssen fürch­ten - hast du an die gedacht?"
Woi nickte so wenig, dass der Mann denken konnte, es war gar kein Nicken gewesen.
"Ich habe nicht gedacht ...", sagte er leise. Und mein­te, dass er nicht vorgestellt hatte, wie schwarz es im Wald war. Er hätte bestimmt kei­ne Angst gehabt, wenn er we­nigstens ein biss­chen gesehen hätte, was um ihn herum war.
"Angst hast du keine, aber willst doch zurück", stellte der Mann fest.
"Sie wissen nicht, dass ich fort bin", sagt Woi und war froh, dass der Mann für ihn gesagt hatte, dass er zu­rück wollte.
"Dann steig mal auf", sagte der Mann. "Hier, sollst die Zügel halten. Das willst du doch oder?"
Woi zeigte ihm, dass er es konnte und rief ganz laut die Pferde 'Haija' und 'Huija' bei ihrem Namen. Auch die Pferde konnten im Wald besser sehen als er. Der Mann nann­te ihn 'Söhnchen' und lachte dabei laut. Sie verstan­den sich gut, und Woi durfte die ganze Zeit die Pferde lenken. Eigentlich hatte er nun keine Angst mehr vor dem Wald, aber es war zu spät, um den Mann zu fragen, ob er nicht doch bleiben durfte.
Als sie von Ferne die Wachen sahen, winkte ihnen Woi mit der freien Hand zu. Nun hielten sie den Wagen an und sahen sehr erstaunt drein.
"Den bringe ich euch zurück", sagte der Mann und fügte über­mütig hinzu: "Nehmt ihr ihn, sonst nehm' ich ihn wieder mit."
"Gebt dem Mann etwas zu essen", sagte Woi, "und denkt daran, dass seine Pferde durstig sind."
Erst wollte der Mann über diesen vorlauten Jungen schmun­zeln, als er aber sah, dass die Soldaten Woi ge­horchten, da war er sehr erstaunt.
Woi gab ihm seine Zügel zurück. "Mein Vater ist der Fürst", erklärte er ihm, "aber ei­gentlich ist mein Vater der Obere Medith, und da will ich jetzt hingehen."
Der Mann sagte nichts und betrachtete ihn beinahe ängst­lich. Es tat Woi leid, dass der Mann nicht mehr lustig zu ihm war, aber er wusste nicht, was er hätte sagen sol­len. Als er ging, konnte er in seinem Rücken spüren, dass der Mann ihm nachsah, bis er um die Ecke gebogen war.
In der Tür stand schon Medith und hatte auf ihn gewar­tet. Die Magd war fort, und Medith sah aus, als hätte er sich große Sorgen gemacht.
Woi musste ihm alles erzählen. Immer wieder unterbrach ihn Medith und sagte: "- also, Junge, wirklich!"
Als Woi mit dem Erzählen fertig war, fragte er: "Soll ich dem Mädchen, das morgen wegen dem Lernen kommt, erzäh­len, wie es im Wald ist? Oder meinst du, sie fürchtet sich zu sehr?",
Medith meinte, wenn sogar er als Oberer sich in dem Abenteuer fürchten müsse, dann sei es für ein Mädchen noch mehr zum Fürchten, und Woi solle ihr lieber nichts davon erzählen.

Chapter 19. Lis erster Tag

"Li, kleine Prinzessin, was machst du für Sa­chen!" Selma schnappte sie die kleine Person und steckte sie ein­fach unter ihren Um­hang. Li sollte sauber am Hof des Für­sten an­kommen. Jetzt sah nur noch der klei­ne Kopf her­aus und redete ohne Unter­lass.
"Ich bin keine Prinzessin. Eine Prinzessin ist die Tochter von einem Fürsten. Ich bin die Li, die Li von mei­nem Va­ter. Und der ist kein Fürst, bloß der Lehrer von ei­nem Sohn von einem Fürsten. Und wenn ich dir sage, dass ich für den Woi Malen und Lesen lerne, dann glaubst du es nicht. Und doch, es stimmt! Der Woi ist der Sohn von dem Fürsten. Und er hat keine Lust zu lernen. Außerdem ist ihm alles zu schwer, weil er ein bisschen dumm ist. Aber das sollst du nicht sagen, weil er sehr mächtig ist - na­tür­lich nicht jetzt, erst wenn sein Vater tot ist. Nicht so feste, ich krieg ja gar keine Luft!"
"Du kriegst keine Luft, weil du soviel redest. Und weil du in meinem Umhang bist, siehst du nicht schmutzig aus wie ein Tannenzapfen. Was für Sachen, einfach auf die Straße zu laufen!"
"Ich will erzählen, aber du hörst einfach nicht zu. Und wenn ich gleich weine, dann tut es dir leid. Also, ich strampe­le, wenn du mir nicht zu­hörst! Mein Vater hat ge­sagt, malen könne ich ja schon, aber lesen noch nicht so toll, und schreiben nur, weil ich gut malen könne. Das Zeichen für 'Vo­gel' ist so ..." Direkt in die Luft vor Selmas energi­sche Schritte malte ihre kleine Hand das umgekehr­te 'V', erst schnell, dann für Selma noch einmal langsam.
"Guck hin, Selma, ich mache das nicht noch ein­mal! Und wenn du dich auf den Kopf stellst und es liest, dann ist es ein Haus. Ziem­lich schwer, nicht wahr!?"
Selma nickte. Die zappelige Prinzessin wurde ihr langsam schwer. Von weitem sahen sie den Hof des Für­sten. Hier war Selma einmal vor langer Zeit gewesen und hatte für ihre Familie die Erlaubnis erhalten, sich anzu­siedeln.
Li war enttäuscht. "Ich dachte, es ist ein Schloss, des­sen Spitze in den Wolken verschwindet, dass ich, wenn ich ganz oben bin, auf die Wolken runter gucken kann. Kannst du mir sagen, Oma Selma, ob die Wolken von oben so weiß wie von unten sind."
So redete sie in einem fort, bis ihr Selma den Mund zuhielt, weil sie zu den Wachen gekommen waren, die Lis größer werdende Augen sahen und sich einen Spaß ma­chen wollten. Es wa­ren zwei mächtige Kerls mit riesi­gen nackten Bäuchen.
"Was habt ihr da unter dem Arm, gute Frau? Ist es et­was, das man essen kann?", fragte der eine.
Der andere klatschte sich mit der flachen Hand auf den Bauch und rief tö­nend: "Hunger, ich habe solchen Hun­ger. Nichts ge­gessen seit Ta­gen, oh, ich sterbe vor Hun­ger. Gebt mir etwas zu essen, gute Frau!"
"Selma, nun sag ihnen doch, dass ich nicht zu essen bin", flüsterte Li.
"Ohhoh, Kollege, es ist etwas zu essen und sprechen kann es auch. Wie ich mich freue, diese Braten mag ich am lieb­sten, wenn sie sprechen können!"
"Die Li bin ich und muss zu dem Woi, dem Sohn des Für­sten, damit er etwas lernt. Ihr dürft mich nicht es­sen, dann bleibt er für immer dumm. Selma, stell mich jetzt bit­te hin! Ich mache mich nicht schmut­zig."
"Wie bin ich traurig, Kollege. Unseren sprechenden Bra­ten dürfen wir nicht essen. Das ist jammerschade! Müs­sen wir weiter hungrig sein. Oh dieser Hunger, solch ein Hun­ger!" Sie ließen die Schultern hängen und sahen mit trau­rigen Augen auf ihre Bäuche herunter.
Ein Mann auf hohen Schuhen, wie ihr Vater sie bei dem Heimweg trug, war herbeigeeilt. Er hieß Selma bei dem Tor warten und befahl Li, ihm zu folgen.
Li ging an seiner Seite durch ei­nen großen Garten. Manche der Hecken waren zu Tiergestalten geschnitten. Da standen Bär, Schaf, Reh und Fuchs friedlich nebeneinander und betrachte­ten interesselos das rege Treiben, das um sie herum vor sich ging.
Zahllose Menschen waren beschäftigt, den Garten her­zu­rich­ten. Die Rinde der Bäume wurde gebürstet und abge­sprüht. Das Blattwerk der kleinen, wie zu Zwergenge­stalten gewach­senen Bäumchen wurde mit Tü­chern in Form geschla­gen. Mit Netzen fisch­ten Männer geduldig jede Unreinheit vom Teich, an dessen Rand sich die größeren Bäume­ versammelt waren, um ihr Spiegelbild zu betrachten.
Die Wege wurden ge­kehrt, je­de feinste Un­rein­heit ent­fernt, mit der Nase geprüft und in verschiedenen Kör­ben eingesam­melt. Auf dem sei­dig glän­zen­den Rasen wurden fri­sche Blumen zu farbi­gen Mu­stern verstreut. Ein kleiner Vogel, der hier einen Platz für sich sah, wurde mit stren­gem Hän­deklätschen verjagt. Prüfend richtete ein Mann den Blick zum Himmel, als müsse er dort einige Wolken auf­schüt­teln und um­schich­ten.
Li musste sich beeilen, um den Anschluss an ihren Führer nicht zu verlie­ren. Es ging durch viele Räume. Die Men­schen, denen sie begegneten, wuschen, kochten, zählten und putzten. Sie schimpften laut, kamen unter Ti­schen hervor­gekrochen, verschwanden über Leitern in Boden­löchern, ja, manche hingen mit dem Bauch an der Decke.
Dann weiter kamen schöne, große Zimmer, in denen die Wän­de mit allen Landschaften bemalt waren. Li kam es vor, als laufe sie eilig um die ganze Welt. Wie gerne wäre sie ge­blieben, aber ohne Aufenthalt flog sie an Tä­lern, Bergen und Seen vor­bei. Weißlicher Nebel wich der Sonne. Der hel­le Tag ver­blutete eilig in die Mondnacht hinein.
Ihr drehte sich der Kopf, als sie merkte, dass sie in einem Zimmer stand. Aus Türen von drei Seiten kamen Frauen herbeigerannt. Sie rannten im Kreis um Li her­um, warfen die Hände über den Kopf, verrenkten die nackten Hälse und machten einen großen Lärm. 'Wie ein Topf voll Spatzen', würde Selma sagen.
Lis Führer machte eine Handbewegung, worauf die Frauen sich auf Li stürzten, ihre Kleidern herunterzerrten, in ihren Haaren wühlten, in ihre Backen kniffen und ver­such­ten, ihr die Finger zu brechen.
Wieder machte der Mann ein Zei­chen. Sie wurde mit Wasser bespritzt, er­stickte fast in Seife und wurde mit ihrem letzten bißchen Leben in ei­nen großen Wasser­kübel hin­eingetaucht und wieder herausgezo­gen. Während ihr die Sei­fe noch die Augen zer­biss, wur­de ihr beim Abtrocken schon die Haut vom Kör­per gerieben.
Viele der Sachen, die ihr die Frauen überzogen, anhefte­ten, umbanden und auflegten, hatte Li noch nie ge­sehen. Der untere Teil des steifen Kleides schwang bei jedem Schritt weit aus. Der obere Teil machte jede mitschwingen­de Bewe­gung des Körpers unmöglich. In ihrem Haar steckte eine Blume aus blauer Seide. Ihre Hände verbanden die Frauen mit einem feinen weißen Band.
Auf ein weiteres Zeichen des Mannes hoben zwei Frauen Li an und trugen sie zu einer Tür, die sich langsam von selbst öffnete. In dem Raum dahinter wurde sie abgestellt und wagte nicht, sich zu be­wegen. Das Zimmer selbst war durch einen Wand­schirm ge­teilt, auf dem ein Schwarm Wild­gänse in strenger Ordnung der Sonne nachflog. Li war sich nicht sicher, ob sie hinter dem Schirm kurz einen Schopf gesehen zu haben.
Als es lange still gewesen war, sagt eine Jungen­stim­me: "Ich bin Woi, ich wohne hier."
Li war zu aufgeregt, um etwas zu sagen. Sie konnte sich vorstellen, dass Woi Mädchen mit einer sehr piepsigen Stimme nicht mochte.
Nach einer weiteren lan­gen Pause fragt die Jungenstim­me: "Und wer bist du?"
"Ich bin die Li. Ich wohne in der Stadt."
"Wenn ich träume, bin ich nicht Woi", sagte die Jungen­stimme.
"Wenn Li träumt, ist sie eine Prinzessin von Arabien."
"Wenn Woi träumt, ist er ein Jäger."
"Wenn Li träumt, ist sie eine Nachtigall."
"Wenn Woi träumt, ist er ein Bär, der Fische fängt, mit dem Bauch im Wasser."
"Wenn Li träumt, ist sie eine Blume im Wind."
"... da weiß ich nichts mehr, aber wenn du willst, kannst du morgen wiederkommen. Heute haben wir keinen Unterricht, weil ich dich erst kennenlernen musste."

Chapter 20. Woi trinkt Tinte

Von nun an kam Li jeden Tag an den Hof. Ihr Emp­fang gestaltete sich von Mal zu Mal weniger aufwen­dig. Nach einigen Malen durfte sie ihre Klei­der anbe­halten, kam ohne Ver­kleidung durch die vielen Schran­ken, als sei sie etwas, dass dem Hofe zugehö­rig war, von Nutzen eher als zu seinem Schmuc­ke bestimmt.
Was Li lernte, musste auch Woi lernen. Er hatte sein Wort gegeben und hielt es, so gut es ging. Aber er lernte aus Pflicht und ungern, während Li an den Lippen des Leh­rer hing und an seinen Aufgaben mit Freude arbeite­te. Bevor dieser ihr nicht deut­lich seine Anerkennung bekundet hatte, war auch sie mit sich nicht zufrieden.
Woi beäugte die beiden misstrau­isch, als würden sie in fremdem, ja feindlichen Auf­trag handeln, und seien nichts als Teil einer Verschwö­rung gegen ihn. Wie gern hätte er Li für harmlos gehalten, wie gern hätte er sie gemocht, aber es war unüber­sehbar, dass sie sich jeden Tag erneut und ohne Beden­ken der Gegenseite zum Dienst an­bot!
Wer gedacht hatte, Woi würde sich von Lis Begei­ste­rung anstecken lassen, sah sich schnell und dauerhaft ge­täuscht. In Wois brei­ten Händen mit den kurzen Fingern blieb der dünne, überlange Holz­pinsel ein Eindringling.
Keinen Körperteil konnte Woi still halten. Ehe er zu schreiben begann, stellte er die Füsse quer, verbog den Oberkörper wie zum Misswuchs, hielt mit der freien Hand die Tischkante umklammert und vollführte mit Zunge und Augen gegenläufig Verdrehungen. Er hatte noch keine Linie gezogen, da war schon ein dicker Tropfen Schweiß auf dem Papier gelandet, lange vor dem ersten Klecks der Tusche.
Li hatte Mitleid mit ihm und wollte ihm ­zeigen, wie schwer auch ihr das Schreiben fiel. Aber er hatte nur Augen für sei­nen Pin­sel, dem mitten im Zug des Wortes die Tusche aus­ging. Als er den Pinsel wieder eingetaucht hat­te, fing er mit­ten im geschriebenen Wort von vorne an und machte eine furchtbare Schmiererei, ohne es zu mer­ken. Mit unge­trübtem Stolz las er anschließend erst sich, dann der Li vor, was er zu Schrift hatte werden lassen.
Wenn er zufrieden war, übte Woi das Klecksen. Dafür tauch­te er den Pin­sel ein und sagte: 'ting', wenn es kleck­ste. Immer war es anders, dicke Tropfen folgten auf schnelle, dünne auf mutlose, tong---tong--tong oder ting-ting-ting--tong. An diesem Spiel hät­te er Gefal­len finden kön­nen, wenn nicht die Dro­hung tau­sender von Zeichen hin­ter die­sem Gerät ge­standen hätte.
An jedem Morgen, bevor der Lehrer kam, brachte Woi ei­nen Streich für Li mit. Manchmal erzählte er ihr von sei­ner Räuberbande im Wald, der es nicht gefalle, dass er Le­sen und Schreiben lerne. Wenn er nur vom Lernen lassen könne und ihnen verspreche, al­les zu vergessen, was er gelernt habe, wollten ihn die Räuber zu ihrem Hauptmann bestim­men.
Li sagte nichts, aber dachte bei sich, dass es wohl sehr emp­findliche Räuber waren, wenn sie sich an so we­nig Gelerntem bereits störten.
Meistens verstand Li schnell, wenn Woi einen Spass mit ihr machte. So glaubte sie nicht, dass das Papier ausge­gan­gen war, weil es eine sehr schlechte Ernte in die­sem Jahr gewesen war. Wenn er ihr erzählte, dass er später als Fürst eine ganz andere Schrift erfinden werde und dass ihrer beiden Lernmühen umsonst waren, dann glaub­te sie ihm ebensowe­nig.
An einem anderen Morgen erzählte er ihr, dass bei seinen Räubern das Schreiben nun strittig sei. Er habe es ihnen zu ihrem Gefallen auf einem ro­hen Baumstamm vorgeführt, und sie hät­ten angefragt, ob sie nicht zusam­men mit ihm im Wald ihre Lek­tionen nehmen könnten. Un­strit­tig sei bei ih­nen aber - trotz Wois Gegen­rede -, dass ein Mäd­chen nicht in den Wald ge­höre. Nicht davon ab­bringen habe er sie kön­nen. Li müsse die Räuber in ihrer Eigenart ver­stehen, und da er sozusagen ihr Anfüh­rer sei - und hatte ein für die Sache von Li be­trübtes Ge­sicht gemacht. Mit jedem seiner Spä­ße hatte er Li mehr zum La­chen ge­bracht.
Einmal war er schon vor ihr im Lernzimmer gewesen, saß auf weißen Blättern mit überkreuzten Beinen, vor ihm ein riesiger Klecks, und sah Li an, als sei es endgültig aus mit allem und mit ihm. Er trug ein wei­ßes Kleid, wie sonst nicht, und aus seinem Gesicht war jede Farbe gewichen. Bläulich-schwarz waren seine Lippen anzusehen, und die Augen blick­ten starr und fern.
"Ich werde nun den Rest der Tusche trinken", sagte er und hob das kleine Fässchen hoch. "Es ist die Art zu ster­ben, eines Gelernten würdig."
Dies Wort hatte er von gestrigen Lesen behalten, und als Li ihm sagen wollte, dass der 'Gelernte' ein 'Ge­lehr­ter' sei, führte er die Tusche zum Mund, und sie schrie vor Ent­setzen auf. Bevor sie aufspringen konnte, hatte Woi die ganze Tusche mit einem Zug ausgetrun­ken. Dann schloss er die Augen und erwartete den Tod. So saß er da, preis­gege­ben der einsetzenden Starre.
Li rannte los und draußen direkt ihrem Onkel in die Ar­me. "Vater, Vater", rief sie, "der Woi hat die Tinte getrun­ken und stirbt!"
Immer noch saß Woi mit überkreuzten Beinen und bleichem Gesicht auf dem Papier und wartete. Streng sah ihn der Lehrer an, öffnete ein Augenlid und betrachtete die Pupil­le, bis sie zu zucken begann. Dann nahm er ihm das Tinten­fass aus der Hand und streifte mit dem Finger einen Tropfen auf, um zu Lis Entset­zen zu kosten.
"Ich habe es gedacht", sagte er zu Li. "Der Woi hat dich nur erschrecken wollen. Nichts anderes als der Saft von schwarzen Beeren ist diese Tusche, die er getrun­ken hat. Eine Ge­meinheit ist das!"
Woi mur­mel­te: "Das ist nur, weil sie auch gemein ist. Es ist ge­mein von ihr, dass ich so­viel lernen muss! Eine Streberin ist sie!"
An diesem Morgen lernte Li besonders viel, und der Leh­rer hielt sich an ihr, nicht wie sonst an Wois Tempo. Aber schon am nächsten Morgen ging es wieder langsam und ge­gen Wois Wi­derstand vor­an.
Während Woi arbeitete, machte Li für sich eigene Übungen. Bald stellte sie fest, dass die Worte auf ver­schiedene Weise zu zeichnen waren. Ein Vogel konnte leicht sein, fast durch­sich­tig, oder ihm waren seine Flü­gel schwer. Ein Haus war ein Zelt, ein­ladend und nirgend­wo zu­hause, oder wie eine klei­ne Burg, die sich fest in den Bo­den unter ihr ge­krallt hatte. Die Blu­me durf­te traurig wie ein Mensch sein, die Blätter ei­tel spreizen wie ein Schmetter­ling, oder sich gedanken­los dem Treiben des Win­des hinge­ben.
Sie erfand Zeichen für Worte, die sie nicht kannte, mal­te mit geschlosse­nen Augen ausgedachte Zeichen und suchte für sie Wor­te aus. Währenddessen ließ Woi es weiter kleck­sen oder balancierte einen Trop­fen Tusche auf der Spitze seines Pin­sels, der sich zwischen Hal­ten und Fallen nicht ent­scheiden durfte.
"Habe ich für heute genug gelernt?", fragte Woi und be­sah sich zufrieden die vielen Blätter an, die unverkennbar seine Hand­schrift trugen.
"Ja, ich denke, wir werden morgen weiter machen", ent­schied Lis Vater.
"Mal sehen, ob das geht", sagte Woi dunkel. "... es ist nämlich - ich wer­de meinem Vater sagen, dass ich auch Nicht le­sen und Nicht schrei­ben können will wie er."
"Nun, kleine Li, schau nicht so traurig", sagte der On­kel, als Woi sie verlassen hatte. "Morgen geht es weiter. Dem Woi ist es nicht er­laubt, so dumm zu sterben, wie er gerne möchte."
Woi ging jeden Morgen mit gesenktem Kopf und ziel­loser Wutlaune über den Platz zum Trakt des Ler­nens. Die Die­ner, die ihn sa­hen, wussten um sein Schicksal und fürchteten sei­nen Blick, der Farben und Frohsinn verseng­te. Wo sie vor­her ge­scherzt hat­ten, flüster­ten sie nun, wo sie zusam­mengestanden hatten, trat Woi nichts als ein leerer Platz in den Weg.
Wenn er den Lerntrakt betrat, nahm er die Tür, schwang sie ein-, zweimal und schleuderte sie mit aller Kraft in den Rahmen. Nun wusste jeder, welche Stunde es war. Die Mägde schauten auf und nahmen den Besen in die Hand, die Köchin­nen begaben sich rasch an ihrer Vorbe­reitungen für das Mittags­mahl, und die Nähe­rinnen setzten den Tee für die klei­ne Pause auf.
Li sagte immer: "Ich glaube, ich habe Woi gehört."
Und der Vater erwiderte immer: "Welch feine Ohren du hast, mein Kind!"
Heute lächelten sie sich nicht an, als Woi in den Raum trat. Erstaunt sah er erst den Lehrer, dann Li an, was für Gesichter sie machten. Schließlich blickte er an sich herunter und be­gann zu überlegen, ob er etwas anders gemacht hatte als sonst.
"Du hast Besuch", sagte der Lehrer.
"Schön", sagte Woi und senkte den Blick. Ihn interes­sierten die schönen Dinge nicht, die er anstel­le des Ler­nens hätte machen können. Am besten war, einfach weg­zuhö­ren und sich nichts anmerken zu lassen.
"Das Lernen fällt für dich aus", sagte der Lehrer.
"Ach", sagte Woi und war so überrascht, dass er vergaß, sich zu freuen.
"Medith lässt bestellen, du sollst zu ihm auf den Hof kommen."
Noch ganz benommen von der Neuigkeit, wankte Woi aus dem Raum und drückte die Tür vor­sichtig aus dem Rahmen. Auf dem Hof schaute Woi sich ungläubig um. Er hatte noch nicht wahrgenommen, dass der Tag eigentlich schön war. Alle Men­schen sahen ihn fröhlich an. Sogar das Schwein, das zur Küche getrieben wurde, grunzte zufrieden.
Medith stand an einem Wagen neben einem Mann, der ein wenig größer, ein wenig breiter war als er und eine tiefe Stimme, die weit zu hören war.
"Das ist Treufuß", sagte Medith. "Er ist ein richtiger General. Das ist Woi, der Sohn des Fürsten Alta."
"Ist er mein Besuch?", fragte Woi.
Der fremde Mann lachte: "Was würdest du mit mir schon anfangen können!? Nein, dein Besuch ist im Wagen."
Woi sah hinein. Drinnen war es dunkel, und er sah ei­gent­lich niemanden. Dann entdeckte er den Jungen. Er kau­erte in einer Ecke und war in Wois Al­ter, aber viel ängst­li­cher.
Woi schaute wieder hervor und fragte: "Ist er der Be­such, wegen dem ich nicht lernen muss?" Er wollte es lieber sicher wissen.
"Ja, das ist dein Besuch", bestätigte Medith. Auch der Mann, der ein General war, nickte und zeigte auf den Wagen.
"Hat er einen Namen, auf den er hört?", fragte Woi und hielt eine Hand in den Wagen.
Der General und Medith zögerten. Sie sahen sich an, als gebe es etwas, dass Woi nicht wissen durfte.
"Ist nicht wichtig", sagte Woi schnell. "Was braucht er einen Namen? Er ist der einzige Besuch, den ich habe, da kann ich ihn gut un­ter­scheiden!"
Im Inneren des Wa­gens berührte jemand seine Hand. Woi fasste zu, schnell und fest, wie Medith es ihm für das Fischen mit der Hand gezeigt hatte.
"Ich habe ihn", sagte Woi.
Der andere Junge versuchte zu kämpfen, aber er war nicht kräftig, und Woi brauchte nicht einmal seine ganze Kraft.
"Da ist er", sagte Woi, als er ihn herausgezogen hatte.
Der Junge blieb stumm und sagte nichts. Er sah Woi nicht an, sondern blickte zum Wagen zurück, als habe er dort etwas vergessen. Wie Woi gedacht hatte, war er nicht kräftig. Er war blass, und alles an ihm war schmal und in die Länge gezogen.
"Ich habe General Treufuß er­zählt, dass du Schreiben und Lesen lernst. Es hat ihn sehr in­ter­essiert", sagte Medith und löste den Arm des Jungen aus Wois Griff.
'Das ist ein Trick', durchfuhr es Woi. 'Ich muss mir schnell etwas ausdenken.'
"Der Fürst ist sicherlich sehr stolz, dass sein Junge so etwas lernt", sagte der General.
"Wir haben einen Wald", sagte Woi. "Ich könnte ihm et­was zeigen."
"Hm, ja", sagte Treufuß, "warum nicht ..."
Der Junge sagte nichts, aber Woi war schon losge­rannt, um zwei Pferde zu holen.
"Wollt ihr ohne uns reiten?", fragte Treufuß.
"Er kennt sich aus", sagte Medith und klopfte Woi auf die Schulter. "Es kann eigentlich nichts passieren. Wir sind oft im Wald."
Damit der Junge nicht etwas Falsches sagte, schob Woi ihn zu einem Pferd und half ihm aufsteigen. Wenn er es recht sah, war der Junge im Reiten nicht geübt, aber je­denfalls saß er auf, und es konnte losgehen.
Woi winkte Medith und seinem General zu, nahm die Zügel der beiden Pferde und führte sie langsam aus dem Hof her­aus auf die Straße. Dort saß er auf und wählte einen ein­samen Weg, der sie im Bogen um die Stadt in den Wald führ­te.
"Ein schöner Tag", sagte Woi, als er sich umblickte.
Der junge Mann sagte nichts, aber ihm schien der Ritt zu gefallen. Die Geräusche, welche die Stadt machte, rie­selten aus den dicken Bäuchen der Wolken her­aus. Die Sonne blieb ebenso unsichtbar, und doch lagen über­all ihre Strahlen herum, als sei sie ihnen, auf einem Heuwa­gen sit­zend, vorausgefahren und habe sie verstreut.
"Dort ist mein Wald", sagte Woi und zeigte auf die er­sten Bäume. "Ich sage 'mein Wald', weil - du wirst schon sehen!"
"Woi ist ein schöner Name", sagte der Junge.
"Wie heißt denn du?", fragte Woi ohne großes Interes­se. Der Junge zeigte einen leeren Blick, als habe er die Frage nicht verstan­den. Vielleicht wollte er sich auch nur wieder interessant machen.
"Hast du denn keinen Namen?", fragte Woi noch einmal.
"Doch, ich habe einen Namen", sagte er, als Woi ihn böse für sein Schweigen ansah. "Aber Treufuß verrät ihn mir nicht. Er sagt, es ist besser, wenn ich ihn nicht weiß."
"Ich freue mich jedenfalls, dass du zu Besuch gekommen bist", sagte Woi und beschloss, sich den Tag nicht durch ir­gendwelche Rätsel verderben zu lassen.
Es machte Spaß, zu zweit in den Wald zu reiten. Ir­gend­wie war es etwas Besonderes. Woi fand zwar, dass sein Be­such kein richtiger Junge war, aber jedenfalls war er auch kein Mädchen wie die Li.
"Ich habe nämlich eine Bande im Wald", sagte er. "Ich bin ihr Anführer - du wirst sehen."
Sie ritten durch die ersten hohen Bäume, die noch viel Licht durchließen. Dann wählte Woi den Weg, der sie in das In­nere des Waldes führte, den 'Waldkeller', wie er ihn nann­te. Hier mussten sie absteigen und die Pferde führen.
"Ich wäre froh, wenn ich einen General zum Vater hätte", sagte Woi. "Mein Vater ist leider nur ein Fürst."
"Er ist nicht mein Vater!"
"Aber was macht er dann?", fragte Woi erstaunt.
"Nun, er passt auf mich auf."
"Dann bist du aber sehr wichtig, wenn ein GENERAL auf dich aufpasst. Auf mich passt nur ein SOLDAT auf", sagte Woi.
"Ich weiß nicht einmal meinen Namen. Wie kann ich da wissen, ob ich wichtig bin?"
Woi schüttelte unwillig den Kopf und zeigte ihm, wie er den Zügel halten musste. Aber weil der Junge sehr unge­schickt war, nahm Woi den Zügel selbst in die Hand.
"Was sollen wir spielen?", fragte er, als sie anhielten, weil der Weg nicht mehr weiterging.
Der Junge schaute drein, als wisse er nicht, wovon Woi sprach. Er war entweder noch traurig oder hatte bereits Angst. Jedenfalls kauerte er auf seinem Pferd, wie er in seinem Wagen gesessen hatte.
"... ich verstehe nicht", kam es zögernd heraus.
"Wir denken uns Sachen aus, stellen uns was vor!"
"Ich kann nicht spielen", sagte der Junge. "Treu­fuß sagt, dass er mir nicht alles beibringen kann."
"Wenn wir uns nichts ausden­ken, kommen meine Räuber nicht", erklärte Woi drohend.
"Aber warum denn nicht?", fragte der junge Mann. "Du kennst sich doch, sag ihnen einfach, dass ich das Spielen nicht gelernt ha­be."
"Nein, das werden sie nicht verstehen. Sie - also, es muss ihnen Spaß machen, sonst mögen sie nicht kommen."
"Dann will ich das Spielen lernen!", rief der Junge.
"Keiner kann das Spielen LERNEN. Genausowenig kann ich lernen, ihr Anführer zu sein. Ich bin es eben, und weil ich es bin, da nehmen sie mich - also jedenfalls, so ist es!"
"Ich habe es mir gedacht", sagte der junge Mann betrübt.
"Was hast du dir gedacht?"
"Treufuß weiß, dass ich diese Dinge nicht lernen kann. Und um mich nicht noch trauriger zu machen, erfindet er diese Verbote."
"Also, das ist alles Unfug!", rief Woi seinen Räubern im Wald zu. "Ich glaube, er hat nur Angst."
"Ich hätte gerne Angst", sagte der junge Mann, "aber ich bin immer nur traurig und etwas anders, von dem ich den Namen nicht weiß."
'Von diesem Besuch bekomme ich bestimmt Kopf­schmerzen', dachte Woi, 'nicht anders als von dem Lernen.'
"Meinst du, deine Räuber haben schon einmal so jemanden wie mich gefangen?", fragte der junge Mann.
"Es sind Räuber", entgegnete Woi empört. "Sie nehmen den Leuten die Sachen fort, die sie haben, und töten sie möglichst schnell - da wird nicht lange geredet!"
"Dann wissen sie nicht einmal, WEN sie fangen? Und töten die Menschen, ohne sie zu kennen?"
"Immer noch besser, als sich vollre­den zu lassen", knurrte Woi, "Räuber denken eben so!"
"Aber du bist doch ihr Anführer! Darüber musst du doch mit ihnen gesprochen haben!"
"Wir sprechen darüber, WIE wir die Leute töten: Ob wir sie mit dem Knüppel erschlagen oder an einem Baum auf­hän­gen oder ihnen mit einem Dolch die Kehle durchschnei­den. Manchmal lassen wir sie auch zum Ausprobieren in unsere Fallen stürzen - solche Sachen halt!"
"Ich glaube, dass Sterben ist nicht schlimm", sagte der junge Mann plötzlich. Als er noch eine Weile überlegt hat­te, rief er: "Das können wir spielen: Sterben!"
"Wenn einer tot ist, ist er tot! Du willst einfach nicht verstehen, was Spielen ist", sagte Woi empört.
"Ich denke manchmal, das Sterben beginnt schon viel frü­her als der Tod. Sofort, wenn man geboren wird!" Mit sei­ner hohen Stimme füllte der junge Mann den ganzen 'Wald­keller' aus. Wenn er wenigstens leise gesprochen hätte!
"Jetzt hast du die Räuber endgültig mit deinem Unsinn vertrieben!", stellte Woi bitter fest. Er hielt sich den Kopf, weil er solche Schmerzen wie nach einem ganz schlim­men Lerntag darin hatte.
Die Räuber beobachteten versteckt den Heimritt ihres Anführers. Hier ein Schat­ten, der Zeichen machte, dort ein Flü­stern, das sich hin­ter einem Gebüsch niedergeduckt hat­te, über allem die argwöh­nische Stille der Tie­re - mehr war von ihrer An­wesenheit nicht zu bemer­ken. Aber Woi winkte ih­nen nur müde mit der Hand zu, weil es heute mit dem Spielen nichts sein würde.
Erwartungsvoll kamen ihnen General Treufuß und Medith entgegen­geritten. Sie waren in Sorge gewesen und hatten sich für ihren Leichtsinn Vorwürfe gemacht.
"Da seid ihr ja!", rief General Treufuß erleichtert.
"Wie war es denn, Woi? Hat es euch Spaß gemacht?", fragte Medith sogleich.
"Ich glaube, ich werde morgen wieder lernen gehen", sag­te Woi knapp. "Ich habe die ganze Zeit an mein Verspre­chen denken müssen."
"Ja, so ein Besuch ...", sagte Medith, der wusste, dass sich hinter Wois unbewegtem Gesicht die schlech­teste Lau­ne verbarg.
"Mir hat es gefallen", sagte der junge Mann. "Ich finde Woi kann sehr gut erklären."
Und so war es noch ein schöner Tag geworden. Am Abend hatte Medith sich die Pfeife angezündet und Wois Erzäh­lung zugehört. Immer wieder hatte er dabei den Kopf ge­schüttelt und ganz wie ein Räuber in seine Pfeife ge­knurrt. So zum Verwundern war Medith das Ganze vorgekommen, dass Woi ihm alles zum zwei­ten Mal erzählen musste, und genau in der Weise, wie der Junge seine Worte gebraucht hatte.
"Wenn du die Li bist, mein Kind, dann habe ich ge­funden, wen ich suche."
"Ja, die bin ich", sagte Li artig. "Aber hat wirk­lich jemand gesagt, dass sie mich, die Li vom Lehrer, su­chen sol­len."
"Deinen Namen haben sie mir genannt und gesagt, dass du den Wolken nachschaust."
"Ich schreibe Gedichte", sagte Li. "Darum schaue ich den Wolken nach."
"Das wissen sie nicht, aber ich habe es mir gedacht. Die Wolken sind des Himmels Schrift - dem, der sie lesen kann."
Li war stehen geblieben und sah genauer hin, wer sie angesprochen hatte. Es war eine große Frau, sicher­lich zweimal sechs Treppenstufen hoch. Sie roch, wie alte, trockene Bücher riechen, wenn man sie nach langer Zeit öff­net, und war sehr gekleidet.
"Du sollst mir den Turm zeigen. Dort werde ich mit mei­ner Krähe wohnen", sagte die große Frau.
Das Gesicht der Frau erinnerte Li an einen der Vögel auf der Fürstlichen Bildwand. Seinen Namen wusste sie nicht, aber er hatte einen langen gebogenen Schnabel, auf dem Kopf nur einige lustige Haarbü­schel und unter dem Kinn einen tief­hängenden Haut­sack, der - wenn es den Vogel wirklich gab - bestimmt nicht schön anzufassen war.
"Kannst du mich hinführen?", fragte die Frau.
"Der Turm ist nicht weit, nur sehen können wir ihn nicht", sagte Li. "Ich weiß nicht, ob er ihnen gefällt."
"Ein Turm ist ein Turm, wenn die Treppen rund sind, und der Himmel von oben seine Nase hineinsteckt", sagte die Frau.
Als die beiden nebeneinander über den Hof gingen, sahen die Mägde sich fragend an. Die Frau hatten sie schon ein­mal gesehen, da war sich jede sicher, in der Wirklichkeit oder - auch möglich - im Traum, aber das Mäd­chen - wer war dieses Mäd­chen an ihrer Seite?
"Ich heiße Bea", sagte die sonderbare Frau. "Ich kann in die Zu­kunft der Menschen sehen. Wenn du willst, kannst du mir ein we­nig zur Hand gehen. Ich bin gekommen, dem Für­sten die Zu­kunft zu se­hen."
"Kann jeder das Hellsehen lernen?", fragte Li.
"Als ich so klein war wie du, da konnte ich es viel bes­ser als heute. Je älter ich geworden bin, desto weniger zeigt die Zukunft ihr Gesicht. Bald werde ich nur noch sehen, was jeder sieht."
Der Kopf der Frau war nicht rund wie eine Kugel, sondern beulig wie ein Kis­sen, das lange nicht aufgeschlagen worden war. Vom Gesicht der Frau hing die Haut herunter, als habe sie früher einen anderen, einen größeren Kopf beses­sen.
"Weißt du, Li, die Zukunft, wenn sie redet - und sie redet nicht immer - hat eine sehr leise Stimme. Da muss der Hellseher gut zuhören können. Das Beste ist, du schließst die Augen fest zu ... so etwa. Und warten musst du können, eben­so wie lau­schen."
Krächzend hatte sie gesprochen. Mit geschlossenen Augen stand sie vor Li und den Mäg­den und sog die Luft schnau­bend und stoßweise durch ihre Nase ein, als müsse sie die Zu­kunft erschnup­pern. Hinter den faltigen Augen­lidern rollten die Augen­bälle, als sähen sie bereits die Bilder von der Zu­kunft.
"Geehräm", sagte Bera und sah Li wieder an.
"Was heißt das: 'Geehrem'? Ist das etwas über mich?" Li sah ganz aufgeregt zu der Frau hoch, als verberge sich in dem jetzt pral­len Kinnsack weiteres über ihr Schicksal.
"Das bedeutet nichts. Die Zukunft sagt oft solche Worte. Viel Unsinn ist dabei. Manches verstehe ich nicht, weil sie so eine gewisse Art zu sprechen hat ..."
Li sah mit geweiteten Augen, dass der Kinnsack er­schlaffte. Jetzt hielt das seltsame Vogelwesen den Schna­bel wieder auf den Boden vor Li gerichtet. "Komm mit, Kind. Ich sage dir deine Zu­kunft. Das können wir nicht im Hof. Wir gehen zum Turm und sehen, ob wir die Zukunft dort treffen."
"Ich bin doch noch ein Mädchen", wandte Li ängstlich ein. "Da hat die Zukunft bestimmt noch keine Zeit für mich!"
"Weißt du, mein Kind, dass Bea nicht jedem die Zukunft sagt. Viele geben ihr ganzes Geld, sie zu hören. Es ist nicht wie Re­chen und Zählen, das jeder lernen kann."
Was würde wohl ihr Vater, der Lehrer, sagen, wenn er hören könnte, wie ver­ächtlich Bea von den Dinge der Klug­heit sprach?
"Kannst du die Strahlen der Sonne ZÄHLEN", fuhr Bea fort, "die Arme des Win­des, die Wellen des Meeres? Nein, dieses Wissen er­reicht niemand durch Zählen und Nach­rech­nen. Siehst du das Gras dort? Regentropfen glänzen auf den Hal­men. Wie willst du sie zählen, ehe sie den Würmern im Bo­den die Nase kühlen, eh?"
Li schwieg und überlegte, ob die Würmer Nasen haben wie die Menschen. Aber Bera dachte wohl, dass auch diese Wis­sen nicht wichtig war.
Derweil witterte Bea mit gebläht schnuppernden Na­sen­flü­geln vor den Pferdeställen. Sie würde krank werden, die Kälte lag wie ein Schal um ihren Hals. Rauh und krat­zig war ihr der Rachen, und sie bekam kaum Luft durch die Nase.
Schlecht würde sie heute schla­fen, schlecht und schnar­chend. Und die Die­ner würden sagen, dass die 'Krä­he' - wie sie Bea nann­ten, wenn sie sich heimlich genug wähn­ten - die ganze Nacht von der Zu­kunft gekrächzt ha­be, so durchdrin­gend er­stickend und ohne Ende verendend, dass sich der Schlaf vor Angst da­vonge­schli­chen habe. In Gedan­ken verwünschte sie ihre Erkältung und dieses gemeine Pack, dass sich einen Spaß aus ihrem Elend machte.
Sie gingen den Turm in seinem Inneren hoch. Langsam kamen sie voran, weil Bea tief gebeugt gehen musste und immer wie­der außer Atem kam. 'Es ist gut, dass der Turm nicht hoch ist', dachte Li.
"Gefällt ihnen der Turm, Frau Bea?", fragte sie, weil sie sich nicht vorstellen konnte, dass jemand darin wohnen wollte.
"Grad recht, grad recht", keuchte Bea. "Dort die Tür - mein Zimmer - eine hohe Stufe - Bea - nenn mich 'Bea' -Kind, eine Hand -"
Li öffnete die Tür und half ihr über die Stufe. We­nig Licht fiel in das Zimmer, und das war gut so. Wenn Li nach ihrer Nase ging, dann war es ein Zimmer mit alten Sachen und viel ungelüftetem Zeug darin.
"Li, ich glaube, ich kann die Zukunft heute nicht sehen. Es tut mir leid." Bea hatte das Turmfenster geöffnet und hielt mit geröteten Augen Ausschau nach ihrer Krähe. Sie musste sich bücken, sonst wäre sie mit dem Kopf gegen die Decke gestoßen.
Bea überlegte, sagte dabei: "Geehräm ..." und: "Krom­hemm ..." Entschlusslos zitterte ein kleiner Tropfen Feuchte an ihrer Nasenspitze.
"Gut", sagte Bea, und der Nasentropfen fiel, "ma­chen wir es so: Ich stelle dir ein Rätsel ..."
"Ein Rätsel will ich gerne von ihnen hören ... Bea", sagte Li. Sie sah zu der Frau hoch und ihrer erneut feucht gelaufenen Nasen­spitze. So schrecklich erkältet war Bea, und traurig hing die Haut von ihrem Gesicht herab!
"Al­so, hör gut zu, mein Rätsel geht so:
Wer weint aus tausend Augen
greift mit hundert Fingern in dein Haar
und zeigt in zehn Jahren
nicht einmal dasselbe Gesicht?"
Bea nickte Li ermutigend zu und legte ihr die Hand auf den Kopf. Wie weich das Haar der Kin­der war, wie ehrlich ihre Augen, wie rein ihr kleines Herz! 'Gleich fange ich an zu weinen', dachte sie. 'Es ist mir zum Heulen, immer wenn ich krank werde, ist mir erst zum Heulen.'
"Es ist ein schönes Rätsel, das schönste, das ich ken­ne!", rief Li aus. Das war es wirklich, und sie hatte die Antwort gleich gewusst!
"Der Himmel", rief sie, "es ist der Himmel! Er weint, wenn es reg­net, zerzaust mir mit dem Wind die Haare und hat soviele Gesichter, wie es Tage gibt!"

Chapter 21. Katze und Bär auf der Lauer

Es war heiß drau­ßen. Aller Schatten hatte sich hoch in die Baumkronen zu­rückge­zogen.
Dort, wo der Mann stand, brannte die Sonne auf seinen Kopf, gradewegs auf die glän­zende Stelle, an der ihm die Haare ausgefallen waren. Immer wieder fühlte er mit der Hand und rieb den Schweiß fort. Unruhig sah er sich um, als fühle er sich be­obachtet. Aber jedes Mal, wenn er hochsah, stach die Sonne in seine Augen.
Schließlich sah er sich nach einem anderen Ort um. Erst blickte er zum Hof, in Richtung des Gartens, ging dann aber doch zu den Torbögen der Schlaftrakte. Dort in den Schat­ten konn­te er sich stellen und selber hinaussehen.
Die Mauer, an die er sich lehnte, war kalt. Jemand, der ihn beobachtete, wür­de denken, er sei vor der Hitze geflo­hen und warte nun, dass auch der Schatten sich wieder hervor­wage, nachdem die Sonne ihre ärgste Glut im Boden ver­senkt hatte.
Er ging den Gang entlang, weil er das Stehen nicht ertrag­en konnte. Die Hast seiner Schritte suchte er zu bezwingen. Fast war er gelau­fen. Er musste ru­hig bleiben. Schon war er am Ende des Ganges angelangt. Er blickte sich um. Niemand war ihm ge­folgt.
Es war die Stunde jetzt, auf die er gewartet hatte. Beklommen trat er in die Öffnung der Tür. Hier wür­de er zu­fäl­lig ste­hen. Dort würde sie als Dienerin vorbeige­hen. Es war weit genug aus­einan­der. Nie­mand konnte ihn sehen und sah zur gleichen Zeit sie. Verdeckt vom Halb­dun­kel der Wölbung stand er und war­tete. Wahn, so wahn, das Pochen in seinem Kopf, weh, so weh, das Pochen in seinem Her­zen!
Und da wägend war sie! Sie setzte die Füße über­einan­der, nicht voreinander. Da sie langsam ging, beschrieb jeder Schritt zögernd so einen kleinen Bogen. Un­endliche Sehn­süchte drückte sie darin aus.
Im ertastenden Kreis ging sie um den großen Baum herum, den er in Gedanken zum Baum ihrer beider Glück ge­macht hatte. Dort, nur dort begegneten sich kurz ihre Blicke, stol­perte ihrer über den seinen, der sie bedrängte, jetzt, nur jetzt bückte sie sich, nahm ein rotes herzförmiges Blatt auf und legte es auf den wei­ßen Sand unter ihrem Baum. Hielt einen kur­zen Mo­ment inne, wischte sodann mit einer trauri­gen, sehn­suchts­vollen Bewe­gung auf dem Sand das Geschriebene fort. Sie konnte sein Gedicht nicht lesen und doch verstand sie all seine Bedeu­tung! Hatte es fort­ge­wischt, weil es nieman­dem als ihr und dem Unsichtbaren ge­hör­en sollte.
Es war mehr, als er er­warten durf­te! Sie hatte ihm einen Wink des Verstehens gegeben. Sie hatte den fremden Zeichen die Bedeutung des Lebens gegeben. Und er würde erneut zu dem Baum gehen. Wie­der und wieder Worte schreiben. Und wie­der und wie­der. Mit Zittern erfüllte ihn die Ge­wiss­heit, dass sie das Fortge­wischte mit sich in den Abend trug.
"Was meinst du, Waschbär", fragte oben im Baum ein leise Stimme, "sollen wir jetzt runterkletter?"
"Ich bin kein Waschbär, ich bin ein ganz normaler Klet­terbär!", brummte eine deutlich tiefere Stimme. "Wenn du eine Wildkatze bist, dann musst du dich im Wald ausken­nen."
"Ich bin eine halbe Menschenkatze, kaum jemals in einem Wald wie diesem gewesen", flüsterte es zu­rück.
"Schscht", flüsterte der Kletterbär, "da kommt er und wird wieder was schreiben. Wir können jetzt nicht runter."
"Ich kann ihn nicht erkennen?", flüstert die Wildkatze ganz leise und schnurrte. "Was tut er?"
"Er schreibt ihr ein Gedicht in den Sand. Ich habe ihn ausgespäht. Warte, nun kommt er näher. Jetzt kannst du ihn sehen!"
"Das ist ja ... mein Vater!". Die Wildkatze vergaß völlig, wer sie war.
"Tschsch, still! Willst du uns veraten?!" Der Kletter­bär legte der Katze schnell seine Tatze auf die Schnauze. "Du hast versprochen, mir alles nachzu­tun", flü­sterte er und setzte zornig nach: "Ich halte meine Versprechen ja auch!"
Der Mann unter dem Baum sah sich zögernd um. Hier war niemand. Nichts als Bäume, vielleicht ein paar Tiere, die sich im Schatten versteckt hielten. Er malte seine Zei­chen. Wie sind doch die Menschen unglücklich, ihre Träume gefan­gen, ihre Sehnsucht heim­lich wie ein Spion! Wie wäre es doch schön, wenn sie Vögel wären! Er sah sich um und ging seufzend da­von.
"Brumm, brumm", sagte der ganz normale Kletterbär, "für eine Wildkatze kannst du aber schlecht klettern."
"Ich werde mit solchen ungezogenen Bären nicht mehr klettern. Es war das letzte Mal und nicht nett, meinen Vater auszuspionieren!"
"Tritt nicht da drauf - er hat doch etwas geschrie­ben!"
"Ich will es nicht lesen - das ist ungehörig!"
"Dann lese ich es eben", sagte der Kletterbär und brumm­te. "Lass mal sehen ... Vogel und Vogel, also zwei Vögel ... ein Mund und ein Haus, das ist eine Schenke ... dann das Zei­chen für Wind und für Krankheit ... Ich würde es so lesen: Zwei Vögel landen auf dem Dach von einer Schen­ke, weil der Wind sie krank gemacht hat ... Was meinst du, Katze?"
"Es geht dich nichts an, und du hast es falsch rum gele­sen. Es fängt immer oben an. Also, ich sage es: Das Haus ist zu klein geworden für dieses - für unser Märchen aus Schmerz ... der Wind trägt es zu fremden Men­schen ... dort sieht man uns wie zwei Zug­vögel am Him­mel. Oh, Woi, das ist ein schönes Gedicht, finde ich!"
"Brrr, grrr, typisch Hauskatze!"
"Überhaupt - warum darf mein Vater kein Gedicht schrei­ben? Was denkst du dir dabei, ihn zu belauschen?"
"Ich glaube, sie ist seine Frau", sagte Woi geheimnis­voll.
"Aber meine Mutter ist doch seine Frau!", sagte Li mit leiser Stimme. "Er schreibt fremden Frauen keine Gedich­te!"
"Ich weißt bestimmt, dass sie sich kennen?"
Li wusste vor Schrecken nichts zu sagen.
"Eben!", triumphierte Woi. "Wenn er ihr ein Gedicht schreibt, dann ist SIE seine Frau, und WENN sie seine Frau ist, dann ist sie DEINE Mutter! Da schaust du, nicht wahr!?"
"Aber ich habe doch eine Mutter!"
"Sie IST nicht deine Mutter!"
"Aber was ist sie dann?"
"Vielleicht ist sie eine AMME!"
"Aber ich habe doch eine Amme - die Selma!"
"Wenn sie nicht deine Mutter und nicht deine Amme ist, dann weiß ich auch nicht!", brummte Woi und war beleidigt, weil Li nichts von ihm annehmen wollte.
Die Frau hatte entschieden eine Ähnlichkeit mit Li, fand Woi. Wie sie über den Gang ging, da war es sehr deut­lich. Ein mom­entwin­ziges Zögern vor jedem Auftreten, das hatte er auch bei Li bemerkt. Die Frau sah sich nach nie­mandem um und ging immer im gleichen Schritt. Auch Li ging wie ein Geist auf endlosen Wegen. Es war nicht zu ent­scheiden, ob sie sich beeilte oder trödelte. Das waren Mutter und Tochter, da war er sich sicher!
Sie ging zum Trakt des Fürsten. Was hatte sie dort zu suchen? Um ihr zu folgen, würde er so tun, als gehe er auf einen Besuch zu seinem Vater. Es war ein sonderba­res Geheimnis, dem er auf die Spur gekommen war. Lis Mutter lebte unerkannt am Hof des Fürsten, das stand fest! Aber warum durfte davon niemand wissen? Wer war sie in Wirk­lich­keit? Was hat­te sie bei seinem Vater zu suchen? Das alles war in höch­stem Maße geheim­nis­voll.
Sie hatte ihn entdeckt! Er hatte nicht bemerkt, dass sie sich umgedreht hatte, weil er in Gedanken über sie gewe­sen war, und sah er­schreckt, dass sie ihm ent­gegen­kam.
"Bist du nicht der Sohn des Fürsten?", fragte sie.
Auch aus der Nähe bemerkte Woi eine größte Ähnlichkeit. Es war ein­fach nur, dass sie eine Frau und Li ein Mädchen war - nichts sonst trennte sie im Äußeren.
"Ich bin ihnen gefolgt", sagte Woi mutig.
"Ja, ich habe es bemerkt."
"Ich war unvorsichtig, nicht wahr!?"
"Du warst sehr geschickt, aber eine Frau hat ein Gefühl dafür."
"Einfach so - ohne sich umzuschauen?"
Die Frau legte den Kopf schief, wie Li es tat, wenn sie ihn bei einem seiner Streich durchschaut hatte. Aber sie sagte nichts. Und da war sie Li erneut ähnlich.
"Ich habe sie am Baum beobachtet", sagte Woi stolz. "DAS haben sie nicht bemerkt!"
"Nein", sagte die Frau erschrocken und sah sich um. "Komm, schnell in mein Zimmer."
"Sie haben ein Zimmer hier?", fragte Woi, aber ehe er noch weiter denken konnte, hatte die Frau ihn hineingezo­gen. Dort stand er und hatte vergessen, dass er etwas den­ken wollte.
"Was hast du gesehen?", fragte die Frau eindringlich.
"Ich war auf dem Baum, hoch oben ..."
"Du hast mich gesehen und jemand anderen?", fragte die Frau vorsichtig.
"Den Lehrer, ja!"
Die Frau legte ihm erschrocken die Hand auf den Mund, zog sie ebenso schnell wieder fort.
"Ich kann auch lesen", sagte Woi stolz.
"Auf dem Baum hast du gele­sen?"
"Unter dem Baum war es, im Sand, und sie wissen ge­nau, was ich gelesen habe."
"Ich kann nicht lesen", sagte die Frau.
Sie hatte recht, es war gar nicht möglich, dass sie Lesen konnte! Wer hätte es ihr beibringen sollen? "Dann wissen sie nicht, was er ihnen geschrieben hat?", fragte Woi und sah sie mit großen Augen an.
"Ich weiß es, und ich weiß es nicht, beides in einem", ant­wortete die Frau ge­lassen, aber dunkel.
"Das geht nicht!", sagte Woi fest. "Sie können mir nichts vormachen, nur weil ich ein Junge bin."
"Du vergisst, ich bin eine Frau", sagte sie. "Da ist vieles möglich. Ich habe dich in meinem Rücken bemerkt, als du mir gefolgt bist. Das kann nur eine Frau."
"Ich kann ihnen sagen, was drin steht", bot Woi an.
Die Frau sagte nichts, aber sie schien es hören zu wol­len.
"Also ..." begann Woi", "es steht ungefähr so drin, dass zwei Vögel auf ei­ner Schenke landen, weil der Wind sie krank macht."
"Das steht wirklich in diesem Gedicht?", fragte die Frau. "Du hast es so gelesen, wie es geschrieben ist?"
"Also, ehrlich gesagt", gestand Woi ein, "die Li meint, dass etwas von Sehnsucht darin steht, die man von hinten sehen muss, aber ich kann nicht mehr sa­gen, wie sie es gelesen hat."
"Die Li ...?", fragte die Frau leise.
"Ihr seht euch ähnlich", sagte Woi.
"Findest du wirklich?"
"Ich bin euch ge­folgt, da habe ich gese­hen, dass ihr auf diesselbe Weise geht, irgendwie so geisthaft."
Die Frau lachte. "Es ist schön, wenn man sich ähn­lich ist."
"Ich weiß nicht, ob es schön ist. Mit mir ist keiner ähnlich."
"Möchtest du denn mit jemand ähn­lich sein?"
"Viel­leicht mit Medith, aber das ist der ein­zige, sonst mit keinem."
"Nicht mit deinem Vater? Du bist doch der Sohn des Für­sten - da willst du deinem Vater nicht gleichen!?"
"Nein, will ich nicht. Ich bin froh, dass er ver­schie­den von mir ist."
"Willst du etwas Gebackenes?"
"Süßigkeiten sind für Kin­der", antwortete Woi.
"Auch Jungen - junge Männer essen sie."
"Ich weiß Din­ge ... aber die sage ich nicht."
"Du bist verschwiegen, das ist gut."
"Ich sage nichts, wenn ich es aber genau weiß. Das ist der Preis dafür!"
"Ja, also keine Süßigkeit ..."
"Warum sagt ihr es nicht?"
"Ver­steckst du nicht auch manchmal Dinge ...?"
"Aber wenn sie jemand fin­det? Dann ist es kein Ver­steck mehr!"
"Da hast du recht."
"Ist es schlimm, wenn ich es jemandem ge­sagt habe."
"Du hast darüber zu jemandem gespro­chen, um Gottes Wil­len!" Die Frau nahm sich eine Süßigkeit und aß sie hastig.
"Das war nur ein ein­ziges Mal", versuchte Woi zu beru­higen und nahm sich auch eine Sü­ßig­keit. "Ich weiß schon, zu wem ich es sage."
Die Frau hatte sich auf das Bett gesetzt. Woi setz­te sich auf einen kleinen Stuhl und schob die Süßigkeiten über den Tisch zu ihr.
"Mögt ihr keine Mut­ter sein?", fragte er vorsichtig.
"Hättest du gerne eine Mutter?", fragte die Frau zurück, als hätte sich nicht zugehört.
"Ich habe eine Mut­ter", sagte Woi, "aber die ist tot!"
"Ich weiß, und das tut mir leid."
"- aber ihr seid doch nicht tot!"
"Ich kann doch nicht deine Mutter sein!"
"Und was ist mit der Li?"
"... die Li, ist das dei­ne Freundin?"
"Ich bin ja ein Jun­ge, und nur Mäd­chen haben eine Freun­din!"
"Aber du magst sie doch?"
"Manchmal tut sie mir leid, weil sie zwei Müt­ter hat!"
"Zwei Müt­ter hat sie?"
"Ja, eine fal­sche, wo sie wohnt, und eine richti­ge, die sich vor ihr ver­steckt!", sagte Woi und sah der Frau tief in die Augen.
"Das ist aber sehr ver­wic­kelt", sagte die Frau. "Und wie hast du es herausgefunden?"
"Ich kann gut beobachten", sagte Woi stolz, "und außer­dem war ich doch auf dem Baum ... und das Ge­dicht ... da habe ich es ge­wusst, dass ihr die wirkliche Mut­ter von der Li seid und habe es ihr gleich gesagt."
"Ich? Ihre Mutter? Aber die bin ich doch nicht!"
"Ich kann nur verschwiegen sein, wenn ich alles weiß", drohte Woi.
Das fand die Frau sehr komisch. "Ich bin doch nicht so alt, dass ich ihre Mutter sein könnte, oder denkst du das etwa?"
Als Woi sie ansah und langsam den Kopf schüt­telte, lachte sie und hielt sich die Hand vor den Mund wie ein Mäd­chen.
"Dann war es dumm, was ich gesagt habe", gab Woi zu und schob den Teller mit den Süßigkeiten zu ihr hinüber.
"Sol­len wir uns etwas ver­sprechen", schlug die Frau vor.
"Meinetwegen", sagte Woi.
"Wir schwören, dass wir zu niemandem et­was sagen!"
"Ei­nen wirklichen Schwur?" Woi überlegte, aber schließ­lich bot er seine Hand darauf an.
"Wir neh­men ein Ge­bäck", sagte die Frau, "hier so eins - sieht aus wie ein Herz - und tei­len es in zwei Tei­le, und nun schwören wir ernst und feierlich, nieman­dem nie­mals et­was zu sagen."
"Ich schwö­re", sagte Woi feierlich.
"Ich auch", sagte die Frau ernst.
Draußen hatte Li unendlich lange auf ihn gewar­tet. Es war schwer, sich in der Mittagszeit am Hof zu verstecken. Jedermann war mit nichts als Kauen beschäf­tigt. Die Augen über den malmenden Mündern wanderten ihr nach, als stehe sie immer am falschen Ort.
Schließ­lich stellte sie sich neben eine Die­ne­rin, die ein Kleid in der Hand hielt. Li fragte, ob sie mit ihr warten dürfe. Ja, das dürfe sie, sag­te die Diene­rin. Dann sagte sie nichts mehr, aber das war Li auch recht, weil das War­ten neben einer Dienerin ein sehr gutes Versteck war.
Nach dieser sehr langen Zeit war Woi gekom­men. Er schien nicht nach ihr gesucht zu haben, obwohl er versprochen hatte, sofort zu ihr zu gehen.
"Warst du bei ihr?", fragte Li aufgeregt und hielt ihn fest.
"Nicht hier", flüsterte Woi. Aber da ging die Dienerin fort, und sie waren allein.
"Was hat sie gesagt?", drängte ihn Li. "Sag schon!"
"Ich war bei ihr", antwortete Woi mit der Würde des Forschers, der von einer langen Reise zurückgekehrt ist.
"Das weiß ich! Aber was hat sie GESAGT?"
"Ich darf nicht darüber sprechen", sagte Woi ernst und feierlich.
"Warum nicht?"
"Ich darf nichts sagen - ein Schwur bindet mich, das musst du verstehen!"
"Aber warum ...?"
"Sie ist noch sehr jung."
"Was ist mit ihr geschehen?"
"Du weisst schon zuviel", entschied Woi.
"Mehr darf ich nicht wissen?", sagte Li, enttäuscht, aber tapfer.
"Ausgeschlossen! Und zu keinem ein Wort!"
"Aber ich weiß doch nichts!", protestierte Li.
"Du weißt, dass ICH die Wahrheit kenne", gab ihr Woi zu bedenken.
"Aber sonst weiß ich nichts", sagte Li traurig zu sich selbst.
Als sie nebeneinander hergingen, versuchte Woi, sie zu trö­sten. Dazu sagte er ihr, dass er erleichtert sei, soweit dies möglich sei, bestand aber im Nachtrag sofort darauf, dass Li die ganze Angelegenheit verges­sen müsse. Nicht einmal daran denken dür­fe sie. Am besten sei, sie lebe weiter, als sei nichts gesche­hen, als sei alles nur ein Trug­bild gewesen. Ob sie das könne, fragte er, nichts sagen, auch nicht ein Gesicht machen, sie wisse schon ...
Er ließ sie erst gehen, als sie ihm so fest in die Augen geblickt, dass es in etwa ei­nem Schwur gleichkam.

Chapter 22. Medith ist fort

Was den Unterricht anging, durften Woi und Li mehr und mehr jeder für sich arbei­ten.
Während Li an diesem Tag ein Ge­dicht ab­schrieb, dass sie sich ausge­sucht hatte, klopfte Woi mit dem um­ge­kehrten Ende des Pinsels auf den Tisch und dachte an etwas ande­res. Immer wieder sah ihn Li von der Seite an, weil er nicht bemerken wollte, dass sein Klopfen sie störte.
Aber Woi sah nichts und klopfte weiter. Er hatte sich nicht einmal ein Gedicht ausgesucht. Immer schnel­ler klopfte Woi mit dem Pinse­lende auf den Tisch, und der Strich zwi­schen seinen Augen wurden tiefer und tiefer.
"Medith hat mich gefragt, ob ich mir vorstellen kann, dass er eines Tages nicht mehr da ist." Woi blätterte in den Gedichten und tat so, als lese er darin.
"Magst du eines von ihnen?", fragte Li, ohne Hoffnung, dass er bemerken würde, was er in der Hand hielt.
"Der Fürst hat heute gesagt, dass Medith eines Tages fort sein wird", sagte Woi, ohne aufzublicken. "Auch er hat davon ge­sprochen ..."
Li sagte nichts. Kein Tag des Lernens war bisher vergan­gen, ohne dass Woi ihr etwas von Medith erzählt hatte. Ein wenig von seiner Zuneigung hatte sich auf sie über­tragen.
"Und alle schauen mich so an", sagte Woi und fächerte die Gedichte wie ein Kartenspiel auf.
Li kannte Medith nicht. Möglich, dass sie ihm einmal auf ihrem Weg zum Unterricht begegnet war. Sie stellte ihn sich wie einen der Männer vor, deren Tagwerk das Behauen der Steine war. Wenn sie am Abend er­schöpft auf ihren Steinen saßen, dann waren sie so vol­ler Staub, dass sie in ihrer Bewegungs­losigkeit eher Steinen als Menschen glichen.
"Ich glaube, er ist schon fort", sagte er und legte die Gedichte ab.
Woi sprach sich den eigenen Schrecken vor, als lese er vor, was ein Fremder aufge­schrieben hatte. Wenn Li an etwas Schreckliches dachte, dann füllte sich die ganze Welt damit aus - so war ihr da­bei.
"Die Magd aus der Küche ist seine Frau. Ich weiß, dass er sel­ber kochen kann. Was braucht er sie, wenn sie nicht seine Frau ist."
Wois Traurigkeit ver­schlang die Dinge, war gedanken­los, kostete nicht, vertilgte nur.
"Komm", sagte er zu Li, "ich zeige dir, dass ich recht habe."
Er wischte alle Stifte und alles Papier auf dem Tisch zusammen, und überließ Li die Entscheidung, ob sie aufräu­men oder ihm nachgehen sollte. Er ging und sah sich nicht nach ihr um.
Auf ihrem Weg beobachtete Li, dass ihm - wie er gesagt hatte - viele verstohlene Blicke nachgeworfen wurden. Die Näherinnen gar, die ein wei­ßes Tuch glätteten, verbar­gen sich dahin­ter und gaben nicht acht, dass es ih­nen ver­knit­terte. Die Stimmen der Einweiser waren laut, aber sie hatten keine Hall, als sie ihn sahen, und verstreuten sich wie die Stifte, die Woi vom Tisch gefegt hatte. Die Sol­daten sahen dem Kommen Wois mit großen dum­men Augen ent­gegen.
Li folgte Woi zu einem Teil des Hofes, den sie nicht kannte. Eine Kette kleiner Häuser stand tief im Schat­ten einer schweren Mauer. Oben saß ein Soldat, der - sie wuss­te nicht wie - hinaufgelangt war, und spuckte die Schalen von Kernen in seine Hand. Der kleine Platz davor war sauber gefegt und verlassen.
"Hier wohne ich", sagte Woi und zeigte auf das letzte der kleinen Häuser, hinter dem die Mauer abbrach, als sei es unnütz, sie dort fortzusetzen, wo keine Soldaten mehr wohn­ten. Es war ein Haus, dunkel und flach wie die ande­ren, das zu Woi passte, und auch wieder nicht, weil er ein Fürsten­sohn war.
"Er ist nicht mehr da - ich weiß es!", sagte Woi, als sie vor der Tür standen. "Wir Soldaten sind Zugvögel, hat er gesagt, und ich soll nicht traurig sein."
"Wir sehen nach", schlug Li vor. "Vielleicht ist alles eine Täuschung."
Als sie durch die Tür in das Dunkle des Inneren traten, bemerkte Li eher als Woi den Für­sten, der reg­los still in einem derben Sessel saß. Nur seine Füs­se in den ver­gol­deten Haus­schu­hen und ein Streifen der nackten Haut dar­über wa­ren von ihm zu sehen.
"Du hast recht", sagte der Fürst und ließ eine Hand über die Schultern des Sessels herunterwandern. "Medith ist fort. Du bist jetzt groß und brauchst ihn nicht mehr. Es war eine Zeit für das Her­anwachsen, nun ist es eine Zeit, dass du zu einem Fürsten wirst."
Woi ging in die Mitte des Raumes. Nichts hatte Medith zurückgelassen, nicht einmal ein Gefühl. Es war nichts mehr da. Jedenfalls nicht, wenn der Fürst in dem Stuhl saß, der Medith und seiner Pfeife gehört hatte, sowie dem lan­gen, schwerduftenden Schweigen, das daraus empor­stiegen war.
"Er hat eine Frau. Du kennst sie. Es ist die Magd", sagte der Fürst. "Sie haben einen Sohn bekommen, einen eigenen ..." Er betrachte­te die Wirkung seiner Worte auf Woi. Weil die Worte auch auf ihn eine Wirkung hatten, lag in ihnen eine Bit­ter­keit.
"Hat Medith etwas gesagt?", fragte Woi leise.
"Es gibt es eine höhere Vernunft", sagte der Va­ter, ohne auf die Frage seines Sohnes einzugehen. Hatten sich die goldenen Pantoffelkäfer am Boden bewegt?
"... aber er spricht ja nicht viel", sagte Woi zu sich und zu Li. Nun hatte sie ihn nicht einmal gekannt! Er hat­te es immer aufgeschoben, bis es zu spät war.
"Wenn der Kaiser einen Fürsten mit der Tochter eines anderen verheiratet sehen will, dann ist das höhere Ver­nunft." Der Fürst schwieg. Das Gesagte stand unbeachtet im Raum, ging zu dem Jungen, zu dem Mädchen, kehrte um und legte sich zurück auf den Schoß des Fürsten, wo seine kalten Hände im Nachden­ken darüber strichen.
"Ich habe Medith fortgeschickt, weil es sein musste", rechtfertigte sich der Fürst. "Dir geht es nicht anders als der Li: Auch ihren Vater musste ich fortschicken, weil die Vernunft und der Kaiser es verlangten."
Mit großen Augen sah Li den Rücken des Sessels an. Sie hatte gehört, was der Fürst gesagt hatte, aber zum Ver­stehen war es noch ein Weg. Woi sah immer noch unwillig drein, weil der Vater sei­ne Frage nicht hatte beantworten wollen.
"Also ist sie doch meine richtige Mutter!", flüsterte Li leise und zornig in Wois Richtung.
"Von was redet sie?", fragte der Fürst und betrach­tete seine Pan­toffeln, die kleinen Küch­lein aus Gold.
"Er hat gesagt, dass meine Mutter nicht meine Mutter ist", sagte Li leise und zeigte auf Woi.
"Aber Woi weiß doch nichts ...", sagte der Fürst. "Ihre Mutter ist ihre Mutter gewiss, nur der Vater ist fort." Das Seufzen des Fürsten ging im tiefen Stöhnen des schwe­ren Stuhles auf. "Hat denn niemand ihr etwas gesagt?"
"Ich habe ihr gleich gesagt, dass was nicht stimmt", meldete sich Woi voller Stolz. "Wir haben es selbst her­ausge­funden, nur dass es andersherum war."
"Junge, siehst du denn nicht, dass sie leidet!", sagte der Fürst. Dann rieb er sich die müden Augen.
Kurz sah Woi zu Li, für die alles sehr verwirrend sein musste, dann dachte er wieder an Medith. Er fand, dass alles sehr gleichgül­tig geworden war, aber er wollte sich Mühe geben, ihm nicht den richtigen Sohn zu neiden. Wenn Medith ein Zugvogel war, dann wollte Woi es ihm gleich­tun, und es leicht neh­men. Das erwartete Medith von ihm, und Woi wollte ihn nicht enttäu­schen.
"Was macht einen Vater aus? ... oder eine Mutter?", fragte der Fürst und sah den Jungen und das Mädchen an. Eine Hand kroch über die Lehne des Stuhles und ermat­tete.
"Nun jedenfalls habt ihr euch viel zu sagen", sagte der Fürst und erhob sich. Langsam ging er zur Tür, sah hinaus auf den kleinen, leeren Platz und sprach: "Aah, soviel Dramatik - das Leben geht wei­ter - und alles an seinem Platz." Mit diesen weisen Worten bückte er sich unter den Türrah­men und verschwand.
Li machte sich auf den Weg zu Bea. Der Turm stand an eine Mauer gelehnt, als wäre er, der früher im Freien gestanden hatte, wieder in die Gesell­schaft gerückt und böte sich ihr zum Gespräch an. Er war kaum wesentlich höher als die umge­benden Ge­bäude, aber seine Stei­ne hatten eine an­de­re Farbe. Die Raben saßen auf dem Sims der Fen­ster und wach­ten. Sie seien sehr kluge Tie­re, sagte Bea von ihnen, auch wenn sie etwas zur Traurigkeit neigten und es ihnen an Zuver­sicht mangele.
Ein jeder, der es einrichten konnte, kam zum Turm, um sich die Zu­kunft voraussa­gen zu lassen. Nur der Li verriet Bea, dass ihr wegen des Schnup­fens das Hell­sehen ei­gent­lich nicht möglich sei. Die Augen wären nicht klar. Alles erscheine ver­schwommen. Au­ßerdem täten ihr die Schläfen weh. Aber da die Zukunft nur selten Unter­schiede auf­weise und sich aus dem Gesagten und Gehörten zur Genüge zusam­men­setzten lasse, sei es nicht schlimm, wenn die Hell­seherin einen Schnup­fen habe.
Li hörte, wie Bea in ihrem Zimmer mit den Raben sprach. Sie benutzte ihre kehligen Laute, sprach aber im Unter­schied zu ihnen mit einem deutlichen Schnupfen.
"Bea, ich bin es", rief Li. "Bist du beschäf­tigt, oder kann ich hereinkommen?"
"Ach, die hübsche Li kommt auf einen Besuch! So komm doch herein, Kind, ich habe nichts zu tun. Darüber spra­ch ich gerade mit den Raben. Wusstest du, dass es kein Wort für 'Nicht­stun' in ihrer Sprache gibt? Übri­gens auch keines für 'Schnup­fen'!"
Li wusste nicht, wo sie sich hinsetzen sollte. Es war ein schreckliches Durcheinander. Bea sagte, sie wer­fe die Sachen auf den Boden, und wie sie ge­rade fielen, da könne sie sehen, ob es ein guter oder ein schlechter Tag zum Hell­sehen sei.
"Du kannst dich hinsetzen, wo du willst", sprach Bea ihr Mut zu, aber als sie ihr erforschend in das Gesicht gese­hen hatte, fügte sie hinzu: "Kind, was schaust du heute so traurig drein?"
Li nahm ein nächstliegendes Kissen, setzte sich auf den kleinen Sims in der Mauer des Turmes und legte die äußere Schale der Traurigkeit ab. "Woi will mit dem Lernen auf­hören", sagte sie. "Diesmal, glaube ich, ist es ihm ernst."
"Ja, ja", sagte Bea, "dein Woi und das Lernen haben keine gemeinsame Zukunft. Soweit sehe ich hell."
Li nickte traurig. Die Unkenntnis hatte nichts Beun­ruhi­gendes für Woi. Von seinem Versprechen, zu lernen, was auch Li lernte, sprach er nicht mehr.
"Ich glaube", sagte Bea, "meine Raben würden mehr bei deinem Vater lernen als der Woi ... Weißt du, dass die Raben oft über die Dummheit der Men­schen reden. Sie nennen es 'Chukch', was soviel wie 'Flü­gel-aber-nicht-Fliegen' be­deutet."
Bea sah aus dem Fenster hinaus. Nicht einmal die Raben wussten etwas zu sagen, was Li hätte aufheitern können. Sie hatten traurig ihre Köpfe ge­senkt, als wollten sie sagen: 'Nein, nein, wie traurig uns Raben, die Li macht! So trau­rig wie des Winters weiße Laken, unter denen der Früh­ling schläft!'
"Willst du nicht Hellseherin werden?" fragte Bea. "Du hast doch nie Schnupfen. Das ist bei Sehern wichtig. Und das andere kann ich dir beibringen!"
Li schüttelte den Kopf. Sie sah die Unordnung um sich herum. Die aufgerissenen Teebeutel am Boden. Die ange­trockneten Reste auf den Tellern der Raben. Auf den Stein­boden geworfene Kissen. Niemals würde sie daraus die Zukunft lesen kön­nen!
Bea nahm eines der Kissen und betrach­te­te es lesend. "Ich sehe, dass etwas anderes deine Seele be­drückt."
"Es ist nichts ...", sagte Li und verlor ihren Blick in den Teebeuteln.
Bea begann, die Kissen einzusammeln. Sie häufte ein Nest auf, um sich wie eine Vogelmutter hineinzusetzen. Sie wür­de die Au­gen schließen und ihre Haare flechten. Dabei wür­de sie erzäh­len, als schlafe sie schon halb.
Es war schön und tröstlich, wenn Bea vor sich hin­sprach. Sie konn­te das gut. Ihre Worte klangen ge­heimnisvoll. Die Bilder ka­men von weit her. Dann duftete es nach fremden Län­dern in ihrem Turmzimmer.
Durch das Fenster sah Li die Raben, die zu den Wolken aufge­schwebt waren und schwarze Schriftzei­chen mal­ten, mal schnell, mal langsam, wie der Wind es ihnen ge­stattete. Aber Li konnte nur an das Trauri­ge denken, wovon sie nicht sprechen wollte.
"Ich sehe den Raben zu und erzähle dir, was mir die Win­de über dich und dein Schicksal erzählen", schlug Bea vor.
"Ich habe kein Schicksal oder jedenfalls - es ist alles wie sonst auch!" sagte Li und sah nicht auf.
"Am Morgen, als es noch nicht so schlimm mit meinem Schnupfen war, habe ich ein wenig gelünkert", sagte Bea schelmisch. "Willst du nicht wissen, was ich sah?"
"Aber erfinden darfst du nichts, das musst du verspre­chen!", verlangte Li ernst.
"Vertrau mir, Li. Ich will Hell und Trübe nicht ver­mischen, sprechen nur vom Gesehenen. Wo ist das brau­ne Kissen? Eben war es doch hier ... da ist es! Jetzt habe ich sie alle zusammen für mein Weitschaunest!" Vorsichtig und immer wieder neu ansetzend, begann sie, die ver­filzte Bür­ste durch ihr wi­der­ständiges Haa­r zu ziehen.
"Als sie am Morgen kamen, um meine Raben auszuführen", be­gann sie, zerrend sich quä­lend, "sprachen die Winde so: 'Wir entfüh­ren dir deine Raben, heute sie und bald, sehr bald deine Li. Als Freund bleibt Bea nur der Schnup­fen', so sprachen die Winde, zausig und ungesellig."
"Sie entführen mich?", fragte Li leise und tastend.
"Ja, nichts anderes sagten - sangen die Winde und weiter dazu: 'Einen wei­ten Weg kamen wir, weit auch die Reise, von der du ihr sprechen sollst. Ein gelehr­ter Mann ruft sie zu sich. Gleich nah, gleich fern ist er ihr."
"Das ist mein Vater am Kaiserhof! Der Lehrer ist nur ein Onkel, und niemand hat es mir gesagt!"
"... dachte erst, dass die Winde mich wieder prüfen wollten, ob ich ihnen noch zuhöre. Aber nun, da du es sagst, seh ich, wie schauend die Kunde war!"
"Alles ist richtig! Mein wirklicher Vater ist Lehrer am Kaiserhof und -"
"- und weiter die Winde mit vieltiefen Stimmen: 'Die Kaisertochter ist groß, ihrem Lehrer ent­wachsen. Die Pflicht ist erfüllt, welche die Liebe stumm und darbend zurückließ. Da steht es nah, und ist ihm gestat­tet, dass er nach seinem Kinde nun ver­langt.' So die Winde, und davon, was ich verstand."
"Ist das wahr? Fragt er nach mir? Ist keine Täu­schung möglich?"
"Nein, das schien mir deutlich ... nein, wirklich, da wehte von den Winden kei­n Zweifel herein. 'Er ruft sein Kind, kann aber selbst nicht kommen.' - 'Ja, warum denn nicht, Winde?', so ich - haauatschi! - darauf sie: 'Weil es ihm verboten ist, nicht möglich, ihn etwas fesselt. Seine Sehn­sucht nur verriet er den eilig­sten Boten, uns Winden. Seine Träume nur übergab er zu gemächlicher Reise den Wolken. Aber zu kommen sein Schicksal verwehrt ihm!' Ich wies sie zurecht: 'Was für ein Satz­bau, ihr lieben Winde - Huau­at­schi! - ihr solltet se­hen, wie die Sterne ihre Worte fü­gen. Bei denen gibt es keine Huddelei und kein - huu­at­schiii!"
"Siehst du denn, dass ich es schaffe, zu ihm zu gelan­gen?" Li war so aufgeregt, dass sie beinahe eines von Be­as Tüchern aufgenommen hätte. "Sagen sie es, die Winde?"
Bea machte ein gur­gelndes Ge­räusch, als laufe Was­ser in einem Abfluß hinein. Wegen ihrem Schnupfen geriet ihr der gur­gelnde Ablauf so echt, dass Li erschreckt auf ihre Füsse sah, ob nicht der Boden unter ihr in einer Senke ver­schwand.
"Die Winde, mein Kind, fingen erst an, mit mir zu spre­chen. Mit ein wenig Geduld wollen wir uns anhören, wie es weitergeht."
"Ja, bitte, lass sie ausreden, Bea. Ich bin ganz still!" Und das war sie wirklich. Schwer genug war es den Win­den, durch den Schnupfen zu Bea vorzudringen, da wollte sie nicht mit Einwänden und Zufragen ein Hindernis sein.
Bea putzte sich geräuschvoll die Nase. Heute war es be­sonders schlimm mit ihr. Vorsichtig begann sie, die letzte Strähne zu entflechten. Ein Rabe landete auf dem Fenster­sims. Als er sah, dass Bea das Sehen wie­der auf­genommen hatte, flog er das Gefieder schüttelnd wieder auf.
"Dies kleine Mädchen", fuhr Bea fort, "geht auf eine weite Reise ... zum Hof des Kaisers gelangt sie, um ihren Vater zu finden ... es ist nicht leicht, ih­ren Vater zu entdecken ... er versteckt sich, wird verdeckt oder ver­kannt oder etwas ... sie sucht, sie fragt, sie muss warten, aber im Ende" - eine Taub­heit stieg in Beas Nase auf, die Schlaf bedeuten wür­de - "und schließlich, wenn es nach den Win­den geht und wenn die Ster­ne nichts anderes sagen, findet sie ... im Fremden den Aufrechten - in der Fremde den Rechten - fremd den Richtigen - also findet jedenfalls, was sie suchen sollte, das ist bestimmt ..."
Der Erschöpfung hatte sich an das Ende von Beas Ge­schichte ge­hängt. So war sie in einen kehlig sprechenden Schlaf geglit­ten, und was an Lauten aus ihrem Nest fiel, das konnten nur die Raben zu Worten fügen.

Chapter 23. Der Fürst ächzt in seinem Bett

Das Ächzen des Bettes hatte den Fürsten früh, sehr früh geweckt. Die Kopfschmerzen verhinderten, dass er wie­der in den Schlaf fand. Es musste noch früh sein. Im Zimmer ne­benan hatten die Die­ner noch nicht mit den Vor­bereitun­gen für den Tag begon­nen.
Weil er nicht ausgeschlafen war, schmerz­te der Kopf, pochte mal da, zog und drückte mal hier. Wenn er sich drehte, dann waren die Schmerzen diesselben, wenn auch an anderer Stelle. Pochen, Ziehen, Ste­chen, im­mer länger werdendes, schneidendes Ste­chen. Er fass­te sich lang­sam an den Kopf. Von außen schien er un­ver­letzt.
Der Kaiser hatte beschlossen, zwei der kleinen Fürsten­tü­mer zusammenzulegen. Dort war eine Tochter - schon in dem Al­ter, dass ihr ein Mann gesucht werden mus­ste - hier war der Fürst, dem die Frau vor langer Zeit ge­storben war. Streit war einmal gewesen, schon lange her, irgend­wann. Wäre vergessen worden, wenn der Kaiser nicht beschlossen hätte, ihn endgültig beizulegen.
Bisher war das Ver­ges­sen dem Fürst ein Freund gewesen. Die Kaiserlichen Anlie­gen waren in die Ferne fortgewan­dert, verschwommen im Ne­bel der Le­bens­zeit. Er hatte sich vor­gestellt, dass er ihnen nachsah. Ein klei­ner Punkt am Ho­ri­zont, ein Ticken im Nebel der Zeit, ver­loren aus den Augen und aus dem Gedächnis.
Aber der Kai­ser hat­te ent­schie­den. Es war ihm unvor­stellbar, dass dem Fürsten das Politische fremd geworden war, dass er lie­ber im Schatten saß und bei sich zufrieden dachte, der Kaiser habe ihn völlig vergessen. Nun trau­erte er dem Ver­ges­sen nach, der alte, der ferne Fürst. Wenn jemand dem Kai­ser vom Befinden seines Treuen berichtet hätte, vielleicht hätte er anders ent­schieden ...
Hatte der Fürst nicht sein Möglichstes getan, dem Wil­len des Kaisers genehm zu sein? Hatte er nicht dem be­nach­bar­ten Für­stentum über einem lan­gen Streit die Hand zum Frieden ge­reicht? Hatte sich nicht angeboten, die Toch­ter zur Frau zu nehmen?
Al­lein, dies alles war ihnen nicht ge­nug! Sie legten den Be­schluss des Kai­sers auf die engste Weise aus. Die Si­cherheit ei­ner Nachfolge forder­ten sie, damit ihre Fürstin seiner ersten Frau Schi­ra gleichge­stellt darin sei und ein Abkömm­ling, wenn er denn käme, seinem Woi ebenbür­tig war. Darauf be­standen sie. Das sei Bedin­gung. Und redeten in einem fort von sich, niemals vom Kai­ser.
'Gut ... gut, es soll sein', hatte er schließlich einge­wil­ligt und dabei gedacht, dass er sich mit der Frau wohl würde eini­gen können, wenn er sie nur in anderer Weise ver­wöhnte. Wenn ihr nach einer verstrichenen Zeit der Sinn nach gewissen Dingen stand, wollte er nicht genau hinse­hen, wenn sie sich Freihei­ten nahm. Sollte sie sich doch den Mann für ihren Abkömm­ling aussu­chen! Wenig lag dem Für­sten an einer engen Aus­deu­tung des Begriffes 'Männer­ehre'.
Früher, ja früher, war alles anders gewesen! Aber 'frü­her' war lange her, lange bevor er Schi­ra zur Frau genom­men hat­te. Die Bauchdecke ­spannte sich bei dem Gedan­ken daran. Ihm wurde warm, als er an seine Freunde dachte und an die Bor­delle, in denen sie verkehr­t hatten. Der Duft, der alles ausgefüllt hatte, die schweren Augen, getränkt mit süßen Ge­tränke, die weiche Haut der Stimmen, all das ...
Einer nach dem an­deren hatten sie mit den Damen ihr Vergnügen gehabt. Zu dritt, spä­ter zu viert waren sie ge­we­sen.Der Rangnied­rigste, so war ausgemacht, hatte anzufan­gen. Er sah ihn vor sich, wie er sein knie­langes Hemd in der Art ei­nes Bühnen­vor­hanges em­por­raffte, um seine Man­neskraft auf­treten zu lassen - einer Schauspie­lerpup­pe gleich, die ungedul­dig hinter der Bühne gezappelt hatte. Mit ihrem hoch­roten Kopf nickte sie, nach allen Seite und zu jedem von ihnen.
Ein herrlicher Auftritt, als er reihum ging, und die anderen sei­ne steife Lan­ze wie einen Schwert­griff an­fass­ten, als sei­en sie Rit­ter, die Treue und Tap­fer­keit für den Kampf zu schwö­ren hatten. Ern­steste Gesich­ter hat­ten sie ge­macht. Nur der Mund der Schauspie­ler­puppe hatte sich wie in Vor­freude zu einem speichel­feuchten Grinsen verzo­gen.
Es war ein Johlen und Hochstimmen, wenn der Fürst für sein Vergnügen an die Reihe kam. Er hatte sich verbeugt und jedem die Hand geschüttelt, unter Geläch­ter und Schul­ter­klopfen. Schon damals hatte er eiligst in die Schlacht gehen müssen. Ablenkung war seiner Waffe seit je nicht be­kom­men. Wenn er irgendwann innehalten musste, dann gaben ihm die Mäd­chen zu trin­ken und schickten ihn mit einem klat­schen­den Schlag auf den Hin­tern in eine neue Runde.
Waren sie am Ende allesamt erschöpft, so schoben die Mädchen die leer­gepumpten Leiber zu­sammen. Das durfte kei­ne Leichtes gewe­sen sein, denn sie waren vom guten Leben recht massig und zur Erschöpfung träge geworden. Wer nicht zu schie­ben war, der wurde gerollt. Wenn sie wie die Wal­rös­ser auf dem Bauch lagen und mit ihren Rücken eine ein­zige flei­schig weiche Matte bildeten, dann sprangen die Mädchen mit nackten Füßen auf ih­nen her­um. Sie sangen und lachten, klatschten und tanzten zum ei­gentlichen Höhe­punkt. Teil ei­ner von mas­si­gem Fleisch um­hüll­ten Trommel zu sein. Das Gefühl, mit den Freunden ins Nichts zu glei­ten. Das Leben, ein voller Bauch, und schließlich der Schlaf, der ihre Köpfe ein­sammelte und sie wie alte Fla­schen in einem kühlen Keller zur dunklen Lagerung ablegte.
"Das geht nicht", sagte eine sehr leise Stimme in seinem Ohr, "weil er doch schläft ..."
"Ssst, ssst, Vater, schläftst du noch?", rief Woi. "Kann ich dich schon etwas fragen, oder willst du noch schlafen?"
Das Bett schwankte lautlos, um dann in eins gesammelt, zu ächzen und zu stöhnen. "Au!", klagte es. "Au, mein Kopf, weh, wo bin ich? ... was ist passiert?"
"Nichts ist passiert. Du bist gerade aufgewacht, das ist passiert. Ich habe den Diener gefragt, ob ich dich etwas fragen darf. Darf ich? ... Du hast gesagt, dass ich eine neue Mutter be­komme. Ich wollte nur fragen, wann sie kommt."
"Eine neue Mutter, wie? Ach, das meinst du! Kann sein, aber auch nicht ... Der Kaiser hat an­geordnet, dass wir größer werden und kein Streit mehr sein soll, obwohl ich mich nicht an welchen erinnern kann."
"Und du? Was sagst du?"
"Mich fragt keiner, mein Junge. Wenn der Kaiser einen Wunsch hat, dann hat er einen Wunsch. So ist das."
"Und was ist nun? Kriege ich eine neue Mutter oder nicht? Du kannst es mir sagen, ich bin ja schon fast ein richtiger Mann. Das hast du gesagt - weißt du es nicht mehr!?"
Das Bett stöhnte erneut unter Schmerzen auf, aber Woi ließ sich von einem Diener nicht aus dem Zimmer zerren.
"Ich habe mich so auf meine neue Mutter gefreut. Ich habe mir vorgestellt, sie ist eine richtig nette Mutter, die mir ganz andere Sachen beibringt. Dann muss ich nicht mehr den ganzen Tag lernen, weil sie sagt: 'Der Woi, der hat jetzt genug gelernt. Der Junge will ja kein Schreiber werden, sondern ein Fürst, und das bringe ich ihm jetzt bei.' Das macht viel Spaß. Hast du ihr denn von mir er­zählt?"
"Nein, Fürst Woi, dazu kam es leider nicht."
"Du warst ihr zu alt, stimmt es?"
"Es ist nicht einfach mit einer Heirat von Fürsten. Vie­le Dinge müssen bedacht werden ..."
"Wie alt ist denn sie?"
"Nicht so jung wie du und nicht so alt wie ich ... Eigent­lich habe ich nur von ihr gehört, wenn ich ehrlich bin. Erst zur Hochzeit wird sie mich, und ich werde sie sehen. Das meiste bestimmen die anderen, und lange bevor wir uns sehe, ist alles fertig."
"Ich will überhaupt nicht heiraten", sagte Woi. "Was habe ich davon, wenn es nur für die anderen ist!"
"Aauhh, mein Kopf­, sol­che Schmerzen. Sag dem Die­ner, er soll den Arzt rufen, ich kann nicht regie­ren ... Geh selbst, schnell, eine Arzt muss her für meinen Kopf!"

Chapter 24. Lis Gedicht

Li hör­te, wie die Tür in ihrem Rücken aufging. Noch führ­te sie das Wort 'Wind' zu Ende, dann sah sie sich um. Und erschrak sogleich. Eine fremde Ge­stalt stand im Un­ter­richtsraum, das Gesicht verborgen hin­ter einer Maske. Li blickte auf hochgestülp­te, dunkel­rote Lippen, aus denen eine end­lose Rei­he von glänzen­den Zähne hervorwuchs, si­cher­lich dop­pelt so­viele, wie ein Mensch haben konnte.
Hinter dem gewaltigen Mund er­klang, tiefgestellt und flüsterheiser, die Stim­me von Woi: "Ich bin der Fürst des Er­schreckens. Ich bin der Fürst des Grausens. Wer in meine Hände fällt, der wird gefressen von mir und ver­tilgt mit all seinem Geschriebenen!"
"Ich habe mich WIRKLICH erschreckt!", rief Li. "Musst du dich so anschleichen?"
Ohne seine Maske herunterzunehmen, begann Woi sogleich loszure­den: "Sie sagen, ich bin erst ein richti­ger Für­stensohn, wenn ich eine Maske habe. Ich war nicht einmal ein Für­stensohn bisher? Was war ich dann denn über­haupt? Ist auch egal, jetzt bin ich ein Fürstensohn und habe eine Mas­ke und - stell dir vor! - ein Wap­pen, ganz für mich! Willst du es se­hen?"
Stolz hielt er Li einen Tuschepinsel hin, den sie vor­sichtig entgegennahm. Der Griff war nicht aus Holz ge­macht, viel­leicht aus einem Stein, den sie nicht kannte, biegsam und doch nicht ­zerbrechlich. Zierlich wa­ren drei Worte dar­auf ge­malt. Ei­gentlich geschnitzt, eine sehr feine Schnitz­ar­beit, die dann bemalt worden.
"Also das erste verstehe ich ja", sagte Woi. "Das heißt 'Bär', das bin ich. Das zweite Zeichen heißt 'Tor', stimmt doch? Und das dritte Zeichen - bedeutet es, dass ich jetzt alt genug bin?"
"Es steht für Baum, für einen großen Baum, aber auch für eine Familie und einen Mann, der sehr alt geworden ist. Erkennst du den lan­gen Bart und den krum­men Rücken? Die Rundung am oberen Rand ist der kah­le Kopf."
"Wie klug du bist. Und kannst wunderschön die Zeichen erklären. Ich se­he, dass dir mein Stift ge­fällt. Was gibst du mir, wenn ich ihn dir leihe?"
Wois dünne Stim­me woll­te nicht zu dem Rie­senmund pas­sen, mit seinen vie­len Zähnen, die angestrengt lachten. Unsi­cher balan­cierte der Hals die schwere Last.
"Als Be­lohnung bekommst du ein Gedicht von mir", sagte Li. "Aber du musst mich allein lassen. Nur dann fallen mir die Gedich­te ein."
Die Stimme hinter der Maske klang, als habe sie mehr erwartet. "Ein Gedicht will ich nicht? Das erinnert mich an den Lehrer. Ich will etwas, woran ich Freude habe."
"Ich bin ein armes Mädchen nur, hab' nichts, mein Herr, als po­chend ein Herz", deklamierte Li.
"UUH", rief Woi und schüttelte sich. "Was du wieder redest! Du kannst ihn trotzdem haben. Hier ist er, aber sei vor­sichtig!"
Li nahm den Tuschepinsel vor­sichtig entgegen. Lange betrachte­te sie seinen Griff und begann schließlich aus dem Fenster zu sehen, als wolle sie ihr Gedicht von den Wol­ken ab­schreiben.
"Mein Vater wird eine andere Frau bekommen", sagte Woi, ohne sich um Lis fernschweifenden Blick zu kümmern. "Er hat sie noch nie gesehen, weil andere sie für ihn ausge­sucht haben. Ich hoffe, wenigstens mir gefällt sie!"
Heute hatten es die Wolken eilig. Dünn wie Papier waren sie und auseinandergeblasen. Ließen sich von Vö­geln er­schrecken, die in die kreisenden Winde aufgestiegen waren.
"Ich habe meinem Vater gesagt, dass ich nicht heira­ten werde", sagte Woi. "Ich hoffe, du weißt das, Li. Mach' dir also keine Hoff­nungen. Selbst wenn mich andere zwin­gen, werde ich dich nicht heira­ten." Dann grinste er frech, weil er Li aus ihren Wolken geholt hatte.
"Wer sagt denn, dass ich heiraten werden!?", entgegnete sie empört. "Bevor ich je­mals heirate, will ich erst mei­nen Vater finden. Das meine ich im ganzen Ernst - nicht so wie du!"
"Du findest deinen Vater nicht - viel zu weit weg ist der!", hielt ihr Woi entgegen.
"Was weißt du!", sagte Li zornig. "Bea hat es mir ge­sagt, als sie in meine Zukunft gesehen hat!"
"Du bist eine Träumerin", sagte Woi. "Mit deinen Wolken und ihrem Hellsehen kommst du nicht weit."
"Und du bist einer ohne Träume", entgegnete ihm Li. "Was nützen dir deine Füsse, wenn sie nur aufeinanderschauen?"
"Ich bin mit meinen Füßen eher bei deinem Vater als du mit deinen Träumen - jedenfalls, wie ich es meine"
Woi hätte ihr am liebsten den Stift ­ab­genom­men. Wieder sah sie nur zu den Wolken, die völlig durcheinander waren.
"Du könntest mich malen", schlug Woi vor. "Dir fällt ja doch kein Gedicht ein! Ich stelle mich hierhin, damit du mich malen kannst. Sag mir nur, wie ich mich stellen soll! Ist es so recht? Du bist die erste, die ein Bild von mir malt, wenn ich meine Maske aufhabe und überhaupt."
Das gefiel Li. Der Papierbogen war leer, und Woi hatte recht, dass ihr nichts einfallen würde, solange er ständig mit ihr redete. Sie wies Woi in eine hintere Ecke des Zimmers. Seine Maske musste er in der Hand halten. Den Kopf sollte er hoch­halten, ganz nach hinten, damit er nicht mehr reden oder ihr beim Malen zuschauen konnte.
Woi nahm die Haltung an, die Li ihm aufgetra­gen hatte, und verharrte steif in seiner Ecke. Nur seine Augen roll­ten beständig, und seine Hände konnten keine Ruhe geben.
Li malte solch ein Bild, wie sie es täglich bei ihrem Weg durch den Hof zu sehen bekam. Es war ein wenig anders, weil die Farben zerflossen, aber sonst war es gleich. Sie malte ein dichtes Band von Wolken. Oben ließ sie drei Ber­ge mit ih­re Köpfen hervorschauen. Jeder der Berge sah in eine an­de­re Rich­tung. Der erste schau­te auf seine gratige Nasenspitze. Der zweite schlief noch und träumte auf dem brei­ten Kinn, und der drit­te sah er­staunt, dass er nicht mehr alleine war. Die Wolken bedeck­ten ihre Körper, dass nur die Zehen der Berge hervorlug­ten, von weichem Moos und Schat­ten umran­det. Dort auf den dick­sten der Ze­hen stellte sie Woi hin, win­zig und auf­recht, wie ein beharr­licher Riss im gro­ßen Fuß­nagel des schlafen­den Ber­ges. Mit dem Haar eines Pinsels malte sie ihn, wie er hin­aufsah zu den Wolken und nichts sah als deren schief hän­gende Bäuche.
"Darf ich wieder? Bist du soweit?", fragte Woi schließ­lich, weil er aus rollenden Augen sah, dass Li sich zu­rückgelehnt hatte und unsicher zu ihm hinsah.
"Bin ich das?", fragte Woi und zeigte auf den Berg, der schlief. Li führte seine Hand mit dem Stift, bis er sich fand. Ein wenig war sie mutlos geworden über ihrem Spaß.
Mit gewittrigem Blick nahm Woi sich die Maske vor das Gesicht. Langsam näher­te sich Li das Dämonengesicht, kam näher und nah. Seine Bos­heit und Grau­samkeit. Sein Zorn, der keine Seele hatte und sich selber fraß.
"Ich habe keine Angst vor dir", sagte Li und tupfte mit dem Finger an der Holzstirn.
"Ich habe noch etwas bekommen", sagte Woi, "aber darüber spreche ich nicht!"
"Was ist es denn?" Li war doch ein wenig neugierig.
"Es ist ein Dolch", sagte Woi, "aber zeigen kann ich ihn dir nicht!"
"Warum denn nicht?"
"Weil du ein Mädchen bist. Ganz einfach, weil du Mädchen bist, und ein Dolch ist eben etwas ... was nur Jungen haben!"

Chapter 25. Ihscha und Woi

Woi hatte Langweile. Wegen dieser Hochzeit, von der sein Vater nicht einmal die Frau kannte, waren viele fremde Menschen an den Hof gekommen, Alle waren sehr geschäftig und trieben sich zu noch eiligeren Schritten an.
So hatte er nieman­den, nicht einmal Li, weil die ein Gedicht schrieb, was nun schon einen halben Tag lange dau­erte. In der ganzen Zeit hatte sie dagesessen und die Wolken betrachtet. Wenn es ein Gedicht über Wolken war, dann hätte sie schon längst damit fertig sein müssen, fand Woi.
Er beschloss, einem Mann zu folgen, den er nicht kannte. Der Mann trug einen Um­hang, der voller Staub war und eine Ta­sche, die mit je­dem seiner sehr langen Schritte ein Ge­räusch von sich gab. Es klang, als trage er einen Husten in seiner Tasche umher.
Woi versuchte, wie die Tasche zu husten und diesselben langen Schritte wie der Mann zu machen. Der Mann sah sich um. Wie er Woi ansah, hatte er außer großen und leeren Augen nichts in seinem Gesicht, keine Nase erhob sich, die Brauen waren nackt, und der Mund war eingeschnit­ten.
"Kannst du mir den Weg zu euren Vasenmalern zei­gen?", fragte er. Da erst hatte Woi seinen Mund entdeckt!
"Ich habe nichts zu tun. Da kann ich euch auch hinbe­glei­ten", sagte Woi und ging voraus.
Der Mann hatte be­stimmt eine Art Tier in der Tasche. Es war jetzt still, weil es Wois Stimme gehört hatte. Woi nahm sich vor, Tier­stim­men zu üben. Wenn er später als Fürst auf die Jagd ging, wür­den seine Diener sicherlich staunen, wenn er sich mit dem Hirsch un­terhal­ten konnte!
"Mit wem auf meinem Weg habe ich die Ehre?" fragte der Mann und ließ seinen Mund wieder verschwinden.
"Och", sagte Woi, "ich bin nur den Sohn des Für­sten. Des­halb habe ich auch nichts zu tun."
Auf dem Weg erfuhr er, dass der Mann zur Abordnung des anderen Fürstenhauses gehörte. Auf Wois Frage, was er ma­che, antwortete er, dass er warte, dass sich etwas bewe­ge. Er dürfe aber nicht sagen, was es sei.
Ob er sicher sei, dass es sich bewe­ge, fragte Woi.
Das wisse er noch nicht, sagte der Mann, eben das Her­aus­finden sei seine Aufgabe.
Woi sagte, dass auch er viele Dinge wisse, über die er nicht sprechen dürfe.
"Den Dankesgruß sage ich dir", sagte der Bewegungsher­ausfinder, als sie am Ziel waren. "Wie wäre ich also ir­rend ohne dein Ge­leit."
"Och, macht nichts." sagte Woi und wurde rot, weil ihm so schöne Wor­te nicht einfallen wollten.
Er beschloß, sich nicht länger aufhalten zu lassen. Ins Zimmer von seinem Vater versuchten Diener und Leute, ein Bett zu bringen, das viel zu groß war. Er stellte zufrie­den fest, dass es niemals durch die Tür passen würde. Ein Mann schrie herum, als könne er es dadurch kleiner machen. Sein Kopf schwoll wie ein roter Ballon an, aber die Tür wurde um nichts größer. Das Bett steckte im Türrahmen fest, und es ging weder vor noch zurück. 'Viel­leicht wird die Hoch­zeit ja doch lustig wer­den', dach­te Woi.
Als er so stand und dem schreienden Mann zusah, bemerkte er eine Frau, die aus einer Tür in den Garten gehen. Von ihrem Duft blieb einiges im Gang zu­rück. Sie war also kei­ne Die­nerin, denn die rochen alle gleich, näm­lich nach Küche, je nachdem, was es zu Essen gab. Solch einen Duft wie diesen kannte er nicht.
Er beobachtete zwei Die­ner, die sich in eine Ecke ge­drückt hat­ten, und der Frau nachsa­hen. Sie flüster­ten miteinander und machten sich klein, als sie Woi bemerkten.
Als er der Frau in den Garten folgte, stellte er fest, dass sie und er ganz allein im Garten waren. Nicht einen Gärtner konnte Woi entdecken. Für einen Augenblick zögerte er. Da aber das Zögern ein Zeichen war, dass es spannend oder lustig wurde, gab er sich einen Ruck und ging ihr nach.
"Woi darbietet dir seinen Gruß, du Fremde", begann Woi und dachte, dass er die Sprache des Bewegungsherausfinders gut getroffen hatte.
Die Frau sagte nichts, sprach nicht einmal einen Gruß zurück. Es war Woi, als verschwimme ihre Gestalt ein wenig in den Umrissen.
"Ich bin der Sohn des Für­sten. Ich heiße dich also will­kommen", sagte er und rieb seine Augen.
Sie lächelte und sagte weiterhin nichts. Der Duft, den Woi bemerkt hatte, floss aus ihren Haaren. Lange schwarze Haare, die sie bestimmt oft kämm­te.
'Puuh', dachte Woi, 'das wird an­strengend, wenn ich diese Frau zum Spre­chen bringen will.' Er machte eine völ­lig unnötige Verbeugung, als würde er irgendeine Tür für sie öff­nen. "Ich kenne dich nicht. Du bist keine Diene­rin", sagte er. "Kann ich dir den Weg zeigen? Ich kenne mich aus."
Ihre Augen waren von unterschiedlicher Farbe. Ein Lä­cheln glitt über ihr Gesicht, ohne die Lippen zu berüh­ren. Das Lächeln lag eingeschlossen in ihren klug wartenden Augen. Der Wind bewegt ihr das Kleid und wehte Duft aus ihrem Haar.
"Ich sage dir meinen Namen, wenn du mir deinen sagst", schlug Woi vor.
Eine Stumme war sie, ohne Bewegung. Als Teil des Gar­tens, bot sie Berührung an wie eine Blume, ei­n Blü­ten­zweig.
"Was ist das, wonach du riechst?", fragte Woi.
Nichts als eine Locke, die sich auf der Stirn zeigen durf­te. Dorthin gehörig, nicht zum gussfließenden Haar.
"Wo kommst du her?"
Ihr Schweigen hat schöne Augen. Wie leicht waren dagegen Tier­stimmen nachzuahmen! Dieses wortlose Sprechen dagegen wür­de Woi durch kein Üben so hinbekommen.
"Gehörst du zu denen, die wegen meinem Vater und seiner Hochzeit hier sind?" Wieviele Fragen hatte er gestellt, ohne eine Antwort von ihr zu bekommen! Und doch kam er sich nicht eigentlich wie ein Idiot vor!
"Ich heiße Ihscha." Ein Lächeln fiel von ihren Lippen in die Sträu­cher des Bambus.
Auch Woi lächelte. Er machte seine Augen groß und stumm, so gut es ging. Jetzt war sie dran.
"In meinem Reich bin ich eine Fürstin", sagte Ihscha.
Woi schwieg entschlossen und mutig, aber so ein Dauerlä­cheln konnte anstrengend sein: Die Augen brann­ten, und an den Backen hielt sich ein Zittern fest.
"Du vergisst doch nicht zu atmen?" Ihscha sah sor­gend in Woi hinein, wo die Luft zu Ende ging.
Offenbar hatte er seine Wirkung erzielt. Nur das Atmen hatte er vergessen. Des­wegen war alles so an­strengend ge­wesen!
"Wie alt bist du denn?" Sie sprach vom Alter wie von einem fremden Land.
"Ich bin alt genug", sagte Woi. "So alt bin ich, dass man mir alles sa­gen kann. Ich kenne viele Geheimnisse. Aber ich darf nicht darüber spre­chen. Eben wir ein richti­ger Mann." Er verschränkte die Arme wie einer der Fürsten aus den Büchern seines Va­ters.
Ihre Augen holten sich das Licht aus einem anderen Teil des Gartens.
"Was ist das für ein Reich, wo du eine Fürstin bist?", fragte er und berührte ganz leicht ihren Arm, damit sie ihn ansah.
Sie waren am See angekommen. "Sieh mal, Woi, oben glänzt er wie ein Spiegel. Darunter, im Dun­kel, liegt mein Reich. Dort gibt es kein fremdes Licht. Tag und Nacht entstehen aus unse­rem Gefühl."
"Och, mir würde das nichts ausmachen. Manchmal stehe ich nachts auf, wenn keiner etwas merkt. Hast du auch Diener, die auf dich auf­pas­sen?"
"Die Lieder sind unsere Diener. Sie bewirten die Wün­sche, das sind unsere Gäste. Und die Träume schicken wir aus, um zu spionieren."
Ihscha nahm einen Stein auf. So geschickt warf sie ihn auf das Wasser, dass er mehrmals aufsprang. Kein schlech­ter Wurf für eine Fee - oder was sie war.
"Du bist doch wirklich?", fragte Woi. "Oder wirst du dich wegzaubern?"
Ihscha zeichnete mit der Hand die Kreise nach, die auf dem glat­ten Wasser verschwanden. Wenn das ihre Antwort war, dann tat es ihm leid, dass er gefragt hatte.
"Ich will dir etwas schenken", sagte er. Es kam mutig her­aus und schrecklich laut über das Wasser zurück.
Sie nahm die Hände vom stillen Wasser und zeichnete Kreise in der Luft, ganz nah vor Wois Augen.
"Komm her, ganz nah mit deinem Ohr" flüsterte er. "Weil es etwas Besonderes ist, noch näher." Da war sie schon ganz nah an ihn herange­rückt. und Woi war noch nichts ein­gefal­len. "Höre gut zu, ich sage es nur einmal und ganz leise. Es ist ... ich schenke dir ... ein Ge­dicht - aber es ist noch nicht fertig!" Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange, so erleichtert war er, dass ihm das Ge­schenk noch ein­gefallen war.
Den Kreisen nach versank ihr Blick in der Mitte des Sees. Der wusste mehr von der Trau­rig­keit die­ser Frau, als ein Für­sten­sohn ahnen konnte.
"Wonach riechst du?", fragte Woi.
Ihschas Blick kehrte in ihre Augen zurück. "Magst du es?" Dann wieder trau­rig und fern: "Es hat viele Namen, so­vie­le, das keiner richtig ist."
"Hmm, ja", sagte Woi und dachte, dass sich ihre Worte ebensowenig festhalten ließen wie die Wasserkreise.
Sie legte ihm die Hand auf den Kopf: "Du denkst an das Gedicht, Woi, nicht wahr!?"
"Ein paar Wolken noch", sagte Woi, "dann ist es fer­tig!"

Chapter 26. Ihscha prüft den Fürsten

Noch war kein Diener im Zimmer des Fürsten gewe­sen. Auch der Morgen hatte keinen Spalt gefunden herein­zusehen. Alles Licht war vom gestrigen Tag übrigge­blieben und zeichne­te mit schwindender Kraft die Gestalt des Fürsten nach, der in einem langen Nachthemd auf dem klei­nen Holz­schemel saß.
Auf dem Steinboden waren ihm die nackten Füße kalt geworden. Vom gestrigen Abend standen noch Speisen auf dem Tisch. Hatte er von ih­nen geko­stet? Er ver­suchte, sich zu erin­nern, aber Betäubung hatte die Zunge überzogen wie die faltige Haut die Soßen. Der salzige Ge­ruch, den seine Ach­seln verström­ten, war das ein­zige, was er rie­chen konnte.
Da hörte er die beiden kommen: den Mann, der immer­fort hustete, und die Frau, die ihren Duft wie ein Säckchen umhertrug, die Gedanken der Männer einzusammeln, als seien es Geldstücke. Sie ge­hörten zum Gefolge des Nachbarho­fes, dessen Fürst als abergläu­bisch bekannt war und jedem, der ein Wundermit­tel anbot, sein Ohr schenk­te.
Der Mann und die Frau waren gekommen, herauszufinden, ob Fürst Alta zur Ehe und auch zu ihrem Vollzug taugte. Vor den Kaiser sollten sie ihr Urteil bringen, aber der Fürst wusste genau, dass sie es vor den anderen Fürsten bringen würden, nur vor ihn, der sich für seine Toch­ter und für seine Pläne rück­versi­chern wollte.
Die Frau war dem Fürsten zuwider. Sie war wie eine von den Käuf­li­chen, die einem hochgestellten Reisenden für die Nacht aufgedrängt wurde, auch wenn er wieder und wieder sagte, dass er erschöpft von der Rei­se sei. Oft kamen sie erst in der tiefsten Stunde des Schlafes, spannten ihre giftigen Netze auf, entzo­gen den Wünschen den Boden der Heimlichkeit und tranken sie leer.
"Ich habe niemanden gerufen", sagte der Fürst ohne Stim­me.
Der Mann hustete und spuckte seinen Auswurf in einen silbernen Napf, den er in der Hand hielt. Die Frau hatte die gleißenden Augen der Bogenschützin, die den alten Hirsch vor sich sah, der ihr nicht mehr entkommen konnte.
Langsam zog sie dem Fürsten das Nacht­kleid über den Kopf und legt es beiseite. Der Sche­mel fiel und schlug auf den Stein. Ihr Duft war nicht bil­lig. Sie nahm seine Hand und hielt sie wie einen toten Vogel.
"Ich heiße Ihscha", sagt sie. "Aber das ist nicht wich­tig. Ihr seid der Fürst. Ich soll finden und ihnen sa­gen, ob ihr einer Frau einen Sohn zeugen könnt. Mir ist das nicht wichtig und euch vielleicht auch nicht. Aber ihnen, die mich schic­ken, ist es wich­tig - sie lassen mich mit dem Leben für mein Urteil bürgen!"
'Töte, Bogenschützin, töte, sonst wirst du getötet', dachte der Fürst.
"Wir haben eine Muschel mitgebracht", sagte sie. Der Mann öffnete die Tasche und holte etwas heraus, das er vor den Augen des Fürsten zu verbergen suchte.
"Ich werde sie ansetzen", fuhr sie fort. "Wo das ist, könnt ihr euch denken. Es wird nicht wehtun, viel­leicht ein wenig kratzig sein im Anfang, aber dann wird euch wohl. Die Farbe der Muschel, wenn ich sie abnehme, wird mir ver­raten, ob ihr einen Sohn zeugen könnt."
"... wird euch verraten", sagte der Fürst ihr wider­standlos nach, "... wird euch verraten."
Er spürte, wie sie die Muschel an­setz­te. Erst war es krat­zig, wie sie gesagt hatte, dann begann Taubheit sich auszubreiten.
Gemeinsam war­te­ten sie. Ihscha hatte die Augen ge­schlossen und beweg­te die Lippen, als führe sie ein Ge­spräch. Der Mann fühlte an seinem Hals nach ei­nem Husten. Der Fürst betrachtete lange sein von allen Kennmalen gereinigtes Gesicht. Selbst die Ohren waren eingewachsen, die Stirn zur selben Rundung geformt wie Nase und Wangen, das Kinn im breiten Hals verschwunden.
Ein Diener blieb draußen vor der Tür stehen, um zu lauschen. Da löste sich die Muschel und fiel zu Boden. Sie hörten, dass der Diener fortlief.
"Sie hat sich gelöst", sagte Ihscha, als die Stille zurückgekehrt war. "Wenn sie wol­len, können wir es noch einmal probieren."
Ihscha nahm die Muschel auf und öffnete sie. Lange sah sie hin­ein, hielt sie mal in dieses Licht, mal in jenes. Einmal, noch einmal roch sie daran.
"Ist es nicht deutlich genug?", fragte der Fürst ärger­lich.
"Die Zukunft ist deutlich", sagte Ihscha leise. "Was ich lese, ist die Vergangenheit."
"Die Vergangenheit geht euch nichts an?", brau­ste der Fürst auf.
Ihscha hob abwehrend die Hände. "Gemach, gemach, Fürst. Ich will euch nicht schaden, nur meinen Auftrag erfüllen. Die Vergangenheit, euer Sohn ..." Sie sprach es nicht aus, sondern drückte dem Fürsten mit einem langen wissenden Blick die Muschel in die Hand.
Der Fürst gab den beiden bittend zu verstehen, dass sie gehen soll­ten. Er war erschöpft, furchtbar erschöpft. Sollte die Frau ihr Wissen haben, aber er duldete nicht, dass sie es vor ihm wie vor ihrem Mitverschwörer ausbrei­te­te!
Solange er die Schritte im Gang hörte, hielt er die Augen ge­schlossen. Ihm war dies alles zuwi­der: Sollten sie doch ihren Hoku­spokus bei je­mand anderem ausprobieren!
Als er hörte, dass eine weitere schwere Tür zufiel, sah der Fürst suchend nach seinem Nachtkleid. Sie hatten wohl vergessen, es ihm zu lassen. Er be­trachtete die Muschel in seiner Hand. Sie war ge­schlossen und viel­leicht schon tot.
Er wusste nicht, wohin er sie legen sollte. Ihm war zu­mu­te, sie aus dem Fenster zu wer­fen. Aber er wäre nicht weit genug mit seinem Wurf gekommen, und sie wäre auf dem Hof zer­platzt. Würden nicht alle die Muschel sehen und nach ih­rer Be­deu­tung fragen? Ehe nicht alle wuss­ten, was an ihrem Fürsten festgestellt worden war, würde nie­mand sie anrühren und ent­fernen.
Wo konnte er die Muschel verbergen? Er sah zu dem Bett hin. Nein, es kam ebensowenig in Frage wie einer der Schränke! Wenn es zu riechen begann, würden die Diener nach­schauen. Es gab kei­nen Ort, wo die Die­ner nicht nach­schau­en würden. In seinem großen Hof hät­te er nichts vor ihnen ver­stecken kön­nen. Es stand traurig um ihn.
Nackt wie er war, in den Händen die Muschel, setzte er sich auf das Bett und sah an sich herunter. Er hielt die Muschel an sein grauschlaffes Glied, aber sie war gestor­ben oder appet­titlos geworden. Konnte er ihr das übel neh­men? War ihm nicht ebenso zumute?
'Ich könnte sie bei mir tragen', dachte er. Aber die Diener würden sich nicht nehmen las­sen, ihn zu klei­den. Wie würde sie schau­en, wenn er eine solche Muschel unter sei­nem Wams trüge!?
Da hatte er den Einfall, was er mit der Muschel tun konn­te. Das Wasser war der richtige Ort für dies Ding! Es gab eine Stelle, die er in seiner Erinnerung liebte. Dort würde er die Muschel lassen können: bei den ausge­höhlten Weiden, unter den, sich auf dem Wasser­spiegel abstützen­den, alters­schweren Armen, am schwarz­trüben Ufer des Flus­ses, wo das Licht zwischen Himmel und Erde sich nicht ent­schei­den konnte.

Chapter 27. Woi schenkt Ihscha ein Gedicht

Woi ging die Wände entlang, an denen die Maler ihre Rollbilder befestigt hatten. Die Berge und Wiesen wa­ren fertig. Einer der Maler malte, wie der Fluss hinter der Stadt ver­schwand. Ein anderer Maler hatte die Reisen­den gemalt, die Tiere und Bauern, die Frau­en an den Was­ser­stellen.
Der dritte Maler war etwas be­son­deres. Er trug kein Maler­kostüm und war auch nicht be­kleckert wie die ande­ren. Mit sehr fei­nem Pin­sel malte er eine Vor­zeichnung des Fürsten. Betont langsam zog er die Striche, da­mit die Far­be dicht und glänzend blieb.
Ein­mal war der Fürst zu se­hen, wie er den Bau­ern etwas über deren Kühe sagte. Ein anderes Mal kämpfte er mit seinen drei Freun­den den Berg hinauf. Und ein letztes Mal zog er mit seiner neuen Frau in die Stadt ein. Dabei war der Fürst so groß wie das Tor, und die Wa­chen wa­ren nicht größer als das Schwert, welches er trug.
"Was macht mein Vater?", fragte Woi und zeigte auf sei­nen Vater und den Bauern mit der Kuh.
"Wie bitte?", fragte der besondere Maler.
"Fragt er den Bauern, wie das Tier heißt? Ich bin näm­lich sicher, dass er es gar nicht weiß!" Woi lachte, aber die Maler schauten sehr ängstlich drein.
"Auf dem Bild stimmt nichts", hielt Woi ihnen vor. "Se­hen sie, mein Vater hat nie gekämpft, in seinem ganzen Leben nicht!" Woi sah sich um und begann zu flü­stern: "Und die drei Freunde - sind allesamt erfunden. Ja, die hat er sich ein­fach aus­ge­dacht!"
Der besondere Maler sagte nichts. Nicht einmal: 'Wie bitte?!'
Die beiden bekleckerten Maler hatten sich an den Händen ge­fasst und waren zurückgetreten. Sie standen so still, als hätte der besondere Maler auch sie nur gemalt.
"Mein Vater ist nicht so groß, wie sie ihn malen." Woi trat dicht an den Maler heran. "Ich muss ihnen leider sagen, dass mein Vater klein ist und schnarcht und fast jede Nacht aus dem Bett fällt. Fragen sie die Diener, die kön­nen es ihnen sagen!"
Der besondere Maler hatte einen ausgedünnten Bart mit feinen lan­gen Härchen, die aussahen, als würde er von ihnen für seinen Pinsel nehmen.
Gerade als die Maler langweilig wurden, kam Ihscha. Sie wirkte er­schöpft, als habe sie schwer gear­beitet.
"Was hast du gemacht?" fragte er.
"Ein Geheimnis hat sich bei mir ausgeweint" sag­te sie und zog ihn von den drei Malern fort, die mit dem gleichen Grübelmuster auf der Stirn beobachteten, dass sie sich mit dem Fürsten­sohn gemein machte.
"Geheim­nisse weinen nicht", sagte Wo­i. "Nicht mal Tiere können wei­nen."
"Komm!" sagte Ihscha und fasste ihn an der Hand.
Er ging mit ihr und sah sich nach den Malern nicht mehr um. Sie kamen an dem Bett vorbei. Es war immer noch zu groß für die Tür, aber stand jetzt auf dem Kopf. Der Mann, der so geschrie­n hat­te, lehnte müde an einem seiner Bei­ne. Es roch nach Schweiß und fri­schem Lack.
"Komm!" sagte Ihscha und zog ihn weiter.
Erst als sie im künstlichen Garten angelangt wa­ren, hör­te sie auf, ihn zu drängen. Es war wie immer zu warm. Die lackierten Blättern waren von fadiger Feuchte überzogen. Viele der Blüten waren so groß wie Wois Hand. Seltsame Gebilde waren darun­ter. Manche waren so fest, als wären sie ge­schnitzt. Ihm war unwohl an diesem Ort.
Hinter Ihscha stand eine Pflanze, die grüne Blätter hat­te mit einem silbernen Rand wie ein Eiskranz. Die Blü­ten gli­chen Bündeln von kleinen Lichter.
"Ich habe dich gesucht" sagte Woi.
Statt eine Antwort zu geben, schlüpfte Ihscha aus ihren Schuhen und betrachtete ihre nackten Füße.
"Ich finde, du bist nicht viel größer als ich", sagte Woi.
"Nein", sagte sie, "vielleicht ein wenig."
"Sollen wir uns Rücken gegen Rücken stellen. Dann können wir sehen. Vielleicht sind wir gleich groß."
"Gut", sagte sie. "Wir drehen uns um, legen jeder eine Hand auf den Kopf und schieben sie auf­einander zu. Wenn sich unsere Hände berühren, sind wir gleich groß. Dann wissen wir es genau!"
Sie drehte sich um. Er hatte nicht gedacht, wie lang ihr Haar war. Vorsichtig stellte er sich gegen ihren Rücken auf. Er musste sich eng an sie stel­len, sonst wäre es nicht gegangen. Dabei spür­te ihren Po an seinem. Weil er seine Hand vergessen hatte, lag ihre zuerst auf seinem Kopf.
"Du hattest recht, Woi", sagte sie, "siehst du, wir sind gleich groß."
Ihm war sehr schwitzig geworden. Er kam sich vor wie in einer sehr engen Blüte. Ihr dagegen schien die Hitze nichts auszumachen.
"Deine Augen glänzen", sagte sie. "Wenn die Augen eines Bären glänzen, dann heißt es achtgeben für das Reh."
"Nein", sagte Woi, "die glänzen nur so, und außerdem habe ich ein Gedicht für dich."
Als er es hervorgezogen hatte, war es ein wenig zer­drückt. Vor­sichtig rollte Ihscha das Gedicht auseinander und glättete es. Fast war Woi stolz darauf, wie behutsam sie mit seinem Papier umging.
"Lies es mir vor", sagte sie, nachdem sie das Blatt lange betrachtet hatte. "Ich kann nicht lesen."
Daran hatte Woi nicht gedacht! Er war nur froh, dass Li ihm ihr Gedicht einige Male vorgelesen hatte, denn mit dem ersten Lesen von Gedichten stand es bei Woi schlecht. Also begann er langsam und suchte zwischen den Zeichen nach seiner Erinne­rung:

'Hier bin ich',
sagt der junge Bär.
'Ich bin die Macht',
spricht das Tor.
'Und ich die Zeit',
knurrt der alte Baum.

"Das bin ich, der junge Bär", erklärte ihr Woi, "und das andere ist, weil ich jetzt ein Wappen habe!"

Wem träumt, wem schweigt ihr, Fluss, Nacht und Baum?
Schloss nicht ein Käuzchen
schrie der Blumen Herz?
Wem hält der schwarze Mond den Sternen­schirm?
Stand nicht der Vater
rief am Windeweg?

'Hmm', dachte Woi, 'ein bißchen dick das.'
Aber er war entschlossen, jeden Zweifel nieder­zutreten: "Du glaubst nicht, dass ich das Gedicht geschrie­ben habe? Stimmt's!? Also gut, ich schwöre einen großen Fürsten­schwur, dass dieses Gedicht mit der Tinte meines Pinsels ge­schrieben wurde. Das schwö­re ich! So was fällt mir eben ein, wenn ich nachts nicht schlafen kann. Mir ist selbst ein bißchen ko­misch dabei - gebe ich ja zu."
Ihscha lächel­te. Woi stellte fest, dass sie die einzige war, die Gedanken weglä­cheln konn­te. Was er sagen wollte, hatte er ver­gessen.
"Wer dies geschrieben hat, Woi", sagte Ihscha, "dessen Herz ist eine In­sel, von der grauen See um­tobt. So heißt es in einem Lied. Wer dies ge­schrie­ben hat, der sollte mehr schreiben als nur dies, Woi."
Durch ein feierliches Fürstennicken gab Woi zu verste­hen, dass er ihren Rat in Erwägung ziehen werde. Doch dann rückten ihre Augen soweit in die seinen vor, dass ihm das Lügen zu­viel wurde.
"Das Gedicht, das ich dir gegeben habe, ist von der Li, nicht von mir", gestand Woi. "Ich kann so etwas nicht. Ich wollte nur mein Versprechen halten."
"Habe ich also nichts von dir bekommen ..." stellte sie leise fest.
"Nein", sagte Woi, fühlte sich aber trotzdem sehr er­leichtert. Nun konnte ihm ihr Lächeln nichts anhaben. Er blickte fest zurück, bis sie die Augen nie­derschlug.
"Habe ich noch einen Wunsch ...?", fragte sie.
"Ich gebe zu, das Gedicht zählt wirklich nicht. Du hast einen Wunsch frei." Woi verbeugte sich mit durchgestreck­tem Rücken, was dem Versprechen eines Fürsten gleichkam.
"Nicht wahr, du bist jetzt ein Mann! Ich wünsche mir von dir die ersten Trä­nen, die du weinst. Sie sollen mir gehören." Sie sah besorgt drein, als sei ihr der Wunsch von großer Wichtig­keit.
"Ich weine nie", sagte Woi. "Und wenn ich ein Mann bin, dann überhaupt schon nicht."
"In deinem Traum werde ich zu dir kommen. Du wirst sehen, ich bekomme deine Tränen."
Sie legte ihm die Hand sanft auf die Lip­pen: "Sag nichts mehr. Du gibst mir die Tränen, und ich mache dich glück­lich, wo du mich trau­rig machst. Du darfst aber nie­man­dem davon erzählen!"
Durch eine zweite rückensteife Verbeugung gab Woi zu verstehen, dass sie sich auf ihn verlassen konnte. Außer­dem kam er sich sehr er­wachsen vor.
Als sie sich bückte, um ihre Schuhe an­zustreifen, be­trach­te­te Woi ihre Haare, die wirklich sehr lang und sehr schön waren. Beim Aufstehen berührte Ihscha mit dem Arm die Eiskranzpflanze, deren Bündel­lich­ter wie wild über ihr ausein­anderst­oben.

Chapter 28. Hochzeitsvorbereitung

Am Nachmittag hatte der Fürst einen kurzen Schlaf gehal­ten und war in seinem Traum ein junger Mann gewe­sen, der nichts als einen Schurz trug. Mit feuchter Nase hatte ein Hund zu schnuppern versucht. Dem Hund boxte er kräftig auf die Nase und verscheuchte ihn winselnd. Die kräf­ti­gen Mus­keln des Für­sten hat­ten schön in der Sonne ge­glänzt.
So jung er gewesen war, so alt und fett­schwartig häss­lich war leider die Braut. Es war ihm nicht gelungen, sie mit all seinen schönen Muskeln hochzuheben. An den Fingern wuchsen ihr lange, gelbe Nägel, als sei sie schon eine Weile tot. Als erstes hatte sie ihm seinen Bogen abgenom­men. Dann schimpf­te sie so laut über seine Nackt­heit, dass sich die Sonne verdunkel­te. In sei­nem Traum war er losge­rannt und hatte sich in einen See ge­stürzt, mit einem Riesensprung. Er schwamm, und es war trotzdem sehr ruhig gewesen und voller Licht. Es gelang ihm sogar, sich im Schwimmen auf den Rücken zu drehen. Dann war er aufge­wacht, weil er aus dem Bett gefallen war.
Ein Diener war hereingestürzt gekommen, und die Maler waren hinter ihm durch die offene Tür hereingetreten. Zwei von ihnen, gleichgültig und gehorsam wie Soldaten, trugen das Bild herein. Der blasse Hauptmaler wies sie umher, weil er mit keinem Ort für das Vorführen des Bildes zu­frieden sein konnte. Schließlich kamen sie direkt vor dem Bett zu stehen.
Der Fürst hatte begonnen, das Gemalte zu betrach­ten. Wie in sei­nem Traum war er auf dem Bild um vieles jünger als in Wirk­lich­keit.
"Aber sehe ich wirklich so jung aus?" fragte er den Hauptmaler.
Nachdem dieser den Fürsten im Bett gründlich mit dem Fürsten auf dem Bild verglichen hatte, sagte er: "Doch das sind sie! Wir malen nur, wie wir es se­hen. Wir sind be­rühmte Maler und kom­men von weit her."
Der Fürst war sehr zufrieden mit ihnen. Vielleicht soll­te er sich selbst einmal so sehen. Wenn er sich jung fühl­te, dann sahen ihn auch die anderen jung. Dies war eine schöne und eine kluge Sicht.
Es waren ehr­li­che Gesellen, und sie hatten das alles sehr schön gestal­tet. "Was mache ich da?" fragte der Fürst.
Der Maler antwortete: "Ein Bauer hat sie gebeten, sein Kind zu heilen. Sie weisen ihren Be­amten an, was er zu tun hat. Dort ist die Kuh des Bauern. Sehen sie das Tier? Es ist eine Kuh. Die Frau des Bauern ist dort und trägt Was­ser. Das kranke Kind ist wieder ge­sund. Se­hen sie es in dem Fenster?!"
Der Fürst erkannte im Fenster ein Ge­sicht, das ihn glück­lich ansah. Er wäre gerne Arzt ge­wor­den. Aber als Fürst hatte er sich nichts aussuchen können.
"Ich wäre gerne Arzt gewor­den." sagte er, worauf sich der Maler ver­beugte.
"Ach", sagte der Fürst und zeigte, "und dort kämpfe ich mit meinen drei Freunden. Ja, mei­ne drei Freunde, wie gern ich euch wiedersehe! ... Wo sind denn die Fein­de? Es sind keine da!"
Der Maler blickte sich nach seinen beiden Soldaten um, aber diese legten nur ihre Köpfe schräg und sahen jeder zu einer ande­ren Sei­te auf den Boden.
"Der gnädige Herr Fürst ist wegen seiner Tapferkeit doch so bekannt", erklärte der Maler schließlich, "... so­zu­sa­gen, sie haben sich nicht ge­traut zu kämpfen ... sind hin­ter dem Berg ... sozusa­gen glei­cher­wegs geflo­hen. Das war ja auch sehr klug von ih­nen, nicht wahr."
Der Fürst nickte. Ja, denen wäre es schlecht ergan­gen im Kampf ge­gen seine drei Freunde und ihn, ganz si­cher­lich schlecht er­gangen! Er machte eine tiefe Verbeugung. Der Maler und die beiden Soldaten betrach­teten erleichtert ihren Berg.
"Und dort vor der Stadt, was mache ich da?"
"Der aller­gnädigste Herr Fürst zieht mit seiner Braut in die Stadt ein. Sehen sie die Menschen, wie sie sich freu­en!"
Der Fürst mochte den Maler und sein Bild, aber eine Fra­ge blieb: "Wo ist denn die Braut? Ich sehe keine Braut. Ist sie auch geflohen, wie die Feinde? Haha, Hahaha, ha!"
Alle drei lach­ten. Das war ein trefflicher Scherz! Der Fürst lachte sehr laut. Die drei Maler hörten erst mit dem Lachen auf, als auch der Fürst nicht mehr lachte.
"Nein, nein, Herr Fürst, sehr gut, nein, sehr lu­stig", sag­te der Maler, wischte sich eine Träne von Wange ab und ein wenig Schweiß von der Stirn, "die Braut - wir ha­ben die Stelle freilassen müssen - sehen sie, hier kommt sie hin. Ein Blick würde genügen ... unverzüglich gehen wir ans Werk, wenn wir sie erst gesehen haben ... Dann wird alles ganz aus­ge­zeichnet wunder­voll, nicht wahr!" Die Köpfe der Soldaten nickten, und der Hauptmaler schwitzte über seinen verwirbelten Au­gen­brauen.
Es war dem Fürsten nicht Ernst gewesen mit seiner Bemer­kung! Wie konnten sie nur an­nehmen, dass er ihnen einen Vorwurf machen wollte! Er entließ sie gnädig und gab dem Diener Anweisung, sich um ihr körperliches Wohl zu küm­mern. Sie waren gute Men­schen und kundige Handwerker. Vortreff­lich würde das Bild werden. Und sie hat­ten bereits eine sehr gute Arbeit geleistet.
Draußen hörte er einen Hofdiener mit schnellen Schritten heraneilen, der so schnell in das Zimmer hineinlief, dass der Fürst Angst hatte, er könne in das Bild hineinrennen, das die Nebenmaler hinaustrugen.
"Mein Herr, mein Herr", rief er und war völlig außer Atem, "da sind zwei Gesandte. Da sind sie! Gleich hinter mir her sind sie gekommen, ohne dass ich sie anmelden kann!"
Der Fürst sagte ihm, dass er ihm keinen Vorwurf mache und ging, im Nachtkleid, wie er war, den eiligen Herren Gesandten entgegen.
"Kommen sie, meine Herren", sprach der Fürst sie an, "wir sind hier mitten in den Vorbereitungen. Es gibt soviel zu tun. Ich muss nach allem sehen. Nicht das Klein­ste soll ver­ges­sen sein."
Die zwei Herren trugen schwarze Mäntel. Wie sie stellte sich der Fürst seine Feinde auf dem Bild vor, bevor sie geflohen waren. Er würde den Ma­lern auf­tragen, nach dem Aus­sehen der beiden Gesandten seine Feinde zu ma­len. Trotzdem sie in der Flucht begriffen waren, mussten sie furcht­erregend aussehen - ihre Schwer­ter, die ihnen aus den Händen ge­schlagen waren, die zersplitterten Spit­zen der Speere. Ihre Mäntel würden wehen, weil sie es so ei­lig hat­te. Er musste sich daran erinnern, noch ein­mal mit den Ma­lern dar­über zu sprechen.
Der Fürst geleitete seinen Besuch in den anderen Teil des Zimmers. Dort unter dem großen Fenster stand ein ei­serner Tisch, und sie konnten sich zu einem Gespräch nie­dersetzen. Der Ge­sandte stellte sich und seinen Sohn Frie­de vor, welcher - wenn es der Fürst erlaube - dabei sein wolle, um den Dienst des Gesandten zu lernen.
Der Vater trug eine schwere Goldkette mit dem Wappen der Familie seiner zukünfti­gen Braut. Ein Glotzaugenfisch lag auf drei Wellen und hatte ein Maul, das den Fürsten an eine Muschel erin­nerte.
"Wir kommen im Namen des Fürsten", sagte der Gesandte und sah ihn mit seinen und den Augen des Sohnes an. "Ich sehe, sie haben schon mit den Vorbereitungen begonnen, was uns anzeigt, dass wir gerade recht gekommen sind."
Der Fürst sagte nichts. Er sah den Sohn an, der sofort zu seinem Vater blickte. Der Gesandte legte seine Hand auf den Tisch. Nichts lag auf dem Tisch als dieser breite, selbst­gewiss behaarte Vaterhandrücken.
"Unsere Vorbereitungen sind so weit NICHT gedie­hen, lässt ihnen unser Herr ausrichten. Er spricht von Stufen und von der untersten, sie verstehen!?"
Vier Augen sahen den Fürsten ausdruckslos an. Dieser schüt­telte den Kopf, als habe er nicht verstanden. Der Gesandte über­legte, ob er noch deutlicher werden durfte, aber der Fürst kam ihm zuvor, indem er ihnen, ohne auf­zublicken, mit einer müden Handbewegung bedeutete, dass sie entlassen waren.
Die zwei Gesandten waren lange fort, als der Fürst wieder hoch­sah. Er saß träumend an dem Tisch, gegenüber nun seine drei Freun­de. Kei­ner von ihnen wusste, wer beginnen soll­te. Sie sahen einan­der aus vie­len Er­inne­rungen heraus an. Ein wenig traurig waren sie alle, aber ihre Freund­schaft war von größerem Wert.
Er hat­te sie eingela­den, und sie waren ge­kommen. Da gab es keinen Grund, traurig zu sein! Sie würden sich soviel erzählen kön­nen.
Vier Gläser funkelnder roter Wein standen vor ihnen. Damit er­hob sich Kendir und sagte: "Wir trinken auf dein Wohl, Fürst. Wir trinken auf deine Gesundheit und das Glück dei­ner jungen Frau."
Der Fürst bedankte sich reihum. Er ging zu jedem von ih­nen und schloss ihn in die Arme. Besonders Kendir, dem er für seine schöne Rede dankte. Sie hoben die Gläser und sa­hen sich in die Augen. Der Tag neigt sich dem Ende zu, war seiner selbst über­drüssig geworden, gerade die rechte Zeit, gut gereifte Flaschen und alte Ge­schich­ten zu ent­kor­ken.
Tenkho er­zählt, wie sie zu zweit auf einem Pferd gerit­ten waren, weil eines gelahmt hatte und den Wölfen über­lassen werden musste. Von Tenkho kannte niemand die Her­kunft. Er hatte sich zu ihnen gesellt, weil sie einen gemeinsamen Weg hatten und war geblieben.
Nell lächelt glücklich. Er war der Tapferste von ihnen und sagt nicht viel. Seine Gesichtshaut war ledern, seine Augen schmal und listig. Er war viel draußen und kannte die Natur. Überall fand er seinen Weg. Er war es, der jagte, damit sie zu essen hatten.
Kendir lachte und rief: "Wir wollten vor eurer jun­gen Frau davon nicht sprechen. Aber da ich sie nicht sehe, sei es schnell gesagt ..." Er machte eine Pause und hieb mit der flachen Hand auf den Tisch: "Wisst ihr noch, wie lang es ihn bei den Damen hielt. Als Letzter kam der Fürst an die Reihe und hatte nie genug. Da waren wir schon betrun­ken, da wechsel­te er zum dritten Mal das Pferd."
Die Freunde kamen und schlugen ihm auf die Schul­ter. Ganz wie früher erzählten und lachten und tranken sie bis in den frühen Morgen. Er dankte ihnen, dass sie die Zeit gefunden hatten, seiner Einladung zu folgen, und war schon an­ständig betrunken, als er ins Bett fiel.

Chapter 29. Woi träumt von Ihscha

Im Trakt der Küchen sang jemand ein Lied. Der Koch hatte wieder getrunken. Auf schwankender Wande­rung beglei­tete ihn das Licht seiner Kerze. Er wie der Mond fanden keinen Schlaf, weil sie dasselbe Heimweh hat­ten.
Auf dem Feld hatte ein Tier einen Fang gemacht. Zwei Schreie versanken in der Stille. Ein Vogel rief. Ein zweiter antwortete von dort, wo sich die Bäume als schwar­ze Schat­ten gegen die helle Nacht ab­zeichneten.
Ein Soldat ging über den Hof zum Tor und drehte das stumpfe Ende sei­nes Spießes auf dem Pflaster. Er mochte den Vollmond nicht. Eine Wache in dunkler Nacht war ihm lieber. Wenn das Licht wie heute schien, wurde das Dunkle fast schwarz. Fing einer es richtig an, dann konnte er sich un­sichtbar machen.
Wieder hörte er dieses Geräusch. Nun war es ganz nah. Seide, die über nackte Haut strich. Geschmeide. Getanz­te Schritte. E­in Duft, flüchtig und schwer. Es musste eine Frau sein! Aber er sah nur den hell beschienen Hof. An sei­ner Seite im völligen Dunkel musste sie vor­bei­ge­glitten sein.
Sein Kamerad kam von der Runde um die äußere Mauer und schritt im Kies auf ihn zu. Er hatte den Kopf gesenkt und schlürfte mit Füs­sen und Blicken gleichermaßen unachtsam.
"Hier ist eine Frau vorbeigekommen, gerade eben", sagte der Soldat. "Hast du sie gesehen?"
"Nein, ich habe niemanden gesehen" antwortete sein Ka­merad. "Wie sah sie denn aus?"
"Ich habe sie nicht gesehen", kam die Antwort. "Ich habe sie gehört und gerochen. Ich bin sicher, es war eine Frau. Sie muss hier vorbeigegangen sein."
Sein Kamerad sah ihn nachdenklich an: "Willst du wirk­lich, dass ich Meldung mache?"
Der Soldat drehte den Spieß in seiner Hand. "Ich weiß nicht recht."
"Willst du, dass ich Meldung mache über einen Kameraden, der unsichtbare Frauen riechen kann?"
"Ach, Idiot, laß gut sein ..."
Die Eingangstür bewegte sich, dass eine schlanke Person hindurchschlüpfen konnte. Sie blieb einen Spalt offen, weil der Mond einen Fuß dazwischen gesetzt hatte, um auch in den Gang zu treten.
Das zottelige Licht einer schwankend gehaltenen Kerze überraschte den Scheuen und suchte ihn mit öligen Fingern zu fassen. Der Koch kam aus der Tür seiner Küche. Sein Gesicht war aufge­dunsen, wie verformt.
"Ich riechdich, ich hördich, kenn dich wohl, was von für einer Sorte du bist. DuNutte kommher. Bist du eine von die Schwe­stern, die man bitten muss? Was denkst du, dass du besser bist als unsereinem? Nix als eine Nut­te bi­st du, nix als für 3 Scheissgroschen eine zu haben!"
Sein Gesicht schwankte zwei Schritte in die Dunkelheit hin­ein. "Hier, kommher, der Koch zeigt dir sein Männ­chen! Kommst du mit, trinken wir was? ... ich riech dich ... bi­st eine vonne Seidendamen, he?!"
Die Licht der Kerze verlosch, und der Mond suchte ei­ligst zu entkommen. "Was ist'n mit mein'm Licht los ... ist ja nie­mand da ... nee, keiner dort ... da nix ... was ist'n, wo ver­steckt die sich? ... Nee, mein lieber Koch, bist besof­fen und wie ein Faß voll ... gehst du besser auf dein Zimmer und dann die kleinen Äuglein zu ... Zu so einem wie ich bin kommen die so fein sind nur in seim Traum!"
Auf seinem Weg, der ihn den Gang entlangführte, von einer Sei­te zur anderen kreuzend, sang er ein trauriges Lied, bei dem sich gefühl­voll ein Dauer­hicksen untergehakt hielt.
In den Gang war die Stille zurückgekehrt. Die grünen Augen einer Katze schlichen die Wand entlang. Vorhänge wurden von einem nachtwachen Luftzug bewegt. Ein Duft schwebte durch den Raum. Wurde zum Bild. Der Duft von Ro­sen, die in der Hand zer­rie­ben wur­den. In den kleiner werden­den Sicheln der Kat­zenaugen lag das Grün noch eine Weile wach.
Hatte Woi sich bewegt? Er war unruhig geworden, schlief aber fest. Etwas war in seinen Traum hin­eingeweht. Schat­ten formten Ihschas Gesicht. Leuchtsamen, die von ei­nem Eis­kranz auf­flo­gen. Ein Lä­cheln ohne Lip­pen. 'Fee, dein schwarzes Haar ...' Blinder Blick des Träumen­den. 'Ver­sprechen, das ich dir gab ...'
Aus der Stille erforschte ein Atem den Raum, dem Zö­gern entglitten. In schwarzen Augen ertrank der Mond, auf wei­ßer Haut sein Todgedicht. Mitgebrachte Schatten suchten sich zum Schau­en ihren Platz.
"Dein Traum ruft meinen Namen, Geliebter", flüsterte Ih­scha. "Satt an sich selbst wird kein Ver­langen. Was im Schlaf geschieht, ist nichts, als was der Schlaf dir gibt."
"Ihscha, bist du es wirklich?", flüsterte Woi, und seine Hand suchte einen Weg aus dem Traum heraus.
"Die Wachen sind sich uneins, ob ich wirklich bin - der Koch war zu betrunken."
"Was redest du? Von Wachen und von welchen Leuten? Ich ver­stehe nicht!" Unruhig wälzte sich Woi. Der Zweifel hat­te ein Gitter auf seine Stirn gesetzt.
"Still, sei ruhig, trau nur mir und dir."
Bruch aus einer alten Weise glättete Woi die Stirn. War fort, eh die Erinnerung sie festhalten konnte.
"Versprachst du mir am Tage nicht deine ersten Trä­nen? Nun bin ich da, sie mir zu holen!"
"Ja, ich gab mein Wort, schenk sie dir und was du willst!"
"Keine Frau wirst du lieben wie mich? Sag es!"
"Niemals eine wie dich!"
"Keiner Stunde wirst du einen anderen Namen geben als meinen?"
"Keine Stunde, die dich vergisst!"
"In allen Küssen wirst du nach mir verlangen? Aus den schönsten Augen sieht nur Ihscha dich an?"
"Alles nur Bild von deinem Bild!"
"So nah dem Himmel darf nie mehr ein Verlangen sein!?
"Das kann nicht sein, und ich versprech' es dir!"
"Wie ertrüge das Herz je wieder eine solche Liebe!?"
"Es sei dem Tod geweiht, wenn es dir untreu wird!"
"Dann, zum Lohn, sei mein Geliebter, und hör die alte Weise aus keinem als meinem Mund. Höre, so höre die Weise der Jungen: 'Fern, wie fern ist der Steg - Taub, wie taub ist der Sturm!' Löse das Band und den Gurt. Un­term Sei­den­blü­tenre­gen fin­dest du so weich ein Kleid wie keins. Höre, so höre die Weise der Alten: 'Schwarz, wie schwarz ist das Meer - Weiß, wie weiß ist der Tod!' Nimm den Weg, die glü­hen­de Spur auf mei­ner Haut wie Schnee. Geh ihnen nach, den Stimmen, den flü­sternden, zu ge­heimem Ort. Leg auf den einzigen Pfeil. Spann den Bo­gen des Rückens. Zit­ter und halt. Zerreiß im Ziel. Sirrend die See­le im end­losen Flug der Tränen. Nimm mein für dein Herz. Dem Ver­gessen, der bre­chenden Welle, will Ih­scha gestehen, dass sie sich Kost­bares nahm, Un­schätz­bares, den Schlüssel zum Al­tar und zum Atem deiner Vä­ter. Ewig sei ihre Schuld und nie­mals ver­ges­sen."
Woi atmete schwer, als kämpfe er darum, sprechen zu kön­nen. Auf seinem Bauch lag angewinkelt der rechte Arm, der linke ausgehebelt unter seinem Rücken. Der Schlaf häufte Ge­wichte auf seine Brust, sprach Verwor­renes aus, gab Ver­sunkenes preis und zog ihm mit Ih­schas Hand und Duft das Laken über die Schul­ter.
Acht­los wurde Seide zum Kleid, und jeder der Schat­ten ver­leug­nete sich vor der Gier. Der Boden war kalt und zählt der Frau die Schritte nach, dass keiner ihm übrig blieb.
Dem Soldat, der beim Küchentrakt stand, war es erneut, als gleite eine Frau ge­räusch­los an ihm vorbei. Ein süß­licher, blu­miger Duft streifte ihn und ver­schwand im Haus.

Chapter 30. Der Fürst bei Mama Ho

"Kommt und begrüßt sie, lieber Hofmarschall!", rief der Fürst. "Habt teil an meiner Freude, meine drei Freunde end­lich bei mir zu sehen! Schaut sie euch an! Dieser da ist Tenk­ho, und grim­mig schaut er aus. Kendir ist ein Mei­ster der Fechtkunst, und Nell kenn ich nicht min­der tap­fer. Seht sie euch an!"
Der Hofmarschall krümmte sich wie ein Fragezeichen. Aus sicherer Entfernung beobachteten die Diener, ob der Hof­marschall sich vor dem Hirnbild des Fürsten zum Gehor­sam anschickte.
"Ja, wo sind denn die Ma­ler? Ich will eine Antwort! Wo sind die Maler?", rief der Fürst erzürnt.
"Oh, Fürst, die Maler sind ... Sie waren am Anfang so zuver­sichtlich ... Es fehlte ja nicht viel ... ließe sich da nicht warte? ... Wäre es nach uns gegangen, sie wären geblieben!"
"Was stammelst du für Zeug? Sag ihnen, den Herren Ma­lern, wenn nicht alles morgen prächtig fertig ist, dann sollen sie keinen Lohn bekommen, nicht einmal Proviant für ihre Rei­se! Pack dir die Maler, sag ihnen, dass sie meine Freun­de zu malen haben! Ich will sie auf dem Bild sehen. An meiner Seite sollen sie gegen die Feinde im fliehenden Mantel kämpfen."
Seine drei Freunde waren hungrig und durstig von der Reise. Nicht sich, noch die Pferde hatten sie geschont. Bei allem Staub auf ihren Ge­wändern, sah man doch gleich ihre edle Haltung und hohe Geburt.
"Hei, Diener", rief der Fürst, "so kommt her und zeigt meinen Freunden ihre Zimmer. Ja, was guckt ihr so blöd? Die be­sten Zimmer! Was gibt es zu gaffen? Dass mir keiner un­freundlich wird, ein böses Wort und ich schicke euch auf die Felder. Was!? Ihr wollt ih­nen die Sachen nicht abneh­men!? Nicht so faul! Kommt her, ihr ande­ren! Was steht ihr da? Helft und fasst zu!"
Ja, musste er ihnen denn alles zei­gen!? Da, den Sack dort auch! Ja, der gehört Tenkho. ­Vor­sicht da­mit, die Sa­chen für die Jagd! Nein, das Schwert lässt Nell nicht aus der Hand. Aber das dort auf das Zimmer, es gehörte Ken­dir! Zor­nig war der Fürst mit den Dienern, trat ihnen in die Hacken, dass sie sich schneller bewegten.
"Geht euch nichts an, was drin ist!", rief der Fürst, als sie die Sachen genommen hatten und glotzend stan­den und hineinsahen. "Tragt sie nur hoch! Und das mir keiner aus Neugier die Nase hineinsteckt!"
Er kniff den drei Freunden ein Äuglein: "Ihr müsst sie verstehen. Was haben sie schon vor­bereiten können? Nicht einmal ich hatte euch erwartet! Ken­dir, Nell, Tenk­ho, treibt sie an die Faulen, dass sie das Springen lernen! Ich lasse draußen frische Perde sat­teln. Soll al­les wie früher sein! Wir rei­ten in die Stadt. Zur Hoch­zeit haben wir euch geladen. Sie gehört der Braut mit al­lem Recht, aber heute die Nacht gehört den Mädchen, den leich­ten, den fe­der­leichten!"
Endlich scheuchte auch der Hofmarschall die Die­ner, die immer noch standen und die Augen aufsperrten. Wenn es des Fürsten Wille war, seine drei Freunde zu bewirten, dann hatten sie ihr Bestmöglichstes zu geben und sich die­nend, nicht fragend zu kümmern.
"Was ist mit dem Mahl? Ist es auch für vier zu rich­ten?" frag­te der Hofmarschall.
"Ja, was wohl? Der Dumme fragt, ob wir zu Tische ge­hen!" rief der Fürst. "Da hörst du die Antwort, Hofmar­schall: Spät wird's werden. Mit dem frühen Morgen sitzt wohl ein vierter Gast am Tisch!"
Vier der besten Pferde hatte er schnell ausgewählt. Ihre Reiter ließen sich nicht lange in die Sättel bitten. Ei­nen Gruß noch den Wa­chen, die ihnen verdutzt hinterhersa­hen. Hatten wohl gedacht, die drei Freunde würden sich nach lan­gem Ritt in fauler Art zu Ruhe legen!
Sie ritten wie früher dicht auf dicht, einem Gespann gleichend, hin­tereinander her. Waren jene dort nicht die Maler, die er­schreckt zur Seite tra­ten?
Der Fürst rief nach hinten: "Das waren die Maler, Nell! Sollen wir nicht anhalten, dass sie euch malen kön­nen?"
"Soll ich die Damen für ein paar Maler warten lassen. HAHA!" rief Nell.
"Schon rollt der Schnaps im Faß heran! HA­HO!" kam es von Kednir.
"Die Musik läßt alle Kleider fallen! HOHA!" stimmte Tenk­ho ein.
"HOHO! Die Nacht liegt vor uns wie eine Jungfrau. HOHO!" rief der Fürst und trieb sein Pferd zur Eile an.
Die Maler sahen ihnen noch eine Weile nach, bevor sie ihren Weg fortsetzten. Der Hauptmaler schüttelte den Kopf. Die beiden Nebenmaler rieben sich den Staub aus den Augen.
Gemächlich ritten der Fürst und seine drei Freunde in die Stadt ein. Die Men­schen schauten sich nach den drei scheu­enden Pfer­den um. Ein Betrunkener fasste sich an den Kopf, ver­lor den Halt an einer La­terne und torkelt eine Hauswand entlang in eine Tür, wo er sich niedersetz­te, bis er zet­ternd vertrieben wurde.
In dem Teil der Stadt, der den Tag bereits billig fort­gegeben hatte, in einer Straße, die in ein blindes Ende führte, saß Mama Ho, alterslos und zwei­hun­dert­zehn­pfundig, wie es sich für eine Schutz­pa­tronin gehör­te.
Machte sie ihren Mädchen etwa das Leben schwer!? Gab es nicht genug zu essen und zu trin­ken!? Dann wollte sie auch keine Kla­gen hören!! Froh konn­ten die Mäd­chen sein, dass es nicht mehr so zu­ging wie früher!! Wer da nicht parierte ...! Da la­chten sie nur und sagten: 'Mama Ho, bist ja nicht fett gewor­den, weil es dir schlecht erging!' Ja, was wuss­ten denn die Mädchen! Wenn ihr eure Mama Ho nicht hät­tet, die sie alle kennt: die Schrägen und ­die Schurken, die Schwierigen und die Schlei­cher. Die kennt sie alle, und wer sich nicht an­stän­dig auf­geführt hat im Haus, der kommt ihr nicht wieder rein. Ein an­ständiges Haus war das, jeden­falls, was das Gastliche anging. Es war ein gut ge­führ­tes Haus und war bekannt dafür!
Mama Ho hatte gute Augen. Wie sie auf ihrem Stuhl fest­saß, hätte ein Ankommender denken könne, sie halte die Augen seit langem ge­schlossen. Aber sie sah al­les! Und den Rei­ter, der die Straße herunterkam, mit vier Pfer­den, die mächtig Lärm machten mit ihren Hu­fen, den sah und kannte sie gewiß! War das nicht ...? Ein bißchen ma­ger um den Hals, die Beine nicht mehr die jüngsten, aber die Augen, wie die noch blitzen! ... Das war doch ohne jede Frage und mit keinem Zweifel ... und da rief sie schon: "Mäd­chen, kommt alle her! Mein Fürst, er ist da! Wolltet mir nicht glauben, dass es ihn wirklich gibt - kommt nur, sehr ihn euch an!"
Da hatte sie ihn schon vom Pferd gehoben und hielt ihn gedrückt, dass nichts mehr von ihm zu sehen war.
"Darf ich vorstellen!", rief ihr Lieblingsfürst, als sie ihn in das Haus ­getragen und auf den Tisch gestellt hat­te, damit auch alle Mädchen ihn sehen konn­ten, "meine drei Freunde! Mama Ho kennt sie gut: Nell, den Keinworti­gen, Ked­nir, der euch die schöne Lo immer entführen woll­te, und Tenkho, der mit dem Schwert auf euren Drachen ein­hieb, wenn er be­trun­ken genug war."
Streng sah Mama Ho ihre Mädchen an. Dann schenkte sie ihrem Fürsten einen Blick - kei­nes der Mädchen hätte je­mals gedacht, dass sie solche bei sich ver­steckte - ei­nen trübschweren Lie­bes­blick und rief: "Können alle rein­kom­men, deine Freunde, wenn sie bezahlen. Werd' schon was finden für jeden von ihnen!"
"Ja, so ist sie", krächzte ihr Fürst und sah sich lustig um, "die Mama Ho! Zu­erst die Hand auf und dann den lip­pen­wei­chen, brüsteschaukelnden, arschkreisenden Für­stenritt."
Mama Ho war gerührt. Das passierte ihr nicht oft. Es sollte auch nicht wieder vorkommen. Aber sie war echt und ehrlich gerührt. Zu sehen war von außen natür­lich nichts. Und das war auch gut so, wegen der Mädchen.
"So, Kinder", rief sie, "ihr kümmert euch um die drei Gäste! Ein Besuch, wie wir ihn nicht alle Tage haben!"
Und dann fingen die Mädchen an. Ein bißchen übertrie­ben haben sie es schon. Aber es sollte ja alles echt sein. Ihr kleiner Fürst wollte doch tatsächlich ... Was haben die Mädchen gekreischt! Aber hingekriegt hat die Mama Ho es doch noch, das mit dem Fürstenritt, auch wenn sie ihren Fürsten bei­nah er­drückt hätte. Und hat ihn selbst wieder auf seine Bei­nen stellen müs­sen. Aber bezahlt hat er echt und ehr­lich für vier. Das war eben, was sie den Mädchen im­mer sagte, so­ was gab's nur früher. War wirklich schade drum!

Chapter 31. Woi und die Gesandten

Woi suchte, seinen Stolz zu verbergen. Doch in seinen Augen spiegelte sich der Glanz des Dolches wider. Behutsam legte er ihn vorsichtig auf seine flache Hand, um ihn zu betrachten­. Sein Griff war aus schwarzem Holz ge­arbei­tet, nicht ver­ziert, sondern mit fein gerundeten Ker­ben ver­sehen, damit die Hand ihn sicher fassen konnte. Auch die Scheide war ohne Ver­zierung gearbeitet. Die Klinge war schmal, leicht ge­bo­gen, aber den­noch von unge­heurer Steif­heit. Das war ein Dolch, der nur ein ein­ziges Mal geführt werden musste!
Die zwei Herren tru­gen lange schwarze Mäntel und begeg­neten ihm voller Ach­tung. Sie waren von gleicher Größe und ähnel­ten sie sich in kleinen Dingen der Gesichtszüge so sehr, dass Woi gleich dachte, Va­ter und Sohn vor sich zu haben.
In einem Abstand von gut drei Schrit­ten blieben sie vor Woi stehen, sahen ihn an und warte­ten, dass er et­was sa­gen würde. Der Sohn tat dem Vater alles mit winziger Ver­zöge­rung nach, als sitze er in einem Ruderboot hinter ihm und müsse den Takt des Vordermannes halten.
Woi sagte nichts. Im Spiegel hat­te er geübt, wie ein Fürst zu blic­ken. Er stellte sich vor, ein Kaiser zu sein, dann war es mit dem fürstlichen Blick leichter.
Der Gesandte hatte ihn genau be­obach­tet. Er sah - und es war sein Auf­trag, dies ab­zu­schätzen - dass Warten nicht die Sache die­ses Jungen war. Er würde sich die Macht neh­men, ohne zu zögern. Wie ein Tier auf der Jagd würde er die Beute pac­ken und nicht mehr los­lassen. Das war es, was der Ge­sand­te wissen musste, nichts sonst. Er sah noch etwas: Der Junge schien zu wis­sen, was sie von ihm woll­ten. Es er­schreckte ihn nicht.
"Diesen Dolch habe ich von meinem Vater bekommen", sagte Woi.
Der Gesandte betrachtete ihn mit ehrlicher Bewunde­rung. "Es ist ein wirklich schöner Dolch", sagte er. "Ihr könnt stolz auf ihn sein."
"Ihr wollt zu mir?" Woi blickte fürstlich, aber fragend.
"Wenn ihr euch Zeit für uns nehmt, ein wenig Zeit nur, einen kleinen Aus­ritt vielleicht, dann, so lässt euch unser Herr ausrichten, stände er in eurer Schuld." Der Gesandte hatte mit seinen Worten ge­wartet, damit sich sein Sohn zur Übung eine eigene Wortwahl vorden­ken konnte.
Woi nickte und schob den Dolch unter sein Hemd. "Ja, so wollen wir es machen. Kommt also mit."
Er rief den Dienern zu, dass er die Herren auf ihren Weg bringen wer­de. Viel­leicht komme ihnen der Vater entgegen. Er ließ 'Prinz' von einem Stall­jungen heranführen, und bemerkte zufrieden, dass sie den Wert seines neuen Pferdes wohl richtig einschät­zten.
Sie folgten Woi in ge­mächlichen Schritt mit ihren eige­nen Pfer­den, ritten über eine Wie­se, die hoch im Gras stand, kreuzten den Weg zum Hof noch einmal, und begleite­ten einen kleinen Bach, bis er unter einem spitzen Felsen ver­schwand. Schließlich ritt Woi ihnen vor­aus auf eine Anhöhe zu, die von hohen Sträuchern umstanden war. Von dort lie­ß sich die Umgebung ­gut über­blic­ken.
Der Platz, den Woi ausgesucht hatte, war günstig, weil er nicht einsichtig war. Eine weitere Prüfung des Ortes ergab, dass sie alleine waren. Hier konnten sie unge­stört sit­zen und reden.
Der Gesandte nahm seinem Sohn den Umhang ab. Damit woll­te er ihm bedeuten, dass es mit der Ge­sandt­schaft nun ernst wurde und der Ler­nende sich zurück­zuziehen hatte. Weil der Sohn nicht ver­stand, flüsterte der Vater eine knappe Übersetzung in sein Ohr.
Ei­lig, um die Zeit des Verzu­ges auf­zu­holen, be­gab sich der Sohn zu den Sträu­chern und hielt, angestrengt weg­hörend, Aus­schau.
Auf den Umhang, den der Vater aus­breite­te, war ein silberschuppiger Drache gestickt. Er war drei­fach gekrümmt und riss ein lappiges Maul ohne Zähne auf.
Schweigend saßen sich Woi und der Gesandte gegen­über und sa­hen jeder für sich auf den Boden vor den Füßen des ande­ren. Eine Krähe ließ sich auf einem Ast nieder und ver­drehte lau­schend den Kopf.
Als Jüngerer wollte Woi das Ge­spräch nicht begin­nen. Der Alte wartete, weil genug Zeit war, um die Gedan­ken ein­zusammeln und aus­zulegen.
"Wusstet ihr, dass auf meinem Wappen ein Bär ist?" frag­te Woi, als ihm das Warten zu lang geworden war.
"Ein Bär ist ein wildes Tier", stellte der Gesandte nach­denklich fest. "Ein Drache ist mächtig und alt. Ein Bär ist stark, aber noch sehr jung. Viel­leicht besitzen beide etwas, was dem anderen fehlt."
"Ssst" rief der Sohn ihnen zu. "Da kommt der Fürst. Er reitet allein, führt drei Pferde ... und redet, als säßen Reiter darauf."
Der Vater erhob sich, um sich das Schauspiel zu betrach­ten. Woi konnte sich vor­stel­len, was sie sahen, und blieb sit­zen.
"Kommt her und seht nur!", rief der Gesandte ihm leise zu.
"Das sind seine drei Freunde", erklärte ihnen Woi aus der Entfernung. "Sie wei­chen seit ein paar Tagen nicht mehr von seiner Seite."
"Es sind keine Reiter", flüsterte der Sohn zurück, "nur Pferde, die gesattelt sind."
"Habe ich gesagt, dass es sie wirklich gibt? In seinem Kopf sind sie! Aber die Pferde müssen natürlich echt sein, sonst würde keiner merken, dass er ...", knurrte Woi.
Langsam und nachdenklich kam der Gesandte zurück, setzte sich an seinen Platz und nahm sein Schweigen wieder auf.
"Ein guter Ort, dieser hier, ein gut gewählter Ort!", bemerkte der Jüngere in Wois Richtung, aber der Vater gab ihm durch einen Blick zu verstehen, dass seine Gesand­schaft nicht gestört wurde. Dann setzte er sein Schweigen fort.
"Prinz, sei ruhig!", rief Woi seinem Pferd zu. "Es wird gleich weitergehen!"
"Geradeheraus sei es ge­sagt", beeilte sich der Ge­sandte zu sagen, "wir kamen, um die Hoch­zeit eures Vaters mit der Toch­ter, der jungen Tochter un­se­res Her­ren, seinem ein­zi­gen Kind, ab­zusa­gen. Ihr ver­steht, was ich sagen will?"
Woi nickte. Dies war allen, sogar den Dienern bekannt! Was redeten sie also her­um? Die Drachen waren wahr­scheinlich etwas umständlicher als die Bären.
Wieder schweigend betrachtete der Gesandte ihn und stellte in Gedanken einen Vergleich mit seinem Sohn an. Friede war im selben Alter wie Wo­i. Bei Friede aber wusste je­der, wor­an er war. Ihm war beige­bracht wor­den, zu seinem Wort zu ste­hen, seine Pflicht mit ehr­licher Freude zu er­füllen. Friede wollte wie sein Vater werden. Sein größ­ter Wunsch war gewesen, Seite an Sei­te mit sei­nem Vater eine Reise zu un­ter­neh­men. Dieser Wunsch war in Erfüllung gegangen. Nun würde sich Friede einen neuen Wunsch su­chen.
Wois gute Stimmung war weg. Die beiden Gesandten fingen an, ihn zu ärgern. Der Vatergesandte sah ihn immer so an. Es war nicht zu über­se­hen, dass Wois Vater nicht mehr ganz richtig im Kopf war. Aber hieß das etwa, dass auch Woi ein biß­chen komisch war!?
Der Gesandte dachte immer noch. Woi handelte nach seinen eigenen Re­geln. Und Man­gel an Respekt, wenn nicht gar Ruchlo­sig­keit, waren die Vor­ausset­zung für ihr Vorhaben. Auch wenn ihm Wois Hal­tung zuwi­der war und er seinen Sohn Friede liebte, so war er doch nur Gesandter und musste feststel­len, dass die Sache gün­stig stand.
"Gut", sagte er entschlossen, "kommen wir zur Sache!"
"Toll", sagte Woi, "da weiß ich wenigstens, wofür ich hier sitze."
"Wir kamen", begann der Gesandte, ohne Woi anzusehen, "um die Hochzeit der Tochter unseres Hau­ses, einer jungen, schönen und nicht weniger klugen Dame mit eurem Vater ab­zusa­gen."
Woi nickte. Das war nichts anderes eine völlige Wieder­holung des bereits Gesagten.
"Müssen wir nun darüber reden, warum wir einer Verbin­dung mit eurem Vater ablehnend gegenüberstehen?"
Woi schüttelte den Kopf. Nein, war nicht nötig. Der Anblick des Vaters sprach für sich.
"Wiewohl eine Verbindung unserer beider Fürstenhäuser auf das Höchste wünschenswert wäre. Ich erwähne nur die vorhandene Nachbarschaft, politische In­teressen ... Es liegt auf der Hand für uns. Auch der Kaiser hat uns ermu­tigt, sogar gedrängt -"
"- weiß ich", unterbrach ihn Woi, "denen am Hof sind wir einfach zu klein!"
Der Gesandte krauste die Stirn über solche Forschheit, aber er setzte fort: "Wenn ihr dem Gedan­ken nahetreten könntet, eine Verbin­dung einzugehen. Der Altersunter­schied wäre gering. Braucht eine Beziehung nicht mancher­lei Dinge, um zu ge­deihen? Reife und Ungestüm, Bedacht und Fri­sche, gingen diese nicht gut zusammen? Ihr wisst, was ich sagen will?"
Woi dachte nicht daran, etwas zu wissen. Wirklich schön war die Natur heute! 'Prinz' hatte sich beruhigt, zupfte Blät­ter vom Baum und ärgerte damit die Krähe.
"Ein Problem wäre da noch ...",ließ der Gesandte sich wie­der vernehmen. "Der Fürst unseres Haus ist alt. Es sieht nicht aus, als wäre ihm ein langes Leben vergönnt. So ist sein Kind also bald, si­cherlich bald, Für­stin un­seres Hauses."
Darauf begann er zu flüstern: "In eurem Fall liegt die Sache ein wenig anders. Euer Vater hat keine Er­krankung, die ihn eigentlich schwächt. Der Fürst kann steinalt wer­den. Hat der Körper nicht eine andere Zeit als der Geist? Starb nicht mancher Sohn lange vor dem Vater? Wie weit ist der Weg vom Erbversprechen zum Erbe? Ihr ver­steht: Wir hät­ten alles zum Festen ein­ge­bracht und wissen nicht, wann sich euer Teil einlösen wird!"
Mit keiner Regung verriet sich Woi. "Schsch, ist gut, Prinz", rief er seinem Pferd zu, das mit den Hufen unge­dul­dig wur­de, "ich bin gleich bei dir!"
Woi stand auf. Weil der Alte sitzen blieb, reichte er ihm die Hände und zog ihn hoch. Unschlüssig und forschend stand der Gesandte ihm gegenüber und wartete auf eine Ant­wort. "Wir wür­den gerne un­serem Herrn etwas sagen können." sagte er ernst, fast nachbohrend.
Woi sah ihn an. Lange sah er ihn an. Erst als der Sohn sich neben den Vater gestellt hatte, begann er zu spre­chen: "Sagt eurem Herrn, wir hätten einen Ausritt ge­macht. Wir wären irgend­wo abge­sessen und hät­ten uns dies schöne Land rings­herum angese­hen. Dann sei Prinz ungeduldig ge­worden und habe mit den Hufen ge­scharrt. Prinz will sich immer bewegen. Es ist nicht gut, wenn er irgendwo abge­stellt wird, und schon gar nicht, wenn es für lang ist. So sagt es eurem Herrn von mir!"
Der Gesandte wollte etwas sagen, aber Woi gebot ihm zu schwei­gen: "Merkt es euch so, wie ich es gesagt ha­be."
Sie bestiegen ihre Pferde. "Wartet! Da ist noch etwas!", rief Woi ihnen nach. "Zu seiner Tochter sprecht von meinem Dolch. Sagt ihr, ich habe sonst nichts, was ich schenken kann, wie sie wohl weiß. Aber immer­hin dieser soll zu einer Heirat ihr gehören. Und denkt, dass ein Dolch nicht ein Dolch, sondern vieles verspricht."
Dar­auf winkte ihnen Woi loszureiten, sprang selbst auf seinen ungeduldigen Prinz und ließ ihn davon­galop­pie­ren. Er sah sich nicht um. Sein Herz pochte wild, weil er mit seinem Dolch auch an Ihscha denken musste.

Chapter 32. Ihscha und Li im Sumpf

"Darf ich ein Stück mit dir gehen, Ihscha?" fragte Li. Lange Zeit war sie der Frau nachgegangen, ohne dass sie bemerkt wor­den wäre.
"Du kennst meinen Namen?" Ihscha war erschrocken, doch als sie sah, dass ein Mädchen sie angesprochen hatte, wurde sie ruhig.
"Ich habe das Gedicht geschrieben, dass Woi dir gege­ben hat. So hat er mir von dir erzählt", machte sich Li be­kannt.
"Ich hoffe, er hat nichts gesagt, wofür ich mich schämen müsste?"
"Er hat über seine neue Ehrlichkeit gespro­chen, über sonst nichts."
Ihscha lächelte traurig, als habe Li etwas Falsches ge­sagt.
"Du verlässt uns doch nicht?", fragte Li.
"Nein, das tue ich nicht", sagte Ihscha. "Am Tage soll mich niemand sehen, aber du hast mich gefunden."
"Die einsamen Stellen liebe ich auch."
"Also darfst du mich ein Stück be­gleiten. Komm, nimm mei­nen Umhang. Ich habe zwei davon. Na, siehst du, er passt dir! Wie eine junge Dame siehst du aus. Und schaust so ernst wie unter einem Schicksal."
Als sie miteinander über den äußeren Garten­weg gingen, sah manch einer ihnen verwundert nach. Ih­scha­s Ge­stalt sahen sie oft in diesem Teil des Gar­tens. Hat­ten sie aber schon ihre Schwester gesehen? Ach, die kleine Li war das! Wie sie ge­wachsen warund wie ernst sie aus­schaute!
"Gehen wir zu dem Teich", schlug Ihscha vor. "Dahinter sind die Sümpfe. Dort kenne ich eine Stel­le, die ich dir zeigen will."
Li folgte gerne, weil sie den Garten nicht mochte. Die Bäume wirkten erdacht, nicht gewachsen. Die Blumen schwan­gen nicht mit dem Wind, ihre Farben blieben immer winter­kalt. Nur der Teich war schön. Die kleine Kapelle betrach­tete verliebt ihr kräuselndes Bild, als sei es auf einen Himmelgrund gemalt.
"Wusstest du, dass die Fische hier einen Kreis schwim­men?", fragte Ihscha. "Es ist eine Abwehr gegen Geister und die Wesen, die von den Sümp­fen herüberkom­men."
Li sah den Fischen zu, die weiß und rot langsam dahinglit­ten. Es waren gutgenährte, träge Gesellen, die sich nicht beeilten. Mit Erstaunen sah Li, dass sie dies­selbe runde Bahn nicht verließen.
"Die Gärtner fertigen feine Drahtgestel­le, die unsicht­bar angebracht werden", erklärte Ihscha. "Wie auch immer die Fische wollen: Sie schwimmen in einem Kreis."
"Willst du wirklich in den Sumpf mit mir gehen?", frag­te Li, ängstlich ge­worden wegen solcher Vorkehrungen.
"Sei unbesorgt: Du wirst se­hen, dort sind Pflanzen und Blumen, die mir zei­gen, wo fester Grund ist. Bleibe dicht hinter mir, dann bist du sicher."
Über eine schwankend knarrende Brücke betraten sie den Sumpf. Ein Wind um­streifte den Gar­ten an sei­nen Grenzen, zog eine kreis­runde Bahn, tat es den Fi­schen gleich. Unter einer niedrigen Sonne, die ihr war­mes Rot in den Abend auslaufen ließ, lag drohend der Sumpf.
Einsame Bäu­me zeichneten sich vor dem durchglühten Himmel ab, schwarze, fremdwüchsige Gestalten. Während dieser von einem Fuß auf den ande­ren trat, ge­fiel ein anderer sich in Glieder­starre, wieder einer sammelte mit hängen­den Armen das Flieg­zeug des Sumpfes auf.
"Sieh mal dort, Ihscha!" Li zeigte auf einen Baum, der sei­ne Zweige wie einen runden Hut trug. "So sieht tatsäch­lich das Zeichen für 'Baum' aus. Wie dieser da, wie das Zei­chen für 'Pilz' und 'Gift', aber größer."
"Ich wollte, ich könnte auch schreiben", sagte Ihscha.
"Ent­schuldige, ich vergaß" sagte Li leise. "Auch ich habe nur schreiben gelernt, weil ich in Wois Versprechen vor­kam."
Ganz in der Nähe hörten sie einen Vogel, dessen Rufen in Singen über­ging, um dann in einem holzschweren Flöten­laut zu ver­klingen.
"Das war sie", flüsterte Ihscha. "Gleich hörst du das Männchen. Es sind Balzkäuzchen. Sie rufen sich, bis die Sterne herauskommen. Da ist er!"
Li hörte ein Geräusch, als kämpfe ein Husten gegen fest­sitzenden Schleim im Hals. Mehr ein alter Wachhund, der die Kälte in den Knochen hat, als ein balzender Vogel, der sein Weibchen ruft.
"Glaub mir, das war das Männchen", Ihscha lächelte, als sie das ent­täuschte Gesicht von Li sah. "Schau auf deinen Schritte, dies ist der gefährliche Teil. Dort kräuselt sich das Wasser leicht, und gegenüber ist kein Hauch. Dazwischen verläuft unser Weg, der den Morast vom Fluss­lauf trennt."
"Hier würde ich niemals zurückfinden", gestand Li und fasste Ihschas Hand.
"Sei unbesorgt", sagte Ihscha und beschrieb einen weiten Bogen wie eine Herrscherin. Die schweratmige Sonne und der schwüle Atem des Sump­fes hatten ihre weiße Haut jung ge­macht. Nur ihre Au­gen ver­rieten, dass sie eine un­glück­liche Herrscherin war. Sie deutete auf zwei Bäume, die sich zu einem Pavillon zusammengestellt hatten. "Dorthin wollen wir gehen, zu ei­nem Platz, den ich dir zeigen will."
Die Bäume standen mit den Wurzeln im Wasser und sprachen über ihr Spiegelbild gebeugt jeder zu sich selbst. Zwi­schen ihren Stämmen war eine Erhöhung eingerich­tet mit wei­chem Moos zum Sit­zen und Be­trachten der schwim­menden Blu­men, die sich bis auf Armlänge heranwagten.
"Sind sie nicht schön?", sagte Ihscha und schirmte ihre Augen gegen die Sonne ab. "Niemand kann die Nymphenblume verpflanzen oder züchten, die Rose der Sümpfe und wilden Seen."
Auf dem Einband eines Buches hatte Li einmal eine solch schwimmende Blume gese­hen. Als sie darin blättern wollte, hat­te der Onkel es ihr abgenommen und gesagt, es sei kein Buch über Blu­men, wie sie denke.
"Sie werden die Blumen der Sünde genannt", erklär­te Ih­scha. "Nachts blühen sie auf. Silbrig schimmern ihre Blü­ten im Mondlicht. Ein Spiel der Farben, verwir­rend und wun­der­schön, als leuchte aus ihnen die Tiefe des Was­sers."
Der Sumpf hatte begonnen, in allen Farben und Lauten zu sprechen. Die Bäume hatten die Plätze gewechselt. Auf dem Wasser glitten zwei Seerosen und das Mondlicht langsam aufein­ander zu. Raspelnd hielt eine Schar von Wildgän­sen in ihren mon­tonen Rythmus und flog als unscharfes Dreieck einem Stern nach.
"Du bleibst nicht lange", sagte Li leise, dem enteilen­den Flug nachsehend. "Du wirst fortziehen wie die Wild­gän­se, wenn deine Zeit gekommen ist."
Ihscha drohte ihr mit dem Finger. "Weißt du, wofür eine Wildgans steht - ach, lassen wir das!"
"Ich möchte mit dir reisen wie eine Wildgans. Die flie­gen ja nicht allein."
"Eine Wildgans bedeutet, dass man ein leichtes Mädchen ist, jede Nacht an einem anderen Ort."
"Das macht mir nichts ..."
Ihscha zeigte auf den Teich. "Ich bin wie eine von die­sen Blumen dort. Für die Nacht machen sie sich schön. Hörst du das Sirren in der Luft? Sie singen und locken mit ihren Farben und Tanz jene, die in der Nacht kei­nen Schlaf fin­den ... Willst du keinen Mann und keine Kin­der und dich nie im Schwatze mit den Nachbarinnen finden?"
"Nein", antwortete Li fest, "ich will in die Kaiser­stadt, das will ich bestimmt!"
Ihscha sagte lange Zeit nichts. Die Geräusche der Um­ge­bung wurden leiser. Der herbe Geruch von Nelken und har­zigen Träumen setzte sich gegen die süßlichen Düfte des Abends durch. Ein Frosch be­gann eine Erzählung über einen Bauch­redner.
"Dorthin kann ich dir den Weg nicht zeigen", sagte Ih­scha nach langem Schweigen. "Eine an­dere herrscht dort, Tesla, die Fürstin der Nachtstadt -"
"- gibt es eine Nachtstadt?", unterbrach Li.
"Die Nachtstadt ist eine schwimmende Stadt, die vor dem Kaiser­hof auf den stillen Aus­läufern des Flusses liegt. Stell dir vor: Die Häuser der Mädchen schwimmen auf dem Wasser wie leuch­tende Seerosen, jede in einer an­deren Far­be, damit der Fährmann sie aus­einanderhalten kann!"
"Das würde ich gerne sehen", sagte Li.
"Du bist ein Mädchen, das Lesen und Schreiben kann, nicht eine von uns. Besser für dich ist es, du lernst die Nacht­stadt in einem von deinen Bücher kennen!"
"Ich finde einen Weg, dann eben einen anderen!"
Ihscha wandte sich zur Rückkehr. In ihren Schritten zeigte sich eine Trauer, die sie nicht teilen wollte. Die Schultern woll­ten nicht verraten, wie sehr das Herz schmerzte. Es war Li, als ver­liere Ihscha mit je­dem Schritt eine schimmernde Träne, wie eine Perlen­schnur auf dem unsicht­baren Weg zwi­schen ste­hen­dem und flie­ßenden Wasser, auf dem sie als Lis Füh­rerin ging.
"Hörst du es schnuppern, Ihscha?", fragte Li, um Ihscha aufzuheitern. "Es schnuppert an meinen Füßen und sieht aus wie ein durch­sich­ti­ger kleiner Hund. Ein Gei­sterhündchen ist mir zuge­lau­fen! Jetzt leckt es an meinen Fü­ßen. Na, lass das, Geisterhünd­chen! Das kit­zelt mich."
Ihscha sagte nichts, aber sie hakte sich unter, und so gin­gen sie, als seien sie Freundinnen geworden, den Rest des Weges nebeneinander.

Chapter 33. Woi bei Ihscha mit dem Dolch

Wieder hatte Woi ununterbrochen und vergeblich nach Ihscha gesucht. Der schöne Dolch war nur die Hälfte wert, wenn sie ihn nicht gesehen und berührt hatte! Aber sie war nicht da, hatte sich feenhaft verschwinden lassen, um durch Entzug ih­ren Wert zu erhöhen oder einfach seiner Tor­heit zuzu­se­hen und sich daran zu erfreuen.
Am Abend war Woi in seinem Zimmer angelangt und saß er auf sei­nem Bett. Als er den Dolch aus der Scheide zog, überkam ihn wieder das­sel­be wunderbare Gefühl, ihn besit­zen zu dür­fen, und Mut floss ihm zu.
War Ihscha nicht immer bevorzugt in der Nacht zu ihm ge­kom­men? Hatte er sie beim letzten Mal nicht gegen ihren Wil­len ge­fun­den und zum Gespräch ge­bracht? Er war sich sicher, erst wenn ihre Zeit ge­kommen war, würde Ihscha ihn auf­suchen und sich zei­gen. Eine Fee würde sich nicht zwingen lassen.
Woi überlegte: Wenn er nun bei ihrem Kommen im Schlaf lag, so wie ein steinerner Ritter auf seinem Grab, den Dolch in seinen Händen haltend, dann konnte sie leise her­antreten und würde wohl wissen, was es mit dem kost­ba­ren Stück auf sich hatte und würde Wois Stolz noch in sei­nem fernen Traum bemerken. Unbe­merkt vom Schla­fenden, mit fei­nen Fin­gern durfte sie dar­überstreichen, was er als Besitz im fe­sten Griffe seiner Hand hielt.
Nein, nichts da! Wie hätte er schlafend sicher sein können, dass Ih­scha wirklich zu ihm getre­ten war und dem Dolch ihre Bewunde­rung und Berührung zu­teil gewor­den war?
Als Woi in Gedanken über das Bett strich, hatte er die Lö­sung gefunden: Wenn Ih­scha in sein Zimmer geschli­chen kam, wür­de sie nicht Woi in seinem Bett vor­fin­den, son­dern prächtig her­vortretend und ohne Scham statt­lich sei­nen Dolch, al­lein Wois wunderbar gearbeiteten Dolch, nichts sonst!
Dies beschlossen, war es dennoch nicht einfach, ein Bett glattzustreichen. Woi war unge­übt und musste von ei­ner Seite zur anderen gehen, um das Laken glatt zu ziehen. Schließ­lich war al­les zu seiner Zu­friedenheit gerich­tet. Nur der Dolch lag unver­sorgt in der Mitte. Also nahm Woi ein kleines Kis­sen, versah es in der Mitte mit einer einge­pufften Kerbe und legte den Schaft des Dolches in einer aufstehen­den Lage darauf.
Es war Abend geworden, und Woi zweifelte nicht mehr: Mit der Nacht würde auch Ihscha kommen. Bis dahin konnte er sich auf dem Gang versteckt hal­ten. Wo das Schnitz­bild des Großen Drache ange­bracht war, gab es einen Zwi­schenraum zur Wand, der ihm früher als Ver­steck gedient hatte.
Von dort konnte Woi unbemerkt die Tür seines Zimmers beob­achten. Gewissermaßen sahen seine Augen als Schlund­zäpf­chen aus dem Rachen des Dra­chen heraus. Wenn Ihscha kam, würde er sie un­wei­ger­lich bemerken.
Zwi­schen der feuchten Wand und dem al­ten Holz war das Reich einer Spinne, die mit Beinen die Größe eines Talers hatte. Nachdem sie ihn bewe­gungs­los beobachtet hatte, nahm sie ihre Arbeit wie­der auf. Mit ihren acht Beinen zupfte und knüpfte sie ein unsichtbares Netz.
Im Rücken des Großen Dra­chen ließ es sich aus­halten und abwarten, wie die Dunkelheit ge­mäch­lich die Gän­ge leer­te und die Türen schloss. Irgendwoher hörte Woi eine rauhe Stim­me, die in einer fremden Sprache ein wohl trau­riges Lied sang.
Die Stimme kam näher und begann mit dem Drachen zu spre­chen: "Nu, mein kleines Feu­ermäulchen, warst hof­fent­lich nicht naschen am Koch sein Trösterchen. Ist nicht gut für 'nen Drachen, wenn er trinkt vom Feuer­wässerchen von Va­tern. Da rollen die Augen davon, als wenn sie lose wären, und die Zunge fängt zu reden an und hört nicht auf, als bis der Drache runterfällt."
Der Koch griff unter die Bauch­decke des Dra­chen und suchte nach einer dort verborgenen Blech­kanne, in die er seine abendliche Ration vom besten Tischwein­brand abge­füllt hatte.
"Hi, hi, bist'n Guter, pass­t auf für mich. Wenn ei­ner kommt und an deinem Bauch ­was fummelt, sagst du mit tiefer Stimme: 'Geh mir von meine Geweide weg, das Feu­er ist warm noch in mein'm Bauch! Wehe, wenn wer seine Glut ent­facht, dem sollte lie­ber sein, er wär' in ein'n Kochtopf gefal­len, als dass er zum Rösten in mein Feuer­maul gekommen ist!' ... Ich trink' auf das Wohl von mein'm Freund ... Fuuh, aah, mmmh, da hab'n sie 'ne gute Wahl getrof­fen, Herr von Koch, und recht das Maß so ge­füllt, wie's soll!"
Die Stimme entfernte sich, erhob sich noch einmal schimpfend, nach­dem der Krug zu Bo­den gefal­len war. Dann war es still und eng.
Immer wenn Woi müde zu werden drohte, begann er von neuem, die Kacheln zu zählen. Er kam immer auf eine andere Zahl, aber es hielt ihn wach.
Als er zum vierten Mal gezählt hatte, öffnete sich die Tür. Unhörbar und durchscheinend schwebte Ihscha über den Gang, stand eine Zeit vor der Tür seines Zimmers und horchte hin­ein. Doch sie betrat es nicht, sondern wandte sich stattdes­sen dem Dra­chen zu.
Als Woi glaubte, sie habe ihn ent­deckt, zog sie sich ihr Kleid über den Körper und hatte dar­un­ter nichts, aber auch gar nichts an. Mit dem ge­wichtslosen Stoff, der ihr kaum die Hände füllte, ging sie auf den Drachen zu, ohne die sich weitenden Schlund­zäpfchen bemer­ken zu wol­len. Sorgsam legte sie ihr Kleid über das Maul und den Rachen des Dra­chen.
Was war zu machen? Für Woi war es im Magen des Drachen mit einem Mal finster geworden. Vor Staunen hatte er nicht ge­horcht, ob Ihscha die Tür seines Zimmer geöffnet hatte oder nicht, und war gezwungen zu warten. Aber weil es et­was besonderes mit dem Kleid war, überkam ihn eine die Fee in ihrem Vor­drin­gen schüt­zende Müdigkeit, welche so über­wälti­gend war, dass sich der Traum noch in Wois ge­öffne­te Augen Ein­lass ver­schaffte.
Zum ersten Bild ließ er Ihscha erneut erschei­nen, wie sie sich des Kleides entledigte und das feu­ri­ge Dra­chen­maul ver­häng­te. War das noch Spott oder schon Traum? Im zweiten Bild erst waren sie Ge­schwister, stan­den als nackte Ihscha und nackter Woi Seite an Seite gefasst und sa­hen zu, wie der Dolch sich, rie­senhaft auf­stehend, grell in den nächt­li­chen Him­mel erhob. Als Woi dem Traum folgte - was blieb ihm ande­res übrig! - ver­wan­delte sich der Dolch in eine Li­belle, die in erregten Farben schil­lerte und im­mer grö­ßer wurde, bis sie Mond und Sterne und alles aus der Nacht ver­drängt hatte und den Himmel mit zerber­stender Buntheit aus­füllte. Ih­scha und Woi fas­sten sich fester an den Händen im sie be­drängen­den Schau­en. 'Er wird uns ver­nichten', sagte sie. 'Sieh nur, wie gewal­tig er ist', sag­te er. Als er zu zitternder Weichheit angeschwol­len war, zer­platzt der Dolch und verwandelte sich zum Schwarm klein und kleine­rer Li­bel­len, zu ei­ner Kette von ineinan­der schwim­menden Monde und wurde zu einem kraftlos aus­schlage­nden Ster­nen­schweif.
Schließlich war al­les schwarz und warm, roch nach Holz und Schnaps und nicht mehr nach Traum. Ihscha hatte ihr Kleid vom Drachenmaul abgenommen und ließ es über ihre Nacktheit fallen. Wie­der wei­teten sich die Dra­chen­zäpf­chen. Wieder suchte das Schluc­ken eines Jüng­lings ver­geb­lich Halt in einem Dra­chen­schlund.
Weil er glaubte, sie aus dem Maul des Dra­chen her­aus nur er­schrecken zu können, blieb er still und kauernd Spion. Als ihm einfiel, dass eine Fee, die eines Dra­chen Maul als Kleid­ablage benutzte, sich von sei­nem sprechenden Schlund nicht ängstigen würde, war Ih­scha be­reits ver­schwun­den.
Im Ungewissen über den Verbleib der talergroßen Spinne schäl­te sich Woi aus seinem Versteck heraus. Die Tür zu seinem Zimmer fand er angelehnt vor. Das Bett war zer­wühlt, wo er es glattgestrichen hatte, das Kis­sen zer­drückt, und der Dolch, wo er gelegen hatte, war fort und von Ih­scha ent­wendet!

Chapter 34. Der Fürst und die kleine Kapelle

"Die Freundschaft stelle ich mir als eine Brücke vor, die uns trägt, sichtbar und unsichtbar zugleich, weil sie kein Ende hat", hatte Kend­hir zum Abschied gesagt. So schön war das ge­sagt, so ein­fach seine Weisheit wie die Körner aus des Bauern Hand!
Die Abreise der Freunde lag hinter dem Fürsten. Sein Kopf glich einem Magen, der genug von schwerem Es­sen hatte und sich nun an der Enthaltsam­keit sättigen wollte.
Wenn die Hand, die ihm jeder seiner Freunde auf ihre Treue ge­geben hatte, eine Hand war und alles kein Traum, dann wollte der Fürst sich rein und klaglos einfügen. War er dagegen ein Bauer, dem solches ge­träumt hatte, dann war auch das nicht mehr als ein Trop­fen, der als Re­gen­ auf den Spiegel des Sees auf­schlug, und es war ebenso gut damit.
Dem Fürsten war seine Umgebung auf seltsame Weise unver­traut geworden. Er dachte kichernd, dass nie­mand ah­nen konnte, wie er die Dinge jetzt sah. Wie groß die Halle war und wie leer! Wenn jemand darin sprach, kamen die Worte zu­rück und stießen mit den nach­kommenden zusammen. Sprach jemand zur Decke, dann hielten sich die leichten Worte dort noch fest, während die gewichtigen Worte sich schon auf dem Bo­den in randlosen Lachen gesammelt hatten.
Der Fürst war auf die Tür zugegangen und ste­hen geblie­ben, um an ihr emporzusehen. Sie hatte die Größe von drei Men­schen über­einander. Waren die Menschen frü­her so groß gewesen? Wenn er an seinen Vater dachte, dann sah er einen ebensolchen Riesen vor sich. Der Vater hattte alle Türen mit seinem Körper ausgefüllt, und für seine Stimme war kein Raum groß genug gewesen.
Die Tür zum Garten hatte sich ihm von selbst geöffnet. Der Fürst dachte an den geheimen Ort, wo ihn nie­mand stören würde. Wielange das alles her war! Die Brücke, deren Pfeiler sich vor seinen Kinder­augen im Was­ser­grund aufzulö­sen schienen, die Kapelle, die auf dem Teich zu schwimmen schien: Ob sie noch da wa­ren?
Wie oft war er als kleiner Junge allein über die schmale Brücke gelaufen und hatten hinunter ins Wasser geschaut und sich gefürchtet. Aber auf den Bret­tern hat­ten seine Holz­schuhe ge­klappert wie zu einem Klöp­pel­spiel, und schon war die Angst vergessen.
Wenn dunkle Wolken aufzogen, dann leuchtete das Weiß der Kapelle be­sonders schön. Auf der Teichfläche hatte er beobachtet, wie fest es regne­te. Die Fische kamen mit ihren Mün­dern und probierten vom Regen.
Als der Mann, der die Gartenwege mit einem Holz­kamm glatt­strich, den Für­sten auf sich zu­kommen sah, mach­te er seine Arbeit besonders gewissenhaft.
Der Fürst blieb ohne Strenge vor ihm stehen. "Was machst du da?" fragte er. Ein alter Mann - nicht ein Fürst - war stehengeblie­ben, um ein Schwätzchen zu halten.
"Mir ist aufgetragen, die Wege des Gartens zu kämmen. Also komme ich jeden Morgen und kämme."
"Dann bist du also ein Gärtner", stellte der Fürst fest.
"Ja, das bin ich. Schon mein Vater war Gärtner an eurem Hof. Mein Großvater war sehr stolz darauf. Nun bin auch ich Gärtner geworden."
"Magst du es, Gärtner zu sein?"
Der Gärtner sah den Fürsten ratlos an. So etwas hatte ihn nicht einmal sein Vater gefragt. Der Großvater hatte ihn wohl einmal gefragt, ob er auch Gärtner werden wolle, aber da war er noch ein kleines Kind gewesen und hatte wohl mit dem Kopf genickt. Der Großvater hatte immer Nüsse für ihn gehabt.
"Hättest du nicht lieber etwas anderes gemacht als dein Vater?"
"Ich wäre gern auf Reisen gegangen. Viel­leicht wäre ich sogar über das Meer ge­fahren. Das war mein größ­ter Wunsch."
"Gefällt es dir hier nicht? Sag es ruhig. Ich bin mir selbst nicht sicher, ob es mir gefällt."
" ... also, wenn ich es sagen darf ... ich finde, die Bäume sehen alle gleich aus. Die Blumen werden abge­schni­ten, bevor sie aufgeblüht sind. Fürst, seht ihr ir­gendwo ein Lebewesen, einen Vogel, einen Käfer? Einmal haben wir Gärt­ner sogar den Nebel mit großen Fä­chern ver­trie­ben. Sagt euch das nicht alles, mein Herr?"
"Was du sagtst, will mir einleuchten. Ich werde darüber nachdenken."
"Aber, Herr, sagt nicht, dass es von mir kommt. Ich bin ein unbedeutender Gärtner hier, habe Frau und Kinder, und bin froh, dass ich ein Gärtner sein darf, grad' so, wie mein Vater es war."
Der Fürst versprach es ihm und ging weiter den gekämmten Weg ent­lang, der unter seinen Füßen knirschte. Schließlich zog er die Schuhe aus, um über das Gras zu laufen.
Nicht weit wickelte ein Mann ein weißes Tuch um einen Baum, bis hoch unter dessen erste Äste. Der Fürst nahm ein das Ende des weißen Tuches vom Boden auf und zog es hinter sich her. Leicht rollte es sich aus, denn es folgte ihm ger­ne. Leuch­tend wand es sich auf dem grünen Rasen. Der Fürst stellte sich einen Bach vor, der durch das grüne Land floss, da­hin und dorthin, als sei es ihm freige­stellt, sich einen Weg zu suchen. Als das Band ihm nicht mehr fol­gen konnte, stellte der Fürst seine Schuhe darauf ab.
Er wollte zum Teich gehen. Von wei­tem sah er sei­ne Ka­pelle und auch, dass sie ver­gessen worden war. Ein Band von glänzenden Steinen umgab jetzt den Teich wie eine Grenze. Ein Mann nahm einzelne Steine auf und rieb sie glatt. Er hielt sie ins Licht, ob sie auch rich­tig glän­zen.
"Was ist der Name eures Tuns?" fragte ihn der Fürst.
Der Mann hatte die Frage gehört, schien sie aber nicht zu verstehen. Matt war der Blick seiner Augen, ganz an­ders als die Steine, die er rieb, bis sie glänzten.
"Ich bin der Schann. So nennen mich die Leute hier", sagte er schließlich.
"Das ist euer Name?" Der Mann nickte. "Aber was tut ihr hier?"
"Das mache ich immer schon, das mit den Steinen."
"Ja, aber WARUM macht ihr das mit den Steinen. Warum?"
"Aber das müsst doch ihr wissen, nicht ich, seid doch selbst der Fürst!"
"Ich weiß so wenig von den Steinen wie die Steine von mir."
" ... eeh, wie?"
"Ich meine: Wofür reibst du die Steine, bis sie glän­zen."
"Ich mache es, wie ich es immer mache. Glänzender werden sie nicht, da kann ich reiben, wie ich will!"
Der Fürst erkannte, dass der Mann nur mit seinem Tun beschäf­tigt war und keinen Gedanken übrig hatte für den Sinn seines Tuns. Und er sah, dass er ihn böse machen wür­de mit weite­ren Fragen.
"Ich mache es doch recht?", fragte der Mann, unsicher geworden.
"Ja, ja, natürlich ... und ich will nicht weiter stö­ren", sagte der Fürst.
Der Mann bückte sich wieder zu den Steine. Sie klackten und tickten ge­gen­einan­der. Es klang, als spreche er mit den Steinen, als teile er ihnen mit, was der Fürst ihn gerade ge­fragt hatte. Und weder er noch die Stei­ne wussten etwas damit anzu­fan­gen.
Vorsichtig hatte der Fürst die Brücke über den Teich betreten. Sie schwankte bedenklich. Das Geländer schien ihm sehr niedrig. Dabei hatte er als kleiner Junge kaum darüber sehen können. Leuchtend weiß war die Kapelle in seiner Erinnerung, und nun fand er sie im trübsten Grau. Der Fürst wunderte sich sehr, dass es an sei­nem Hof Men­schen gab, die Bäume ein­kleideten, die Stei­ne auf Glanz rieben, die Gehwege kämmten, aber niemanden, der auch nur einmal nach sei­ner Ka­pelle und ihrem Weiß gese­hen hatte.
Mit einem Mal hatte es zu reg­nen begonnen. Der Fürst ging die letzten klin­genden Höl­zer zu sei­nem Platz, wo er früher ge­sessen hatte. Dort saß jetzt ein Frosch, der ihn lange ansah, bevor er sich erschreckte und fort­sprang.
Der Regen wurde stärker. Dies­selben Fische tauchten au­f und ließen sich die Regentropfen in die Mäuler plit­schen. Es war so wie früher. Als hätte er die ganze Zeit an die­ser Stelle zu dem Regen geses­sen und auf sein Ende ge­wartet. Die Fische schienen nicht be­mer­ken zu wollen, dass aus dem Jungen ein alter Mann geworden war.
Als der Regen aufgehört hatte, war es völ­lig still. Vom Dach tropfte es, und die Fische lagen bewe­gungs­los im Wasser als wie in Gelee. Der alte Mann saß auf seiner Bank, und es mochte einem Betrachter erschei­nen, als sei er trau­rig und weine. Aber es war nur der Regen, der von seinen Haa­ren herunterlief.
"Ein schönes Mädchen bist du geworden, Li. Wenn du nur ein wenig mehr aus dir machen würdest", sagte die Mutter.
Sie war ins Lis Zimmer gekommen, wie sie es sonst nicht tat.
"Ich habe keine anderen Kleider", antwortete Li trotzig "Und es ist mir auch nicht wichtig, wie ich nach außen bin."
"Es sollte dir wichtig sein. Was die jungen Männer von dir sehen ..."
"Ach, lass mich in Ruh von denen!", unterbrach Li ihre Mut­ter rasch, die zu oft von diesen Dingen sprach.
Und die Mutter sagte nichts weiter, winkte ihr aber zu folgen. Sie zog Li in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
"Ich weiß nicht, was ich tue", sagte sie mit zerstreutem Blick, als es geschehen war, und schien bedrückt über die Ver­trautheit zwi­schen ihnen.
"An was denkst du gerade?", fragte Li. Die Mut­ter stand im Raum und sah sich im Spiegel an, als sehe sie eine fremde Person. Langsam kehrte ihr Blick zurück, aber nicht völlig.
"Wir unterscheiden uns nicht mehr in der Größe?", sagte sie und zeigte auf einen Schrank. "Ich bitte dich, Kind, such dir ein Kleid aus."
Um die Mutter freundlich zu stimmen, ging Li hin, öff­nete den Schrank und sah ohne Interesse hinein.
"Hier ist ein Kleid", sagte die Mutter und nahm vor­sichtig eines heraus. "Wäre dies Kleid nicht schön an dir? Ich trug es ... lass sehen ... ach, nicht dieses Kleid, das tue ich weg. Ein anderes, sieh, dieses hier ist schö­ner noch!"
"Was ist mit dem Kleid?", fragte Li, neugierig geworden.
"Nichts, Kind. Was ist schon an einem Kleid?", wehrte die Mutter ab.
"Es gefällt mir sehr!"
"Du weißt Dinge nicht, und ich sollte nicht sprechen", sagte die Mutter leise. Lange und voll Weh sah sie Li in die Augen und wusste schließlich, dass vor dem Kind nichts verborgen geblieben war.
"Ich trug das Kleid für deinen Vater, deshalb wollte ich nicht ... Nimm es in die Hand! Gefällt es dir?"
Das Kleid war schön, aber wie viel schöner war, dass der Blick des Vaters darauf gelegen hatte!
"Ich schenke es dir", sagte die Mutter.
"Aber, Mutter, wie kann ich tragen, was du getragen hast. Das wäre ... als zöge ich einen Kreis um die Zeit."
Die Mutter lächelte. Wie ihre Tochter sie an den eige­nen Mann erinnerte. Wie wichtig sie beide nahmen, was sie mit ihren Worten mach­ten. Ihr Mann hatte einmal gesagt, es sei eine schwere Arbeit, das richti­ge Wort zu finden. Nichts sei ohne die Worte wirk­lich. Ob sie das verstehe? Und sie hatte trotzdem genickt.
"... und wenn er nun käme und mich sähe?", fragte Li, das Kleid unschlüssig in den Händen.
"Li, wie sollte er kommen können? Du denkst Dinge, die nicht sein können. Du machst dich unglücklich, wenn du so denkst."
"Und mache ich mich glücklich, wenn ich es nicht tue?" In Lis Augen glänzten Tränen.
Voller Mitleid sah die Mutter sie an. Es war schwer für Li und würde immer schwerer werden. In ihrem Alter brauch­te die Tochter einen Vater. Vielleicht war es richtig, ihr die Gedan­ken an ihn zu lassen?
"Wir könnten ihm einen Brief schreiben!", rief Li aus. "Du sagst mir die Dinge zum Schreiben. Viel­leicht ... ganz zum Schluss, können wir sagen, dass ich groß bin und den Brief geschrieben habe."
"Dann weißt du nicht alles?", rief die Mutter erschrok­ken. Sie sah das Kleid in Lis Händen und fragte sich, ob es gut war, dem Kind zu viele Dinge zu sagen.
"Ich habe nur Woi, der etwas herausfindet", bemerkte Li bitter. "Aber der bringt alles durcheinander, weil ihm nichts wichtig ist! Der Vater ist doch am Kaiserhof, nicht wahr?"
"Nein, er ist nicht mehr dort", sagte die Mutter be­drückt. Alles würde sie dem Kind nun sagen und nicht entscheiden wollen, ob es gut war.
Sie nahm Lis Hand auf. "Dein Vater war nicht nur ein Schreiber, wie sie dir sagen. Wie hätte er verbannt werden können, wenn er nichts anderes als ein Schreiber war!"
"Aber was hat er getan? Etwas muss es doch gewesen sein!"
"Kind, Kind, die vom Hofe haben nicht darüber gespro­chen, nur das Schreckliche ohne einen Grund gesagt. Es gehöre zu Strafe, sagen sie, dass keiner etwas wisse."
Die Mutter schaute aus dem Fenster und suchte einen neuen Anfang. "Dein Vater besaß eine wunder­schöne Spra­che, weißt du, so weich und fein und fließend wie dein neues Kleid."
"Nein, Mutter, nicht ablenken! Ich will wissen, was ihm geschehen ist." Li hielt ihre Hand fest gedrückt.
"... wie sich seine und deine Schrift gleichen!", sagte nachdenklich die Mutter
Aber Li wollte sich nicht ab­len­ken las­sen. Blickte zornig durch das Lob hindurch.
"Ir­gendet­was geschah dort", sagte die Mutter schließ­lich. "Er muss etwas er­fahren ha­ben, was sehr gefähr­lich war. Dein Vater sei in die Ver­bannung geschickt worden, sagten die vom Hofe uns, umgeben von Sümp­fen, an der Gren­ze zu einem an­deren Land. Kind, mehr weiß ich wirklich nicht!"
Li sah eine Gestalt vor sich, mit einem filzigen Umhang, von Mückenschwärmen umschwirrt. Aber die Gestalt hielt das Gesicht verborgen. Keine Hände, nicht einmal Füße zeigte sie, saß zusamengekauert unter ihrem Schatten.
"Eines Tages, Li, kommt er zu uns zurück. Seien wir froh, dass er lebt und dass wir leben. Er ist ja in unse­ren Gedanken bei uns."
Li schüttelte den Kopf. Das war ja nur ein halber Trost für ihre Mutter. Aber für Li war es gar kein Trost, weil sie ihren Vater nicht einmal kannte.
"Er wird niemals zu uns kommen!", stellte sie fest, als zöge sie einen Kreis um Dinge, die in ihrem Kopf waren. "Dann hat Bea also doch recht!"
"Die Bea ...? Ist das deine neue Freundin, die im Turm beim Fürsten wohnt?"
"Sie hat aus den Winden gelesen, dass mein Vater mich ruft, und ich glaube es ihr!"
"Sie sollte nicht solche Dinge sagen!" Zornig war die Mutter mit einem Mal. "Und du solltest nicht solche Dinge glauben!"
"Ich will das Kleid nicht!", sagte Li trotzig. "Es ist nur eine Erinnerung, die zu nichts nütze ist!"
"So sei doch vernünftig, Li! Es ist unmög­lich, zum Kai­serhof zu gelangen. Wie unmöglich erst, dei­nen Va­ter in der Verbannung zu finden!"
"Das sagt Bea anders!"
"Kind, komm auf andere Gedanken ... die Mädchen in deinem Alter, sieh nur, wie sie sich anziehen und schön tun für die jungen Burschen."
"Das Kleid gib einer anderen, die schön sein möchte. Ich will einen Vater, keinen Mann!"

Chapter 35. Woi als Ritter

Wois Bett war verlassen. Vom Fenster fiel ein Streifen Licht und brach es entzwei. Woi stand Rücken gegen die Wand gelehnt und wartete.
Da war sie im Raum. "Ich weiß, dass du da bist, Ihscha­", sagte er. "Ich brau­che dich nicht zu sehen und doch weiß ich es!"
"Ich kam so leise, weil im Schlaf ich dich glaubte", sagte sie und machte sich sichtbar. Sie trug einen schwar­zen Umhang, an dessen Seite ein wei­ßer Schal bis auf den Boden her­unterfiel.
"Bringst du den Dolch zurück, Ihscha?", fragte Woi streng.
"Ich dachte nicht, dass du ihn gleich zurückverlangen würdest", antwortete Ihscha, ohne Reue zu zeigen. "Wenn es dir recht ist, will ich ihn noch ein wenig behalten."
"Nun ... eigentlich schadet es nicht, wenn er in deinen Händen ist?" Er biss sich auf die Lippen, weil sie so schnell seinen Zorn weggezaubert hatte.
"Du brauchst ihn nicht selbst?", fragte sie zauberspöt­tisch.
"Ich habe ihn versprochen wegen einer Fürstensache und brauche ihn wirklich ... aber nicht jetzt!"
Als er erneut sprechen wollte, legte sie ihm den Fin­ger auf die Lippen und sah ihn traurig an: "Sprich nicht von Tagesdingen. Sag, ist dies nicht auch den Wachenden die Stunde des Träumens?"
Woi musste ihr recht geben. Heute nicht, ein anderes Mal würde er ihr die Sache erklären! Ihscha wusste nun, dass er den Dolch eines Tages vorzei­gen musste. Sie würde ihn sicher­lich mit allem An­stand zurück­geben.
"Schon habe ich mein Anliegen ­ver­ges­sen", sagte Woi leise, "sehe nur, wie schön du bist. An den schlanken Fuß einer Vase er­innert mich dein Schal. Dein Ge­sicht gleicht einer Blü­te darin, die kei­nen Schlaf findet."
"Komm auf den Gang", sagte Ihscha. "Lass uns schauen, ob dort jemand ist."
Er folgte ihr willig, wenn auch verwundert nach. Nicht zum ersten Mal schien es Woi, als fürch­tete sie den Blick der Men­schen bei ihrem Tun. Stand sie als Fee nicht über dem Urteil der Menschen?
Als sie in Deckung schlichen, streifte er mit der Schul­ter den Dra­chen an der Wand und hieß sie anhal­ten. Er griff unter den Bauch des Drachen und holte ein klei­nes Fläschen her­vor.
"Das kleine Geheimnis vom Koch ... Komm, Ihscha, trink mit mir." Sie schüttelte den Kopf, aber er wollte, dass sie trank. Woi nahm selbst drei gro­ße Schluc­ke.
Wie Eindringlinge auf fremden Grund kauerten sie sich an einem Fenstern und sahen auf den Hof. Er zeigte ihr den Turm, um we­niges schwärzer als die Nacht. Seine Zinnen mit ei­sernem Griff hielten die schmale Sichel des Mondes fest.
"Wir wollen, wenn du erlaubst, etwas spielen", flüsterte Woi und fasste Ihschas Hand, "... die Traumgeschichte von dem Dra­chen, der sein Fräulein entführt. Wangenweiß heißt sein Fräu­lein, und er liebt sie schreck­lich. Oben im Turm wohnt der Dra­che. Auf den Zinnen ist sein Dra­chen­nest. Dorthin bringt der Dra­che sei­n Fräulein. Spä­ter ret­tet sie ein Rit­ter ..."
Er nahm das Ende ihres Schals auf. So ging sie nun, das bleicherschrockene Fräu­lein, gefangen und entführt vom Drachenmann. Der Weg zum Hof machte ihm die Glieder schwer. Mit jedem Schritt über die langen Gitter des Pflasters musste er sich mehr in einen Drachen ver­wandelt ha­ben. In seinem Turm war es grottig, in seinem Zimmer schrecklich und fremd.
Ihren schauernden Blick sprach seine schreckliche Ver­wand­lung an: 'Ich bin vor dir der Drache nun. Meine Fami­lie ist alt und tot auf vielen Bildern. Haben sie keine Angst, mein Fräu­lein Wangenweiß. Hier oben, wo die Fee ein Feuer­wesen trifft, wiegen Sünden wenig.'
Das Band vom Mondlicht löste sich aus seiner Hand. Begann ein eigen herausfordernd Spiel, bis er es nahm und ihre Glieder band.
- Was fesselt er sie, wo er ein Drache mit vielen Kräfte ist? Wird der Drache, wo er redet, nicht zum Mensch?
'Du sollst mich nicht ansehen, Furchtweißauge!', bat der Drache sie recht. 'Der Nase Qualm soll nicht er­schrecken. Meine Zun­ge will nicht unge­hörig feu­rig sein. Von meinem Bauch das Weiße ist wie Men­schen­haut zart, des­sen überzeu­gen Sie sich!'
- Hat das Unsichtbare nicht viele Türen für eine Fee? Was trat sie nicht hinaus? Ist die Fee, die schweigt, nicht schon des Drachen Tod?
Der Dra­che in Galanterie bat die Sterne um eine Spielmu­sik und sah voll Schmacht sein Fräulein an. Wie gern wäre er für sie ein Ritter: Ein Lä­cheln auf ihre Lip­pen le­gen, Hände haben, die ihr sanft gefällig sind, einen Duft, der den Frau­mensch ge­winnt, ein Flü­stern, leiser als Gedanken sind.
- Wer dereinst trennte Fee und Drachen? Wer gab ihm Sonnen­feuer in den Bauch und ihr, der Fee, die kalte Mondlich­haut?
'So entschuldigen Sie, Gnädigste, dass die Drachen­haut auf Fliesen kratzt. Könnte ich doch dem Maul das Spei­cheln verbie­ten! Die Stimme wird rauh mir über dem Bet­teln. Der Au­gen Farb­wechsel hat nichts zu bedeuten, ist drachen­üb­lich. Schwe­fel und Schweiß sind feine Gerüche für den Ge­wöhnten.'
Er steckte, im Qualm benommen, den Kopf zum Fenster hinaus und leckte mit heißer Wonne von der Nacht die kühle Fir­niss ab.
'Oh, Gnädigste, ich bitte, wenden sie ab den Blick vom Dra­chen­bild! Die Zacken, wenn sie dem Pan­zer­rüc­ken
en­tragen, welch unschöner Anblick! Da schwillt und schlägt der Körper mit Überkräften, windet fremd­ge­stal­te Zunge stau­big sich am Boden!'
Fortgewendet, gut beraten, hat das Fräulein den Blick, hört so zum Übermaße fremd das ver­stümmelte Stammeln des Dra­chen ... bis sich das Spiel mit fein-fer­ner Stimme der Ret­tung er­in­nert.
Schon vernimmt das Fräulein: Der Retter ist da! Sieht, wie seine Rüstung glänzt! Hört, wie sein Atem die Stufen nimmt, wie sein La­chen die Schrit­te zählt!
Schon spricht der Ritter: 'Oh, meine Edle, spät kam ich, aber ließ von der Hoffnung nicht, den Drachen zu wehren. Halte nun den Arm um dich. Flü­stere dir, was ein Ritter flü­stert, dem der Dra­che geflo­hen ist.'
Schon bittet der Ritter ihre Verzeihung: 'Klug ge­wählt waren Ver­steck und Stun­de des Drachen. Mein Schwert lag ver­legt. Das Pferd war traum­selig und wählte falsch den Weg. Doch ent­schuldi­gen will ich nicht, dass ich, der Ritter, den Drachen ver­schlief. Nie wie­der, bleiches Fräu­lein, sollen Sie al­lein im Dun­keln sein, wo Drachen sind, und sich Ritter zur Un­zeit einfin­den.'
"Sprich, Ihscha, sprich!", fleht der Ritter Woi. "Öffne die Augen und richte Worte an deinen Retter. Nimm meine Hand und drücke sie fest!"
"Der Ritter kam zur rechten Zeit", flüstert Ihscha. "Wenn nur ein Ritter kommt, will ich gern ver­ges­sen, dass ein Drache ihm voraus war."
"Was bin ich froh, dich unversehrt zu finden!", ruft Woi, auf den Knieen küssend die edle Hand.
"Hier, nimm den Mantel, den der Drache zurückließ", sag­te sie mit Zartheit und legte sorgend den Mantel um seine Schulter. "Du zit­terst ja und bist fahl!? Dabei war ich es, die dem Dra­chen in die Augen se­hen muss­te."
Sie blickte auf den Boden, wo das Mondlicht einen zitt­rigen Rest zu­rückgelassen hatte. Als ein feines Tuch nahm ihn ihre Feenhand auf.
"Nun will ich auf den Boden mich setzen, Woi", sagte sie, "will sein wie eine Mutter, dein Kopf in meinem Schoß."
Sie zog ihn zu sich herunter und legte den Kopf zwi­schen ihre Beine und das silbrige Tüchlein auf seine Stirn.
Woi hatte die Augen geschlossen, und was Ihscha sagte, floss durch sein Verstehen hindurch. Sie war eine Fee und würde ihn niemals loslassen. Seinen Dolch hatte sie, seinen Namen, sei­nen Schlaf. Und nichts forderte der Ritter sich zurück.
Sanft wiegte sie seinen Schlaf in ihrem Schoß, schmückte und beschwerte ihn mit ei­nem Lied von al­ters her:

Der Mutter Schoß ist Bett
Der Liebe Band ist weiß
Der Ritter Jung ist stolz
Der Sage Schlund ist Hall.
Der Mutter Lieb ist Pfand
Der Liebe Herz ist stumm
Der Ritter Stolz ist fort
Der Drache Rot ist tot.
Der Mutter Haar ist Schnee
Der Liebe Aug ist voll
Der Ritter Fern ist rot
Der Krone Haupt ist ab.
Der Mutter Bett ist Erd
Der Liebe Mund ist bleich
Der Ritter Rot ist tot
Der Henker hält den Kopf.

Chapter 36. Li malt ein Gedicht

Der Fürst war an diesem Morgen der erste gewe­sen. Vogel­rufe hatten ihn und die Sonne gleichzeitig aus ihren Betten geholt. Der ganze Hof, die Stadt, die Dörfer schlie­fen noch mit langem Atem in den sanft getürmten Kissen der Berge.
Er war umhergegangen und hatte sich vor­ge­stellt, er sei ein Wächter, dessen Dienst zu Ende ging. Mit den Händen formte er ein Horn und tat so, als bliese er die Stunde. Dann klopf­te er mit sei­nem Stock auf den Bo­den, a­ber das war wohl unsinnig. Warum sollte ein Wächter auf den Boden klopfen?
Ein Tag legte sich schwer auf seinen Schultern, der an seinem Ende die im­mergleiche Müdigkeit für ihn bereit hielt. Nicht mehr lang, und er muss­te sich aufma­chen. Er war ein Bauer, der auf das Feld musste. Ein Fi­scher, der die Netze legte. Schwerer noch als ihm war der Sonne das Auf­stehen.
Die Fenster des Küchentraktes sangen ein Lied in einer fremden Sprache. In den warmen Ställen klapperten die Kühe mit ihren Eimern, und das Dach probierte noch die Farbe, die zu diesem Tag pas­sen würde. Im Nest an der Hauswand verschlan­gen junge Schwalben die Schnä­bel ihrer El­tern. Die Kronen der Bäume schwiegen sich an. Darüber am Himmel flo­gen Wild­gänse. Der alte Mann fragte sich, ob sie die Nacht durch­geflogen wa­ren oder jetzt ihren Schlafplatz verlie­ßen.
Er spürte, wie sein Herz gegen die Brustwand schlug. Das Gras überzog sich mit einem roten Teppich. Die Bäume stießen mit den Kronen zusammen, und die Wolken sanken ohne Halt zur Erde. Der Fürst musste sich auf eine Bank set­zen. Dann ging es wie­der, sein Herz hatte wie­der Platz.
Jetzt erst bemerkte er, dass er nicht allein war. Neben ihm saß ein junges Mädchen mit streng nach hin­ten gebunde­nem Haar. Sie sah auf ihr Blatt, wo sie Zei­chen unter Zei­chen setzte. Sie schrieb schöner als seine Schrei­ber, fand er. Was sie gemalt hatte, kam ihm bekannt vor. Es waren die aus ihrem Morgendunst ragenden Um­risse einer steilen Berg­wand, von deren Höhe rauschend und sprü­hend ein Wasser herunterfiel.
"Warum sitzt du hier um diese Stunde?", fragte er freundlich.
"Ich male den Nebel", antwortete das Mädchen. "Der Nebel ist das Schwierigste."
"So ein Bild hat meine Frau gemalt", sagte der Fürst. "Es ist schon lange her. Jetzt fällt es mir wieder ein."
"Es ist ein Gedicht über Blumen, schon ganz alt."
"Was für Blumen? Ich sehe keine Blumen." Der Fürst hatte die Augen zusammen gekniffen.
"Die Blumen male ich noch. Dort am Abhang sollen sie sein. Sie haben sich den Winter über zwischen den Felsen festge­klammert. Wind und Kälte haben sie ausge­halten, aber des Früh­lings Ungestüm wird sie mit ihren Wurzeln fortrei­ßen.
"Es ist ein trauriges Gedicht, nicht wahr?" sagte der Fürst und dachte an seine Frau.
"Ja, ein trauriges Gedicht", sagte das Mäd­chen.
"Schira war ihr Name."
"Ein schöner Name ... ein fremder Name."
"Eine schöne Frau ... eine fremde Frau mit einem trauri­gen Namen. Lang ist's her." Der Fürst nickte. Ja, sie war wie eine von den Blumen in dem Gedicht. Hatte sich nicht fest­halten können.
"Als sie gestorben war, sagte der Arzt, er wisse nicht, woran sie gestorben war. Die Krankheit sei ihm unbekannt. So war sie, Schira, alles an ihr war fremd, selbst der Arzt wusste nicht, woran sie gestorben war."
"Aber eure Frau konnte schreiben. Da war sie ja auch wieder glücklich", stellte das Mädchen fest.
"Ich habe nicht lesen können, was sie schrieb. Aber ein glückliches Gesicht hat sie dabei nicht gemacht, und ich war mit anderen Dingen beschäftigt."
"Ein Fürst zu sein, ist sicherlich schwer ..."
"Eigentlich nicht. Es ist nicht schwerer als Schatten wer­fen, wenn die Sonne rich­tig steht. Man kann eigentlich nichts falsch machen."
"Ich bin die Li!" rief das Mädchen, als müsse er sie kennen.
"Ich habe viele Dinge vergessen", sagte der Fürst trau­rig.
"Ihr habt erlaubt, dass ich mit eurem Sohn, dem Woi Lesen und Schreiben lernen kann. Und jetzt kann ich es! Seht ihr nicht? Die Luft ist voll von Worten. Sie kommen alle zu mir und wollen von meiner Tusche trinken."
"Das hast du schön gesagt, Li. Ich sehe sie, wie sie dir die Hände lecken und mit den feuch­ten Nasen dein Knie stubsen ... Sag mal, kom­men die Wor­te auch zu Woi?"
"Also alle Worte mögen ihn nicht. Aber ein paar würden schon bleiben, wenn er sie nur ließe ..."
"Aber du rufst nach ihnen, und sie kommen alle, dass wir sie greifen können? Da, hab ich eins! Wie einen Schmet­ter­lin­g fass ich es vorsichtig an den Flügel ... Sieh her, Li, was ich gefan­gen ha­be."
Li nahm seine Hand und las ihm das Zeichen vor: "Ihr habt das Zeichen für 'Kind-Mann-Kind' gefangen. Es steht für das Leben eines Mannes, der weise geworden ist."
"Oh, so ein Zeichen gibt es? Ich will es gleich wieder fliegen lassen, denn ich bin nicht der einzige, den es besuchen will."
Li malte die Blumen zwischen die Felsen. Ganz zar­te Blü­ten sollten es sein, so fein wie die Sprühtropfen vom her­unter­stürzenden Wasser.
"So kleine Blüten malst du?" fragte der Fürst. "Weißt du, ich sage das nur, weil meine Frau immer schwere Blüten gemalt hat, welche die Köpfe hängen ließen. Ich glaube, sie wären von allein runtergefallen mit der Zeit ..."
Die langen, weißen Haare des Fürsten wurden ständig hin­- und herge­weht. Mal lagen sie auf der Stirn, um sich mit den Au­genbrauen zu streiten, dann wieder standen sie über den Ohren ab. Von dort wirbelten sie hoch, um sich auf dem kahlen Haupt zu jagen.
"Li, was siehst du mich an? Die Blumen sollst du mir erklären!", rief der Fürst.
"Ach, die Blumen ... Seht her, Fürst, sie sollen so fein wie die Tropfen sein, damit sie dem Sturzbach gleichen. In dem Augenblick, den ich ma­le, soll niemand den Sturz­bach und die Blüten auseinander­halten können."
"Ich versteh dich gut, Li!" rief der Fürst. "Das ist, als wäre ein alter Mann ganz plötzlich glücklich, ob­wohl er bald sterben muss."
"Also davon versteh ich nichts, Fürst, aber die Tropfen und die Blüten kümmert nicht, was mit ihnen geschieht."
"Nenn mich nicht, Fürst! Ich bin ein alter Mann, der sei­nen Namen vergessen hat. Es ist meine Bitte, dass du mich nicht mehr 'Fürst' nennst."
Der alte Mann sah hinüber zu den Bergen. Mit seinem Finger zeigt er zit­ternd in ihre Richtung: "Li, ich habe noch eine Bitte ... Da ist doch noch ein leeres Blatt. Du hast noch Tusche? Dann wäre meine Bitte, dass du für mich jetzt ein Bild malst."
Li sah ihn an. Tränen hatten sich in seinen Augen gesam­melt, und seine Lippen zitterten. Sie wandte sich ab. So war es ihr nicht möglich, ein Bild zu malen!
"Willst du nicht?! Ich bitte dich darum!" Er wollte, dass sie ihm ein Bild malte. Aber es stimmte ihn unendlich traurig. Eigentlich hätte er nicht sagen können, was daran traurig war.
"Ihr müsst aufhören zu weinen", sagte Li. "Sonst muss ich selber weinen und kann nicht ma­len!"
Der alte Mann lächelte. Und nun waren es Tränen der Freude in seinen Augen. So schnell ging das, wenn einer so alt war wie er!
Lange dachte Li an nichts, dann fiel ihr alles ein: Sie malte den Berg, den run­den Berg Kenem. Sie malte ihn klei­ner, als er war, damit er in die Mitte auf ihr Papier pass­te. Sie malte ihn bis zu den Füßen mit Schnee bedeckt. Zwei Vögel lie­ß sie treiben vom Wind über seinem Gipfel.
Der alte Mann sah ihr zu und wunderte sich: 'Wie konnte ich vergessen, dass ich dies Mäd­chen habe lernen las­sen? Sie malt den Berg, als hätte sie ihn er­dacht. Als wäre der wirklich Berg auch nur von einem Maler erdacht worden. Vielleicht steht mor­gen der Berg von ihrem Bild an seiner Stelle?"
Zu Füssen des Berges lief ein Weg. Zwischen ihm und dem Schnee hatten sich linkseitg ein paar Büsche mit dem Rük­ken gegen den Wind gestellt. Rechtsseitig erhob sich ein knotig gewachsener Baum mit einem Haupt von langen, fadig nach unten hängenden Zweigen, so dünn wie Greisenhaar. Er sah dem alten Mann nach, der auf dem Weg an ihm vor­beige­gangen war. Krumm war der Rücken des alten Mannes. Sein Umhang strich über den staubigen Weg und zog eine Spur. Seine Arme hingen her­unter, als müss­ten sie bald seinen Gang bei die­sem und jenem Schritt stüt­zen. Der Kopf war kahl, den Bart, fein wie Pinselhaar, zauste der Wind.
"Das bin ich", sagte er. Sie hatte ihn als den Wächter-Bauer-Fischer-Mann gezeichnet. Wie müde seine Beine mit einem Mal waren!
Jeder, der sich so alt wie der Fürst fühlte, hät­te auf den Tu­sche-Mann gezeigt und ge­sagt: "Das bin ich!" Er sah sie vor sich: All die alten Männer, die vorbeika­men und ste­hen blie­ben, weil sie viel Zeit hatten und wenig Atem. Vielleicht gab es ja ein Land der alten Män­ner, genauso, wie er sich vor lan­ger Zeit ein Land der Kinder vorge­stellt hatte ...
Auf die Schultern des alten Mannes hatte sich ein Kind gesetzt. Mit der einen Hand hatte es die Haare des Mannes gegriffen, die andere Hand hielt es dem Mann vor die Au­gen. Mit ein paar Strichen ließ Li den Alten und das Kind inein­ander übergehen, dass er auf den er­sten Blick nur die eine Gestalt erkannte, krumm und ohne Füße, festge­wachsen auf dem Weg.
"Erkennen sie es?" fragte Li. "Nein, ich muss es deutli­cher machen." Sie zog noch ein paar Linien und die Umrisse nach und verdeckte mit ihrer Hand den Berg und den Baum.
Nun erkannte der Fürst sein Zeichen: Aus dem alten Mann und dem Kind war das Zeichen 'Kind-Mann-Kind' geworden, dass ihm heute auf die Hand und wieder fort geflogen war!

Chapter 37. Wois Mordplan

Woi war mit dem Gesandten in die Stadt geritten. Er hatte ihn auf dem Weg zu seines Vaters Hof abgefangen, weil er nicht mit ihm zusammen gesehen werden wollte. Der Ge­sandte hat­te verstan­den. Sie waren um­ge­kehrt und rit­ten jetzt in die Stadt wie zwei, die sich zufällig be­geg­net waren und für den Abend Bekannt­e sein würden.
"Was macht euer Sohn?", fragte Woi mit einem Augenauf­schlag.
"Was macht euer Vater?" fragte der Gesandte mit einem Lächeln. "Ich hoffe, es geht ihm gut."
"Er sagt, er sei verliebt." Woi sah zum Him­mel empor. "Ich habe zugehört, als er zu sich selbst darüber gespro­chen hat."
"Wer ist es denn?" Der Gesandte zog am Zügel, damit sein Pferd im langsamen Schritt ging. Er tat gleichgültig, als in­ter­essiere ihn nichts anderes als der Gehor­sam seines Pfer­des.
"Sie heißt Li und hat mit mir Schreiben und Lesen ge­lernt", berichtete Woi. "Er hat von ihr ein Ge­dicht ge­schenkt bekommen, und nun will er sie heiraten. Wenn mein Va­ter allein ist, fällt er auf die Knie und stellt sich vor, er bitte um Lis Hand. Ich habe ihn beob­ach­tet."
Der Gesandte betrachtete eine verlassene Hütte am Weg­rand. Das Dach bestand aus nicht mehr als zwei winklig gezimmerten nack­ten Stämmen. Die Ziegel und ihre Auflage waren auf den Sei­ten heruntergerutscht und bildeten zwei staubüberzogene Haufen gleicher Größe und Form.
"Wenn ich recht verstanden habe", so Woi weiter, "kann Li sich die Tage aus­suchen, an denen sie seine Frau sein will. Er nennt sie 'Tagesfürstin'. Ich glaube aber nicht, dass sie diesen Un­sinn mitmachen wird."
Das Pferd des Gesandten ließ Wois 'Prinz', weil es sich besser auskenne und be­kannt sei am Ort. Wäh­rend ihre Rei­ter wenig Worte mach­ten, verstän­dig­ten sich die Pferde über Hin­der­nisse und Hun­de, über neuen Tratsch und alte Stall­ge­schichten. Beide fan­den, dass sie sich gut ver­standen und hofften, sich wieder zu tref­fen.
Weil viele Menschen zu dieser Tageszeit in die Stadt kamen, um sich ein Quartier zu suchen, mussten sie hinter einem Kar­ren herrei­ten, der auf schweren Rä­dern schwankend vorwärts kam. Ein jun­ges Mäd­chen hatte die hintere Pla­ne beiseite geschoben und lä­chel­te Woi zu. Sie stütze die Hände auf der niedrigen Wagen­rampe ab und beugte sich aus irgendei­nem Grund weit vor. Woi musste tief in ihren Aus­schnitt blic­ken, wo die nack­ten Brü­ste im Takt der aufge­hängten Han­delskrüge bau­mel­ten.
"Wie sieht meine Frau eigentlich aus?" fragte Woi. Die Brüste des Mädchen zitterten von den Kräuselwellen der Pflastersteine.
"Sie ist - wie soll ich sagen? - auf ihre Weise ...", sagte der Gesandte und suchte nach den rechten Wor­ten.
Das Mädchen lehnte sich wieder zurück. Unter ihrer Bluse zeichnete sich deutlich ihre hart gewordene Brust ab. Die glänzenden Haare wickelten sich zerfließend um ihre Hände.
"Hier gibt es soviele Mädchen", sagte Woi. "Zeigt mir doch eines, damit ich weiß, wie sie ungefähr aus­sieht."
Die Karre vor ihnen bog ab. Das Mädchen schlug die Au­gen nieder und ließ die Plane herun­terglei­ten, damit der junge Reiter auch wisse, dass sie nicht so ein Mädchen sei, wie er sie angesehen habe.
"Sieht sie so aus?" fragte Woi und zeigte auf eine, die ihnen zuwinkte. Der Gesandte schüttelte den Kopf.
"Da bin ich ja beruhigt", sagte Woi.
Immer wieder zeigte Woi auf ein anderes Mädchen, immer wieder schüttelte der Gesandte den Kopf. Es war nicht die Kleine, die ihren Fin­ger leckte. Auch nicht die Große, die der Vater 'Gehni' rief. Dem Mädchen mit dem Pflau­men­mund und den Trauben­augen ähnelte sie nicht, und keiner von denen, die sittsam und bleich wegschauten.
Woi wird sie ihm wohl alle ge­zeigt haben, aber keine war dabei. Die eine oder ande­re wäre für ihn schon richtig gewe­sen, aber von denen war es auch keine.
Der Gesandte sah betreten drein, da er nicht mehr drum­herum reden konnte. Etwas sehr betre­ten, schuld­be­wußt, ein wenig ängstlich.
Sie ritten langsam weiter. Die Pferde zeigten sich den ent­gegenkommenden Stuten von ihrer feurigsten Seite, stolz, aber nicht unnahbar, eben edel und von Ras­se, und so gut wie nicht in festen Händen.
Woi hielt sein Pferd vor einer Gaststätte an. "Zum Find­ling", las er dem Gesandten langsam vor. Sie sa­ßen ab und betraten die Schenke.
Außer dem Wirt war niemand da. Seine Augen schauten aus dic­ken Gläsern und waren verzerrt wie die seiner Fi­sche, die er in Was­ser­behäl­tern unter­schied­li­cher Größe hielt.
"Habt ihr euren Dolch nicht dabei?", fragte der Gesand­te. "Ich muss meinem Fürsten berichten, dass ihr ihn in Eh­ren haltet."
Woi war froh, dass der Wirt kam und seinen Bauch zwi­schen sie schob. So konnte er dem Gesandten zutrinken, statt sich eine Ant­wort suchen zu müssen.
"Ihr trefft sie im Wald bei den Teichen", sagte der Gesandte, nachdem er grimmig geschwiegen hatte. "In der Nacht ist sie dort. Ihr werdet sehen, wie sie euren Dolch her­umzeigt. Ihr müsst mir versprechen, ihn zu holen!"
"Ich verspreche es euch, macht euch keine Gedanken!", sagte Woi. "Ich kenne die Stell und habe bereits mit ihr darüber gesprochen."
Der Gesandte knurrte etwas, was Woi nicht verstand. Oder war es der Wirt, der geknurrt hatte?
"Ich will wohl seine Tochter zur Frau nehmen, die das ein­zige Kind ist", sagte Woi, um dem Gespräch eine andere Richtung zu geben. "Es ist wohl klug, aus zweien eins zu ma­chen, wenn es bei­den nützt."
Der Gesandte hatte genau zugehört. Entgangen war ihm nicht, dass der junge Mann der Frage nach dem Dolch aus­wich, aber er sah darüber hinweg. Statt eine Antwort zu fordern, legte er ei­nen Ring auf den Tisch.
Mit einem Blick schätzte Woi den Wert des Ringes ab. Das Pfand, über welches seine Zu­künftige verfügte, lag auf dem Tisch. Reich durch Handel waren sie we­gen der Au­ßen­lage ih­res Landes ge­wor­den. Mit je­dem handelten sie, wenn er nur das Rich­tige an­zubie­ten hat­te. Reichtum war der Lohn dafür, dass sie nicht wähle­risch waren.
Nun hat­ten sie die Absicht, ihre einträgliche Han­dels­frei­heit durch Ein­fluss am Kai­ser­hof abzusichern. Das Für­sten­haus von Wois Vater war nie reich gewe­sen, aber es hat­te wohl zu seines Groß­vaters Zeiten politischen Ein­fluss ge­habt.
Die Hand des Gesandte zeigte, dass er nervös war. Schnell hielt er sie ruhig. "Ihr sagt, euer Vater ist ge­willt - spielt unernst, wie ihr sagt, mit ei­genen Hei­ratsgedanken?"
Woi ließ sich den Wein schmecken. Es gab ihm Zeit sei­nen Gegenüber zu beobachten. Der Gesandte schien ihm unru­hig, ja ängstlich zu sein, als müsse er etwas entscheiden, was er nicht bedacht hatte. Nirgendwo fanden seine Augen einen Halt. Und der Anblick des Wirtes schien ihn geradezu wü­tend zu machen.
Mit der Hand trommelte er auf den Tisch. Er begann in großer Erregung zu sprechen: "Wir geben euch unsere Für­stin, die nach dem zu er­wartenden baldigen Tod des Vaters den Hof übernehmen wird. Doch was be­kom­men wir als Gegen­lei­stung: eine An­wart­schaft, eine lan­ge, viel­leicht ver­gebliche - nichts sonst! Stellen wir uns einfach mal vor, euer Vater würde heiraten. Seid ihr sicher, der Fürst lie­ße euch in seiner Nach­folge den Vortritt? Würde er nicht seiner neuen Frau ge­horchen und ihr zu wil­len sein!?"
Wenn der Gesandte die Li nur schon einmal ge­sehen hätte, dann würde er nicht so reden! Woi versteckte sein Lächeln hinter dem erhobenen Weinglas und sagte ernst: "Nie­mand kann vorhersagen, wie er sich aufführen wird. Aber kann nicht jemand beim Kaiser über seinen Geistes­zu­stand ein Wort sagen?"
"Wie stellt ihr euch das vor? Der Kaiser ist selber alt und manchmal ..."
Woi beobachtete auf die Worte des Gesand­ten hin den Wirt. Doch des­sen Augen schwammen in­teresselos hin­ter den dicken Brillenglä­sern.
Der Gesandte klopfte mit dem Ring auf den Tisch. "Gut", sagte er schließlich und dämpfte seine Stimme, "reden wir darüber. Euch steht euer Vater im Weg und - es sei offen ausgesprochen - uns auch."
Woi schob den Ring in die Mitte des Tisches. "Dann wol­len wir beide dasselbe, stelle ich fest", sagte er sanft und nahm einen Schluck Wein.
Der Gesandte schob den Ring wieder zurück. Er sah Woi lan­ge in die Augen, der seinen Blick ohne Unbehagen er­trug.
"Warum ladet ihr meinen Vater nicht zu einem Besuch an eurem Hof ein?", schlug Woi freundlich vor und machte sich nicht einmal die Mühe leise zu sprechen.
"Wir können doch nicht ...!?", entsetzte sich sein Ge­genüber.
"Ihn einladen?"
"Nun, einladen natürlich, aber ..."
"Aber was?!"
"Gut, wir laden ihn also ein ..."
"In einer Sänfte soll er zu euch kommen. Bedenkt, er ist alt. Der lange Weg würde ihn erschöpfen."
Der Gesandte nickte. " ... und dann?", fragte er. Woi schien ihm nicht bei der Sache zu sein. Der junge Mann betrachtete lä­chelnd die Goldfi­sche, als ging es nicht um Dinge von al­lergrößter Trag­weite. Das konnte ihnen allen den Kopf ko­sten! Schon die Planung eines solchen Unterneh­mens war ein mörderisches Risiko! Und Woi war mit sei­nen Gedan­ken bei den Goldfischen.
"Habt ihr einen Bottich aus Glas? Sagen wir, so groß wie ein Fass vom Wein."
Der Gesandte nickte abwesend. Was sollte das nun wieder? Der junge Mann hatte manch gute Anlage, aber da war etwas an ihm ... Schon beim letzten Mal war ihm das aufgefallen. Er ging mit diesen Dingen um, als handele es sich um ein Spiel, das jederzeit abzubrechen war.
"Starken und klaren Schnaps habt ihr auch, dass der gan­ze Bot­tich bis zu seinem Rand gefüllt werden kann?"
Wieder nickte der Gesandte. Was sollte das? Einen Glas­bottich gefüllt mit klarem Schnaps? Warum einen Bottich aus Glas und nicht aus Holz? Wurde Schnaps nicht in Holz­fässern gelagert? Er war nun völlig verwirrt und mochte keinen Schluck Wein mehr trin­ken.
Woi hatte derweil amüsiert den Wirt betrachtet, der sich nicht bewegte, als liege er wie seine Fische glotzend in einem Glas. Von dessen Anblick war ihm die Idee gekommen, und eigent­lich meinte er ihm Spaß, was er dann sagte.
"Kommt näher mit eurem Ohr", flüsterte er geheimnis­voll, "noch ein wenig näher. Und nun hört gut zu! Kein zweites Mal sag ich es." Woi teilte darauf dem Ohr des Gesandten mit, wie er sich den Ab­lauf des Besuches und seinen Aus­gang vor­stellte.
Der Gesandte hielt sich mit den Händen am Tisch fest. Kalkweiß war er im Gesicht geworden. Sein Mund zit­ter­te. Das war ungeheuerlich, das war unvorstell­bar! Er starrte Woi wie ein Monster an. Fragte sich, ob er alles nur träumte?
"Ich sehe, ihr habt gut zugehört", sagte Woi, wobei er den Ge­sandten nicht aus den Augen ließ. "Es ist nicht eure Sa­che, eine Entscheidung zu fällen. Nehmt euren Ring und geht! Berichtet eurem Fürsten und eu­rer Für­stin ... Im Falle einer Ein­la­dung an meinen Va­ter und mich, gehen wir so vor, wie ich es gesagt ha­be. Hört ihr! Genau so, mit allen Vorkehrungen!"
Woi schob den Ring zum Gesandten. "Macht kei­nen Feh­ler, guter Mann! Niemand wird euch glauben, dass die­ser Plan von mir stammt! Ihr seid doch ein alter Sol­dat, nicht wahr!? Welchen Kopf, glaubt ihr, wird man für diesen Wahn­sinn ab­schlagen?"
Der Gesandte ging mit schweren Beinen nach draußen. Dort traf ihn das Sonnenlicht wie mit einem Faustschlag. Sein Pferd sah ihn besorgt für sein Schwanken an. Er führte es zu Fuß aus der Stadt und setzte sich draußen mit seinen Gedanken auf ei­nen runden Stein.
Wenn ein jun­ger Mann, ein Fürstensohn, einen sol­chen Plan gegen seinen eigenen Vater ersann, dann war die lan­ge Zeit des Ruhe, die ihn mit An­stand hatte alt werden las­sen, bald vor­bei. Die Erde würde wieder zittern unter den Hufen des Krieges, und seinem Sohn Friede würde eine jede Ge­sandt­schaft das Leben kosten können.
Solange dachte er über diese Dinge nach, so schwer wurde ihm das Herz, so schmerzlich stieg die Erinnerung em­por, dass er die genauen Worte, die Woi gebraucht hatte, ver­gessen hatte und sich voller Besorgnis um seine Glaub­wür­dig­keit auf den Weg begab.

Chapter 38. Das Leben des Fürsten als ein Tag

'Fürst' wollte er vom heutigen Tag an nicht mehr genannt werden. Das hat­te er allen Dienern gesagt. Den ganzen Tag hatte er jedem mit­ge­teilt, er sei es leid, 'Fürst' genannt zu wer­den. Es sei Schluß nun da­mit.
Wie er denn angespro­chen wer­den wolle.
Das über­las­se er jedem selbst, die Welt sei groß und schön, voller Blu­men und voller Na­men. Dann hatte er den Zei­gefinger war­nend geho­ben und sie streng angesehen.
So hatte er den Tag zugebracht und war müde geworden. Er öffnete das Fenster von seinem Zimmer, um sich mit dem Rauschen der Bäume zuzudecken. Mild war das Licht. Es hieß ihn, die Au­gen zu schließen und nach innen zu sehen.
Er war das ein­zige Kind auf dem ganzen Fürstenhof gewe­sen. Wenn er als kleiner Junge die Wildgänse am Himmel vor­beifliegen sah, dann stellte er sich vor, dass es ir­gendwo ein Land gab, wo nur Kinder waren. Die Vögel würden ihm den Weg dorthin zeigen können, schließlich waren sie schon über­ alle Län­der der Welt ge­flogen, also auch über das Land der Kin­der.
Er erinnerte sich, dass er sich von seinem Vater einmal ein Schaf gewünscht hatte.
"Ich will ein Schaf!" hatte er dem Vater gesagt.
"Schafe sind nicht zum Spie­len da. Sie sind zum Essen da und für die Wolle", entgegnete der Vater.
"Ich will ein Schaf, das zum Spielen da ist, und nicht gegessen wird, und seine Wolle soll bis auf den Boden ge­hen", war seine Antwort gewesen.
Aber er hatte einen Sat­tel bekommen. Er war aus schwar­zem Leder und so schwer, dass er ihn nicht ein­mal schieben konn­te. Selbst das Pferd mochte die­sen Sattel nicht.
Als er größer war, hatte er sich einen Freund gewünscht. Aber sein Vater hatte gesagt, er solle lieber gleich an das Heiraten denken. Er werde ihm ein Mädchen aussuchen. Seine Mei­nung war, dass Söhne von Fürsten nicht mit ande­ren Jun­gen spielen sollten.
Das Mädchen, das ihm der Vater ausge­sucht hatte, mochte ihn aber nicht heiraten. Sie sag­te ganz laut, dass es alle hören konnten: "So ein Kleiner! Mama, du hast gesagt, ich kriege einen richtigen Prinzen. Das hast du gesagt! Er ist kein richti­ger Prinz! Den will ich nicht! Die Do kann ihn ha­ben, die freut sich!" Aber ihre kleine Schwester Do war seinem Va­ter nicht alt genug, und einen Freund hatte er immer noch nicht.
Einmal war er auf einen Heuwagen geklettert und knapp unter dem Tor hindurch in die Scheune gefah­ren. So lag er da und warte­te und wusste nicht, wie er hätte hinunterge­lan­gen sollen. Ir­gend­einer würde ihn schon ho­len. Das war immer so.Es war aber noch jemand da. Auf den Strohbal­len im Heu tief unter ihm lagen ein Junge und ein Mädchen.
'Die wer­den wis­sen, wie es runter geht', dachte er, lag aber erst mal still, weil es ihm oben eigentlich gut ge­fiel. Außerdem wa­ren die beiden viel zu sehr mit sich selbst be­schäf­tigt.
Das Mädchen sagte, der Junge solle aufhö­ren, sie zu kit­zeln. Erst wolle sie, dass er sie heira­te. Der Junge schien nicht zu hören. Er setzte sich auf das Mädchen drauf und versuchte, sie zu küssen. Aber sie kämpfte und wand sich unter ihm fort. Er sagte, er hei­rate erst, wenn sie ihm gezeigt hätte, wie das über­haupt sei, wenn er ver­heiratet sei, vielleicht, es könne ja sein, wolle er doch lie­ber etwas anderes machen. Darauf hielt er ihr den Kopf fest, und sie ließ sich küssen. Aber nicht lang. Statt zu heira­ten, wol­le er doch lieber Soldat werden, sagte der Junge und legte sich neben das Mädchen. Mit der Hand schob er ihr den Rock hoch. Aber das weiße Höschen wollte sie sich nicht ausziehen lassen. Nein, sagte sie, das wol­le sie nicht ausziehen.
Ganz enttäuscht sah er aus, wie er so neben ihr lag. Vielleicht dachte er jetzt daran, Soldat zu werden. Sie drehte ihn auf den Rücken und machte sich an seiner Hose zu schaffen. Er musste ihr helfen, sein Ding her­aus­zuho­len, das schon rot glänzte und sehr sper­rig war. Sie könn­ten ja so tun, als wären sie schon ver­heira­tet, schlug sie vor, nicht rich­tig, eben nur so tun. Der Junge sag­te dann nichts mehr. Er lag auf dem Rücken, aber er sah den Zu­schauer nicht, weil er die Augen halb geschlossen hielt. Wäh­rend er schnell mit der Hüfte auf- und abwippte, hielt sie mit der Hand seinen Stab ganz fest. Als er immer mehr keuchte, sah sie genau hin, dass er ihr Kleid und Hös­chen nicht nass­mach­te.
Der Für­stensohn hatte noch lange auf dem Heu­wagen gele­gen und seinen eigenen Stab betrachtet, der wirklich sehr klein war. Da­mit würde er kei­ne Frau finden. Der Stab des Jun­gen war viel grö­ßer und röter gewesen. Er musste acht­geben, dass sein Vater nicht sah, wie klein er war.
So hatte er gedacht. Aber das war lange her, eine ganze Kind-Mann-Kind-Zeit.
"Wie sollen wir dich nennen?" riefen die Abendvö­gel. "Mann mit den kalten Händen, wie sollen wir dich nen­nen? Mann mit den schweren Beinen, was soll dein Name sein? Mann ohne Name, müder Mann, was sprichst du nicht!?"
"Wir hören", schimpften die Abendvögel, "dass er einem Singvögelchen Fallen stellt. Ist es wahr, dass er Jah­res­saft im Toten­bette trank? Dürfen wir glau­ben, dass er einen neuen Namen sucht für sich graubär­tig Wie­gen­kind?" Und so ze­terten, tratsch­ten und spotte­ten die Vö­gel, bis der Abend sich das Lärmen endgül­tig ver­bat.
In den Traum des Fürsten trat leise die kleine Li und führte ihn auf dem Gartenweg an den Bäumen vorbei, die ei­nen weißen Tur­ban trugen, zu dem Teich, indem anstelle der Fische die weißen Steine schwammen.
'Sag nichts, Li', sprach der träumende Fürst. 'Dei­ne Worte könnte mein Traum wohl nicht ver­stehen, aber er macht aus uns sonderbar ein Paar: ei­n alter Mann und, wie seine Toch­tertoch­ter jung, ein Mäd­chen. Er legt deine Hand in die meine und führt uns Sei­te an Sei­te zu der Ka­pelle, die mei­nen Fi­schen gehört. Dort geh ich auf die Knie vor dir. Kalt ist der Boden, aber warm ist deine Hand. Leise sag ich dem Ring, dass er dich zu meiner Für­stin erklären soll, für immer und wie lang du willst. Mir altem Manne fehlt der Mut.'
'Der alte Mann', sprach der Ring mit der Stimme des Für­sten, 'bit­tet dich nicht um Treue. Wo Treue er in jun­gen Jahren nicht fand, will er sie im Alter nicht suchen. Er bittet dich nicht ins Dunkle der Kammer. Fand er selbst dort et­was von Wert? Du sollst ihm nicht die­nen. An Die­nern hat er keinen Man­gel. Viel­leicht, dass du ihm ge­stattest, wie­der auf die Bei­ne zu kom­men. Vielleicht, dass du ihn ein wenig hältst, wenn er die Knie strecken will.
Nicht dein Herz will der alte Mann besitzen, nicht deine Schön­heit, nicht deine Klugheit. Allein die Tage, da der gleiche Vogel euch weckt, die Stunden, in denen das Alter die Zah­len vertauscht, die Minu­ten wie alter Wein, die Mo­men­te, da ihr die Augen tauscht - die würden ihm ge­nügen.'
"Hörst du mich, Mann ohne Namen?", uhute es durch das Fenster. "Ich bin der Vogel der Toten. Hörst du mich? Man spricht von dir. Am Tisch steht ein leerer Stuhl. Was macht er so lang, fragen sie. Was denkt er sich? Wer hielt ihn auf? So fragen sie mich, den Vogel der Letzten Stunde. Wir wollen unser Mahl begin­nen. Gewiss doch war er ge­la­den, sagen sie. Hörst du mich, Mann ohne Namen? Alles ist bereit und ge­richtet und wartet auf den Gast. Dein Sohn, sagen sie, habe um eine Bleibe für seinen Vater nachge­sucht. So schickt man mich, den Vogel der Kalten Ruh, dass ich ihnen berichte. Hörst du mich, Mann ohne Namen? Zum Fest bist du geladen! Wann machst du dich fertig? Was kann ich ihnen sagen?"
Der Fürst machte die Augen auf, als das Fenster zu­schlug. Ihn fror. Es kam ihm vor, als sei er schon tot. Dann knurrte sein Magen, und eine gierige Mücke suchte sich einen Platz, um von seinem Blut zu trinken.

Chapter 39. Ihscha mit dem Dolch im Wald

Ungeduldig hatte Woi auf den Abend gewartet. Immer wie­der hielt er sich vor, wie unsinnig es war, dem Rat­schlag des Gesandten zu folgen. Wen traf Ihscha im Wald bei den Teichen? Was stellte sie mit seinem Dolch dort an? Warum musste er nachts rei­ten?
Wie immer er es aber drehte: Der Gesandte war kein Mann, der scherzte oder sich Späße ausdachte! Er wusste, wovon er sprach und hatte schon recht, wenn er für seine Her­rin darauf be­stand, dass Woi sein Verspre­chen einlösen konnte. Es war dumm, dass nun alles an sei­nem Dolch hing! Wie hatte er ihn Ihscha nur anbieten können, ohne selbst da­beizustehen! War es ein Wunder, dass sie ihn ohne Be­den­ken ein­ge­steck­t hatte?
Endlich war es dunkel genug, mehr Nacht als Abend. Woi bee­ilte sich, zum Stall zu kommen und Prinz sat­teln zu las­sen. Dazu musste er den Stall­meister aus dem Bett rollen und ihn mit einem Eimer Was­ser bedrohen, um seinen Wil­len zu be­kommen.
"... hoffe nur, die Dame weiß, wie eilig es dem Herren ist", brummte der Stall­mei­ster, der wieder be­trun­ken war.
Woi ritt in den Wald hinein, bis zu einer Stelle war, wo er Prinz lassen konnte. Dort sprang er ab und landete mit den Füs­sen auf einem wei­chen Ge­strüpp. Der Bo­den in der Umgebung war weich. Die Luft war feucht, aber warm. Es war dunkel wie in einer Kammer ohne Fen­ster.
Er ging ein Stück, bis er sich auf einer freien Fläche befand, die vom Mond beschienen wurde. Nicht weit von ihm standen vier gro­ße Weiden, die un­ter dichtem Hänge­haar die Köp­fe ver­dreht hat­te, als gebe es bei ihnen etwas zu se­hen.
In einer Entfernung hörte er Ge­plät­scher und dumpfe Men­schenlaute und blickte, als er zwischen den Baum­zu­schauern hindurchtrat, auf einen der Teiche. In seiner Mitte stand Ih­scha bis zu ihrem Bauch im Wasser. Wie die Blät­ter einer Seerose schwamm ihr weißes Kleid auf dem Wasser um sie her­um.
Nicht weit am Ufer standen drei finstere Ge­sellen. Sie riefen Ihscha Dinge zu und spukten nach ihr aus. Keiner von ihnen be­merkte Woi, so gefangen waren sie. Ih­scha selbst lach­te die drei nur aus. Schein­bar war sie dort, wo sie stand, sicher vor ihnen, denn kei­ner von denen traute sich, zu ihr ins Was­ser zu kom­men. Einer stieg bloß in den Morast und formte Kugeln, die in seinen Händen auseinanderliefen, bevor er sie schleudern konnte.
Was sie riefen, verstand Woi nur inso­weit, als es un­flätig und schmutzig war. 'Hure' und 'Bock­dirne' riefen sie. Andere Ausdrücke waren wohl so derb, dass ein junger Für­stensohn sie nicht kennen durfte.
Plötzlich hielt Ih­scha den Dolch in der Hand und streckte ihn den Dreien entgegen, die erst begrif­flos glotzten. Doch als sie er­kannt hatten, was Ihscha in der Hand hielt, duck­ten sie sich wie unter einem Peitschen­schlag, mach­ten eine Kehrt­wendung und ver­schwan­den lauf­fluchtartig im Wald. Wenig später hörte Woi, dass sie auf ihren Pferden davon­ritten.
"Ihscha", rief Woi, der zwischen den Bäumen hindurch­getreten war, "ich habe alles mit angesehen."
"Sie konnten mir nichts anhaben", rief Ihscha zurück.
"Nein, das konnten sie nicht", bestätigte ihr Woi, "aber was hattest du mit ihnen zu schaffen?"
"Erst gib selber Auskunft! Sag mir, was du im Wald zu dieser Zeit suchst!"
Woi überlegte, dass er sie nicht anlügen wollte. "Ich komme, weil ich den Dolch brauche. Es geht nicht län­ger, dass ich ihn dir lasse!"
"Hast du gesehen, wie ich sie vertrieb?"
"Ja, das war sehr mutig!"
"Dein Dolch gibt mir die Kraft. Wie hätte ich sie sonst vertreiben können!?"
"Ich brauche ihn, Ihscha. Dafür kam ich. Das wollte ich dir sagen. Ich versprach der Dolch der Fürstin eures Hau­ses."
"Sie ist nicht meine Herrin. Was habe ich mit ihr zu schaffen? Ich war ihnen eine Kundschafterin, doch das ist nun vorbei."
"Ich versprach ihn als einen Ehepfand!"
"Wie konntest du IHR versprechen, was du MIR zu nehmen gabst!?"
"Es ist mein Dolch, Ihscha. Ich brauche ihn!"
"Ich geb ihn nie wieder her! Hörst du, nieder wieder! Denn gäb' ich ihn heraus, dann stündest du sogleich am Ufer wie einer von denen und würdest Schimpfwörter rufen!"
"Nie würde ich mich so gemein machen!"
"Das sagten diese Drei, einer wie der andere, zu ihrer Zeit auch. Nein, ich wäre dumm, wenn ich dir glau­ben wür­de!"
"Ich hol' ihn mir", warnte Woi. "Es ist nicht weit zu dir."
"Für die Augen ist es nicht weit, aber jeder Schritt würde dich in die Tiefe ziehen!" Ihscha lachte, immer lauter werdend, und ihr La­chen pras­selte auf ihn herunter und tat weh, dort wo es auf die Haut traf. So schnell wie die drei vor ihm rannte Woi in den Wald zurück.
Außer Atem hielt er sich an einer Rinde fest und blickte sich um. Wie sehr Ihscha sich verwandelt hatte! Es war unklug gewesen, ihr zu sagen, wie dringend er den Dolch benötigte! Nun war sie gewarnt und würde alle ihre Kraft gegen ihn einsetzen!
"Psst, Woi", rief es hinter einem Baum.
"Hier sind wir, Fürstensohn", rief es.
'Komm herüber zu uns', winkte eine Hand.
"Wer seid ihr?", fragte Woi, als er sich vorsichtig den vier Gestalten näherte, die sich hinter einem Busch nie­dergeduckt hatten.
"Wir sind die Räuber des Waldes und kennen dich", sagte ihr Anführer, der einen Hut mit einer Fasanenfeder auf dem Kopf trug. Die drei anderen stimmten lebhaft nic­kend zu.
"Ihr kennt mich noch?", tat Woi erstaunt.
"Du warst ein Junge, da kamst du in den Wald mit einem Sol­daten, der in die Jagd dich einwies. Du aber hat­test so we­nig Angst wie jetzt."
"Das war Medith, und ich war noch sehr klein", erinnerte sich Woi.
"Einmal brachtest du einen Jungen mit, der 'Sterben' spielen wollte."
"Ich erinnere mich ... Wisst ihr, dass der Junge nicht ein­mal einen Namen hatte?"
"Ein seltsamer Junge, da geben wir dir recht!"
"Ich sagte, ich sei euer Anführer. Das war natürlich gelogen!"
"Du hast den Mut und die Klugheit eines Anführers. Es war also nicht sehr gelogen!"
"Kennt ihr auch ... Ih­scha?", fragte Woi.
"Wir kennen sie als Fee und wundern uns, dass du sie mit ihrem Namen kennst."
Immer wieder sahen sich die Vier nach allen Richtungen um. Sie schienen zu fürchten, dass Ihscha ihnen bis hier­her ge­folgt war, um sie zu belauschen.
"Könnt ihr mir gegen Ihscha helfen?", fragte Woi. "Ich brauche euren Rat in einer Sache ..."
"Psst, nicht so laut!", flüsterte der Anführer. "Nachts ist sie mächtig, und wir müssen sie fürchten. Komm in den Wald bei Tage, sei auf der Hut und allein. Wir wol­len dir beistehen, wenn wir vermögen."
Als Woi versprochen hatte zu kommen, waren sie fort, hat­ten sich in die Dunkelheit davongeschlichen. Aber sie mussten wohl für ihn gesorgt ha­ben, denn Prinz war gekom­men und berührte mit dem feuchten Maul Wois Rüc­ken.

Chapter 40. Li als Tagesfürstin

"Li", sagte der alte Fürst, "ich bitte dich, sei meine Frau bis zum Abend, meine Tagesfür­stin."
Er kniete vor ihr auf dem kalten Boden und spürte keinen Schmerz in den Beinen. Das Blut war in seinen Kopf gestie­gen, und aller Schmerz hatte sich in seinen Augen gesam­melt. Das Mädchen war völlig ver­wirrt, aber sie nahm ihm seine Rede nicht übel.
"Fürst", sagte Li bittend, "es ist nur ein Spaß, ein Spiel, das ihr treibt, nicht wahr!" Der Fürst nickte sehr ernst. "Wenn es das ist, will ich eure Frau wohl sein bis zum Abend, eure Tagesfür­stin, wie ihr sagt, dass euch die Zeit nicht lang werde und dass ihr statt des Allein­seins meine Hand nehmt."
Langsam, ganz langsam erhob er sich von den Knien, die völlig taub geworden waren und ihm durch lautes Knacken zu verstehen gaben, dass sie zu alt waren für solche Auftrit­te.
"Oh weh", sagte der Fürst, "was mute ich mir zu ... und dir. Aber bis zum Abend halte ich durch. Komm nimm mei­ne Hand, ich will dir etwas zeigen."
Er führte sie langsam zu seinen Räumen. Li hielt an, als wolle sie etwas klarstellen: Gewisse Dinge taugten sich nicht für eine Tagesfürstin, und sie dachte nicht daran, solche Regeln zu verletzen.
"Nein, nein", sagte der Fürst und lächelte, fast ge­schmeichelt, dass sie ihm solches Ansinnen zudachte. "Sieh mich an: Der Geist ist jung, aber der Körper ... schon dass ich kniete vor dir, verzeiht er mir nicht. Ich führe dich in das Ankleidezimmer. Du sollt einer Für­stin gleich gekleidet sein. Dort in den Schrän­ken, die ge­schlossen sind seit lan­ger Zeit, sind die schönsten Kleider, die du dir denken kannst."
Er führte Li langsam zu einem abgelegenen Zimmer, immer wieder kichernd, dass sie von ihm ihre Tugend bedroht sah. Er öffnete die Tür und zog ein wenig die Vorhänge auf, dass gerade genug Licht hereinfiel.
"Ihr denkt oft an eure Frau, nicht wahr", sagte Li. "Ihr Duft ist noch hier, der so flüchtig ist wie ein gehauchtes Wort."
Der Fürst nickte. All das war richtig und schön gesagt. Ja, Schira sprach noch zu ihm. Es waren keine Worte, nur die Laute in ihrer Sprache, die er nicht ver­stand.
Li besah staunend die Menge der Kleider. "Fürst, es sind so­viele! Welches soll ich anziehen? Das müsst ihr ent­schei­den. Schön sind sie alle, wunder­schön."
"Leg schon mal deinen Umhang ab", der Fürst ki­cherte, weil Li schon wieder etwas dachte, "nichts als den Umhang sollst du able­gen. Ich darf dir aber sagen, dass mich dei­ne Sorge rührt. Du siehst Äste, wo nicht einmal Knospen sind. Fast will ich selbst an den Früh­ling glauben."
Langsam ging er die Kleider durch. Hielt eines so, das andere so. Sie waren schön, alle­samt - dann hatte er das richtige gefunden! Er hielt es hoch und ließ das Licht hin­durch scheinen.
Das Kleid, das er Li hinhielt, besaß eine Farbe zwische Blau und Rot, die sie noch nie gesehen hatte. Sein Schnitt war erdenklich ein­fach, aber die Farbe ließ es leuchten. Wenn eine Frau das Ge­sicht, wie aus einer Sage, dazu besaß und Augen ohne Bo­den, dann mochte es wohl unvergess­lich sein. Li fand, dass es ihr nicht richtig stehen wollte. Es war ein Kleid, dass niemals die Frau vergaß, die es zuerst getragen hatte.
Doch der Fürst ging um Li herum und war verzaubert. Sie musste sich die Haare ein wenig anders legen und die Brau­en hochzeichnen. Ihre Augen hätten größer sein sollen, ein wenig schattiger, der Mund in seinem Schnitt fremder, aber im Licht des Zimmers, und wenn sie so still stand, dann war sie es.
"Schira, bist du es?" flüsterte der Fürst.
Li ging auf ihn zu und nahm seine beiden Hände auf. Der alte Mann sah in ihr eine andere. Seine Hände zitterten, seine Gesichtshaut war fahl geworden, so deut­lich sah er seine Frau, und so sehr hatte er sie ge­liebt.
"Schira, Schira", sagte er, nichts als ihren Namen, und schlug, als schäme er sich unendlich, seine Augen nie­der. Er setzte sich auf das Bett und ließ auch dort ihre Hände nicht los.
"Verzeihst du mir, Schira, jene Nacht?"
Li nickte langsam.
"Wenn ich gekonnt hätte ..." Schiras Hand verstand und verzieh. Sie strich über das Haar des alten Mannes, wieder und wieder. Verstand die Tränen, die in seinen Augen schwammen. Vernahm die Worte, die ihm auf den Lippen zer­fielen. Entschuldigt war es und gut für alle Zeit.
Langsam öffnete sich die Tür des Zimmers. Jemand sah hinein, glaubte nicht, was er sah, öffnete die Tür noch ein wenig wei­ter, schob den Kopf in Gänze herein und blieb doch unentschie­den zwi­schen Verwunderung und Unglau­ben.
Der alte Fürst hörte nichts. Er war in einer Welt, die andere Bilder und Geräusche für ihn hatte. Li sah sich um, ohne ihre Haltung zu verändern. Es war Woi, dessen stum­mes Starren in mundoffenes Staunen über­gegangen war, um in einem lang gezogenen und frech gewogenen Grinsen zu enden.
"Wenn ich störe, gehe ich wieder" sagte er, schien aber nicht ernsthaft diesen Weg verfolgen zu wollen.
"Ach, Woi, komm herein", sagte der Fürst. "Was wäre die­se Stunde ohne dich. Dies ist deine Mutter Schira, die starb, als sie dich ge­boren hatte. Sie ist gekommen, mir meine Sünde zu verge­ben." Undeutliches gab er schluch­zend von sich in Folge des Gesagten.
Li drückte die Hände des alten Fürsten und legte soviel Vergebung in ihre Augen, wie es ihr als einer Fremden ge­stattet war. Sie kannte das Gesicht, das Woi verzog, und wusste, dass er sich jetzt einen Streich ausdachte. Nun musste sie besonders auf der Hut sein.
"Ach, Mutter", sagte Woi mit belegter Stimme. "Die lan­ge Zeit ... wie hast du mir gefehlt."
Li konnte sich nicht dagegen wehren, dass er sie umarm­te. Sie hätte dem Fürsten alles zerstört mit einer fal­schen Bewegung. Das war ganz Woi, der die Situation aus­nutzte und sei­nen Spaß an ihrem Elend hatte.
"Kommt, Mutter", sagte Woi. "Kommt auch, Vater, alle sollen sehen, wie wir wieder vereint sind."
Er half dem Fürsten auf, nutzte dessen Verwirrung aus, um ihn dorthin zu steu­ern, wo er sich vor allen Augen lä­cher­lich machen würde. Li würde Woi nicht aufhalten kön­nen, soweit kannte sie ihn.
"Hofmarschall und alle!", rief Woi den Gang herunter. "Kommt her! Seht, Schira ist gekommen! Seht die Fami­lie wun­derbar ver­eint! Richtet den Ess-Saal! Lasst die Musik holen, gebt Nach­richt, was geschah!" Er zog Li und seinen Vater hin­ter sich her. Der Hofmarschall hatte kaum Zeit, sein Stau­nen angemessen auszudrücken.
Woi brauchte Li nur hinter sich herzuziehen, um den alten Mann dahin zu bekom­men, wo er ihn haben wollte. Vielleicht war es Lis Schuld, dass sie den alten Mann an ih­rer Hand ver­trau­ensvoll wie ein Kind mitführte. Wie ein Blinder stapfte er hinter ihnen her.
Als sich alle im großen Saal versammelt hatten, trat Woi stumm zurück und ließ dem alten Fürsten keine Wahl, als selbst zu spre­chen. Alle warteten mit Woi, ob der Fürst seine Lächer­lichkeit noch würde übertreffen können. Sie waren still und ge­bannt.
Mit leiser Stimme, jedem verständlich, sprach der Fürst, als sei er allein im weiten Rund: "Für ein paar Stunden, bis zum Abend hat sich die Zeit zu­rückgezogen und schickte mir einen Men­schen, den ich lange vor dem Gestern verloren glaubte. Heute lässt sie mich gewähren und wird es morgen leichter haben mit mir altem Mann. Wie alle Geizigen wird die Zeit mir's aufschreiben und vom Mor­gen den gleichen Teil abzie­hen. Die Dumme weiß nicht und würde es nicht glau­ben, dass jeder von ih­rer Münze die Wahl hat, ei­nen Schatz zu kau­fen, den er niemals verliert, oder ei­nen Korb voll Bei­fall, den er bis zur Leere herum­trägt. Den Schatz, den ich er­warb - ich will ihn nicht länger vor eu­ren Augen ver­bergen: Dich, wunder­barste Schira, dich, schönste Schira, habe ich dem Ver­ges­sen abge­kauft ... den Rest trag ich, um ihn zu ver­lie­ren."
Der alte Mann ließ sich langsam von Li aus dem Saal füh­ren. Sie gingen über den Hof wie zwei Kranke, die sich gegenseitig eine Hilfe waren. Bis zum Teich schafften sie es, weil sie immer wieder anhielten. Lange vor ihnen war der Abend da.
"Es war eine schöne Rede, Fürst. Ein alter Mann hat ih­nen allen die Augen mit sei­nem Weh ge­füllt!"
"Bist du es, Li? Ist es schon Abend?" fragte er.
"Ja, ich bin es wieder, die Li. Schira kehrte in dein Herz zurück, dorthin, wo sie hergekommen ist."
Er nickte zufrieden und setzte sich auf die Bank. Ließ seine Gedanken im langsamen Kreis mit den Fi­schen durch das Was­ser glit­ten. Am Rand des Ta­ges saß er, Seite an Seite mit der Stille. Der Abend kam und strei­chelte ihm das graue Haar. Am gegenüberliegenden Ufer tran­ken schwar­ze Weiden die rote Sonne leer.

Chapter 41. Woi trifft Baldeina im Wald

"Hier ist niemand", sagte Woi leise und ärger­lich zu sich. Er hatte am Sinn seines Besu­ches zu zwei­feln begon­nen. Was soll­ten ihm vier Räuber aus dem Wald schon sagen können? Es sprach nicht für ihren Mut, dass sie Ihscha fürch­teten und erst am Tage sich trau­ten, frei heraus zu sprechen.
Die Luft war feucht von den Teichen in der Nähe. Aus hohen Baumkronen ließ die Sonne dunstig gewirkte Vorhänge her­abhängen. Als er Prinz in den Schat­ten treten ließ, hatte dieser leise schnaubend etwas vernommen. Schnell nahm Woi seinen Bogen auf und war aufmerksam.
Dreißig Schritte vor sich hört er im Unterholz ein Knacken und das Sir­ren eines Pfei­les, der im nächsten Baum bebend stec­ken blieb.
Er sprang ab und führte Prinz im weiten Bogen in den Rücken des hohen Baumes, auf dem der Bo­gen­schütze ge­sessen haben musste. Solange er unsicht­bar für die Räu­ber blieb, würden sich diese zur Unvorsicht ver­leiten las­sen und ein gutes Ziel abgeben.
Hinter einem eingedrückten Busch bemerkte er den Hut ihres Anführers mit der langen Fasa­nenfeder, die er mit etwas Glück treffen würde. Die Span­nung des Bogens stei­ger­te er gleichmäßig bis zum Hal­tewin­kel, hielt die Luft an und wurde in sei­nem Her­zen eins mit dem Bogen, mit seinen Augen eins mit dem Ziel. Das war der Moment, in dem er den Pfeil los­ließ, der sich ohne zu zit­tern, fast ohne Flug­abfall drei Fin­ger­breit neben dem Fe­derhut in den Baum bohrte.
Jetzt schreckten sie hoch. Ihre Augen flogen auf wie eine Schar Enten.
"Das kann nur einer sein!", rief einer von ihnen.
"Woi ist uns in den Rücken geschli­chen, und wir ha­ben ihm ein schö­nes Ziel abgege­ben."
"Komm her­aus, zeig dich, Woi! Du hast mehr als gleich­ge­zo­gen. Für unseren schlech­ten Schuß, mehr als Be­grüßung ge­dacht, hast du un­se­rem Besten fast den Kopf durch­bohrt."
Der Haupt­mann schließlich sagte tonlos im Schrec­ken: "Wie ist ein solcher Schuss mög­lich? Seht her und be­denkt, Freunde, wie schnell ein Räu­berle­ben sein Ende finden kann!"
Woi trat lachend hervor. "Ihr Hasenherzräu­ber, so unvor­sichtig wart ihr, dass euch der Gejagte zum Jä­ger wurde. Habt darauf vertraut, dass er euch nicht treffen würde, wo ihr ihn nicht treffen könnt." Rief es ihnen fröh­lich zu, lach­te laut und zeigte sich ihnen winkend den treff­lichen Bo­gen.
"Setzt euch her, Woi", sagte der Hauptmann. "Wir können nicht lange bleiben, müssen uns bald ein neues Versteck suchen ... fast in jeder Nacht noch kommt die Fee in unseren Wald."
"Ich halte euch nicht auf", sagte Woi. "Gebt mir einen Rat, dann bin ich fort."
"Wie kamt ihr überhaupt in ihre Fänge?"
"Sie ist am Hofe meines Vaters und hat meinen Dolch, den ich einer Fürstentochter für die Hochzeit ver­sprach, in ihren Besitz ge­bracht. Nun lässt sie nicht mehr von ihm ab!"
Ängstlich sahen die Räuber sich um, als fühlten sie sich von überall beobachtet. Es waren wahrhaft furchtsame Räu­ber, die nicht gut in einen Wald passten!
"Sagen wir es ihm", drängte der eine. "Wenn Woi ihre Kraft bricht, ist es zu unserem Nutzen!"
"Eilen wir, dass wir von hier fort können", so der ande­re, der sich so oft umgesehen hatte. "Ich habe kein gutes Gefühl. Irgendwer beobachtet uns!"
"Sie kommt nur nachts, das weißt du. Was also fürchtest du dich schon am Tage?"
Und schließlich der Anführer, der ihnen das Schweigen gebot: "Sie besitzt deinen Dolch, nur solange sie ihre Schön­heit besitzt. Hörst du!? Hast du verstanden!?"
"Ja, das weiß ich", antwortete ihm Woi ungeduldig. "Wie aber be­komme ich ihn zurück. Sagt es mir. Ich tu, was ihr sagt, auch wenn es mehr als euren vierfachen Mut ver­langt."
Da flüsterten sie im geübten Chor: "Schneid ihr ab, das lange Haar, den Fluch der Fee! Raub ihr das schwarze Gold! Wirf's hinauf in die neidische Nacht! Bist du schlau und mutig, so ist der Dolch bald wieder dein!"
"Was bist DU denn für einer?" fragte eine wirkliche Stimme auf Wois Rücken herunter. "Verstehst du die Spra­che der Bäu­me und sprichst mit ihnen? Haha, Haha!"
Woi spürte den Schlag des Schreckens bis in die Zähne. Er fuhr herum und sah einen Jungen, der in seinem Alter war, ein wenig größer und reichlich dick. Er saß auf ei­nem schneewei­ßen Pferd und hat­te ir­gendetwas Gelbes um den Bauch gebun­den. Dabei hielt er beide Hände erhoben, als wol­le er Woi um eine letzte Gnade an­flehen. Sein wei­ches und fre­ches Gesicht war ein einziges eingedrücktes Grin­sen. Wie ein schlechter Schauspie­ler hatte er sich in Positur ge­setzt, und hörte nicht auf, sich einen Ulk mit Woi zu ma­chen.
"Findest mich wohl lächerlich", sagte Woi leise und merkte wie sein Kopf rot wurde vor Wut. Die Räuber waren alle fort. Wie recht sie hatten, unruhig zu sein und sich zu eilen!
"Ups", machte der Junge. "Nein. Gluck. Käme nie auf die Idee. Ausgefallen, würde ich sagen, mmmh, aber lächer­lich? Eine Fee nahm deinen Dolch? Ich hoffe doch, er wird sich ersetzen lassen! Gluck."
"Pass auf, du ... Lurch! Wir steigen beide ganz langsam von unseren Pferden. Dann wollen wir mal sehen, wer hier wen lä­cherlich findet. Den Bogen, siehst du, lege ich bei­seite."
Als der Junge frech nickte, glitt Woi langsam von sei­nem Pferd. Worauf der andere lachte, schnell sein Pferd herum­riss und durch den Wald davongaloppierte.
Woi fluchte, verlor Zeit, weil er beim Aufspringen den Bogen falsch fasste und sah das weiße Pferd erst, als er den Wald verlassen hatte. Der fremde Junge ritt auf eine Gruppe von Wagen zu, die von zwei Soldaten begleitet wurde. Dort hielt er an und zeigt auf Woi. Ein fetter Mann, der sich auf seinem Pferd umgedreht hatte, rief den Soldaten etwas zu. Mit gezogenen Schwer­tern rit­ten diese los. Die Büschel auf ihren glänzenden Hel­men waren gelb und grün. Ihre Pferde sahen aus wie Zirkus­pferde, aber es waren im­mer­hin zwei Soldaten. Also ver­schwand Woi, und die Sol­da­ten, wenn es wel­che waren, verfolgten ihn nicht weiter als bis zur Gren­ze der offenen Wiese.
Als er im Wald war, dachte Woi über diese Gruppe nach. So etwas hatte er noch nie gesehen. Vielleicht waren es Schauspieler, die auf der Durchreise waren. Die Wagen hat­ten sie voll von Anziehsachen und heute abend würden die Soldaten Bauernmägde mimen, und der Junge mit seinem gel­ben Zeug, der aussah wie ein Lurch, würde ihnen von seinen Abenteuern im Wald erzählen. Sie waren lächerlich, das waren sie! Aber sie mussten reich sein, denn die Pferde, die sie hatten, waren teuer und alles andere als Packesel. Der fette Mann sah aus, als nasche er zuviel.
Prinz ritt zu einem freien Platz, wo er grasen und Was­ser trinken kann. Sie kamen an dem hohen Baum vor­bei, wo Woi die Räuber angegriffen hatte. Den Pfeil, der in der Rinde steckt, konnte er nur mit Mühe herausziehen. Stolz strich er über seinen Bogen. Mit ein wenig Übung würde er ihn zu einer tödlichen Waffe machen.
Woi ließ Prinz in Ruhe grasen. Er legte sich auf das Moos und sah zu, wie sich das Tageslicht aus dem Himmel zurück­zog. Die Luft wurde trübe und die Geräusche weich. Die Tiere erzählten sich von dem Lurch und seiner Schau­spiel­schar. Bald war der Wald gefüllt mit ihrem Hohn. Einige Vögel hatten die Flü­sterworte der Räuber aufgelesen und warfen sie sich zu: '... den Fluch ... das schwarze Gold ... die Nacht voll Neid ... schneid ab, schneid ab, schneid's ab, das lange Haar!'

Chapter 42. Das Fest für Baldeina

Das Fest zum Abend hatte pünktlich begonnen. Am Tisch des Fürsten saß ein jun­ger Mann, dem eine breite gelbe Schärpe umgebunden war. Die Freude über ein gutes Essen und einen vergnüg­ten Tanz zum mundenden Wein hatte sich mit ei­nem feinperligen Schweiß­teppich auf seinem Ge­sicht aus­ge­breitet. Der Fürst saß neben ihm und wirkte in seiner Erscheinung ein wenig beengt.
Der junge Mann sah den Tänzerinnen zu. Unter ihnen fand beson­ders Ihscha seine un­ge­teilte Aufmerksam­keit. Wenn er recht sah, dann ver­steckte sie ihre Blicke vor ihm nicht. Dabei war ihre Hal­tung edel und ihr Gesicht von fei­nem Schnitt. Solches Haar wie ihres glaubte er noch nie gese­hen zu ha­ben. Indem er ihr zusah, vergaß er, wie lang und be­schwerlich der Reise­tag gewe­sen war.
Am nächsten Tisch saß der Gesandte des Kaisers und hatte Durchfall. Er war mit seinem Magen von vornherein eins in der ent­schiedensten Ab­lehnung dieser Reise gewesen. Dieses Ge­schüttele und Steißgesto­ße, die­ser immerfort auslaufende Schweiß, der überallhin vordringende Staub, die Sprache der Bauersfrauen, die Frechheit der Gassenjungen - all dies war auf das höchste widerwärtig. Er fragte sich zum wie­derholten Mal, ob der Kaiser gut beraten gewesen war, seinen be­leibte­sten Diener auf eine solche Reise zu schik­ken. Immer wieder musste er sich einen Vor­wurf an seinen Kai­ser verbie­ten.
Dabei horchte er erschreckt auf die seltsamen Geräu­sche, die aus seinem Magen zu hören waren. Er legte eine Hand auf seinen Bauch, als könne er die Lautstärke der hallen­den Klagen beeinflussen.
Ob ihm der Ritt nicht bekom­men sei, fragte der Mann ne­ben ihm und stellte sich und seinen Sohn Friede vor. Ein Gesandter des Fürsten Togisch sei er und er­fahren in der­lei Rei­seusancen. Das Be­ste sei Rot­wein und ein starker Wille. Der Kaiserli­che Gesand­te goss sich ein und noch ein wenig dazu, weil er den Wil­len am Tage auf das Dünn­ste durch­geritten hatte.
Man solle ihn 'Baldeina' nennen, sagte der junge Junge am Fürstentisch und füllte den halbleeren Teller nach. Er sei Sohn des Fürsten Hanga, auch 'Gold-Hanga' ge­nannt. Aber bitte, 'Baldeina' genüge für den Abend. Haha, Hoho, und für die Nacht genüge es sowie­so, fügte er laut und für die Tänzerin hinzu.
Um seinen Magen zu übertönen, erzählte der Gesandte, dass der Kaiser ihn ge­schickt habe, um den Erfolg dieser Reise zu gewähren. Da der Fürstliche Gesandte und eben­sowohl sein Sohn Friede nicht nachfragten, setzte er fort, daß Baldei­na, der am Für­stentische sitze, und Woi, der Sohn dieses Haus, den beiden Töchtern des Kaisers zwecks einer Heirat vor­zuführen seien. Weil der Magen laute Zwi­schenrufe von sich gab, verschob er den Stuhl über dem Boden, was einen ähnlichen Klang abgab. Nichts habe der Kaiser ver­gessen, ebensowenig den Für­sten Alta wie seinen Sohn.
Ob die Heirat be­schlossen sei, fragte der Fürstliche Ge­sandte.
Ob der Kaiser ihn auf eine solche Reise geschickt hätte, wenn die Sache nicht be­schlossen sei, frag­te der Kaiserli­che Gesandte ungnädig zu­rück.
Dann hätten des Kai­sers Töchter die erste Wahl, sag­te der Fürstliche Gesandte zu seinem Sohn, und der fürst­lichen Abordnung bleibe nur die Abreise.
Es seien wun­der­bare Mädchen, sagte der Ge­sandte des Kaisers und nahm vom roten Weine einen großen Schluck, der wie ein war­mer Ball in seinen leeren Magen fiel.
Derweil fragte Baldeina den Fürsten, wer denn der Sohn des Hauses sei. Er wolle doch seinen Reisegenossen kennen lernen.
Der Woi sei nicht hier, nuschelte der Fürst, weil ihm Baldeina, ohne zu achten, gegen das linke Schienen­bein getreten hatte.
Baldeina bat, der Fürst möge ihm einen Eindruck zu geben.
Woi sei nicht groß, sagte der Fürst und sah besorgt unter den Tisch. Kräftig sei er, meist aber still und gebe nicht viel um Für­stendinge.
Ob sein Pferd 'Prinz' heiße, fragte Baldei­na.
Dies wurde ihm fürstlicherseits nickend bestä­tigt.
Dann habe er ihn be­reits im Wald getrof­fen, rief Baldei­na. Er neige zum allermenschlichsten Zor­ne, das ließe sich wohl sagen.
Obwohl um Baldeina herum viel und lustig geredet wurde und der Tanz seine Fortsetzung nahm, dachte er über sei­ne Begegnung im Wald nach. Was für ein seltsamer Bur­sche dieser Woi war! Während bei seinem Vater gefeier­t wurde, saß er im Walde und sprach mit sich selber. Bal­deina wür­de auf­pas­sen müs­sen, wenn er allein mit ihm war. Dieser Woi war et­was kleiner, aber bestimmt sehr kräf­tig und wür­de nicht lan­ge zögern, sich einen Vor­wand für einen Kampf zu suchen. Sicherlich hätte Baldeina ihn nicht ver­spot­ten dürfen! Einfach wegzu­reiten, als Woi zum Kampf vom Pferd gestie­gen war, war zwar schlau und spaßig gewe­sen, aber er würde nun keine ruhige Minute mehr haben.
Er ent­schloss sich, ein schlauer Junge zu sein und Woi zu sei­nem Freund oder Ge­folgsmann zu machen. Bal­deina würde die Ideen ha­ben, Woi war ge­schickt und mutig. Mit der Zeit und Gelegen­heit würden sie unzer­trennliche Freunde wer­den.
Doch erst ein­mal musste sich Baldeina um die junge Tän­ze­rin kümmern. Immerfort sah sie ihn an und tat geradezu verliebt und schmusig. Da brauch­te er nur ein leises Wort zu sa­gen, einen herztiefen Blick zu wagen. Er war kein Kostverächter, einem Nach­tisch im Bett auf den Nach­tisch am Tisch nicht abge­neigt. Zu­erst aber nahm er sich vom Tel­ler eine gefüllte Teigtasche, welche er sich zur Gänze in den Mund führte, um sich danach sei­ne Fin­ger einen nach dem anderen abzu­lecken, dass die kleine Tän­zerin wohl den Genießer in ihm erkennen konnte.
Am letzten Tisch saßen die bei­den Soldaten von Baldeina mit den Soldaten des Fürsten zu­sam­men und waren sehr in die Mitte genommen worden. Sie waren statt­liche junge Männer, nicht sehr trink­fest, aber gesellig. Dass sie dem Kaiser zum Geschenk ge­macht werden sollten, hat­ten sie stolz und herablächelnd zum Be­sten gege­ben. Nun, da wuss­ten der alte Remp ih­nen etwas zu er­zäh­len. Still waren seine Kameraden, als er düster das Glas sich füllte. Dem Kaiser zum Geschenk würden sie ge­macht, das habe er rich­tig verstanden, fragte der alte Remp, um sicher zu gehen. Sie bestä­tigten die ihnen zuge­dachte Ehre gerne. Stolz stellten sich ihre Bärte auf. Ob es er­laubt sei zu erzäh­len, fragte der alte Remp, ge­drängt von seinen Kame­raden. Es sei er­laubt, kam es von Baldei­nas Sol­daten. Er müsse erzäh­len, begann der alte Remp, von aller­lei Pro­ze­duren, von de­nen er sagen könne, dass sie ebenso merk­wür­dig wie wahr seien - für die Quelle erhe­be er sein Glas - wolle also mit Einverständnis sprechen von ­ei­nem Kaiserli­chen Brauche in dessen Ergebnis, die Sol­da­ten am dortigen Hofe mit den Sol­daten der Für­sten gewisse Dinge nicht mehr ge­mein hät­ten. Also, kurz und schmuck­los ge­sagt, man trenne ihnen am Hofe des Kaisers, sauber und sozu­sagen behut­sam, gewisse Teile ab, die beim Manne und Soldaten paarwei­se in bester Lage vor­zufin­den seien. Na­tür­lich brauche der Kaiser auch Männer als Sol­daten, aber das sei nie­derer Dienst, die schönsten und propersten der Soldaten dienten ihrem Kaiser als Eunuchen, so gesehen fehle es ih­nen an nichts. Der alte Remp klatsch­te in die Hände, um die bei­den Geschenksoldaten auf andere Gedanken zu brin­gen, aber diese zuck­ten schreck­haft unter einer Vor­stellung zusam­men, die sie mit diesem Geräusch verbinden moch­ten. Im Ergebnis der Erzäh­lung ver­stumm­ten sie ganz. Der eine trank zuviel, wäh­rend der an­dere nichts mehr an­rühr­en wollte. Der alte Remp sprach noch lange davon, wie er gezögert habe, von dieser Prozedur eine Kunde abzule­gen.
Woi hatte leise den Raum betreten und sich zu den Sol­daten gesetzt, ohne dass ihn jemand an den anderen Tischen be­merkt hätte. Die Soldaten behandelten ihn wie einen der ihren und machten ihm auf ihrer Bank Platz.
Als zum Gesange aufgerufen und Baldeinas Name zuvorderst eine Nennung erfuhr, erhob sich dieser, geschmeichelt von der vielstimmigen Nachfrage. Er nahm einen vol­len Schluck aus dem Glas und klopf­te sich auf die Brust. Alle Blicke waren, das Beste erwartend, auf ihn ge­rich­tet, nur dort hin­ten bei den Soldaten saß dieser Woi, spät gekommen, und schaute grim­mig. Ihn würde Baldeina später be­sänftigen kön­nen, nach sei­nem Auftritt, nach sei­nem Nachtisch, ir­gend­wann morgen, auf der Reise.
'Rööh, Tööh, Nööh, Mööh!' sang er und reichte sei­ne Hand der schönen Tänzerin, die er als seine Darbieterin auf die kleine Bühne führte. Ohne jede Scheu stellte sich das Mädchen neben ihn. Sie war nicht groß, und ihre Haare hatten einen Glanz, dass die Augen darauf den Halt ver­lieren wollten.
Baldei­na legte den Arm um sie. Auf ihrer beider Bühne war es ein wenig beengt, aber das Mäd­chen war flink auf ih­ren Füs­sen und durchaus biegsam in ihrer Dar­bietung! In Anbe­tung sang Baldei­na die erste Lied­stro­phe. Sie er­kannte das Lied sogleich und wusste zu ant­worten im Ge­sang. Ohne zu zögern sang sich Baldeina in ihr und der Zuschauer Herz, über­wand Lücken vollkeh­lend und war zur Stel­le, als das Mädchen vom Lied in seine Umar­mung geworfen wurde. Da hob er sie in die Höhe und küsste ihr vollglutvoll auf den Mund. Sie war ganz leicht und schmeckte nach Va­nille.

Chapter 43. Ihscha als Töchterchen

"Ich will mit meinem Sohn allein sein", sagte der Fürst. Daraufhin verließen der Hofmarschall, die Diener und sogar der Soldat an der Tür den großen Saal.
"Komm, Woi, du musst näher treten, wenn wir miteinander reden wollen", sagte der Vater und winkte ihn heran.
Woi trat zögernd näher. Der Vater machte wieder einen sehr vernünftigen Eindruck und blickte Woi ohne Fremdheit in die Augen. Er schien seinen gestrigen, peinlichen Auf­tritt völlig vergessen zu haben. Woi sah beruhigt, dass er sich kein schlechtes Gewissen zu ma­chen brauchte.
"Ich mache mir Sorgen", sagte der Fürst. "Wir wollen zum Fenster gehen und hinaussehen."
Woi stellte sich neben ihn an das Fenster. Der Fürst blickte hinaus und sagte lange Zeit nichts. Auch Woi schwieg, weil er in Gedanken bei Ihscha war.
"Unser Fürstentum ist nicht groß", begann der Fürst und beschrieb einen Bogen mit der Hand, der das wenige ein­fasste. "Ein alter Titel und kaum genug, um ihn mit Leben zu füllen. So ist es, nicht wahr?"
"Ja, viel ist es nicht." Woi dachte, dass er Ihschas Haar nur durch einen Kampf bekommen würde. Aber wel­che Waffen taugten gegen eine Frau, die eine Fee war?
"Da, du sagst es selbst." Der Vater war froh, dass Woi so einsichtig war. "Ich nehme an, der Kai­ser weiß nicht einmal, wie wenig es ist ..."
Ihscha wusste um das Geheimnis ihrer Macht. Sicher­lich würde sie sich nicht auf ei­nen Kampf ein­lassen, sondern entfliehen oder sich unsichtbar machen, wie sie es immer ge­tan hat­te. Niemals würde sie zulassen, dass er ihr die Haare abschnitt. Sie war eine Fee und klug dazu!
"Hätte der Kaiser dich sonst eingeladen, eine seiner beiden Töchter zu freien?" Der Fürst trat einen Schritt zur Sei­te, weil ihn das Licht blendete.
"Nein, wohl nicht", sagte Woi. Es gab keine Möglich­keit, sie zu zwingen. Also blieb nur, sie in ein Spiel zu lok­ken.
"Baldeina besitzt soviel, dass sie es in zwei Wagen mit­führen und bewachen müssen", sagte der Vater betrübt. "Da­von sind wir weit entfernt. Du wirst im Kaiserlichen Wagen mitfahren und wenig mehr als einen Reisesack bei dir führen."
"Ich nehme auf jeden Fall Prinz mit, ebenso meinen Bo­gen", warf Woi ein.
"Ja, auch deinen Pinsel und deinen Dolch ... aber ande­res besitzt du nicht."
"Hmm", sagte Woi. Wieder dieser Dolch! Er musste sich ein Spiel für Ihscha ausdenken. Aber, was immer er ihr vorschlug - sie würde misstrauisch sein!
"Ich fürchte, du kannst der Tochter des Kaisers nichts als deine Person anbieten."
"Gibt es denn keinen anderen zum Heiraten?", fragte Woi misslaunig. Er konnte Ihscha nur die Haare abschneiden, wenn sie sich in einem Spiel fesseln ließ. Aber Ihscha vertraute ihm nicht mehr, weil sie wusste, wie dringend er auf den Dolch angewie­sen war.
"Nicht einmal deine Liebe kannst du ihr kunst­voll genug darbie­ten - du bist ein wenig sparsam mit den Worten, wie wir wissen."
Woi nickte und gab seinem Vater recht. Baldeina führte einen unsichtbaren dritten Wagen an schö­nen Worten bei sich.
"Weil der Kaiser es verlangt, musst du auf diese Reise gehen, Woi. Aber eine Kaisertochter ist sehr eigen. Ver­sprich dir also keinen allzu großen Er­folg." Der Fürst dachte beklommen, wie wenig Achtung Woi vor Titeln hatte. 'Fürst' war ihm dabei ebenso ein Titel wie 'Hof­mar­schall', 'Vater' und 'Prin­zes­sin'.
"Hättet ihr euch eine Tochter gewünscht?", fragte Woi plötzlich.
So sehr erschrack der Fürst, dass er sich mit der Hand trü­gerischen Halt am Vorhang suchte. "Wie meinst du das?"
"Eigentlich nur so", sagte Woi. "Ich dachte an Li, die euch Schira war, da fiel es mir ein."
"Wie stellst du dir das vor?"
"Sie läge hier bei euch in einer Wiege und wäre einge­wic­kelt wie ein Kind­chen. Nur der Kopf schaut heraus und ist süß anzu­se­hen."
"Aber Li ist doch Schira. Ich will ihr nicht zu­muten, auch meine Tochter zu sein."
Woi tat so, als überlege er. "Aber es wäre doch schön, und würde euch erfreuen? Ich sehe doch, dass es euer Wunsch ist!"
Der Fürst nickte. Was Woi aussprach, hatte einen sehr wahren Kern. Einen Sohn zu haben, war Fürstenpflicht, aber mit seinem Herzen hatte er sich ein Mäd­chen ge­wünscht. Ihn wunder­te nur, dass Woi ein so fei­nes Ge­spür für das Ver­borgene entwickelt hat­te. Viel­leicht hatte sich der Fürst in seinem Ur­teil über ihn fehllei­ten lassen.
"Ich könnte mir vorstellen", sagte Woi und wartete, bis der Fürst ihn ansah, "dass Ihscha sehr gerne Rollen spielt. Wo Li Schira ist, könnte doch Ihscha -"
"- nicht wahr, sie ist eine wunderbare Schira!?" Die Augen des Fürsten glänzten im trüben Erinnern.
"Stellt euch vor, Schira hätte eine Tochter." Woi ließ sich nicht abbringen. "Die Mutter stände an der Wiege ih­rer Toch­ter - welch wun­der­bares Bild für euch!"
"Junge, wie sehr du mein Herz kennst", wunderte sich der Fürst.
"Dann ist es also abgemacht", sagte Woi.
"Mein Glück ist a-b-g-e-m-a-c-h-t", sagte der Fürst und lächel­te über Wois merkwürdige Wortwahl. Lange, zu lange war der Junge im Soldatischen aufgewachsen.
"Ihr müsst nur alles anweisen", sagte Woi. "Eine Wiege sollte es sein, die groß genug für Ihscha ist. Als klei­nes Kind muss sie bis zum Hals in Bänder eingewickelt sein?"
"Ich werde die Dienerinnen anweisen. Sie kennen sich aus und wissen diese Dinge."
"Natürlich muss Ihscha für euren Wunsch von unserer Li gewon­nen werden."
"Hast du ihre Augen gesehen? Sie ist ein so gutes Kind!", rief der Fürst.
"Ich weiß sogar, dass Ihscha und Li Freundinnen sind", sagte Woi.
"Was du alles siehst, mein Junge! Du solltest mehr zei­gen, wie sehr du um die Menschen besorgt bist. Einem Für­sten steht dies gut zu Gesicht!"
"Darf ich hinein und sie ansehen, bevor ihr als Vater kommt?", fragte Woi. "Sie ist ja auf gewisse Weise meine Schwe­ster."
"Wird sie nicht erschrecken?", fragte der Fürst.
"Ich zeig ihr meine große Freude und sag ihr, dass sie von ihrem Bruder nichts zu fürchten hat."
Der Vater lachte gemeinsam mit seinem Sohn und bedauerte heimlich, dass er sich von Woi für lange würde trennen müssen. Ihm wollte scheinen, dass sie sich erst jetzt wirklich nah gekommen waren.
"Die Tür ist also auf, und ich kann sie vor euch besu­chen?", fragte Woi beharrlich.
"Ich weise die Dienerinnen an, mein Wort darauf!"
Woi überlegte, ob er noch irgendetwas vergessen hatte. Ihscha in der Wiege, arglos und eingewickelt bis zum Hals, die Tür unverschlossen: Nichts fehlte, es war ein perfek­ter Plan!
'Vielleicht', dachte der Fürst, 'tritt Woi nicht ganz ohne einen Schatz vor die Prinzessin. Seine Anteilnahme am nahen Menschen, sein Gespür für Herzenswün­sche - sind sie nicht etwas, das er der Prinzessin an­bie­ten kann?'

Chapter 44. Woi schneidet Ihschas Haare ab

Woi hatte alle Vorkehrungen, die mit Ihscha ge­trof­fen wurden, vom Nebenzimmer aus belaucht. Als die Diene­rinnen gegangen waren, und es still geworden war, trat er auf den Gang und öff­nete die Tür zum gro­ßen Saal.
Dort, neben dem Stuhl des Vaters, stand ein kleines Bett, das von den Zimmerleuten mit Stäben rundherum und einem Paar Wiegekufen versehen worden war. Der Vater und Li hatten ihn nicht enttäuscht, und Ihscha hatte sich präch­tig in die Irre führen las­sen.
Bevor Woi zum Bettchen trat, nahm er sich aus dem Tisch des Vaters die Schere, mit der die Schreiber ihre Federn spitz schnitten. Vorsichtig verbarg er sie in seinen Ärmel. Die Schublade ließ er offen­stehen, damit er sie wieder zurücklegen konnte.
Als er sich über das Bett beug­te, sah Ihscha mit großen Augen zu ihm auf. Ihre Haare ver­bar­gen sich unter einem schickli­chen Häubchen. Dem blas­sen Ge­sicht fehlte die Zeichnung. Sogar ihren Duft hat­ten die Die­nerinnen fortgebadet. Es hät­te nicht viel ge­fehlt, und Woi hätte sich nicht er­kannt. Ihscha sah ihn an, als wisse sie nicht, was sie von seinem Er­scheinen zu halten habe.
Erst machte Woi ein ernstes Gesicht, dann eine lustige Grimasse. Er schaukelte ein wenig am Bett, um neben der Aufmerksamkeit auch das Vertrauen des Kindes zu gewin­nen.
"Seid ihr die kleine Tochter des Fürsten?", fragte er mit hoch gestellter Stimme.
"Ja, der Fürst ist mein Vater", lispelte Ihscha.
"Und Schira ist eure Mutter, nicht wahr?"
"Das ist richtig. Aber wer seid ihr?"
"Ich bin Woi, euer großer Bruder. Ich komme, um nach euch zu sehen."
"Wie froh bin ich, dass ich einen solchen Bruder ha­be!", süßelte Ih­scha.
"Es ist alles nur ein lustiges Spiel", flüsterte Woi, indem er sich über sie beugte. Er fuhr Ihscha sorgend über das Häub­chen, richtete die Schleife an ihrem Hals und kitzelte ihr eines der nackten Füßchen.
Ihscha kicherte und machte Geräusche. Wie ein kleines Baby rollte sie die Zunge über die Lippen, brubbelte und schmatzte. Die Haut war milchig, und die Äuglein auf der Suche nach einem Platz in diesem Gesicht. Reinlich und streichelig für jeden war sie anzuschauen.
Erneut beugte sich Woi über das Bett und flüsterte: "Hörst du, Ihscha? Hörst du, Schwesterlein klein im Bett? Ich bitte dich, sag mir, schnell sag mir: Mein Dolch, wo ist mein Dolch?"
"Denkst du nie an etwas anderes?", flüsterte Ihscha schelmisch zurück.
"Alle fragen mich nach meinem Dolch, alle", sagte Woi sehr freundlich, damit sie ihn auf seine Weise verstand.
"Ich frage nicht nach ihm", entgegnete sie frech.
"Nun soll ich sogar eine Prinzessin heiraten", setzte Woi fort.
"Dann tu es doch", spöttelte Ihscha.
"Du wirst sehen, wie sehr ich den Dolch benötige", sagte Woi und hob zum Spaß den warnenden Finger.
"Ich denke nicht dran, den Dolch herzugeben!", ent­gegne­te Ih­scha und kicherte wie ein sehr leichtes Mädchen.
"Du solltest nicht frech sein, Ihscha, ge­schnürt, wie du bist!", ermahnte sie Woi.
"Ich bin doch dein kleines Mädchen, Woi", flötete Ih­scha. "Willst du nicht, dass ich dein kleines Mädchen bin?"
Er entgegnete ihr nichts, wunderte sich nur, wie raf­fi­niert sie war. Gleich, wenn er weg war, würde sie nach seinem Vater ihre Spinnennetze auswerfen!
"Ich sehe doch, wie du es magst!" Ihscha ließ sich nicht von ihrer Idee abbringen. "Ein süßes Ding willst du, das sich ausziehen und baden lässt. Willst mich mit Seife ein­schäumen und waschen und recht gewissenhaft die Haut abtrocknen! Ein Küsschen und ein kleines Klapserl, nicht wahr, so soll's doch sein!"
Vorsichtig fühlte Woi ihren Körper ab. Ihscha dachte derweil, dass er auf ihr Spiel einging. Zu ver­strickt war sie in ihre Vor­stellung, Wois kleines Mäd­chen zu sein: "Musst ihr die Haare kämmen, bis sie in deinen Augen glänzen! Streif der Süßen das dün­ne Hemd­chen über. Vergiss nicht, der Kleinen den Popo zu pudern!" Ihscha­ lachte ihn aus, als sei er ein Schäbiger.
Sie hatte sich den Dolch quer über den Bauch gelegt. Fast hätte Woi ihn nicht gefunden. "Warum gibst du mir meinen Dolch nicht zurück?", fragte er ernst.
Doch sie ging nicht darauf ein. "Was sagtst du?", rief sie albern. "Wie­der dein Dolch!? Lass ihr doch, wenn's ihr ein Wunsch ist, zum Spielen den dummen Dolch in den klei­nen Hände. Leg eine Decke drüber! Nie­mand soll ihr Spiel­zeug sehen und sich äng­sti­gen für das Kind."
Weil ihm Ihschas Gela­che unerträglich geworden war, stellte sich Woi an das Kopfende des Bette und ließ die Schere aus dem Ärmel gleiten. Er streichelte Ihscha den Kopf, und sie bemerkte nicht einmal, wie das Häubchen zur Erde fiel. Behutsam nahm Woi das lange Haar auf und dreh­te es vom Ende her zu einem lose hängenden Zopf auf und setzte die Schere an. So scharf waren die Schnei­den gegen­ein­an­der ge­schliffen, dass er den Zopf mit drei, vier leich­ten Schnitten durch­trennt hatte.
"Was war das für Geräusch?" Ihscha wand sich und ver­drehte den Kopf zu ihm. "Warum bist du so still? Was hältst du auf dem Rücken? Zeig mir die Hände - eine Sche­re! Zeig die andere Hand - mein Haar. Das ist mein Haar, mein Haar!"
Ihscha schrie und weinte, aber es kam Woi vor, als sei al­les sehr leise und sehr weit entfernt. Er ging zum Tisch, legte die Schere wieder zurück und schob die Lade zu. An­ der Tür vergewisserte er sich, dass nie­mand auf Ih­schas Schreien hin ge­kom­men war.
Dann trat er vom Fußende her an das Bett. Als Ihscha ihn­ sah, brach ihr der Schrei ab. Stumm gewor­den, kämpfte und wand sie sich in ihrem Bett­chen, während Woi die Schnü­re Runde für Runde aufwickelte, so­viel wie er be­nötigte, um den Dolch fassen zu kön­nen.
Als er ihn her­aus­gezogen hat, steckte er ihn sich in den Bund und wic­kelte Ihscha wieder ein, genau wie die Diene­rinnen es zu­vor­getan hat­ten, machte aber einen Kno­ten statt einer Schleife am Ende.
Noch einmal sah er auf den Gang und trat hinaus. Es war Abend. Alle Flure hatten sich geleert, als gebe es nieman­den am Hof außer ihm und Ih­scha.
Mit ihren Haaren in der Hand ging er zu Ihschas Zimmer und trat leise ein. Er fand ihr Bett vor, als hätte sie ge­ra­de darin gelegen. Unter der Decke sah das Nachthemd her­vor. Das brachte ihn auf eine Idee: Er leg­te den Zopf auf das Kis­sen und ver­teilte fließend das Haar, als seien Nacht­hemd und Haar vor ihrer Her­rin zu Bett ge­gangen.

Chapter 45. Ihscha vor Wois Fenster

Baldeina lag wach und wartete auf die Tänzerin. Er lag angekleidet auf dem Bett, das zu kurz war und er­bärm­lich quiekte, wenn er sich bewegte. Außerdem war er schon wieder hungrig. Der gan­ze Für­stenhof war nichts an­deres als ärmlich. Das Essen war nicht sättigend, die Kam­mern waren niedrig und be­saß nicht ein­mal einen richti­gen Schrank. Die Türen wa­ren so dünn, dass er jedes Ge­räusch von drau­ßen hörte. Er konnte sich denken, dass die Tänze­rin nicht kam, weil sie vor diesen Widrigkeiten zu­rück­schrak.
Leise schlich jemand über den Gang. 'Da ist sie end­lich!', dachte er und sprang aus dem quieckenden Bett.
"Mo­ment", rief er und band sich die gelbe Schär­pe um. In seiner Eile stieß er die Kerze vom Tisch. Als er am Bo­den nach ihr suchte, hörte er, dass seine Tän­zerin sich wieder ent­fernte.
Schnell sprang er zur Tür und sah auf den Gang. "Hallo", rief er. Sechs Schritte vor Baldeina stand die Tänzerin und sah ihn mit großen Augen an.
"Aber bitte", sagte Baldeina und lud sie in sein Zimmer ein. Weil sie stehen blieb, trat Baldeina auf sie zu. Da blitzte in ihrer Hand plötzlich ein Messer auf, mit dem sie em­porfuhr und den Ärmel seines Kostüms auf­schlitzte. Als Baldeina aufschrie, warf sie das Messer von sich und lief schnell über den Gang fort. Baldeina bückte sich nach dem Messer und prallt dabei mit der Stirn gegen eine schwere Tür.
"Wer da?", rief Baldeina, als er benommen auffuhr und einen Mann in der Tür sah.
"Ich nur niemand", sagte der Mann. Eine stummelige Kerze beleuchtete sein Gesicht, das von narbiger Haut zusammen­gehalten wurde.
"Das war die Tänzerin!", stieß Baldeina aus und hielt sich stöhnend die Stirn. "Sie hat mich beinahe umge­bracht." Er zeigte dem Mann das Messer und den aufge­schlitz­ten Ärmel.
"Kommen sie, ich verbinden Kopf von großen Frem­den", sagte der Mann und machte einen Buc­kel.
"Ich heiße Baldeina. Sie könne mich so nennen."
"Ich Koch bin und hören ein Geräusch wie Knurren von Ma­gen", sag­te der Mann und be­trachtete Baldeinas gelbe Schärpe.
"Der Koch sind sie also, das ist gut", sagte Baldeina und ließ sich bereitwillig ein langes weißes Tuch um die Stirn wickeln.
"Trinken Wein?", fragte der Mann.
"Trinken Wein!", bejahte Baldeina strahlend.
"Ein bisschen ist meine Schuld wegen Kopf, ein bisschen ist Schuld von schwere Küchentür", sagte der Mann und öff­nete mit großem Geschick eine Flasche Rotwein.
Baldeina verstand nicht, wie er sich mit dieser Tän­ze­rin hatte einlas­sen können. Der Koch holte zwei Gläser und schüt­tete ein. Sie nahmen beide einen gu­ten Schluck. Dann schnitt der Koch ein gewaltiges Stück Käse ab, das er in mundgroße Portionen teil­te und auf einem Teller vor sie hin­stellte.
Auch er kannte diese Tänzerin, lächelte aber anzüg­lich. 'Frau von Gang' nannte er sie. Baldeina wollte ja nur ...
"Ist naturlich das von Mann", fand der Koch.
Bal­dei­na war die­sem Men­schen so dank­bar für seinen Zu­spruch! "Was macht sie mit Messer?", fragte er den Koch. Dazu erhob er sich schwankend und führte vor, mit wel­chem Schwung sie ihn beinahe getroffen hätte.
"Vorsicht!", rief der Koch. "Ich meinen Kopf nicht viel brauchen, aber Leute wissen Namen mit diesen Kopf!"
"Wir gehen ihr nach!", rief Baldeina begeistert. "Wir sehen nach, was sie tut!"
"Wir zwei Männer, wir nicht Angst vor Frau von Gang!", rief auch der Koch und setzte die Flasche an. Hustend reichte er sie Baldeina, der zwei große Schlucke nahm und mit den Augen rollte.
Sie traten auf den Gang - zwei lange Schatten, das Mes­ser in Baldeinas Hand ein Schwert, die Flasche in der Hand des Koches ein Schlachterbeil.
"Zeig dich!", hörten sie vom Hof eine laute Stimme ru­fen. Als sie hinaussahen, stand Ihscha dort und sah zu den Fen­stern hin­auf. "Zeig dich, Wo­i!", rief sie.
"Sollen wir lieber doch nicht ...", flüsterte Baldeina.
"Nein, wir zwei Männer!" Der Koch puffte ihm den Hals der Weinflasche in die Seite. "Bleibt einer kann sein we­gen Hilfe, bleibt an­derer wegen Neugier. Ist Wort richtig für machen Augen wie von jungen Kalb?"
"Ist richtig Wort", sagte Baldeina und beugte sich aus dem Fenster.
Ihscha hatte zu singen begonnen. Sie sang, un­überhörbar und schön. Baldeina hörte ihrem Gesang zu, wäh­rend der Wind eine blonde Locke aus seinem Haar genommen hatte, um mit ihr zu spielen. Das weiche Gesicht des Ko­ches verform­te sich in dem Bemühen, die Worte in seine Sprache zu übersetzen. Ihscha sang, ohne ihre beiden Zu­schauer bemer­kt zu haben:

Weil Süßlieb ehrlos ist
Ist Wehliebs Herz so schwer
Die Windhex kennt das Ende.
So schön war ich zu zweit
Ein Traum ein Lied im Grün
Die Herzfaust dein so nah.
Doch sieh, der Herbst­wind ruft
Das Welk zur Wolkenjagd
Doch sieh die Vögel ziehn.
Die Schattenfrauen stehn
So viele grimm und gram -
Sie gaben Kuss für Jahr.
Es kommt die neidisch Nacht -
Ach weh, dass Klag nur führt
Der Wind, nicht Gruß noch Trost!
Ein Fremder ruft zum Tanz -
Bevor du denkst an mich
Mein Name steht auf Stein.

"Das ist wunderschön Lied", flüsterte der Koch, "tropft von Weinen wie fet­ter Braten von Spieß auf Feuer. Ich ken­ne von meine Heimat Lied, aber Worte bedeuten anders."
Ihscha stand unbeweglich und blickte zum Fen­ster hoch. Ein heftiger Wind blies ihre Haare hoch und drückte das weiße Kleid an ih­ren Kör­per. Tapfer trotzte sie ei­ner Nacht, die sich erbost über ihren Auftritt zeig­te.
"In Heimat ist Lied nicht tropft von Tränen. Ist Lied von Tanz und gute Laune, dass Mädchen und junge Mann haben Hände gege­ben zueinander. Ist Lied, dass alle von Glück so leicht, dass Beine nicht mehr kommen auf Erde. Dann Wolke sagen 'Guten Tag' und holen Sonne, dass weil wegen Tanz."
Ein Blitz zuckte am Himmel. Als Ihscha die rechte Hand hob, folgte der Donner aus nächster Nähe.
"In Lied ist Vater sehr glücklich, weil er sieht Blume, die er ge­pflanzt von seine Hand. Und Blume sehr glücklich, weil sie ist Blume, so sagt so, ich glaube, in Lied. Wenn Leute singen, sie fassen Hände und tanzen und laden Abend ein, dass bei­sammen mit ihnen er trinkt, bis Nacht kommt und Feuer löscht. Wenn alle trau­rig, weil ist vor­bei, wenn alle mü­de, weil ist spät, dann alle gehen, bis sie sind zu Hause und in Bett wo kommen Schlaf und mit ih­nen tan­zt und trin­kt, bis sie auf­wa­chen und nicht wis­sen, wie diese Kopf sie sollen tra­gen, wenn Tag ist Tag."
Woi hatte das Fenster geöffnet und gähnte. Dann sah er­belustigt zu den anderen Zuschauern herüber und gähnte erneut.
"Was weckt du mich?", rief er zu Ihscha herunter. "Bist du nicht das Töchterchen des Fürsten? Wie hast du dich aus den Win­deln befreit!"
"Ich bin so wenig seine Tochter wie du sein Sohn!", schrie Ihscha­ herauf. "Was weißt du denn? So wenig wie ein edles Herz hast du einen fürstlichen Vater!"
"Ihscha, dein Kopf hat so wenig Haare wie Ver­stand", rief Woi belustigt von seinem Fenster herunter.
Nun sah Baldeina, was ihn am Aussehen der Tän­zerin fremd vorgekommen war. Ihre Haare waren nicht mehr als schulter­lang. Jemand hatte sie zudem schief abgeschnitten.
"Was du mir angetan, es sei dein Fluch!" Ihschas Stimme schnappte über, so sehr hatte der Hass sie an den Rand ihres Verstandes ge­führt.
"Flieg her­auf zu mir, wenn du eine Fee bist!", rief Woi unbekümmert. "Deinen Men­schenfluch, den fürchte ich nicht!" Ein Grollen des Nachthimmels folgte seinen Worten. Woi sah grinsend hinauf, überlegte, ob er nicht auch ein wenig grollen sollte.
"Ich verfluche dich: Niemals sollst du gewahr werden, wenn eine Frau dich liebt!" Wieder hob Ihscha den Arm. Ein Blitz folgte ih­rem Fin­gerzeig und ein Donner, der sich in einem Knall ent­lud.
Pünktlich wie in einem Bühnen­stück erhob sich ein Wind. Im Tanz hob Ihscha drei Mal ihren Arm und warf ihr ganzes Haar in einen kräfti­gen Wind­stoß hinauf. "Ich schenke dir, Nacht, mein Haar! Solltst es mir nicht mehr neiden müs­sen!"
Dann drehte sie sich um und rannte fort. Nicht lang, da hat­te die Nacht einen Mantel über sie ge­worfen und Ihschas Blöße vor den Au­gen der Zuschauer ver­bor­gen.
"Himmel", sagte Baldeina leise, "das war echt!"
"Alles bloß wegen ihrer Haare", brummte Woi.
"Wer weiß, was passiert wäre, wenn ich ihr nicht das Mes­ser abgenom­men hätte!?"
"Sie hatte ein MESSER?", fragte Woi staunend.
"Ich habe mich ihr in den Weg gestellt. Im Kampf fiel es zu Boden, das Messer!" Baldeina zeigte zum Beweis sei­ner Tapferkeit seinen zerrissenen Ärmel.
"In den Weg gestellt - nennt man das so?", fragte Woi hustend.
"Bitte", sagte Baldeina beleidigt, "ich hätte es auch für jeden anderen getan!"
"Danke jedenfalls", ließ Woi sich vernehmen und schloss das Fen­ster.
"Sehr unfreundlicher Mensch dieser", bemerkte Baldeina.
"Meint nicht so das", sagte der Koch und begann, Ihschas Lied zu summen. Er zog Baldeina vom Fenster fort, fasste ihn unter dem Arm und ging mit ihm langsam, ein wenig schwankend, in den dunklen Gang hinein.
Dort erzählte er Baldeina von seinem Drachen. Dieser sei ein Freund, aber ein Dra­che eben. Und Bal­deina sei ein Freund, aber ein Mensch eben. Dazu summte er Ihschas Lied und sagte immer wieder: "Das kein traurig Lied ist in meine Heimat. Ist nicht Lied von Ach und Weh, nicht Lied von Mann in Fluch und Frau in Hemd von Tod."

Chapter 46. Ihscha bei Li

Der Morgen war schon einmal in Lis Zimmer gewe­sen. Da war er leise eingetreten, hat­te ihr ei­nen winzigen Spalt breit die Augen geöffnet, aber gese­hen, dass noch Platz darin war für ei­nen Traum. Nun war er ein zwei­tes Mal er­schienen, spielte mit den Vorhängen und dem Son­nen­licht und hatte jemanden mitge­bracht.
Wo wohl hatte er diese junge Frau aufgelesen? Sie schien die ganze Nacht kein Auge zugetan zu haben. Ihre Lider waren rotgebrannt vor Müdigkeit. Getrocknete Tränen hatten ihre Haut spröde gemacht. Fransig geschnitten und fettig das Haar. Sie hatte den Kopf ge­senkt, saß auf dem Rand des Bettes, legte zag­haft ihre Hand neben die der schla­fenden Li.
Ohne Bewegung saß sie da, weinte nicht. So still war es im Zimmer, dass der Mor­gen sich für den nächsten Be­such wie­der aufmachen wollte, als die Bewegung unter Lis Augen ihm zu ver­stehen gab, dass man dort ausgeschlafen hatte. Der Morgen war darob zufrie­den. Er blieb noch eine Weile und versuchte, mit den Schatten an der Decke eine Fliege zu fangen suchte.
"Ihscha!", rief Li erschreckt, setzte sich mit aufgeris­se­nen Au­gen in ihrem Bett auf und hielt sich die Hand vor den Mund. Sie sam­melte sich schnell, als sie sah, wie weh der Freundin das Er­schrecken über ihren Anblick tat.
"Es ist nur ... ich bin aus dem Schlaf grad' hochge­schreckt." Sie wich den Augen von Ihscha nicht aus, son­dern legte die Hand auf ihren Kopf und strei­chelt sie. Ihscha­ brauchte jetzt ihre Hilfe, ihr Mit­leid. Was so schlimm war, durfte nicht durch Lis Erschrecken schlimmer werden.
"Komm, leg dich auf mein Bett", sagte sie.
Ih­scha ge­horchte so ernst, als gebe es nie wieder ein Auf­stehen. So lag sie nun da und starrte zur Decke. Sie wollte in Lis Augen nicht das eigene Spiegel­bild sehen. Am lieb­sten wäre sie in die frem­de Schlafwärme gekrochen und hätte sich einge­rollt.
Sie waren füreinander eine Zeit lang da: die Hand, die dem Schmerz zusprach, und der Kopf, der die Müdig­keit trank wie ein Ver­dur­sten­der.
"Ich ...", sagte Ihscha und blickte in Lis Augen. Aber sie verlor sich darin, fand keine Worte, die sie den Augen hätte sagen können.
Nach langer Zeit fragten Lis Augen, was ge­schehen war.
"Woi", sagte Ihscha. Der Schmerz kehrte zurück, als höre er auf diesen Namen.
"Hat er ...?" fragte Li behutsam.
"Du ...", sagte Ihscha und sonst nichts. Da war es wie­der gut. Sie setzte sich auf und zog die Beine an den Kör­per.
Li wartete geduldig und behütend, bis Ihscha­ die Teile ge­fun­den hatte, die zu­sammengehörten, und die Worte, die dazu passen wollten.
Zuerst sprachen Ihschas Augen, dann ver­suchten die Hände zu beschreiben, die Finger zu erklä­ren. Aber sie sah ihnen zu, als sprächen sie nicht die Wahrheit. Bald zerschnitt das scharf­ge­schliffene Son­nenlicht den Zopf der Erinne­rung.
"Gestern in der Nacht ...", sagte Ihscha. "Am Abend spät ... als die Feier begann ... den ganzen Tag nicht ..."
Li streichelte sie und drängte sie nicht. Was geschehen war, brauchte Zeit. Ein Morgen würde zum Heilen nicht ausreichen.
"Hast du einen Wunsch an eine Fee? Sag ihn mir ... die Fenster haben kalte Augen ... ich blei­be allein zurück ... eine Frau, die lange tot ist, was braucht sie mein Haar?"
Sie be­gann, ein Lied zu summen, ganz gebro­chen, dass Li erst nicht wusste, wel­ches es war, dann fe­ster, dass sie es lächelnd erkannte. Als Ihscha ihr das Einstimmen ge­stattete, sangen sie beide:

Die Tränen sind Träum
Fahrenden Volks.
Die Tränen sind Gold
Augen schwarz Holz.
Die Tränen sind frei
Leichter als Blau.
Die Tränen sind Kett
Führen die Stund.
Die Tränen sind Tand
der Närrin Geschmeid.
Die Tränen sind all
Kalt ist der Tau.

"Ich habe einen Weg zu gehen", stammelte Ihscha. "Der Tag kann nicht weiter. Dort ist mein Weg."
"Wohin ein Weg?", fragte Li ohne Hoffnung auf eine Ant­wort.
"Eine dunkle Pforte, die mich aufsucht."
"Du gehst fort?"
"Kommst du allein, fragen sie mich ... die Treue kam al­lein ... die Herrlichen suchen keinen Trost ... der Be­sitz hat die Augen der Einsamen ... nie ging jemand fort, der fort seinen Namen gab. 'Ich bin al­lein', sag ich und frag. Sie sagen: 'Komm al­lein und bleib.'
"Wer sagt das? Von wem sprichst du?"
"'Gebracht' und 'Ge­holt' ist das Gleiche der wertlosen Mün­ze. We­nig gelten sie, dienen uns, aber nicht sich, tragen doch unseren Schmerz. Kann ich alleine gehen? Aber kehre ich je wieder zurück?"
"Um Himmels Willen, Ihscha, sag nicht solche Sachen. Dei­ne Haare werden wieder wachsen, und du wirst schö­ner sein als je!"
"Einer anderen schenk ich meine Schönheit, wenn sie mein Leid dafür tauscht. Wer sitzt an ihrem Bett wie eine Freun­din, die wis­sen möcht, wie leicht die Träume wiegen, wie schwer die Tränen?"
"Du machst dich lustig über mich!"
"Das Zweiherz machte sich lustig - ICH hatte keinen Spaß!"
"Ihscha, leg dich schlafen. Deine Stirn ist heiß. Morgen ist wieder alles gut ..."
"Der Schrecken hat eine heiße Stirn. Die Zeit ist ein staubiges Buch. Ich kann nicht lesen. So rechnen sie dir vor!"
"Wer sind denn SIE?"
"Sie sind keine Namen - der Him­mel trägt schwarze Wol­ken - anders bin ich nicht sein Echo - die Schreie ha­ben sich still auf den Boden ge­drückt - hör sa­gen, sie heilen das Glück ... dann bitte ich dich, komm zu meiner Be­glei­tung."
"Gern will ich dir helfen, wenn ich kann."
"Ich geh nicht allein, wenn mich jemand schaut."
"Wohin musst du denn gehen? Woher hast du all das?"
"'Wohin' kommt, wenn der Tag sich sattgefressen hat. 'Woher' zeigst mir den Weg - schscht, hör nur die Schritte, die sie gehen!"
"Aber die Schritte sind doch draußen, Ihscha!"
"Die Türen sind draußen, aber nicht die Schritte. Weh­mals, hör nur die Schritte! Sie wissen nicht, dass ich ein Körper bin."
"Es sind bloß Dienerinnen, Ihscha. Du hörst sie klop­fen. Gleich werde ich sie einlassen, weil es bereits morgen ist."
"Sie treiben Spott mit mir. Lass sie nicht herein. Für MICH kommen sie! Was würden sie wollen von DIR? Du zählst ihnen nicht mehr als eine Öffnerin der Tür."
"Ihscha, jetzt ist aber gut! Ich lasse sie herein. Siehst du, es sind Dienerinnen. Sie wollen das Bett abzie­hen. Komm steh auf, wir sind spät! Sie nehmen die Decke und das Kissen, um es neu zu beziehen. Und sehen dich vol­ler Mitleid an, bemerkst du es nicht?"
"Leicht und schwer, was rät sie mir, die Kopfäugige? Ach, ihr Nachtweisen, meine tagfleißige Freundin kennt ihr nun! Setzt euch her! Schenkt euch von ih­rem La­chen ein! Wählt zwi­schen Klugheit und Trost und Neugier von ihrem Angebot. Nehmt euch, was ich ver­loren gab!"

Chapter 47. Die Gesandten nehmen Abschied

Baldeina stellte alles, was er auf seiner Reise mit­führte, für den morgigen Aufbruch im Hof aus. Er selbst hatte sich in die Mitte gestellt und Weisung gege­ben, den Hof leer zu räumen. Immer wieder sah er zu den Zuschau­ern hoch, die sich zahlreicher werdend in den Fenstern versam­melt hat­ten.
Die Diener führten seinen hoch gedeckten Wagen in die Mitte des Platzes. Die Zugpferde, die glänzend gerie­ben waren, schüttelten, satten Dampf schnaubend, die bewun­dern­den Blicke von ihren Mähnen her­unter. Immer wieder kratzten sie mit den Vorderhufen, als seien sie für eine Vorführung dressiert, die unmittelbar bevorstand.
Die beiden Sol­daten, die dem Kaiser zum Geschenk gemacht wer­den sollten, schritten herbei, salutierten vor Baldeina und zwirbelten an ihren Bärten, als sei ihnen hierzu ein Befehl ergangen.
Baldeina war sehr zufrieden. Als eine leere Milchkanne, die herumgestanden hatte, entfernt worden war, zeigte sich auch die Sonne, worauf die in den Fenster klatsch­ten, als handele es sich um einen Zaubertrick.
Mehrer Lakaien kamen mit großen Stangen angerannt, um die Plane des Wagens hochzuheben und aufzurollen.
Eine be­schlagene Kiste war darin, deren Inhalt nicht für das Nachsehen bestimmt war. Einen leich­ten Schrank, der an­lehnte, ließ er, Baldeina, aber be­reit­willig öffnen und die Kleider zäh­len, die er mit sich führ­te, ebenso die Schuhe, die in einer Truhe waren. Des weiteren besaß Bal­dei­na ein Schwert von unge­heuerer Län­ge, zwei Spie­ße, ei­ner kurz, einer lang, einen Sattel mit drei ver­schiede­nen Sät­zen von Be­schlägen, eine Schachtel mit Käm­men, eine Schach­tel mit Rin­gen und mehre Ket­ten, die er in einem Säck­chen wog.
Die Die­ner und Die­nerinnen lagen allesamt in den Fenster lagen und sahen herunter. Immer wieder spra­chen die Diener den Name 'Gold-Hanga' aus, raunten ihn gerade­zu, als bezögen sie daraus eine Hoffnung auf eigenen Reich­tum.
So reich wie der Kai­ser sei er, flüsterten sie. Rei­cher noch, denn der Kai­ser habe viel Ge­schnitzes am Hof und überflüs­siges Bau­werk. All das wöge sich nicht gegen ech­tes Gold und Schuldurkunden.
Als alles gezeigt und gezählt war, erklärte Baldeina laut, dass er ja nur das Nötigste in der Eile habe zusam­men­packen kön­nen. Der Vater werde sicherlich all das nach­bringen, was ver­gessen worden sei oder keinen Platz gefun­den habe.
Der Kaiserliche Gesandte hatte auch Woi geheißen, alles bei sich zu versammeln, damit man eine Ord­nung schaffen könne. Bei Woi stand nur sein Pferd 'Prinz' und ein Die­ner, der einen Sack trug. Ein Fremder hätte denken können, Woi ge­höre zum Tross von Bal­deina, so wenig verstand es dieser Fürstensohn, sich ab­zuheben. Er spielte mit seinem Dolch in den Hän­den, stand aber ei­gent­lich vol­ler Langwei­le her­um. Niemand sollte denken, dass auch er eine Haupt­per­son war.
Spät, sehr spät kam der Vater dazu und besah sich alles. Fragte mehrmals, ob alles wirklich im Besitz allein von Baldeina sei. Woi gab keine Antwort. Schließlich rief der Vater zwei Diener.
Mit großen misstrauischen Augen sah Baldeina, dass sie ein kleines Kästchen herbeitrugen. Hinter den Dienern schritt auf eine weihevolle Art ein Mädchen, das aber nichts bei sich hatte, wie Baldeina mit scharfen Augen bermerkte.
"In diesem Kästchen", sagte der Vater und wandte sich direkt an Baldeina, "sind Feder, Tusche und Papier. Unsere Li", er zeigte auf das Mädchen, "ist eine Dienerin des Geistes. Sie wird Woi, meinen einzigen Sohn, als seine CHRONISTIN auf dieser Reise begleiten."
'So eine Blamage!', dachte Baldeina. 'An alles haben wir gedacht, nur nicht an sowas! Ein schlauer alter Mann ist der Fürst!' Er kam sich recht kümmerlich vor, weil das Mädchen ihn sehr herablas­send, ja mitleidig betrachtet hielt.
Woi ließ sich nicht beeindrucken. Li zählte er als einen schlauen Trick des Vaters nicht zu seinem Besitz. Er erhob keinen Anspruch auf sie, denn sie er­innerte ihn ständig an Dinge, die ihm unangenehm waren.
In einem Winkel des Ho­fes hatte sich der Gesandte und sein Sohn Friede gezeigt und auf Wois Blick gewartet, um ihn herüberzuwin­ken. Sie waren wohl die Einzigen gewe­sen, die nicht in einem Fen­ster standen, um hinauszuse­hen.
"Wir sind für den Abschied gekommen", sagte der Gesand­te. "Wir werden noch vor euch abreisen." Er zog Woi ins Gebäu­de, wo Friede stand. An einem Haken hing der Umhang des Gesand­ten mit dem aufgestickten Drachen, welcher drein­schaute, als sei er durch irgendetwas in seinem Stolz gekränkt worden.
"Ich habe meinen Dolch wieder", sagte Woi. "Nun weiß ich seinen Wert."
"Das ist jetzt nicht wichtig", antwortete der Gesandte. "Unsere Herrin hat euch ohne Zögern freigegeben."
"Dann ist sie wohl ein wenig traurig", sagte Woi nach­denklich.
"Darüber darf ich nicht sprechen."
"Das heißt ja dann, dass sie traurig ist."
"Das bedeutet es nicht", sagte der Alte ungehalten. "Ich habe es so nicht gesagt."
"Ich stehe zu meinem Wort", sagte Woi. "Sie kann den Dolch haben, wenn sie will."
"Wie ...?" Das Erstaunen zog dem Alten das Gesicht in die Länge.
"Dann muss sich die Kaisertochter eben einen ande­ren zum Heiraten suchen", erklärte Woi.
"Der Kaiser hat es angeordnet", sagte der Alte und sah seinen Sohn Friede streng an. "Da muss alles zurücktreten und sei es noch so fruchtbar gediehen." Friede nickte, dass die Zähne zusammenstießen.
Ihm sei es egal, sagte Woi. Er kenne ja keine von bei­den. Er habe das Pech, dass ihn im­mer eine zum Heiraten aussu­che, die er nicht kenne. Es bestehe wohl eine Wir­kung, die von ihm ausgehe.
"Aber es ist doch eine große Ehre, die Tochter des Kai­sers zu heiraten", sagte Friede und schaute seinen Vater dabei an.
"Natürlich" bestärkte ihn der Vater. "Es ist die höchste Form, dem Kaiser zu dienen. Sie soll ein wunderbares Mäd­chen sein!"
Zwei seien es, sagte Woi und fragte, welche von beide die wunderbare sei.
"Friede, das hast du nicht gehört!", gebot der Alte streng. Friedes Augen suchten knipsend das Vergessen.
"Geht Ihscha mit?", fragte Woi nach einer Weile.
Man wisse nicht, was sie tue, sagte der Alte.
Er habe gehört, dass sie sich die Haare geschnitten habe und nicht recht glücklich sei, bemerkte Woi.
Sie sei immer noch schön, warf Friede eifrig ein, nur die Gewöhnung fehle ihr.
Das müsse Friede nicht kümmern, darauf sofort der Alte. Nun sei sie fort, da sehe er, wie es mit solchen gehe.
Friede sah nicht glücklich drein.
Sie sei eine, der man nicht hinterhersehe, die man schleunigst vergesse, ereiferte sich der Alte und zeigte streng blickend auf Woi und meinte nichts anderes, als dass Friede auch diesen in dasselbe Ver­gessen einzuschlie­ßen habe.
Ob er noch einmal bei den Teichen im Wald gewesen sei, fragte Woi den Alten.
Es sei eine Erkundung gewesen, sagte der Alte streng.
Was er denn der Tochter des Fürsten über ihn, den Für­stensohn, sagen werde, ver­langte Woi dann zu wissen.
Der Alte tat erstaunt.
Sie werde doch sicherlich fragen, wie der fast Ange­traute von seinem Äußeren her ausgeschaut habe.
Sie sei nicht so eine Frau, die sich Gedanken mache über das Äußere eines Menschen.
Ob sie denn wenigstens auf das Innere im Nachhinein neu­gierig sei.
Nein, sie sei ein Mädchen, das sich aufheben, sagte der Gesandte entschieden.
Das sei ja auch das Einfachste für ihn, den Gesandten, sagte Woi. Da brauche er nur heimzukehren und Gesichter zu machen.
"Ich lasse mir das nicht sagen!", rief der Alte und fuchtelte mit der Hand, als versuche er, Wois Worte aus der Luft wegzufangen.
Friede zog seinen Vater, der immer weiter schimpfte und sich um seine Ehre kämpfend gebärdete, fort. Immer noch hing der Um­hang des Gesandten auf ei­nem Haken und war zurückgelas­sen worden. Der silber­schup­pige Drache darauf sah den beiden mit großen Augen nach, die ängstlich eine Umkehr und Rück­ho­lung ver­langten.
Schließlich kam Friede noch einmal und legte sich den Umhang und den Drachen über den Arm. Kein Wort sagte er zu Woi, mit kei­nem Blick beachtete er ihn. Er schnaufte und ging ge­bückt, als sitze ihm der Vater, unsichtbar, aber schwergewichtig, auf der Schulter. Der Drache traute sich nun und bedachte Woi mit einem tief und dau­erhaft em­pörten Blick.

Chapter 48. Reise zum Hof des Kaisers

Der Kaiserliche Gesandte war froh, dass die Wagen nun wieder rollten. Der Aufenthalt hatte seinem Magen und ihm gut­getan. Voller Zuversicht grüßte er die Soldaten am Tor, in­dem er den Kopf in den Nacken warf und beide Hände zur Stirn führte. Irgend­etwas in der Art war es wohl, was Sol­daten unter einem Gruß verstanden. Es ging ja nur darum, ihnen freund­lich zu sein. Die Soldaten ver­standen es recht, knall­ten die Ei­senhacken zweimal auf den Boden und zo­gen die Speere stramm an den Körper.
Er blickte sich vorsichtig um, weil er sehen wollte, wie die Soldaten des Fürsten Baldeinas Männer verabschiedeten. Daran war etwas merkwürdig. Während Baldeinas Männer auf ihren Pfer­den Haltung annah­men, klatschten die Soldaten des Fürsten Alta zweimal kräftig in die Hän­den und sangen, wenn er das recht ver­stand, mit hoher - knaben­haft hoher Stimme ein Lied von Dienen und Entsagen und Enthaltsam­keit, von kur­zem Schmerz und langer Zeit der Keusch­heit. Er kannte die­ses Lied nicht, aber er würde bei Gelegenheit danach ­fragen.
Hinter dem Wagen ritten Baldeina und Woi, die sich ganz offensichtlich sympathisch waren. Der Gesandte ver­stand nicht viel von diesen jungen Menschen, weil ih­rer we­nige am Hofe waren, aber er mochte sie irgend­wie, wenn sie sich so un­aufdring­lich wie diese bei­den prä­sentierten.
"Mein Name ist ZungSung", rief er den beiden Fürstensöh­nen zu. "Da wir nun auf einer Reise sind, wollen wir uns bei den Namen nennen."
"Baldeina heiße ich", rief der eine.
"Woi", rief sogleich der andere.
Zufrieden ließ sich ZungSung in den Wagen zurückfallen und betrachtete die wackelnd vorbeiziehenden Baumgip­fel.
"Mein Pferd heißt 'Mora'", sagte Baldeina. "Ich habe auch ein Fohlen. Es heißt 'Mira'."
"Mein Pferd heißt 'Prinz'", antwortete Woi. "Und ich habe kein Fohlen."
"Das ist ganz natürlich", beruhigte Baldeina. "Mein Pferd ist ja auch eine Stute, und deines ist ein Hengst."
Schweigend ritten sie nebeneinander her. Während Baldei­na überlegte, wie er das Gespräch fortsetzen konnte, dachte Woi an andere Dinge.
"Glaubst du an Flüche?", fragte Woi nach einer Weile.
"Kommt drauf an."
"Worauf kommt es an?", fragte Woi ungeduldig.
"Ob sie eine Fee ist oder nicht!"
"... und wenn sie eine ist?"
"Dann wird es schwierig", sagte Baldeina.
"Kannst recht haben damit ..." Woi verschwand wieder in seinen eigenen Gedanken.
"Machst du dir wegen ihrem Fluch Sorgen?", fragte Bal­deina, um sich weiter unterhalten zu können.
"Findest du, es ist ein schlimmer Fluch?"
"Du meinst, dass du niemals gewahr wirst, wenn eine Frau dich liebt?" Baldei­na war stolz, den Fluch Wort für Wort behalten zu haben.
"Hmm ..."
"Also eigentlich glaube ich nicht, dass es ein Nachteil ist, aber bei Prinzes­sinnen bin ich mir nicht siche­r ..."
"Wenn ich nun einfach rate - das ginge doch!", sagte Woi.
Baldeina überlegte. "Es wäre besser, du gehst davon aus, dass sie dich liebt. Dann kann eigentlich nichts passie­ren. Schlimmstenfalls kommt her­aus, dass sie dich eben nicht liebt!"
"Ich sage mir lieber, dass sie mich NICHT liebt", ent­schied Woi. "Das ist irgendwie einfacher!"
"Wie du willst", sagte Baldeina. "Aber sie nimmt es dir bestimmt übel, wenn sie dich DOCH liebt."
Woi dachte nach. Es war eigentlich gut, dass er sich mit jemandem über den Fluch unterhalten konnte. Außerdem war es nicht so langweilig auf der Reise.
"Ich könnte ja so tun, als sei ihre Liebe undeutlich!", sagte er nach einer Überlegung.
"Auch schlau!", gab Baldeina zu. "Du tust ein­fach so, als seist du gar nicht verflucht."
"Dann hat sie die Schuld, wenn ich ihre Liebe nicht mer­ken kann, ver­stehst du!?"
"Nicht schlecht", sagte Baldeina voller Anerkennung.
"Wie einigen wir uns überhaupt?"
"Wie meinst du das?" Baldeina wusste nicht im gerinsten, wovon Woi sprach.
"Sie sind zwei, und wir sind zwei - wer sucht welche aus? Das meine ich!"
"Also, hör mal", empörte sich Baldeina, "sie sind Prin­zessinnen und suchen UNS aus, nicht andersherum."
Woi ritt eine Weile schweigend weiter. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass sie nur sehr langsam vorwärts ging.
"Nimm mal an, es ist so, wie du sagst", überlegte Woi laut. "Es wäre doch das Beste, du sagst mir, welche sich für dich entschieden hat. Dann nehme ich einfach die ande­re - du weißst schon wegen dem Fluch."
"Du hast recht", sagte Baldeina und wischte sich den Schweiß von der Stirn. "Ich sage Bescheid, welche es ist, damit wir uns einigen können." Ihm war nicht wohl bei die­sem Gespräch.
"Bist du sicher, dass die Prinzessinnen sich ent­scheiden können?" Woi sah sich ungeduldig nach dem Wagen um, wo der dicke Gesandte für ein Geschäft in den Wald hüpfte.
"Ich weiß nicht ... ", wehrte Baldeina ab. "Ich mag einfach nicht SO darüber sprechen."
"Es ist besser, wir haben einen Plan", sagte Woi ent­schieden. "Für den Fall, dass die Prinzessinnen sich NICHT entscheiden können, schlage ich vor, dass DU dir eine aus­suchst. Ich bin ja verflucht und neh­me die andere."
Immer hatte sich Baldeina nur EINE Prinzessin vor­ge­stellt, niemals hatte er sich ZWEI vorgestellt. Ob­wohl Woi natür­lich recht hatte, dass es zwei waren. Und nun war ihm un­wohl und irgendwie schwindelig. Er würde immer nur denken müssen, wie schwierig es war, obwohl er sich ei­gentlich hätte freuen müssen.
"Sie dürfen nicht merken, dass wir einen Plan haben", gab Woi zu bedenken. "Es muss alles ganz schnell gehen."
"Ich weiß nicht ... bin mir nicht mehr sicher, dass al­les recht ist ..." Baldeina wollte es vorkom­men, als sei nun auch er irgend­wie verflucht.
"Ich hoffe doch, dass ich merke, wenn du verliebt bist?", unterbrach Woi sein Grübeln.
"Du meinst wegen dem Fluch?", fragte Baldeina unglück­lich.
"Der gilt doch nur für Frauen! Wegen DIR bin ich nicht sicher! Du bekommst viel zu oft einen roten Kopf. Wie soll ich da wissen kön­nen, wenn wirklich et­was ist!"
Der Gesandte, der wieder aus dem Wald getreten war, sah zu ihnen herüber und rief: "Die Herren streiten doch nicht etwa!? Denken sie, es ist eine lange Reise!"
"Nein, wir streiten nicht", rief Baldeina zurück.
Als es endlich weiterging, ritten sie, jeder in seinen Gedan­ken für sich. Woi versuchte, sich seinen Plan zu mer­ken. Er stellte fest, dass der Plan leider viel zu ver­wickelt war. Es war ein großer Nachteil, dass er den Plan nicht behal­ten konn­te. Er konnte nur hoffen, dass sich Baldeina alles bes­ser gemer­kt hatte.
Baldeina mühte sich, Ordnung in seinem Herzen zu schaf­fen. Es sei ganz einfach und wunderschön zu heiraten, hat­te sein Vater gesagt und dabei immer von EINER Prinzessin ge­spro­chen. So hatten sich Baldeina und sein Vater in gleich­lau­ten­der Weise auf das Ereignis gefreut.
Nun kam Woi und verdarb ihm alles. Plötz­lich waren es zwei Prin­zessin­nen, und nicht sie, sondern er, Bal­deina, musste sich ent­scheiden. Und schnell sollte es gehen, und das Wichtigste war, dass er im richtigen, nicht im fal­schen Augen­blick ei­nen roten Kopf be­kam.
Der Gesandte bat auch seine neue Mitreisende ihn bei seinem Namen zu nennen. Da sie nicht sprach, nicht einmal selbst ihren Namen nannte, fragte er sie, weil er nun einmal neben ihr saß und eine Nähe­rung sittsam war, ob sie ihm er­klären könne, die Quell des glitzernden Wehtaus, ob sie ihm eine Führung sein wolle im wuchernd Garten der Menschen Herzen. Sie sah ihn so an, als ver­stünde sie nicht ein Wort, als sei ihr das Ge­läufig­ste ungeläufig, dabei gab sie sich als Frau der Feder aus.
"Der Fürst las beim Abschied von einem Zettel und wein­te. Gibt es einen anderen Grund für seine Traurig­keit als den Abschied von seinem Sohn?", stellte er seine Frage in der einfachsten ihm geläufigen Weise.
"Der Fürst hat ein Gedicht gelesen, das ihn wohl traurig gemacht hat", erklärte Li.
Ihre Wortwahl war in der Tat einfach, wenn nicht ruhm­los zu nennen. Er fragte, welchen Inhalts das Gedicht gewesen sei. Er meine den Kern, sozusagen die Füllung. Ob er sich übertragbar genug aus­rücke, wollte er wissen. Zu seinen Worten stellte er sich eine schokoladige Süßig­keit vor, die ihr fließendes Ge­heimnis der Zunge preisgab, nachdem der Gaumen einen sanften Druck ausgeübt hatte.
"Wollt ihr es wirklich wissen?" fragte sie und deutete sein Kopfnicken als Zustimmung.
"Gut", sagte sie, "wenn es euch interessiert, will ich es gerne aufsagen."
Er nickte noch einmal, so müde ablehnend und stumpf interesselos es ihm ge­geben war, aber ohne Hoffnung, dass ihr die Sprache der höfischen Höflichkeit eine ver­traute war.
"Dann will ich es euch sagen", begann sie mit leuchten­den Augen zu sprechen. "Es ist ein Ge­dicht, das sich der Fürst von mir gewünscht hat, wisst ihr. Es soll gele­sen werden, wenn er stirbt, an seinem Grab. Es ist ein Gedicht von mir, müsst ihr wissen."
ZungSung schloss die Augen und war bereit für ein Ge­dicht von ihr. Er dachte an Dinge, die schlimmer waren: sein Darm konnte wieder zu allen Unzeiten aktiv werden, dies würde nicht seine letzte Reise sein, die Ver­stecke seiner Süßig­keiten waren in seiner Abwesentheit durch­stöbert worden - all das war auf das Vorstellbarste schreck­lich! Was war dagegen ein Ge­dicht? Nichts als ein Mücken­stich, ein verdorbenes Kon­fekt!
"Also, ich fange an", sagte sie. Genug der Vorwarnung und Bangwangigkeit - er schloß die Augen und war bereit.

Am Baum mit einer Liebe Herz
Steht der Tod und führt die Liste.
Er nimmt das Maß, er zählt die Schlüssel
Und bricht das Gold aus deinem Lächeln.
Er hat ein Kleid für dich bereit
Gewebt aus Wind, genäht aus Nacht.
So leg dich in sein rauschend Bett
Erzähl von uns und lausch und ruh.

"Ist es", fragte er vorsichtig, "vorbei?"
"Ja, es ist ein kurzes Gedicht."
"Und ich dachte, es ist lang!" ZungSung nahm sogleich wieder eine unverkrampfte Sitzstellung ein.
"Seid ihr enttäuscht?"
"Oh nein", rief ZungSung, "im Gegenteil!" Das Mädchen strahlte vor Glück, und mochte etwas falsch verstan­den.
"Und diese Tänzerin, die neben ihm stand, die mit den kurzen Haaren, warum hat sie geweint?", fragte ZungSung, wieder mutig geworden. "Dass der Fürst über dieses Gedicht geweint hat, will ich treulich glauben, sie aber schien mir noch recht lebendig."
"Nein, Ihscha weinte, weil sie traurig war. Weil sie ganz einfach sehr traurig war."
"Ach-ah", sagte der Kaiserliche Gesandte, "gehört habe ich davon ... aber weinen, so ganz ohne Gedicht, war mir nicht recht vorstellbar."

Chapter TEIL 2

Chapter 49. Des Kaisers Sterben

'Der Kaiser liegt im Sterben.' Niemand sprach es aus, aber wenn sie in seine Augen sahen ... Feierlich lag er auf seinem Bett und atmete flach. Alle standen still um ihn herum. Das Sterben die­ses Kaisers nahm keinen aus, der ihm gedient hatte.
Das Dach seines Bettes bildete den Kör­per eines Drachen nach. Die Säulen waren in der Art von vier mächti­gen stumpfen Bei­ne gestaltet. Der Kopf des Drachen wandte sich zur Sei­te. Sein Blick war auf­geregt, eher als zor­nig zu nen­nen.
Der Tierkörper war blau bemalt, weil er ebenso ei­nen Dra­chen dar­stellen konnte wie den sich winden­den Gro­ßen Fluss, der das Reich des Kaisers durchlief. Das Bett des Kai­sers war ein Wol­kenkahn oder ein Drachen­bauch, die­ses oder je­nes, zur Entscheidung freigestellt.
Neben dem Kaiser stand seine zweite Frau, die jeder 'Kaiserin' nannte. Eigent­lich war dies falsch, aber der Kai­ser ließ es ge­sche­hen, oder es blieb ihm un­be­merkt. Die einzig richtige 'Kaiserin' war seine erste Frau. Weil diese aber schon sehr lange tot war, hatte jeder am Hof sich daran ge­wöhnt, auch die zweite Frau 'Kaiserin' zu nennen.
'Wasi' nannte der Kaiser die zweite Kaiserin heute. Dies war ei­gent­lich der Name und der zärtliche Name seiner verstor­be­nen Frau, der wirklichen Kaiserin, die ihm zwei Töchter geschenkt hatte.
Die zweite Kaise­rin nannte ihren eigenen Namen. Aber sie sagte ihn sehr leise, als wolle sie, ange­sichts des To­des, nicht dar­auf bestehen, mit ih­rem richti­gen Namen an­gespro­chen zu wer­den.
Der Kaiser hätte ihr auch nicht zugehört. Er überlegte bereits an etwas anderem. Je­den­falls schloss er die Augen, und eine Anstrengung zog Furchen über seine Stirn.
"Ich mochte meine Schwester nicht", sagte der Kaiser, als sich der Arzt über ihn beugte. "Sie war jünger als ich und hatte eine Stim­me, die wehtat. Mit dieser Stimme rief sie meinen Vater, und er kam immer, obwohl er ein Kaiser war."
Die Kaiserin verspürte über dem Sterben ihres Mannes keinen Schmerz in der Gegend des Herzens. Anders als sie angenommen hatte, wa­ren es die Fü­ße, die ihr wehtaten. Lang­sam wan­derte der Schmerz die Beine hoch und wur­de in Höhe der Knie taub. Die Kaise­rin hätte sich gerne ei­nen Stuhl ge­wünscht.
"Wasi", sagte der Kaiser wieder, "du erinnerst mich an meine Schwester. Im Äußeren seid ihr euch gleich. Viel­leicht hat der Vater euch aus diesem Grund zu meiner Frau gemacht. Er mochte meine Schwester sehr und ließ keinen Blick von ihr."
Der Drache sah nun weniger aufgeregt von oben drein. Er hat­te sich daran gewöhnt, dass so viele Leute sich versam­melt hatten, und es belustigte ihn, dass sie, wenn sie nur alle zur gleichen Zeit kamen, ganz still stan­den. Kamen sie dagegen allein, wie sonst immer, dann rannten sie, dass ihnen die Köpfe wac­kelten. Und einem Drachen in seiner Höhe konnte es recht schwin­delig dabei werden.
"Meine Töchter Dessa und Nadim" sagte der Kaiser, "tre­tet her, neben eure Mutter."
Nadim trat an das Bett ihres Vaters und sagte: "Sie ist nicht meine Mutter. Deine zweite Frau ist sie und hat kei­ne Kin­der." Dessa nickte und schaute an der Kaiserin vor­bei.
Nadim war die Ältere und konnte nicht verbergen, wie nah ihr der Tod des Vaters ging. Sie hatte seine Hand ge­nommen und sich zu ihm gesetzt. Dessa, ihre jüngere Schwe­ster, war zier­lich und besaß ein Gesicht, das ihr die Schönheit mit ein paar virtuosen Zü­gen auf­gezeichnet hat­te. Groß war die Ähnlichkeit mit ihrer Stiefmutter, obwohl es keine Erklärung dafür geben konnte.
"Wie steht es mit eurer Heirat, ihr beiden?", fragte der Kaiser und sprach sie auf seine Weise an, als seien sie eins, das nicht zu unterscheiden war.
Nadim schüttelte den Kopf, und Dessa legte ihr sanft die Hand auf die Schulter.
"Es kommen zwei, die wir nicht kennen", sagte Na­dim,
"Dann werde ich wohl eure Heirat nicht erleben, ich alter Kaiservater", stellte er traurig fest und war be­reits wieder in anderen Gedan­ken.
"Wo ist euer Halbbruder?", fragte er streng.
"Wir haben keinen Bruder", sagte Nadim verwirrt, "auch keinen Halbbruder." Dessa schüttelte traurig den Kopf über die Verwirrtheit des Va­ters. Die Kaiserin hatte die Stirn gerunzelt und betrachtete ärgerlich ihre Füße.
"Kommt er nicht, wenn der Vater stirbt?", fragte der Kaiser laut und richtet damit seine Empörung an al­le. "Geht hinaus, nieman­den will ich sehen! Ihr da, Musiker, ihr bleibt."
Als alle gegangen waren, traten die Musiker vor. Der Kaiser richtete sich in seinem Kissen auf und gestat­te­te ihnen, noch ein wenig näher an sein Bett zu tre­ten.
"Spielt mir das Lied", bat der Kaiser, "ich möchte wei­nen dazu ..."
Er streichelte mit der rechten Hand zärtlich die linke, als läge sie dort fremd von jemand anderem. Die Musik schritt trau­rig im Raum des Sterbens umher. Als die Er­inne­rung kam, war der Kaiser sich nicht si­cher, ob er schon zu wei­nen begonnen hat.
Draußen vor der Tür saß die Kaiserin auf einem Stuhl und horchte durch die Tür. Hinter ihr stand der Hof­mar­schall und machte ein an­ge­strengtes Pflichtgesicht. Der General stand abseits, weil er seinen Kaiser nicht belaus­chen wollte.
"Was ist das für eine Musik?", fragt die Kaiserin.
Der Hofmarschall blickt sich eine Antwort fordernd um. Der Gene­ral kannte diese Musik, da war er sich sicher!
"Sie erinnert mich", ließ sich der General zögernd entlocken, "ich glaube an die Nachtstadt ... da spielen sie es, bei den Mädchen, soweit ich weiß."
Die Kaiserin und der Hofmarschall nickten verstehend.
"Manchmal singen auch Soldaten dieses Lied!", warf der General nach, als kön­ne diese Aussage sein Ansehen noch retten!
"Warum spricht er jetzt von seinem Bastard?", fragte die Kaiserin. "Warum sagt er, dass er ihn erwartet? Ist er schon so ..., dass er nichts mehr richtig weiß?"
Der Hofmarschall nickte. Traurig hob er die Arme, um Schicksalhaftes zu bedeuten. Der General malmte mit den Zähnen, weil das ein Mittel gegen das Weinen war. Denn der Kaiser war den anderen bloß ein Kaiser, aber ihm ein wirk­licher und ehrlicher Freund gewesen.
Die Kaiserin hatte sich wieder gebückt und horchte. Die Musik war leiser geworden, weil der Kaiser gespro­chen hat­te.
"Da bist du ja!", sagte er. "Ich habe dich er­wartet."
Ein junger Mann hatte sich für ihn sichtbar still mit dem Rücken zum Fen­ster ge­stellt und blickte den Kaiser traurig an. Weil der junge Mann im Gegenlicht stand, war sein Gesicht undeut­lich, und sein Körper stand in einem Schatten.
"Ich habe nach dir verlangt, aber du warst nicht da", sag­te der Kaiser. "Jetzt bin ich froh, dass du gekommen bist."
Der junge Mann wandte sich um und sah zum Fenster hin­aus. Dem Kaiser kam es vor, als komme die Musik aus dem Fenster, vor dem er stand.
"Wer hat dir gesagt, dass es mit meinem Leben zu Ende geht?", fragte der Vater.
Hatte sich der Kaiser zum Sterben die Vorhänge ausge­dacht? Ihm wollte es scheinen, als habe es in diesem Zimmer niemals solch trauerschweren Vorhänge gegeben.
"So kenne ich dich", sagte der Vater zärtlich. "Kommst, wenn sie dich vergessen haben. Schleichst dich herein, dass niemand dich sieht. Stellst deine Fragen mit meinem Mund."
Gewiss hatte der Sohn die Vorhänge mitgebracht, damit sie für seine Trauer sprechen konnten!
"Wenn ich aus dem Leben trete", sagte der Kaiser, "wirst du hineintreten."
Die Gestalt am Fenster rührte sich nicht, als wisse sie bereits und habe viele Male gehört, was der Kaiser sagen wollte.
"... da es mit mir zu Ende geht, bleibt dir nichts, als her­auszukommen aus meinem Unsicht­baren." Der Kai­ser kniff die Augen zu­sam­men, so sehr strengte es ihn an, in das Gegenlicht zu schauen. Schließlich hielt er sich die Hand vor die Augen und sah durch einen winzigen Spalt hin­aus.
"Ist er noch da?", fragte er die Musiker.
"Er? - Wer? - Nein! - Wo?" sprangen ihre Stimmen durch den Raum, ohne auf sein Lied achtzugeben.
"Sagt nichts, spielt!", befahl der Kaiser schnell, ehe sie sein Lied zerstören konnten. Als sie wieder begonnen hatten, war er froh, dass das Lied heil geblieben war. Glücklich und müde lehn­te er sich in sein Kissen zurück und betrach­tete sich, wie das Licht aus seinen Augen abfloss.
"Jetzt schläft er", flüsterte draußen die Kaiserin und erhob sich von ihrem Stuhl. "Aber er hat die ganze Zeit mit sich gesprochen und zum Fenster gesehen."
Leise trat der Hofmarschall in den Raum, zog die Vorhän­ge vor das Fenster und schickte die Musiker fort.

Chapter 50. Flucht der Soldaten

Der Kaiserliche Gesandte hatte Woi und Baldeina als Boten auf ihren schnellen Pferden vor­aus­­reiten lassen. Die beiden sahen nun von einer Anhöhe herab den Hof der Für­sten I vor sich. Ihre Ge­sichter wa­ren grau vom Staub, ihre Augen schmal ge­worden vom Wind und von der Mü­dig­keit, die sich über Tage gesammelt hatte. Die Sonne hat­te sich hin­ter dichten Wol­ken ver­bor­gen. Es war dunk­ler, als es zu dieser Stunde hätte sein sollen.
"Ich kannte den Fürsten I", erklärte Baldeina, als sie anhielten, um sich den Staub herunterzuklopfen. "Er war ein Freund von meinem Vater, aber sie sind sehr arm. Nun ist nur noch die Fürstin übrig. Sie haben keine Kinder, nicht einmal Töch­ter."
Sie mussten nicht lange warte, da trafen der Gesandte und die beiden Soldaten mit ihrem großen Wagen ein. Ge­mein­sam ritten sie in den hallend leeren Hof ein.
Die Für­stin rief sogleich zu einem 'kleinen Mahl'. Als der Gesandte sah, wie klein es war, entschul­digte er sich mit einer Unpäss­lich­keit. Die beiden Sol­daten gal­ten der Genera­lin trotz ihrer bet­teln­den Blicke nicht als Gäste.
Den an­deren über­reichte sie mit salzigem Schmalz ge­schmierte Brote. Den Teller mit den Bro­ten be­hielt sie ständig bei sich und überreichte jedem nur gegen eine ausgestreckte Hand eines ihrer Brote. Dabei mach­te sie ein Ge­sicht, als wären die Gäste dabei, ih­ren Win­ter­vorrat leer­zues­sen. Lang sa­ßen sie nicht zusammen. Weniger noch, als Brote zu essen, gab es Dinge, wor­über sie spre­chen konnten.
Woi wusste nicht, wie lang er geschlafen hatte. Die Käl­te hatte ihm ihre Hände auf den Nacken gelegt. Im Traum war ihm gewesen, als habe er mit dem Kopf einen Stand auf einem steinernen Tisch gemacht.
Ein Geräusch hatte ihn geweckt. Als er sich umblickte, glaubte er zuerst, im Hause sei­nes Vaters zu sein. Dann fiel ihm sein Hunger ein, und er sah die Generalin vor sich, wie sie ihre eigenen Schmalzbrote aß.
Doch nie­mand war da. Eine Ker­ze brannte vor ihm, aber der Raum war leer. Von seinem Fenster aus sah er hinunter auf den Hof und bemerkte einen von Baldeinas Soldaten, der sich zu den Pferde­ställen schlich. Er trug keinen Helm und keine Uni­form, aber Woi erkannte ihn, weil sein Hals ein wenig lang geraten war. In einer Ecke sah Woi seinen Kumpan war­ten, ebenfalls ohne Uniform und Helm. Es war deutlich, dass sie sich verabredet hatten.
Woi nahm sich die Kerze und begann, Baldeinas Schlaf­raum zu suchen. Er schlich sich mit abgeschattetem Licht den Gang entlang und horchte an den Türen. Hinter der er­sten hörte er den Kaiserlichen Gesandten schnau­fen.
Ohne ein Geräusch zu verursachen, öffnete er die zweite Tür. Dort lag ruhig, wie auf­ge­bahrt die Genera­lin auf ih­rem Bett. Ihr Ge­sicht war grau und glatt wie das Ei ei­nes großen Vo­gels. Sie glich einer Verstorbe­nen mehr als einer Schla­fenden, und so tief schien auch ihr Schlaf zu sein.
Leise öffnete Woi eine dritte Tür. Weit in der Ecke stand das Bett von Baldeina. Es war kein Laut zu hö­ren und kein Kopf zu sehen. Baldeina hat­te sich die Decke über den Kopf gezogen, als gebe es ihn nicht. Vor­sichtig, aber ohne Schonung zog Woi ihm die Decke vom Kör­per.
Als Baldeina sich vergeblich klammer­te und in der Luft suchend nach seiner Decke griff, gab Woi ihm einen der Schu­he in die Hand.
"Schuh?", fragte Baldeina.
"Ja, Schuh", bestätigte Woi.
Die andere Hand suchte weiter und bekam einen Becher zu fassen.
"Trinken?", fragte Baldeina.
"Nein, leer", sagte Woi.
Baldeinas Kopf schreckte hoch. Die Augen wussten noch nicht, wo sie waren.
"Traum?", fragte er.
"Nein, Woi."
Baldeina sah genauer hin, was er in den Hän­den hielt. Er sah einen Schuh und einen Becher. Also träumte er, wie er gedacht hatte.
"Nein", sag­te Woi. "Das ist kein Traum."
Baldeina lä­chelte ihn an, als wisse er das bes­ser.
"Das sa­gen sie im Traum zwar auch, aber es ist wirk­lich kein Traum", noch einmal Woi.
Nun war Baldeina wach. So hatte sich noch nie jemand in seinem Traum zu ihm gesprochen!
Woi schenkte Baldeina ein flackern­des Lächeln und hielt die Kerze so, dass es gut zu sehen war. Ausser­dem gab er ihm die Decke zurück.
"Was ist denn, ist denn?", fragte Baldeina.
"Ich bin es, Woi!"
"Wie? - Du? - Ah so!"
"Deine Soldaten sind bei den Pferden?"
"Was tun sie?"
"Ich glaube, sie wollen davonreiten. Komm, wir müssen uns beeilen!"
Baldeina zog sich die Stiefel an und band sich den Gür­tel mit dem Schwert um. In seinem langen wei­ßen Schlafge­wand äh­nelte er dem Geist eines Kämpfers, dem eine unerle­digte Ehrenangelegenheit keinen Schlaf gönnte.
Sie schli­chen zu den Pferdeställen und lehnten sich ge­gen die Au­ßen­wand, um zu lauschen. Die beiden Soldaten wa­ren sich noch nicht einig, was sie tun sollen.
"Lieber mit Tigerteilen Bauer, als ohne Tiger­teile Sol­dat", sagte der eine von ihnen grimmig.
"Hast du dir das auch gut überlegt?", fragte der andere. "Wir können nicht zurück, wenn wir einmal geflohen sind."
"Was gibt's da zu über­legen! Du hast doch gehört, dass sie uns die Eier abschneiden werden wie diesem Schwabber­wanst von einem Ge­sand­ten."
"Das ist Fahnenflucht. Denk nur an die Stra­fe."
"Wir sind Männer und keine Straßenkater! Das können sie mit uns nicht machen, dass sie uns kastrieren!"
"Wenn sie uns finden?"
"Sie werden uns nicht einmal suchen!"
"Ich hoffe, du hast recht."
"Los, rauf mit dem Zeug auf dein Pferd!"
Woi zückte seinen Dolch, als er hörte, dass sie mit dem Satteln ihrer Pferde beschäftigt waren.
"Was willst denn du?", flüsterte Baldeina.
"Ich will sie gefangen nehmen. Das ist Fahnenflucht, sagen sie doch selbst."
"Aber es sind zwei ..."
"Wir doch auch!"
"Aber SIE sind Soldaten!"
"Aber keine richtigen!"
"Das sagst du nur, weil eure keine richtigen Uniformen haben!"
"Wir fallen ihnen in den Rücken!"
"Nein!"
"Nein?"
"Ich finde, sie haben recht."
Woi schwieg verdutzt.
"Sie haben eben Angst, dass die Kaiserlichen ihnen die - du weißt schon - abschneiden."
"Also, willst du sie fliehen lassen?"
"Ja, am liebsten ..."
"Dann mache ich es eben allein!"
"Es sind aber MEINE Soldaten!"
"DEINE Soldaten?"
"Ja, sie gehören mir und meinem Vater!"
"Wenn es Soldaten von MEINEM Vater wären, dann ginge es ihnen schlecht!"
"Es sind aber nicht deine, und bei mir sollen sie es gut haben. Jedenfalls darf man ihnen nicht die - wovon sie sprechen - abschneiden!"
"Du bist nur feige!", stellte Woi fest.
"Sie tun mir leid!", entgegnete Baldei­na.
"Pahh!", sagte Woi verächtlich, aber Baldeina war aus seinem Rücken bereits wieder fortgeschlichen.
'Wie leise einer sein kann, der feige ist!', dachte Woi bei sich.
Als sie zu ihren Zimmern kamen, lauschte Baldeina. Wenig spä­ter hörten sie die Schritte der Soldaten, die ihre Pferde langsam über den Hof führten. Als sie am Tor waren, spran­gen die Soldaten auf und ritten im Galopp davon. Es hatte den Anschein, als würden sie ihre Tiere recht sehr antrei­ben.
"Nicht jeder ist ein Feigling, der ein gutes Herz hat", sagte Bal­dei­na zu Woi, als er sein Schwert abgürtete.

Chapter 51. Aufbruch mit Fürstin I

Die Fürstin I war eine kleine Person. Ihr Ge­sicht war faltig, als sei es geschrumpft. Die gelben Haare be­deck­ten ihren Kopf wie ein riesiger Helm. Alles an ihr war klein, nur die Haare waren für eine Hünenfrau gewach­sen.
"Sie wird uns begleiten", flüsterte der Kaiserliche Gesandte den beiden Fürstensöhnen zu.
"Erst stirbt mein Mann", sagte die Fürstin unüberhörbar, "und nun ruft mich erneut das Schicksal!"
"Was meint sie?", fragte Woi leise.
"Ich weiß es nicht", antwortete Baldeina.
"Das Sterben des Kaisers, jeder spricht davon", dekla­mierte die Fürstin hohl. "Wie bei meinem Manne werde ich an seiner Seite stehen."
"Der Kaiser liegt im Sterben", flüsterte der Gesandte den beiden zu. "Sie hat mich unterrichtet, dass sie uns begleiten wird."
Die Fürstin war reisefertig. Sie besaß von der Familie ihrer Mutter her eine Art Jagdanzug, den sie nun trug. Er war ihr ein wenig groß. Nur der Hut verlor sich in ihrem Haar.
Baldeina und Woi saßen bereits wieder auf ihren Pfer­den. Das Essen, das bei der Fürstin gereicht worden war, hatte sie nicht sattmachen können. Wenn Baldeina zurück­dachte, dann fiel ihm nichts ein, für das es sich wirklich gelohnt hät­te, den Mund zu öffnen.
Der Wagen von Baldeina stand in der Mitte des Hofes. Das Tuch, mit dem er bespannt war, hatte die Reise unbescha­det überstanden. Der treue Wagen des Kaisers an seiner Seite hatte gelitten. Die Plane war an manchen Stellen zer­rissen und hing als faltige Haut über den abgemagerten Knochen. In seinem Baucheingang saß der Gesandte und hielt sich den Magen und zählte fahljammernd die Wid­rigkei­ten auf, die ihn erwarteten. Daneben saß Li und schwieg feindselig ihre Umgebung an.
"Nein", sagte die Fürstin. Der Hof kannte sie und gab ihrer Stimme Gewicht und Echo. "Nein, ich will in einem an­deren Wa­gen fahren. In diesem dort!"
Sie zeigte auf den Wagen von Baldeina, welcher sich ver­dutzt umblickte. Vielleicht suchte er den Rat seines Vaters. Fürst Han­ga, auch 'Gold-Hanga', wie er von Freun­den oder Schuld­nern genannt wurde, war nicht mitgereist. 'Das musst du allein durchstehen', hatte der Vater gesagt, 'du bist immerhin mein Sohn.'
"Das geht nicht", sagte Baldeina und erschrak, weil der Hof seiner Stimme kein Echo gab. "Der Wagen ist voll und gehört mir."
"Es wird sich etwas herausnehmen lassen", sagte die Für­stin. "Es sind doch nur DINGE!"
"Es sind meine Sachen", sagte Baldeina. "Sie gehören mir und meinem Vater."
"Wozu braucht ein junger Mann so viele Dinge", schnitt ihm die Fürstin das weitere Wort ab. 'Dinge, Dinge', sagte auch das Echo vorwurfs­voll.
"Haben sie denn keinen Wagen?", fragte Baldeina, nachdem sich sein Gesicht ausgerötet hatte. Er zeigte auf die Pfer­de­stallungen. Woi grinste, weil er an das Gefährt im Staub­kleid mit den drei Rädern dachte, das er gesehen hat­te.
'Frechheit, Frechheit', sagte das Echo.
"Der Wagen, den ER meint, ist der Hofwagen meines Ur­großvaters, zu seiner Zeit ist er ... jedenfalls werde ich sein Ansehen nicht entweihen", erwiderte die Fürstin laut-laut.
"'Aussehen' meinen sie, nicht 'Ansehen'!", warf Baldeina ein. Er überlegte, ob das ein Scherz war. Dann lachte er. Aber niemand lachte mit ihm, auch das Echo nicht.
"Meine Familie" - 'Fami­lie, Familie' sagte das Echo - "ist so alt", sie überlegte, ob ihr etwas ein­fiel, "wie - je­denfalls gab es Fürstentü­mer zu jener Zeit noch nicht zu KAUFEN!"
"Das ist unerhört!", sagte Gold-Baldeina ohne Echo.
"Da nun darf ich ihnen recht geben", entgegnete die Für­stin-Fürstin. "Wie stehen wir, die Fürsten I da, wenn wir uns umsehen?" Sie sah sich um und ihr Blick blieb schau­dernd auf Baldeina liegen.
"Die Sachen - alle bleiben drin", sagte Baldeina. 'Nird, Nird', höhnte das Echo. Es klang wie ein Schimpfwort und war eindeutig beniedrigend gemeint.
"Ich setze mich nicht zu einem solchen", sie zeigte auf den Bauch des Gesandten, "und ebensowenig zu einem Mäd­chen, die ich wohl eine Dienerin nennen darf."
"Sie ist meine CHRONISTIN", sagte Woi streng.
"Und was ist eine CHRONISTIN ihrer Meinung nach?", fragte die Fürstin I spitz.
"Ja, eeh", Woi überlegte. "Sie schreibt Gedichte, das ist eine Chronistin."
"Ah, sie schreibt Gedichte", sagte die Fürstin spitz, sehr spitz.
"Sie hat keine Pferde", stichwortete Woi seinem Freund, weil ihm ein Themenwechsel geraten schien.
"Nicht EIN Pferd hat sie!", trompete Baldeina heraus.
"Wir", die Fürstin zeigte auf ihren hallenden Hof, "benöti­gen keine Pfer­de."
"Keine Pferde", sagten Baldeina und das Echo gemein­sam.
"Darum würde es uns nichts ausmachen, sogar zu laufen", sag­te die Fürstin tapfer. 'Nicht laufen - nicht laufen', sagte das Echo.
"Unsere Familie ist sehr alt", sagte die Fürstin I. "Wir kennen den Kaiser und natürlich auch seine Töchter, die Prin­zes­sinnen."
"Dann wissen sie vielleicht, dass wir die Prinzessinnen heiraten wollen - ich meine, dass ich - dass die Prinzes­sinnen uns - jedenfalls sind das alles Geschenke dafür, und alles kommt mit!"
"Ich denke nicht", sagte die Fürstin, deren Haar in fei­nen Wellen erzittert war, "dass eine DIESER Prinzes­sinnen jemanden wegen seiner Geschenke heiraten wird!"
"Das ist mir egal - jedenfalls, was meine Geschenke an­geht", sagte Bal­deina und warf dem Echo sein Schweigen zu.
Nach einer sehr verächtlichen Abwendung des Kopfes schritt die Für­stin zum Wagen des Gesandten und stieg hin­auf, wo­bei sie erkennbar angewidert die Hand ausschlug, die ihr von oben zur Hil­fe gereich­t wurde.
Als sie durch das Tor ritten, grüß­te Woi zu den bei­den Häus­chen herunter, obwohl sie verlassen waren. Ihnen voraus fuhr Baldei­nas Wagen. Trotz seines Ge­wichtes und des schlechten Wegzustandes besaß er etwas Schwebendes. Hinter ihnen rumpel­te der Wagen des Kai­sers, der einer bäuerlichen Eskorte glich, die sie mit zerschliss­senen Kleidern, aber treuer Miene ein Wegstück begleiten würde.
Ein kleiner Windstoß entführte ein Lächeln von Bal­deinas Ge­sicht. Er dachte, dass Woi ihn, so gut es ging, unter­stützt hatte. Es war schön, einen Freund zu haben, wenn der Vater nicht dabei war.
"Mein Herr, ich sagen ihnen", die Fürstin hatte sich ihrem Nachbarn Gesandten zugewandt, "die Prinzessinnen werden keinen neh­men, der von gewiss nied­riger Geburt ist."
"Woi, du glaubst gar nicht, wie arm manche Fürsten sind", sagte Baldeina und blickte sich nach der Fürstin um, die mit Haltung den Gegenschlag erwartet hatte. "Mein Vater sagt, wenn sie die Nase hoch tragen, dann nur, weil ihnen die Schulden ebenso hoch stehen."
"Wie schnell ist der Reichtum dahingeschmolzen", verkün­dete die Fürstin den Mitreisenden. "Was bleibt dem, der im Inneren keinen Reichtum erworben hat."
"Woi", flüsterte Baldeina, "mir fällt nichts mehr ein!"
"Mein seliger Mann pflegte zu sagen", setzte die Fürstin zum finalen Stoß an, "Wer sei­nen Stolz habe, wo solle dem ein Mangel sein? Er frage nicht nach einem Lohn."
"Mein Vater sagt, der Stolz sei ein abgestorbener Baum, wo die Vögel wohnen, die sich von Grillen nähren. Woi, hörst du zu? Mir ist doch etwas eingefallen!"
"Ja", sagte Woi und nickte. Aber er hatte nicht zuge­hört, sondern in die Ferne gesehen und sich gefreut, dass er allein auf einer großen Reise war. Wie stolz wäre Me­dith gewesen, wenn er ihn auf dem Weg zur Kaiserstadt gesehen hätte. So träumte Woi sich in die Ferne und war dankbar taub für den Streit und den Lärm der Räder.
Die Wa­gen der kleinen Gesandtschaft fuhren als schwere Kähne durch den Nebelsee, der sich zu beiden Seiten des Weges gebildet hatte. Die Sonne stand noch tief hinter den Bäu­men. Aber der Him­mel sammelte bereits die flachsten der Wolken zu einem Schild, das er den ersten Sonnenstrah­len als wie zum Kampf entgegen­halten wollte.

Chapter 52. Das Testament des Kaisers

Der Kaiser fühlte, wie das Fieber kam. Es war ein Berg­fieber, ein kaltes, eines, das seine Spitze ver­barg. Er sah viele Menschen, die ihn umringten, aber sie waren un­scharf. So konnte er nur ihre Stimmen hö­ren.Es waren wohl die Menschen von dem Dorf am Fuße des Berges, die sich ver­sammelt hat­ten.
'Wo soll er liegen, dieser Mensch, der ein Kaiser ist?', riefen sie.
'Ihr kennt doch meinen Platz - dort, wo die sprechenden Bäume stehen', rief er unwirsch zurück.
'Ja, mit ihm werden die Bäume wohl sprechen. Schließlich ist er ein Kai­ser! Tragen wir ihn also hin!', riefen sie eilfer­tig.
Er hörte einen Hund, der anschlug. Ein Flüstern, das immer näher kam. Wellen, die ihn tru­gen. Gedanken, denen nichts mehr zu denken übrig war. Worte, die sich ins Sterben gelegt hatten.
Zwischen den Kräutern such­ten die Schatten nach einem Platz. Am Endes des Tragens stand das Bett der ster­benden Kai­ser. Davor machten es sich die Bäume in den Moospan­tof­feln bequem.
'Wisst ihr, wer ich bin?', rief der Kaiser zu den Bäumen hoch.
'Du bist der, von dem der Bote der Bleichen heute sprach' - sie hatten helle Stimmen und sprachen im Chor - 'Nicht belau­schen wollten wir ihn, aber ein trödeliger Wind hielt seinen Morgen­schwatz bei uns. Alle haben wir es gehört, bis auf den, der dort hinten steht, und die Ohren bei den Wurzeln hat.'
'Ja', rief er und lächelte über ihre dünnhalsige Ängst­lichkeit, 'ich bin der Kaiser, von dem er gesprochen hat.'
'So wollen wir warten mit dir. Es ist so ein Tag, der sich gut verwarten lässt.'
Und so warteten sie zusammen. Die Bäume wollten etwas singen, aber sie kannten nur ein paar Worte, und keiner wusste, wie es weiterging.
'Er hat Durst. Bestimmt hat er Durst. Wenn einer stirbt, dann hat er Durst, die ganze Zeit!', rief ein Baum mit schreller Stimme.
Der Kopf des Kaisers knickte sich nach vorn für den flüssigen Speer, der in den Mund einen Schlund brannte und in sei­nem Magen zu Rauch ver­blies.
"Schreiber", sagte er, "ich bin wach." Das Pa­pier er­schrak und verhustete sich.
Aber dann war der Kaiser doch wieder bei den Leuten im Dorf. Eine Frau sah zum Himmel empor, und ein Mann sprach zu den spie­lenden Kin­dern: 'Spielt nicht so laut! Im Zimmer drin­nen liegt der Kaiser und ist sehr krank. Er war immer gut zu euch und hat oft nach euch Kindern gefragt.'
'Wirk­lich, nach jedem Kind, hat er gefragt?'
'Er ist ein Kaiser und küm­mert sich um jedes Kind!'
'Hat er denn kei­ne eigenen Kinder, um die er sich küm­mern muss?'
'Eigene Kinder hat er auch, aber weil er ein Kaiser ist, seid auch ihr seine Kinder!'
'Dann hat der Sohn­kaiser ihn nicht allein für sich?'
'Nein, der Sohnkaiser muss ihn sich mit allen Kindern teilen.'
'Wir haben zwei Väter, und er hat keinen, da ist er be­stimmt ein bisschen traurig.'
'Darum, Kinder, nennt man den Sohnkaiser auch den Kaiser der Tränen.'
'Weil er immer weint?'
'Er weint nicht, das ist nur sein Name.'
'Haben die Vaterkaiser auch einen Na­men?'
'Ja, sie hei­ßen Kaiser des Blauen Drachen.'
'Das ist be­stimmt ein lusti­ger Drache, wenn er blau ist und nicht rot ist.'
'Der Große Fluss ist der Blaue Drache. Von ihm hat er diesen Namen.'
'Ist es schwer, für den Trä­nen­Sohn­Kaiser ein Gro­ßer­Fluss­Kai­ser zu werden?'
'Nein, wie ein Ap­fel am Baum wächst - es braucht nicht viel dazu. Ir­gendwann ist er reif und fällt zu Boden, und ein neu­er Baum wächst dar­aus hervor.'
'Dann sind die wenigen Tränen ein großer Fluss gewor­den?'
'Ja, das ist so, aber nun spielt und stellt mir kei­ne Fra­gen mehr. Seht wie eure Mutter mich anschaut, dass ich mich so lange aufhal­te.'
Die Kinder spielten, dass der Kaiser ihnen zusah. Dann strit­ten sie sich und warfen mit Steinen, weil jeder von ihnen der Kaiser sein und zusehen wollte.
"Schreiber", sagte der Kaiser, "ich bin wieder wach."
'Schreiber!', riefen die Leute vom Dorf. 'Schrei­ber, es ist etwa Wichti­ges! Unser Kaiser will etwas sa­gen!'
"Ich will verfügen", sagte der Kaiser, "dass mein Sohn - den einzigen den ich habe - dann Kai­ser werden soll, wenn er ein Apfel ist, der vom Baum fällt."
'Apfel?', riefen die unklaren Dorfleute. 'Wie meint er das? Wer ist ein Apfel? Von welchem Baum fällt ein Apfel?'
"Verstehen sie denn nicht, Schreiber?", fragte der Kaiser unwirsch.
"Die Sache mit dem Apfel verstehe ich nicht", flüsterte das Papier auf den Knien neben seinem Bett.
"Lassen wir den Apfel weg", sagte der Kaiser. "Schreibt, dass mein Sohn Kaiser werden soll, wenn er gereift ist - in die Rei­fe gelangt - ausgereift ist - na, eben irgend­et­was!"
"... zur Reife gekommen ist?", schlug das Flüsterpapier vor.
"Schreibt das und damit gut!"
"Ich schreibe also: 'Ich, der Kai­ser des Blauen Drachen, verfüge, dass mein einziger Sohn mir nachfol­gen soll, wenn er zur Reife gekommen ist."
"Ja, so geht es", sagte der Kaiser ungnädig. Der Zorn hatte sich auf seine Stirn gesetzt. Er sah grimmig drein. Grimmig wie das Bergfieber, wenn die Tage nicht mehr an ihre Kraft glauben wollten, wenn die schweren Wol­ken keinen Weg mehr gehen wollten, und niemand der Men­schen kam, weil sie drinnen im Warmen voreinander sa­ßen.

Chapter 53. Ankunft in der Kaiserstadt

Als sie auf die Kaiser­stadt zurit­ten, hatte der Kaiser­liche Gesandte den Fürstensöhnen er­laubt, ja darum gebe­ten, dass sie ihn mit seinem Namen an­sprechen sollten. Aber Woi hatte ihn wie­der ver­ges­sen, so schwieg er im Ge­spräch. Bal­deina wusste den Na­men und stellte munter seine Fragen. ZungS­sung war der Name des Gesandten, mit Ti­tel Kund Zung­Sung - keine Schwie­rig­keit für Baldeina.
Der Gesandte hatte angeordnet, dass Woi und Bal­deina die Uni­formen der geflohenen Soldaten anziehen soll­ten. Sie woll­ten zumindest den Anschein erwecken, nicht schutz­los gewesen zu sein.
Die Federn vom Helm kitzelten Woi im Nacken. Der Helm ver­rutschte stän­dig im Rei­ten, weil er ihm zu groß war. Da gleichzeitig die Kniescho­ner zu eng waren und zwickten, war er ungeduldig, dass die Sache zu Ende ging.
Es wäre ihm unver­ständlich, äußerte sich erneut der Gesandte, und er frage sich, ob es der wahre Grund ihrer Flucht sein könne, dass die Soldaten der Entmannung mit Bangheit ent­gegengese­hen hätten. Man­che Dinge, sagte er, würden nur grausam da­durch, dass man sie der Vorstel­lung überlas­se. Ein klei­ner Schnitt sei es, mehr nicht. Ein Ziehen, eher als ein Schmerz. Bei guter Pflege sei alles schnell ver­gessen.
Das letzte Stück führte sie der Fluss. Die Stadt lag in seiner Armbeu­ge. An ihren Rändern hatte sich breit Sump­figes angesam­melt. Hier war der Körper des Flusses fett und un­gesund aufge­dunsen, so schien es.
Es begleite ihn, sagte der Gesandte, diese Frage. Dies bitte er ihm nachzusehen. Er habe einen gekannt, der habe sich seiner Mannheit gerühmt und sie kaum verbor­gen aufge­tragen. Und doch wäre er arm gewesen und habe kein Weib gefunden. So sei er Schäfer gewor­den. Hoch in den Bergen habe er an einem letzten schiefge­wachse­nen Baum gelehnt und trübe über die Lände­reien sei­nes Herrn ge­schaut.
"Spürst du es, Woi", fragte Baldeina leise, "die­ses Kaiserliche und irgendwie Erhabene?"
Es lag in der Luft. Woi sah sich um. Im Fluß schwamm Trü­bes und at­mete den Geruch von Ver­wesung. Es war nur gut, dass ein leichter Wind aus ihrem Rücken weh­te.
Sie ritten über eine kleine Holz­brücke auf einen Weg, der sie zu den Stadtmauern brachte. Woi stellte fest, dass diese nicht aus Stein gemauert waren, wie er gedacht hatte, son­dern aus be­maltem Holz und in leichte­ster Bau­weise gezim­mert waren, als habe man die Absicht, sie bei Bedarf zu verset­zen. Für ei­nen wirklichen Schutzwall schien der Kai­ser keine Notwen­digkeit zu sehen. So wie in seinen Uni­formen oft keine richtigen Sol­daten steck­ten, ga­ben sich die Mau­ern mit dem An­schein des Schut­zes zu­frieden.
Es beschäftige ihn die Frage, sagte der Gesandte, ob die Flucht der Soldaten nicht voreilig gewesen sei. Wenn er nur denke ... er habe einen gekannt, der sei im Be­sitz die­ses Dinges gewesen und eines Weib dazu. Mun­ter hät­te er sich seine Lebenszeit einteilen kön­nen, wenn nicht sein Weib einen Beweis seiner Liebe - der Liebe sei­ner See­le - sich auserbeten hätte. Da sei der arme Mann in Nöten gewe­sen. Er habe gegrübelt in einem fort, was es sein kön­ne, wonach sie verlange. Gallig sei er geworden und schließlich ein Komischer. So könne es kommen, sagte der Gesandte, wenn man sich ver­steife.
Vor ihnen fuhr ein Wagen, der sie zwang, die Pferde dicht hin­ter ihm zu halten. Es sa­ßen zwei Jun­gen hinten drauf. Der Größere saß behaglich im Schaukeln, der Kleine­re aber war ein Frecher, der überlegte, was er sich trauen durfte.
"Seid ihr Solda­ten?", rief er mit heller Stimme.
Baldeina nickte ganz ernst und brachte seinen Kör­per in eine gestraffte Form. Woi setzte den Helm gerade.
"Ich glaube, es sind falsche Soldaten, Vater!" rief der Kleine nach hinten durch.
"Nein, Kind, es sind be­stimmt rich­tige Solda­ten!", rief der Vater von vor­ne.
"Sie se­hen aber komisch ein bißchen aus. Der eine ist ein Dicker" - Woi quieckte vor Vergnü­gen, während Bal­dei­na in eine ungestraffte Weichform zurücksackte - "und der an­dere hat einen schiefen Helm und macht sich lu­stig über den dicken Sol­daten."
"Es sind Sol­daten. Es ist nur, wenn du nah bist, sehen sie manchmal komisch aus!", rief der Vater zu sei­nem Jun­gen.
"Was ist denn in eurem Wagen drin?", fragte der Junge.
"Da sind Geschenke drin", sagte Baldeina stolz. "So herrliche Geschenke, wie du sie noch nie gesehen hast."
"Für wen sind die Geschenke? Hat jemand Geburtstag?"
"Er will eine von den Töchtern des Kaisers heiraten", sagte Woi bissig. "Dafür braucht er die Ge­schenke."
Baldeina war ganz rot geworden und sah sich hilfesuchend nach ZungSung um, aber dieser hörte nicht auf den Jungen, son­dern führte mit sich leise eine Erörterung fort.
"Weil er ein Dicker ist, muss er der Prinzessin vie­le Sachen schen­ken?", fragte der Junge.
Woi nickte und blickte vielsagend auf die Hüften von Baldeina, die sich wie zusätzliche Satteltaschen ausnah­men.
"Sei doch still", sagte der ältere Junge zu seinem Bru­der. "Wenn du frech bist, sage ich es dem Vater!"
Dankbar sah Baldeina ihn an: "Willst du eine Feder?", fragte er ihn und nahm seinen Helm ab.
Der Junge suchte sich die größte blaue Feder aus und zeig­te sie stolz sei­nem Bruder. "Trau dich nicht, sie zu knicken!", warnte er den Kleineren.
"Willst du eine Feder von meinem Helm?", fragte ihn Wo­i.
"Nein", sagte der Junge, "ich will genau eine Feder wie mein Bruder - eine blaue, und du hast nur die blöden gel­ben. Das ist gemein!"
"Von mir bekommst du keine Feder!", sagte Baldeina ver­ärgert. Aber als der Junge zu heulen begonnen hatte und ihn nicht aus den tränenschweren Augen ließ, da tat er ihm doch ein bisschen leid, und Baldeina gab ihm eine blaue Feder wie seinem Bru­der. Sie legten die Federn nebenein­ander. Beide waren gleich groß, eine so blau wie die andere.
An einem Marktplatz hielt der Wagen mit den beiden Jun­gen an, und sie konnten passieren. Der Gesandte sah sich auf­merksam und unruhig um. Er zeigte auf einen Stand, der sich dicht am Weg aufgebaut hatte. Dort tauschte der Händ­ler den grauen gegen einen schwarzen Wimpel.
"Meine Herren, bitte neh­men sie die Helme ab", sagte ZungSung und griff sich ans Herz, "es war unvorherseh­bar, gleichwie habe ich daran gedacht."
Als sie ihn ansahen, schlug er die Augen im gesenkten Kopf nieder, um zu sagen: "Der Kaiser ist tot. Der Blaue Drache führt kein Wasser mehr in sei­nem Lauf. Der Weiße Berg wird all seinen Schnee verweinen."

Chapter 54. Tesla bei Nadim

An der Tür zum Schlafgemach der Kaiserin klopfte eine Frau, erst leise, dann unüberhörbar laut mit dem Knöchel. Schließlich hieb sie mit der flachen Hand gegen das schwe­re Holz. Hinter ihr stand ein verschleiertes Mäd­chen und eine Viererkette von Soldaten, die keiner­lei An­stalten machten, sie an ihrem Tun zu hindern.
­Der Diener, der al­les mitangesehen hatte, erschrak auf das Furchtbar­ste. So­gleich rannte er los und warf sich zwi­schen die Tür der Kaiserin und die Hand dieser Frau, die Einlass begehr­te, wo es keinen geben konnte. Entrüste­t sah er die Kaiserlichen Soldaten an, die sich wie eine Eksorte dieser Frau aufführten.
"Sie will niemanden sehen", flüsterte er aus Sorge um das Befinden seiner Herrin.
"Das kann ein Diener nicht wissen", sagte die Frau weg­werfend. "Ich bin Tesla, die Fürstin der Nachtstadt, und will von der Kaiserin selbst wissen, dass sie mich nicht sehen will."
Der Diener bemerkte, dass sie tatsächlich eine Blinde war, wie er es von dieser Tesla gehört hatte. Außerdem gebärdete sie sich so herrisch, dass er nicht weiter zwei­feln wollte. Es erklärte ihm auch das Verhalten der Sol­daten, aber er wollte lieber nicht seine eigenen Schlüsse daraus ziehen.
"Die Kaiserin ist in Trauer", flüstert er. "Habt ihr keinen Anstand ..."
"Was trauert sie?", fragte die Frau grob. "Ein Fremder ging fort. Wie kann sie um ihn trauern?"
"Aber bitte, es ist eine Sitte am heutigen Tag des To­des", flehte der Diener.
"Was denn, Sitte?", fragte die Frau scharf zurück. "Der Kaiser hatte einen letzten Wunsch an mich. Den kam ich zu erfüllen. Sein Wille ist mein Recht!" Wieder schlug sie mit der flachen Hand gegen die Tür.
"Vielleicht die Prinzessin ...?", schlug der Diener vor. "Wenn es ein Wunsch ihres Vaters ist, kann ich euch zu ihr bringen." Er glaubte, Wein im Atem der Frau riechen zu können.
"Dann bringt mich!", verlangte Tesla und bedachte die Tür der Kaiserin mit einem verächtlichen Blick.
Langsam ging es vorwärts, weil sich die Blinde umhören wollte. "Groß ist es hier und leer", sagte sie. "Ich erkenne das Echo in seiner Stimme, wenn er zu mir kam."
Der Diener zuckte zusammen, weil sie etwas gesagt hatte, das er nicht wissen durfte, im Beisein dieses Mädchens, einer Zeugin, und der Soldaten, die es wer-weiß-wie auf­nahmen. Er hoffte nur, dass alles ohne Aufs­ehen zu Ende ging.
"Dort ist ihr Zimmer", sagte er. "Prinzessin Nadim wird euch emp­fangen. Sie ist nicht so - ich meine, sie ist eine Prinzes­sin, keine Kaiserin."
Er entfernte sich schnell durch eine kleine Tür, um nicht wieder das Klopfen und Schlagen dieser Frau hören zu müssen.
"Klopf du!", sagte Tesla sanft. "Sie ist ein Mädchen und wird dein Klopfen eher mögen als meines."
Das Mädchen im Schleier trat vor. Sie klopfte vor­sichtig und kein zwei­tes Mal.
"Ich habe geklopft", sagte sie, als die Prinzessin er­schien. Es war völlig überflüssig, dies zu sagen, aber Nadim nahm ihre Auskunft an, als verlange sie nichts anderes von ihr zu wissen, Name nicht und nicht Begehr.
"Und ich bin Tesla!", stellte sich die Blinde vor. "Die Nachtstadt hat mir euer Vater zum Geschenk gemacht. Und sie, die Kaiserin, kennt mich und weiß das wohl!" Die Frau hat­te eine schwere Figur. Sie trug ein Kleid, dass ihre kräfti­gen Arme bis zu den Schul­tern offen zeig­te. Ihr Ge­sicht war auf­gedunsen, aber es strahl­te Ge­wiss­heit aus und eine ver­glommene Wär­me.
"Ich weiß nichts von solchen Dingen, wirklich nicht!", sagte Nadim freundlich.
"Ihr müsst entscheiden, hört mich also an: Die Geliebte eures Vater bin ich. Auch in den Tod hinein. So hat er es gewollt!"
"Ich kenne euch nicht", sagte Nadim etwas hilflos. Sie fand es unerträglich, einer Blinden beständig in die Augen blicken zu müssen. Es machte sie hilflos und traurig.
"Euer Vater wollte, dass ich in der ersten Nacht seines Todes an seiner Seite bin."
"Wenn es der Wunsch meines Vaters war, dann will ich es gestatten", erwiderte Nadim und sah das Mädchen an, ver­suchte vergeblich, durch den Schleier in die Augen des Mäd­chens zu blicken.
"Geht!", sagte Tesla zu den Soldaten. Sie gehorchten ihr und traten ab.
"Wie stellt ihr euch vor, was ihr verlangt?", fragte Nadim, weil sie erst jetzt verstand, was sie gerade er­laubt hatte.
"Kommt mit!" Tesla wandte sich zum Gehen, und Nadim war froh, dass die fremde Blindheit nicht mehr auf ihren Augen lag.
Während sie Tesla langsam folgte, konnte Nadim immer wieder einen Blick auf das Mädchen werfen, das ihr zur Seite schritt. Sie war gewiss jung, trug keinen andere Trauer­kleidung als diesen Schleier, als wolle die Blinde, dass je­der nur in ihre eigenen leeren Augen sah.
Die Tür zum Sterbezimmer stand offen, um den Vor­beizie­hen­den einen Blick zu gestatten, aber Nadim zog sie hinter ihnen zu.
Hier waren all die Kost­bar­kei­ten des Kaisers ver­sammelt worden, die ihm persönlich waren. Sogar ein Sattel lag hier, den Nadim noch nie gesehen hat­te. Von einem Ding, das aussah wie eine Spin­del, wusste sie nicht ein­mal die Bestim­mung. Der Vater, einmal auf einem Bild dar­ge­stellt, war auch in einen Stein­kopf gemeißelt wor­den. Die beiden Männer sahen sich. Es kam Na­dim vor, als wür­den ihre Augen sich nie­der­rin­gen.
Sie mussten durch eine Tür nach draußen tre­ten, um dem Auf­gebahrten selbst zu sehen. Dort, wo sonst den Festen die Feuer brann­ten, unter einem Vordach mit einem riesi­gen Abzug, lag der Va­ter.
Tesla ging zu ihm und nahm zu Nadims Erschrecken die Hand des Toten auf."Ich bin bei dir", sagte sie, als er­kenne sie seinen Tod nicht an. "Die Kaiserin wollte mich nicht zu dir lassen, aber deine Tochter hat mich zu dir ge­führt. Sie ist eine gute Tochter. Du hät­test mir von ihr erzählen sollen."
"Wer ist das Mädchen?", fragte Nadim sie leise von der Seite.
"Sie ist mein Mädchen", antwortete Tesla ihr fast spöt­tisch, "einfach mein Mädchen."
"Wie ist ihr Name?"
"Was braucht sie einen?"
"Sie hat keinen Namen?"
"Ein Mädchen eben ist sie."
"Ist sie nicht eure Tochter?"
"Ich nahm sie als Kind auf, vielfragende Prinzessin."
Nadim hätte gerne noch Fragen gestellt und geredet, aber Tesla lauschte, als höre sie jemand anderen sprechen.
"Kalt ist es", sagte sie zu dem Toten. "Ich hätte nicht gedacht, dass mich friert, wenn wir uns an deinem Hofe treffen. Es war nicht dein Wille hier zu liegen, nicht wahr?"
Tesla hatte eine gewaltige Ausstrahlung. Sie machte Na­dim ebenso stumm wie das Mädchen. Ob­wohl blind, füllte sie die Augen der an­de­ren mit ihrer Er­schei­nung bis an den Rand aus.
"Ich bin gekommen, dass du mit jemandem sprechen kannst, und werde bleiben. Wir werden reden, und was du nicht ver­fügen konntest, das lass mich machen."
Nadim machte einen Schritt zurück, wo das Mädchen stand. War sie wirklich so schön, dass sie nicht angeschaut wer­den durfte? Nadim hatte nur das Wort einer Blinden da­für.
"Geh, Prinzessin!", sagte Tesla. "Lass uns allein mit deinem Vater. Es gibt Dinge, die er vor dir nicht aus­spre­chen will."
Nadim schüttelte den Kopf. Die Frau nahm doch nicht etwa an, dass sie ihr diese Dinge glaubte! Mit ihren dunklen Worten übertrieb sie ein wenig. Nadim zog den klaren Verstand dem Erschauern vor.
"Was stehst du noch da?", fragte Tesla ungehalten.
"Sie braucht einen Namen!", sagte die Prinzessin Nadim mutig.
Tesla lachte nur: "Jeder, mein Kind, hat etwas, das ihm fehlt: Ich habe mein Augenlicht nicht, das Mädchen keinen Na­men, und dir fehlt ein Mann!"

Chapter 55. Woi als Kaisertochter

Woi und Baldeina hatten Zimmer nebeneinander be­kommen. Li war dem Hof­dichter zugeordnet wor­den und mit einer Die­nerin ver­schwunden. Der Kaiserli­che Gesandte, des­sen Namen Woi sich nicht mer­ken konnte, hatte jedem von ihnen einen schwarzen Fächer gegeben und sie ermahnt, diesen in der Ge­sellschaft bei sich zu führen. Ebenso war das Kleid zu tragen, das sie auf ihrem Bett finden würden. Dann war er in eiligen Ge­schäfte los­ge­eilt.
Woi saß auf seinem neuen Bett, hatte sich das weiße Kleid über die Knie gelegt, spielte mit dem Fächer und hatte Langeweile. Da die Kaisertöchter trauern mussten, blieb nichts als War­ten.
In seiner Vorstellung betrat eine der Prinzessinnen das Zim­mer. Sie hielt sich den schwar­zen Fächer vor das Ge­sicht, und zehn Diene­rinnen kicherten in ihrem Rüc­ken. Wel­chen Ein­druck würde er auf sie ma­chen, wenn er mit eiser­ner Miene schweigsam blieb? Er stell­te sich vor, wie Bal­deina an seiner Stelle den Bauch einzie­hen würde, um aus hohlen Wan­gen lange und kunst­volle Sätze zu bil­den.
Da hatte Woi eine Idee: Ihn würde doch jeder für eine Kai­ser­toch­ter halten, wenn er das weißen Kleid trug und sich ei­nen dieser schwarzen Fächer vor das Gesicht hielt! So verkleidet konnte er an Baldeinas Zimmertür klopfen, sich als Prinzessin ausgeben und sich die große Rede selbst anhören.
Diese Idee fand Woi so gut und hatte ihr so wenig ent­ge­genzu­setzen, dass er be­schloss, sie sofort in die Aus­füh­rung zu bringen.
Im Zimmer nebenan lag Baldeina auf seinem Bett und war hungrig. 'Der dicke Soldat' hat­ten die Kin­der ihn ge­nannt, und Woi hatte sei­ne rück­sichtslose Freude ge­habt. Bei ihm zu Hau­se sagte nie­mand, dass er zu dick war. 'Dem Jun­gen geht es gut', sagte die Mutter, 'das sieht man doch!' - 'Jawohl', stimmte der Va­ter ein, 'ihm schmeckt es. Das braucht er für seine Stim­me.'
Alle waren sie nett zu ihm gewesen und hat­ten sich ge­freut, dass es ihm so gut schmeck­te. Und wenn er sang, dann waren sie ganz still. Doch nun lag er auf sei­nem Bett und hatte Hunger und war zu dick. Das hatte er nun davon, dass es soviel zu es­sen gab zu Hau­se.
Wenn er weniger aß, dann bekam er schlechte Laune. Dabei kam es darauf an, lustig zu sein, wenn die Kai­sertöch­ter sich einen von ihnen aus­such­ten. Außerdem wür­de er nicht Singen kön­nen, weil die Musik aus dem Bauch kam. Und beim Tanzen würde ihn die Schwäche schwin­deln las­sen.
Er hatte ge­hofft, dass er auf der Reise ein wenig schlan­ker werden würde. Aber mit Zung­sung, dem Kaiserli­chen Gesand­ten, hatte er so man­ch süßes Ge­heimnis ge­teilt, dass dieser in seinem Wagen versteckt hielt.
Baldeina fühl­te seine Hüften, die Backen, seinen wei­chen Bauch und kniff sich in die Brust - alles war ein­deu­tig zu dick. Nur gut, dass der Kai­ser tot war, da mussten sie alle fasten, und niemand durfte lustig sein. Wem wür­de es auffallen, dass einer nicht mit dem Her­zen trauerte, son­dern mit dem Bauch? Baldei­na lag matt auf seinem Bett und ließ seinen Bauch zur leeren Decke hoch­kla­gen.
Vielleicht war eine der Prinzessinnen ja ein bisschen dick, gerade so, wie er es mochte. Dann würde sie ihn lie­ben, für das, was er sagte. Wenn er sang oder zum Tanz sich stellte, würde sie nicht auf seinen Bauch sehen. Ein bisschen wollte Baldeina natürlich abnehmen, ge­rade so­viel, dass er nicht immer Hunger hatte und sie ihn noch mochte.
Das Haus verharrte still, als versuche es, herauszuhor­chen, wo diese unbe­kann­ten gnäuenden Geräusche herkamen. Es klopf­te lei­se, so zaghaft und vor­sichtig, dass Baldeina zu­erst dachte, es komme aus seinem Magen. Dann klopfte es wieder, fast zärtlich, jedenfalls nicht, wie ein Diener für eine Nachricht klopft oder zum Es­sen ruft.
Bal­deina ahn­te etwas, aus irgendeinem Grund, den er selbst nicht hät­te benennen können, sagte er leise, fast heim­lich, ja singend: "Ich kom­me gleich sogleich, ein wenig noch, da bin ich schon."
In der Tür stand eine Frau, die sich den schwarzen Fä­cher vor das Gesicht hielt und ihr langes, weißes Kleid für die Trauer trug. Sie war kleiner als Baldeina, aber von Statur nicht ei­gentlich pup­penhaft zier­lich. Sie sprach mit einer hohen, vom vie­len Weinen wohl angerauhten Stim­me.
"Darf ich zu euch hinein?", bat sie und mahnte: "Niemand darf, nicht eine Seel' wissen, dass ich bei euch bin. Nicht lang bleib ich, aber sehen wollt ich, wem ich - mag sein - ver­sprochen werde."
"Ja, ööh, bit­te, hmm ..."
"Ich kam doch nicht, um zu stören?"
"Aber bitte nein, ääh, ich habe sowieso nichts zu tun. Ich mei­ne, es ist mir eine Ehre, natürlich, eine Freu­de, eine plötzlich eintreffende ..."
"Oh bitte, die Schwe­ster, sie weiß von nichts, ist bei Vaters Aufgebahrtem."
"Oh, die Sache mit dem Vater, dem Kaiser, tut mir leid. Vergaß das zu sagen."
"Ich schau sie mir an, die beiden Fürstensöhne, die für die Heirat kamen. So sprecht von euch, dass ich die Wahl vor meiner Schwe­ster treffen kann."
"Ich bin Baldeina, so mein Name ... ja wie? Soll ich mich jetzt be­schreiben?"
So hatte es sich die Prinzessin gedacht und nickte zierlich.
"Also, ich ... über mich zu sprechen ist mir ein wenig unge­wohnt."
"Sprecht! Ich weiß, dass ihr nicht unbescheiden erschei­nen wollt."
Baldeina gab sich eine leichten Ruck: "Nun, ich kann gut singen, treffe ei­nen runden Ton. Beim Tanze habe ich Geschick, sagt man. Ich bin ein gu­ter Freund ge­wiss und will der Prinzes­sin, so ich ihr ver­sprochen werd', ein guter und treu­er Mann wohl sein." Mit einem Mal ging ihm das häufig Vorgedachte leicht von der Zunge. "Im trauten Ge­spräch will ich ih­r ei­ne Schwe­ster sein, im Tro­ste ein Mutter, in der Für­sor­ge ein Va­ter und in der Liebe ein rechter ..."
"Ja, sagt, nun seht ihr mich ge­spannt! Was wollt ihr in der Liebe sein? Wo versteckt ihr das Wort?"
"In der Liebe ein ... eben ich ... wie ein Baldei­na ..."
"Die Zeit hat es eilig. Wer weiß, wielang die Schwester heute trauert? So will ich sie nutzen und frag' nach dem an­dern, Woi mit Namen. Er ge­fiel mir wohl, war ernst, von bleicher Farbe die Wangen, sehnig kräftig die Ge­stalt. In sei­nem Blicke schien er mir ein Mann vom gro­ßen Rollen­fach, schweig­sam eher als geschwätzig."
"Also", setzte Baldeina zögernd an, "da er ja sozusagen ein Freund ist, wie kann ich da anders als gut über ihn spre­chen ...?"
"Nun, re­det, wo ihr schweigen müsstet. Was muss ich wis­sen? Die Zeit eilt mir davon!"
"Nun, eeh, er ist natürlich irgend­wie ein netter Kerl, wenn er nicht gerade mürrisch ist." In Baldeinas Ge­sicht wogen Freundes- und Wahrheitsliebe sich aus. "Und wenn er nicht mür­risch ist, dann macht er sich lustig über an­dere und denkt sich Späße aus, die kei­ne sind. Aber er ist ein gu­ter Mensch ... wenn man ihn in Ruhe lässt und sich für die Jagd interes­siert und für Pferde und Waffen, dafür wie man Tiere jagd und sie mit dem Messer zerlegt. Schlaft ihr gern des Nachts im Freien? Esst ihr gern vom Hasenkno­chen das rohe Fleisch? Mit den Bäumen und dem Pferde sprecht ihr wie er, bei den Menschen seid ihr stumm? Dann ist er wohl der Richtige für euch, und ich will gern den Kranz euch schenken ..."
Ehe Baldeina zu Ende sprechen konnte, hatte die Kaiser­tochter einen schnellen Schritt auf ihn zugemacht, ihn am Hemd gepackt und in einer wuch­tigen Um­dre­hung über die Schulter zu Boden geworfen.
Als er dort zappelnd lag und ver­such­te, sich zu­recht­zu­fin­den, sagte die Kaiser­toch­ter mit Wois Stimme: "Ein schöner Freund bist du! Wenn man dich mal allein ma­chen lässt, dann ziehst du jedem Freund gleich die Haut ab!"
Bal­deina wollte sich wehren, aber er lag weiter auf dem Rücken und konnte sich nicht rühren.
"Erst gibst du auf, bevor ich dich loslasse!" verlangte Woi.
"Gut", sagte Baldeina, "ich gebe auf, aber das ist kein gerechter Kampf!"
"Das soll­te auch keiner sein!"
"Ich wollte doch nur ...", sag­te Bal­deina. "Ich habe doch ge­wusst, an der Stimme ge­wusst, dass du es bist."
"Ja, ja, nichts glaub ich davon! Sie können auf­stehen, Herr Ehrlos! Wie sehen sie denn aus, Herr Feigherz?"
"... al­so wollen wir uns wie­der vertragen", bot Baldeina kläglich an und hielt sich dabei den Rücken.
"Wol­len wir!", sagte Woi und ließ den Knopf verschwin­den, den er Baldeina abgerissen hatte.
"Ich habe Hunger", gestand Baldeina. "Ich habe einfach ei­nen riesigen richtigen Hunger."
"Komm", sagte Woi, "ich werd uns in der Küche was schie­ßen. Ich kann doch nicht zulassen, dass der beste Freund, den ich im Augen­blick ha­be, verhungert."
"Das, was ich eben gesagt habe ...", versuchte Bal­deina zu erklären, "im Ernst, ich würde nicht ... es war ein Spaß!"
"Du wür­dest! Du hast nur einen Freund, deinen Bauch!"
"Weißt du denn, wo die Küche ist?"
"Merk dir, eine Küche brauchst du nicht lange zu suchen, einen echten Freund schon!"

Chapter 56. Li in der Nachtstadt

Niemand gab Li Auskunft darüber, wo sie Lo­Be, den Hof­dich­ter, finden konnte. Erst der Hofmarschall selbst wusste Bescheid. Der Dichter LoBe suche seine Inspira­tion. Das sei - er dürfe LoBe in seinen Wor­ten wie­derge­ben - nicht eine Frage des Ortes.
Als alle in seiner Umgebung lachten und Li nichts ver­stand, rief er eine alte Dienerin zu sich und flüsterte mit ihr. Die Alte sah Li durch einen Vor­hang von nie­der­hän­gen­den grau­en Wimpern starr an und sagte nichts. Schließlich schlürfte sie voraus und brach­te Li zu einer jüngeren Diener, mit der sie sich lei­se besprach. Ohne sich um­­geblic­kt zu haben, ver­schwand die Alte wieder.
"Ich bin eure Führerin und bringe euch zu ihm", sagte die Dienerin.
Li musste sich beeilen, um ihre neue Führerin nicht aus den Augen zu verlieren. Die Dienerin schritt schnell und wegkundig aus. Jedes Hin­dernis, dem sie geschickt aus­gewi­chen war, stellte sich Li sofort wieder in den Weg.
Kaum dass sie den Hof verlassen hat­ten, wurde es so schlimm, dass Li sich beinahe ver­loren glaubte. Gro­be Men­schen, die mit Ellenbo­gen stie­ßen, ver­suchten sie von ih­rer Führerin zu tren­nen. Der Kot der Tiere lag überall, wo man nicht hinsah. Große, schwere Wagen fuh­ren ihr blind in den We­g. Das Geschrei kam von allen Seiten, und niemand fühlte sich ange­spro­chen.
Es war nur gut, dass die Dienerin an ih­rem lan­gen Haar zu erkennen war und sich ru­hig und si­cher ihren Weg bahn­te, während Li mal selbst vom Weg abkam, mal schlicht gesto­ßen wurde, mehr im Strom ver­schwand als schwamm, mehr Treib­holz war als Ru­der.
Die Dienerin schien nicht zu bemerken, dass um sie herum jeder gegen jeden kämpfte. Sie steu­erte auf eine Stra­ße zu, die vor einem Tor endete und dem Strom der Menschen und Wagen ein blinder Arm war.
Mit al­ler­lei Schriftzeichen waren die Wän­de be­schmiert. Vieles war abgeblättert von der Trocken­heit oder vom Regen abge­wa­schen. Doch Li konnte lesen, dass die Ver­fas­ser kleine Gedichte geschrieben hatten. Sie war sich nun si­cher, dass dies der Ort war, wo Lo Be seine Inspira­tion holte. Einer der Dichter schrieb:

Goldregen und Milch­tau -
Im Staub meine Knie
Dein La­chen nicht wert.
Ein anderer hatte eine spitze Schrift:
Hab dich reich gemacht, Seidenfrau
Und wart als Armer nun
Bis dein Preis mein Groschen ist!

Sogar geritzt war eine Inschrift:

Mein Mond füllt eine Schale Milch
Dem Katzenmäulchen buckelschwarz.
Die Sonne ist mein Golddukat
Den ich zum Schaum ins Bad dir warf!

"Das ist der Ort, wo er ...?", flüsterte Li, als das sich öffende Tor sie mit tiefem Stöhnen unterbrach.
"So kommt nun end­lich, ihr Zwei, dass ich mir nicht zu­lang die Nase zu­halten muss vom Gestank der Stadt!", rief ein grober Mann und zog sie beide mit einem Ruck herein, als greife er in der Luft ein paar leichte Tücher.
"Wir wollen zu Lo Be, dem Hofdichter", sagte die Diene­rin fest. Von nahem besehen, war der Mann eine Frau und nicht sehr grob.
"Ihr müsst zum 'Weißscham' und einen Fähr­mann ru­fen", sagte die Torwächterin und wandte sich ab, weil er­neut jemand gepocht hatte.
"Sag nichts, wundere dich nicht!", sagte die Dienerin. "Die Häu­ser der Sünde schwimmen dort draußen. Der Bootsmann vom Gelben Haus wird uns hinbrin­gen. Alle Häuser sind nach Blumen benannt - das Haus, wo wir deinen Dichter treffen werden, nach dem 'Weiß­scham'."
Nun erst wusste Li, an welchem Ort sie den Hofdichter aufgesucht hatte. Das erklärte den seltsamen Blick des Hofmar­schalls, die Belustigung der Zuhörer, den grau­ver­hangenen Blick der alten Diene­rin.
Aber die Umgebung war so absonder­lich, dass Li keine Mutlosigkeit befiel. Zu beiden Sei­ten des Weges standen breite, mit Wasser gefüllte Vasen. Kleine Vögelchen, die wun­derschön anzusehen wa­ren, flogen reihum, von einer Tränke zur anderen. Ihr Farbkleid war immer neu gemischt. Keines glich darin dem anderen, aber alle wa­ren sie von glei­cher Grö­ße, besaßen dasselbe schwarze Schnä­bel­chen mit ro­ter Spit­ze, als hät­ten sie in derselben Marmelade gen­ascht, und san­gen sämt­lich nur die eine Weise: "To­siroi - Toi­si, To­si­roi - Toi­si, To­siroi - Toisi!"
Plötzlich wurde von hinten ein Tuch über Li gewor­fen. Sie wur­de für einige grause Momente zu Boden gedrückt, dass sie sich nicht weh­ren konnte. Das Tuch war aus fei­nem Stoff, kein grobes Leinen, aber das half ihr wenig. Schließlich wurde sie mehrmals ge­dreht und erst dann schwindelig wie­der freigegeben.
Vor ihr stand eine stämmige Frau, die sie aus­lachte: "Wolltest dich weh­ren, Kitzchen!? Fühl ­mal, was ich mit mir rumtrag."
Li musste der Frau in den gewaltigen Oberarm knei­fen. Die Dienerin stand dabei und hatte ihr nicht helfen wol­len.
"Sind wir Freude nun, Kindchen, ja!?", fragte die Frau.
Li nickte mit großen Augen, die sich das Wundern nicht trauten.
"Musst du wissen, dass die zweite Dame von Silber­traum keine se­hen darf, die schöner ist als sie. Haben wir drei Stun­den gebraucht, ihr die Haut zu glätten, das Haar fest zu ma­chen und die schlaffen Teile rund zu klopfen. Aber wenn sie eine sieht wie dich, dann fällt alles zusam­men - die Haut wie brechen­des Eis in der Sonne, die Au­gen gelb vor Neid, der Atem, wie wenn der Ma­gen sich sauer be­schwert. Die ganze Arbeit umsonst von vielen Hän­den, als wär sie geradewegs aus dem Bett gestie­gen! Sagt man nicht: Wenn die Vase ist richtig hingefallen, was ist zu ret­ten da noch? Da warf ich mich auf dich und tat gut dar­an."
Nachdem sie das Tuch knallend in der Luft ausge­schlagen hat­ten und 'die kleine Portion' ihr auch in den an­deren Oberarm geknif­fen hatte, ließ sie die beiden gehen.
Es war nicht weit, dann sahen sie das Gel­be Haus. Die Boo­te lagen als Paare davor und streckten ihre Füsse zum Bade aus. Der Abend kam lang­sam herange­schwommen, trieb umher wie ein zurück­gekehrtes Boot, das auf einen freiwer­denden Platz wartete.
Sie waren an einem Flussausläufer, den hohes Weidengras von den Blicken abgrenzte. In der Tiefe glaubte Li, die Häuser der Sünde zu erkennen. Zwischen den Gräsern suchte sich ein bläuliches Licht ei­nen Platz und trat sich dabei im­mer wieder im löch­rigen Nebel fest. Nicht weit davon fand sich ängstlich ein grü­nes von ärger­lichen Schatten um­stellt.
Das Boot, welches sie zum 'Weißscham' brachte, war unbe­leuchtet und glitt als Schatten über das stille Was­ser. Der Fährmann grunzte ungehalten, wenn Li sich nach ihm umsah. Er fuhr sie ganz nah an einen Pavillon heran und war­tete, ohne etwas zu sagen oder ihnen eine Hilfe zu ge­ben. Mit seiner langen Stange klopfte er ärger­lich ge­gen eine kleine Holzleiter, bis erst die Die­nerin, dann Li zum Steg herauf­geklet­tert war.
Eine gewal­tige Stimme ertönte aus dem Inneren des Haus­es: "Ich habe kei­ne Schul­den bei euch! Ihr seid mir nicht be­kannt! Es ist al­les be­zahlt, und was nicht be­zahlt ist, war es nicht wert!"
In der Tür erschienen zwei Mädchen, die ihre Kleider in den Händen hielten, und erschrocken Li und die Die­nerin anschauten. Doch als sie erkannten, dass sie nur Mäd­chen, nicht anders als sie selbst waren, kicherten sie und ver­schwanden mit ihren Kleidern hin­ter dem Haus.
Der Mann, der gebrüllt hatte, steckte in einem Kä­fig, in den er kaum hineinpasste, weil er sehr dick war. Darin lag er auf dem Rücken und war völlig nackt. Sein ganzer Körper glänz­te schwitzig und quoll an allen Stellen zwi­schen den Stä­ben hervor.
"Sie wurde euch zugeteilt, ist eine Dichterin", sag­te die Dienerin, indem sie sich zwischen Li und den An­blick die­ses Mannes stellte.

Chapter 57. Woi sieht den Herzraub

"Du hast gesagt, du weißt, wo die Küche ist", sagte Bal­deina vorwurfsvoll.
"Wart's nur ab, ich find sie schon!", gab Woi zurück. Sollte der Hungerbauch doch froh sein, dass ihm einer half!
Baldeina jammerte weiter. Mehr und mehr war er über­zeugt, dass Woi nicht einmal wusste, wo sie waren. Nieman­den konnte sie fra­gen, weil alle schliefen. Nicht einmal die unter­sten Diener waren um diese Zeit auf. Mal schien der Mond von vorne, dann von hinten. Sie gingen also bestän­dig im Kreis!
Mit einem Mal war es ganz dunkel. Sie tasteten sich an einem Geländer entlang und eine kurze Treppe hinab. Bal­deina hörte Geräusche, als würden Pfannen auf das Feuer gelegt.
Vorsichtig öffnete Woi die Tür, die er abgetastet hat­te. Er konnte auf den freien Hof sehen. Vor der Bahre des Kaisers standen zwei Frauen. Die eine war jung und führte der Älteren die Hand. Er machte Baldeina ein Zeichen, dass er etwas gese­hen hatte.
Voller Hoffnung tastete sich dieser heran und war tief enttäuscht, als er nur ins Freie blickte.
"Sieh nur, sieh, was sie da tun!", flüsterte Woi.
"Ich gehe zurück", zischte Baldeina. "Du führst mich nur in die Irre. Ich höre die Küche. Da, hörst du sie auch, die Pfannen?"
"Das sind die Pferdeställe. Ihre Hufe hast du gehört, mehr ist es nicht! Bleib noch, wir wollen uns das anse­hen!"
Aber Baldeina wollte davon nichts wissen. Ihm schien es, als habe Woi ihn absichtlich im Kreis um die Kü­che her­umgeführt. Das mochte auch die Geräusche erklären, die er be­ständig ver­nahm. Sein Magen hatte ein besseres Gespür für diese Din­ge als ein Freund, der gerne Streiche spielte!
"Ich suche die Küche selbst", sagte Baldeina. "Du bist sowieso keine Hilfe!"
Woi kümmerte sich nicht um Baldeina. Zu sehr hatte ihn die Szene, die er sah, in Bann ge­schlagen. Da es nun ganz still war, konnte er hören, wie die Ältere zu dem aufge­bahrten Kaiser sprach.
"Einen seltsamen Wunsch hast du, aber ich will den Grund nicht erfragen", sagte sie und gab sich kei­ne Mühe be­sonders leise zu sprechen.
Als das Mondlicht das Gesicht der Jüngeren streifte, sah Woi, dass sie einen Schleier trug. Sie stand bei der Al­ten, als führe sie nur deren Willen aus.
"Es soll nicht umsonst sein, dass ich mir zei­gen ließ, wie zu verfahren ist", sagte die Alte.
Sie gab dem Mädchen ein Zeichen, welches darauf un­ter dem Gewand ein Messer hervorzog, das von der Art war, die Jä­ger benutzten, um ihre ge­töte­ten Tiere zu zer­legen. Es war kurz und hat­te einen ge­zackten Rücken. Sol­che Mes­ser gab es in kei­ner Küche! Wozu führ­ten die beiden Frauen ein sol­ches Jagd­mes­ser mit sich herum?
Die Alte deckte das Totentuch beiseite, öffnete das Oberkleid des Kaisers und dann sein Hemd. All das führte sie wie eine zärtliche Gewohnheit aus. Die Jüngere gab ihr das Messer in die Hand und zog mehrere Tü­cher un­ter ihrem Kleid hervor.
"Sie sagten, es sei bei Lebenden leichter zu finden, weil man es schlagen hört. Pah, als hätte ich vergessen, wo es schlug! Wer­de seinen Platz wohl noch ken­nen!"
Sie wandte sich der Jüngeren zu. "Schau weg! Du bist noch jung, ich will dir die Augen nicht mit totem Schrek­ken füllen."
Das Mädchen wandte sich ab, und Woi tat es ihr gleich. Er hör­te die Geräusche, die er vom Zerlegen der Tiere her kann­te. Wirklich schnitt die Frau den Körper des to­ten Kai­sers auf, um des­sen Herz herauszuholen!
Als Woi wieder hinsah, legte sie das Herz bereits in die Tücher, die ihr das Mädchen hinhielt. Anschließend zog sie das Hemd über die of­fene Stelle des Leich­nams und deckte das Kleid darüber. Das To­ten­tuch ließ sie liegen, wie sie es vom Körper ge­zogen hat­te.
Dann ließ die Alte sich fort­füh­ren, indem sie das Bün­del mit dem Herzen des Kaisers vor sich her­trug. An der Art, wie die Alte sich von der Jüngeren füh­ren ließ, er­kannte Woi, dass sie eine Blinde war.
Die beiden Frauen gingen nicht in Richtung Tor, sondern in den Schat­ten zur Mauer. Dort rief die Alte dreimal wie ein Elends­käuzchen. Von draußen wurde ein Strick ge­worfen. Sie band den Ballen daran fest und schick­te ihn mit einem weiteren Ruf über die Mauer zu­rück. Erst jetzt setzten sie ihren Weg langsam in Rich­tung Tor­wache fort.
Nach dem Schrecklichen, das er mit angesehen hatte, sagte sich Woi, dass es auch für ihn besser war, nicht gesehen zu werden. Er schlich sich auf sein Zimmer zurück, zog seine Sachen aus und legte sich auf das Bett.
Vielleicht hatte er bereits ge­schlafen, als plötzlich die Türe aufgeris­sen wurde, und Baldeina hereingestürzt kam.
"Hier bist du!", rief er völlig außer Atem. "Komm, es ist etwas passiert. Sie sind alle draußen. So komm doch!"
Baldeina stand in seinem Nachthemd vor ihm. Darauf waren eine Menge aufgerissener Augen zu sehen. Als Woi sich nicht rührte, wurde er von Baldeina aus dem Bett gezerrt.
Die Gänge waren erfüllt mit Menschen, die Nachtkleider trugen und aufgeregt in alle Richtungen rannten. Zwei Solda­ten hatten sich verlaufen und riefen nach ihrem Oberen. Sie trugen Fackeln, während die Näherin­nen mit Kerzen vor ihren Zimmern standen und alles betrach­teten.
"Was ist passiert?", rief eine Köchin, deren Kleider beinahe von einer der Fackeln in Brand gesetzt worden wä­ren.
"Der Kaiser ist nicht mehr da!", rief eine Näherin die am Fenster stand. "Sie haben seine Leiche geraubt! Auf der Bahre liegt keiner mehr! Alle reden davon!"
Voller Erstaunen blickte Woi sie an. So etwas hatte er nicht erwartet! Er hatte das Geschehen doch nicht etwa geträumt?
"Unsinn", rief eine andere Näherin, "ich habe gehört, er ist gar nicht tot. Hat etwas gesagt und ist aufgestan­den!"
"Du meine Güte", rief eine dritte. "Der Soldaten, den ich kenne, hat mir gesagt, es liegt ein ganz anderer auf der Bahre. So hat er gesagt und weiß es wohl besser als ihr alle!"
Baldeina stellte sich vor die Mädchen hin und rief: "Ich war dabei. Ich habe hinausgeschaut und - was schaut ihr mich denn so an! Ich WAR es nicht, ich habe sie doch nur GESEHEN!"
Statt aber diesem Zeugen für sein Zeugnis dankbar zu sein, starrten all die Mädchen mit nicht minder aufge­ris­senen Augen auf sein Nachthemd.
"Ein Seher, er ist ein Seher!", rief eines der Mädchen dem Gelächter der anderen zu.
"Ohne Nachthemd ist er ein Blindling!", kreischte eine.
"Ein Blindding, ein Blindding!!", quieckte eine andere.
"Woi, was haben sie denn?", fragte Baldeina.
"Sie machen sich lustig über dich!"
"Über mich?" Baldeina zog sofort seinen Bauch ein.
"Über die Augen auf deinem Schlafkleid machen sie sich lustig." Für die Sache seines Freundes trat Woi vor die Näherinnen: "Junge Dame, was ist denn dabei? Überhaupt nichts ist da­bei. DIESES Nachthemd darf sie nicht in Erstaunen setzen. Sie soll­ten sein ANDERES Nacht­hemd sehen! Alles voll von Dinge­lings! Keine Stelle, an der nicht in irgend­einer Form und Größe ein Dingeling drauf ist. Vor­ne, hin­ten, überall ist es so bemalt, dass eine Dame, und ein Mäd­chen zumal, nicht wis­sen würde, wo sie hin­schauen sollte vor lauter ..."
Da waren die Mäd­chen aber schon kreischend fortgelaufen, und sie blieben allein im Dunkeln zurück.
"Du bist gemein", sagte Baldeina.
"Das hast du völlig falsch verstanden", verteidigte sich Woi.
"Ich könnte allen von deinem Fluch erzählen", sagte Bal­deina böse. "Denk du nur an die Fee, was sie gesagt hat!"
Nun aber kam ein Trupp Soldaten mit Fackeln den Gang entlangge­schritten. Sie hatten ihren Oberen und ihre Ord­nung wie­dergefunden und wiesen alle auf ihre Zimmer: "Aus dem Weg - Aufregung für nichts - die Kaiserin hat sich beschwert - die Trauer ist Pflicht - je­den Tu­mult werden wir unter­binden - den Gang hier frei - Schlaf ist befoh­len!"

Chapter 58. Zungsung und die Kaiserin

"He, he, Gesandter Kund!", riefen die Männer.
"Auf da, auf die Tür", polterten sie.
Gerade noch hatte ZungSung Zeit, sein Schächtelchen vom Stuhl unter die Decke zu ziehen und das halbgeöff­nete Auge wieder zu schließen, als sie bereits vor seinem Bett standen und: "He da, he da, auf da!" riefen.
"Der verstellt sich!", sagte einer der Soldaten.
"Nein", entgegnete ZungSung, ohne ein Auge zu öffnen, "ich verstelle mich nicht. Allein, ich bin nicht gewohnt, mich im Beisein von Soldaten anzukleiden. Nicht einmal die Augen werde ich öffnen, wenn man mich überfällt!"
Der Obere hatte die freundlichste Stimme. "Es ist ein Befehl. Die Kaiserin hatte alle zu sich gerufen." Er rief seine Männer und sie verschwanden.
Kund Zungsung war sehr erschrocken. Etwas Schreck­liches musste passiert sein. Frem­de Männer, Soldaten, waren geschickt worden, um in seinen Schlaf einzudringen. Es war nur ein Gu­tes, dass er nichts von seinem Nasch­werk hatte lie­genlas­sen. Sie hätte es zertreten können.
Schon rumorten sie im Ne­benzimmer beim Hofmarschall, dem 'Ge­trockne­ten', wie ZungSung ihn heimlich nannte, weil er so lang und dünn wie eine Blume war, die zwischen Buch­sei­ten gele­gen hatte.
Drau­ßen hörte er die quakende Stimme von Warz­geiz, der für seinen Geiz mit einem Gesicht vol­ler Warzen ge­straft war. Ausge­rechnet über ihn, einen Arzt, war die Warzen­krank­heit hergefal­len und ließ sich nicht vertreiben!
Doch nun war es Zeit, den Grund für die­sen Aufruhr zu erfahren, und damit vor allem war es Zeit, den Trau­erfä­cher zu su­chen. Ohne diesen war es ihm unmöglich, hin­aus­zu­tre­ten.
Er sah ihn nicht, ne­ben dem Bett nicht, nicht bei den Kleidern, nir­gends! Wollten die anderen sei­nem Ruf scha­den, ihn bloß­stellen? Nun da der Kaiser tot war, nun ent­brannte der Kampf um die Macht. Er spürte, wie diese Vor­stellung in sei­nen Ma­gen boxte.
Der Richter hatte auf diese Ge­legenheit ge­war­tet. Von ihm wurde gesagt, er wolle der einzige Vertre­ter des Hof­marschalls sein. Doch er war nicht beliebt, bei kei­nem, und besonders nicht bei den Eunuchen.
Neu­lich hatte er ge­sagt - of­fen und vor allen ge­sagt - es wäre nun Zeit, dass die Eunu­chen eine andere Rolle zu spie­len hät­ten, als Sü­ßig­keiten zu verstec­ken und Ziervö­gelchen zu sein. Zung­Sung selbst hatte Küh­les ent­gegnet, ZartZit­ter aber war so er­bost gewesen, dass er vor lau­ter Wut in seine Locke gebissen hatte. Der Kaiser habe ihn ver­traut und ihn gemocht, nicht anders, als wie er gewesen sei. Die an­deren lä­chelten über ihn, den sie heimlich die 'Dritte Tochter des Kaisers' nann­ten.
Da war der Fächer ja! Er hatte auf ihm ge­ses­sen und ihn nicht se­hen KÖNNEN!
Seine Nä­herin klopfte, die gute Seele. Sie verbeugte sich und bekam eine Lecke­rei.
"Oh, sie sind kein Kost­verächter, Herr Zungsung", rief sie, "kein Kost­ver­äch­ter, nein, aber bitte nur noch diese eine. Oh, wie die schmeckt!"
Doch nun war es gut. Sie brachte eilig seine Kleidung und half ihm. Wenn sie sich nur schnell machen wolle mit dem Anziehen, bat ZungSung. Männer hätten ihn aus sei­nem Schlaf geris­sen, grobe Soldaten. Es müsse einen ebenso schrecklichen Anlass geben!
Die Eunuchen am Hofe des Kaisers waren vor­der­seitg be­klei­det und hinter­sei­tig geschnürt. Wie diese Nähe­rin ver­stand es keine, die Schnüre zu ziehn, dass sie nicht schnitten, aber nicht zu locker sa­ßen. Bis zu den Beinen musste eine gleichmäßi­ge Span­nung sein.
Bald war es voll­bracht. Ein Riegel­chen Zeit nur war ver­braucht. Die Dienerin bekam noch ein Lec­ker­chen, eins mit einer Flüssig­keit, die sie zum Ki­chern brachte.
"Ich habe meine Dienst an euch getan", sagte sie und ging mit letztem prüfenden Blick um ihn herum.
"So­dann, mei­ne Allerwerte­ste, sind sie zufrieden?"
"Sodann, mein al­lerwunderbar­ster Herr Zung­sung, ich bin zufrieden, es ist alles recht."
Ein Diener klopfte an der Tür: "Herr Zung­sung, man ruft nach ih­nen, kom­men sie, kommen sie!"
"Hören sie, meine Gute, ich werde gerufen."
Sie erschreckte sich: "Gu­ter­lie­berbester Herr, ich hal­te sie auf! Eilen sie!"
Für sie machte er eine Drehung auf dem Fuß und rief ihr zu: "Vor­züg­lich der Sitz des Halben! Ich fühle mich wie ..."
Sie schlug sich die Hand vor den Mund, als er einen Hopser vorführte, einen Tanzschritt mit der Tür und fast dem warten­den Diener in die Arme ge­fal­len wäre.
Es war ohne Einwand ein schöner Morgen geworden, in der Art einer ge­toppten Schaum­weincreme mit Kirschglacée und einem Krön­chen herabweinender Schokolade!
"Das ist der schwärzteste Tag unseres Haus", sagte der Hofmarschall, der vor einer Sichtwand stand, die einen weißen Berg mit weggeschmolzener Spitze auf schwarzem Grund zeigte.
"Ich schicke meine Männer!", grobte der General.
"Ins Gefängnis mit dieser Frau!", rasselte der Richter.
Der Hofmarschall schwieg sein klügstes Lächeln.
ZungSung schlich sich in den Kreis der Anwesenden.
"Das erzeugt ein großes Aufsehen", sagte der Arzt, der bei der Bahre stand, vor sich den Kaiser, in den er kum­mer­voll hinein­sah.
"Wir machen es nachts", sagte der General mit großer Geste, die ZungSung an der Schläfe traf. "Oh, sie müssen ent­schuldigen", bellte er.
"Wir laden sie ein, dann haben wir sie", schlug der Richter vor.
"Mit verkleideten Soldaten!" Der General schüttelte die Faust und schwitzte. ZungSung war sich sicher, dass der General ausgie­big und bis in den Morgen hinein mit Birnen­schnaps zu­sammen gewe­sen war.
"Wir wollen nicht, dass etwas bekannt wird", sagte der Hofmarschall, der nun sicherer wurde. "Lasst uns diese ärgerliche Geschichte vergessen. Sie will uns her­ausfor­dern, weil sie ein Nichts ist. Wir wollen sie nicht in unseren Rang als Feindin heben. Wem wäre dadurch mehr als ihr gedient?"
"Nichts tun wir, einfach nichts!", schlug ZungSung vor. Alle sa­hen ihn überrascht an. Hatten sie nicht bemerkt, dass er doch noch gekommen war?
"Wir müssen etwas hineintun", warf der Arzt ein. Keiner verstand ihn. "Wo das Herz war, muss etwas hinein, meine Herren. Erst dann kann ich ihn zumachen", erklärte er.
"Wir begraben ihn ohne sein Herz?" Der General war fas­sungslos. "Den Kaiser? Ohne sein Herz?" Wo war die Ehre? Selbst die rest­lichen Stücke von gemetzel­ten Soldaten setzten die Ärzte wie­der zusammen. Und dieser, ein Kaiser, SEIN Kaiser, ohne das Herz, welches ihm geschlagen hatte.
"Ich schlage gerührtes Harz vom Knüppelbaum vor", sagte der Arzt, "weil es nicht zusammenzieht."
"Niemand darf etwas erfahren", sagte der Hofmarschall. "Es ist ja nur etwas vom Körper ... Soll sie es behal­ten, wenn sie Freude dar­an hat!"
Der General hatte eine Leere im Kopf. "Ist es ein Be­fehl?", fragte er hei­ser und wür­gend.
"Was hat er gesagt?", fragte die Kaiserin, die allen unsichtbar hinter der Sichtwand gesessen hatte. Ihre Stimme hatte eine Eishaut ge­bil­det.
"Er verlangt, dass es befohlen wird", sagte der Hofmar­schall. "Ich denke, er versteht nicht ganz -"
"- ich sehe NICHTS, was sich befehlen ließe", schnitt die Kaiserin in seine Ausführung. Die Eisflä­che war glatt ge­schliffen. Licht­halme und Nebeldickicht suchten sich einen neuen Platz an den Rän­dern.
Dem General war schwindelig. Ihm schien, dass die Men­schen schwankend von ihm abrückten, als erwarteten sie seinen Fall.
"Soldaten", rief der Hofmarschall. "Nehmt euren General mit. Ihm ist nicht wohl."

Chapter 59. Tesla mit dem Herz

Jeden Winkel ihres Hauses kannte Tesla, und doch musste sie an diesem Abend al­les wie zum ersten Mal berüh­ren. Mit der flachen Hand fühlte sie den feuchten Abend dem Fenster ab. Baute sich drohend vor dem Schrank auf, um des­sen ver­stiegenen Geruch einzuatmen und dachte da­bei, dass sie ihn zur Strafe für seinen Stolz zer­kratzen soll­te. Sie strei­chelte das Wand­tischchen, das dem Gelack­ten treu nicht von der Seite weichen woll­te.
"Wenn er vor Schmerzen schreit", sprach sie es an, "wirst du ihn trö­sten. Aber sieh dich vor, er ist ein Bö­ser und meint es nicht gut mit den Trö­stern."
Sie suchte etwas, aber es war nicht das Glas. Sie ging im Zim­mer umher. Der Geruch des Weines war noch so flüch­tig, als sei er dabei, sich wieder hin­auszustehlen. Sie ging umher und eigentlich im Kreis und hatte vergessen, was sie suchte.
Das Mädchen stand nur, hielt in den Hän­den das kristal­li­ne Herz und starrte mit den Augen dar­auf, als könne es ihr aus seiner Schale ber­sten.
Die Alte fasste die Weinkaraffe und goss sich das Glas voll, ob­wohl sie etwas an­deres ge­sucht hatte. Dann trank sie aus und setzte es laut auf den Tisch. Das Mäd­chen kam und leg­te ihr das Herz in die Hän­de.
"Sie werden nicht kommen, sich das Herz zurückzuholen. War­um küm­mert es sie nicht? Was sind ihre Gründe? Das fra­ge ich mich! Welchen Plan verfolgen sie?"
Das Mädchen nahm das leere Glas vom Tisch und füllte es nach. Sie legte der Alten eine Decke um die Schulter, weil sie wusste, dass sie die Kälte nicht spürte, wenn sie weitertrank.
"Ich finde keine Antwort!", rief die Alte erregt, nahm aber das Glas entgegen, ohne etwas zu verschütten. "Ich schnei­de dem Kaiser das Herz aus dem leblosen Leib, und niemand kommt, es zurückzufordern. Das ist, als würden sie sagen: 'Worin besteht sein Wert? Solch ein wertloses Ding, was sollen wir es uns zu­rückholen? Sein Herz war dem Kai­ser im Leben nicht von Ge­wicht und Wert, wieviel weni­ger noch im Tod. Soll sie es haben, die schrullige Alte, wenn ihr dar­an liegt!' Frag mich, Kind, was ihre Ab­sicht ist!"
"Was ist ihre Absicht?" Das Mäd­chen hat­te eine neue Fla­sche Wein geöffnet, die­sen in eine Karaffe gegossen und auf den Tisch neben das Herz ge­stellt.
"Sie fordern mich heraus", setzte die Alte fort. "Sie las­sen mich allein mit seinem Herz und fordern mich her­aus. In ihren Augen habe ich mir das Falsche aufgegeben. Sie sagen mir: 'Das ist nichts gegen das, was du tun könn­test!'? Sie warten, ob ich die Kraft dazu finde. Das ist ihre Strafe für meinen Raub. 'Ist die Tesla zu alt, die Schwarze Für­stin?', fragen sie un­tereinander, 'dass sie nicht Gro­ßes mehr un­ter­nimmt. Er­füllt sie dem Kaiser nicht den wahrletzten Wil­len, den wir in sei­nen Au­gen lasen, als er starb?' Frag mich, Kind, was sein letzter Wille war!"
"Was war sein letzter Wille?", wiederholte das Mädchen. Sie war an die Tür ge­treten und lehnte mit dem Rüc­ken da­gegen. Ein feiner Luftzug tastete mit kühlen Fingern ihre Fersen ab.
"Der Kaiser, ob­wohl er tot ist, verlangt von der Mutter, dass sie den Sohn zurückholt. Hätte der Kaiser es nicht selbst tun können? Nein, dazu war er zu feige vor seinen Schranzen am Hof! Wie ein Kind, das kein Sagen hat, trug er mir, MIR, den Wunsch vor.'Was hält sie ab?', fragen sie. Frag du es auch, Kind!"
"Was hält Tesla ab?" fragte das Mädchen. Irgendwo verlor sich die Frage in Tesla Nachbrüten. Der Wein hatte ihr die Stirn gerötet und die Haare feucht wer­den lassen. Wie bei einer Sehenden beweg­ten sich die Au­gen vor den Bildern, die ihr erschienen.
"Ich habe bereits einen Sohn!", schrie Tesla heraus. "Es drängt mich, dass ich ihm treu bleibe. Als sie den einen Sohn der Mutter aus den Händen nahmen, da trug sie den anderen Sohn wei­ter in ihrem Herzen. Dort wuchs er her­an. Immer, wenn der Kai­ser zu mir kam, ist er auch ihm, dem Herzens­sohn, be­gegnet. Er kannte den im Herzen ver­steckten Sohn bes­ser als den ande­ren, den gestohlenen Sohn. Was fordert der tote Kaiser nun mehr als der lebende Kaiser! Ihm genügt wohl drü­ben nicht, was hier er kostbar hielt!"
Das Mädchen hörte draußen die Wellen gegen den Steg schlagen. Sie hatten einander Zeichen gegeben und waren herbeigeschlichen. 'Nun horchen sie', dachte sie. 'Bis eben haben sie noch nicht ge­lauscht.'
"Mädchen, hol mir ein großes Glas und mach es voll, ganz voll, dass es herunterläuft ... nicht zu wenig, voller sollst du gießen! Jetzt ist es gut, und wisch nicht gleich herum! Gieß ein wenig auf das Trin­ker­herz ... mehr, gieß drauf! Ich versteh dich nicht: Holst ein Herz noch warm aus einem Toten, weich wie eine Muschel im Sud, und ec­kelst dich es im Quarz zu sehen! Ist es nicht gut ge­wor­den!? Liegt im Rotwein und fühlt sich wohl in seiner Schale, mag ich denken, und stört sich nicht an meinen losen Mund, das Muschelkaiser­herz!"
Als der Rotwein sich über den Tisch ausgebreitet hatte und gegenüberliegend zu Boden tropfte, füllte das Mädchen noch einmal die Karaffe. Dann trat sie leise zur Tür und verschwand. Tesla hatte bemerkt, dass die Tür bewegt wor­den war, aber es war ihr keine Pause wert.
"Ich trink den Wein jetzt allgänzlich leer", rief sie, trank und setzte platschend ab. "Das geschenkte Herz soll in der gleichen Pfütze schwimmen wie mein Ent­schluss, dem Kaiser den Sohn zu befreien, wie er es will, und mir, wie ich es nicht will. Von jetzt an steh ich zu meinem Pfüt­zenwort und halte mir taub die Ohren zu. Soll der eine Sohn nicht Rede führen gegen den anderen. Keine Kopf­schmer­zen sol­len mich hindern, den Schwur zu suchen, wo ich ihn liegen ließ in dieser verfluchten Zwei­sohn­nacht!"
"Sie ist betrunken", sagte der Tisch streng. "Eine alte Frau, die sich festhalten muss im Sitzen."
"Es ist mir widerlich", so das Glas, "wenn sie mich speichelnd an ihre Lippen nimmt."
"Nie roch ich schlechteren Atem", dazu die Weinflasche.
"Es ist unwürdig, in ihrer Gesellschaft zu sein", sagte der Schrank, obwohl er nur dabeistand und sich ei­gentlich abgewendet hatte.
'Sie hat es schwer', dachte der kleine Wandtisch, aber er traute sich nicht, vor dem Großen etwas zu sagen.
"Gleich wird sie aufstehen wollen", riefen die schlanken Stühle. "Macht uns Platz, dass wir ihr ausweichen können."
"Sie wird auf uns fallen", klagten die Dielenbretter. "Wir werden sie die ganze Nacht tragen müssen, wenn das Mädchen nicht kommt und sie hochnimmt."
"Das arme Mädchen", bebten die Fenster, "wenn sie uns an­sieht, dann ist sie so schön. Dabei sprechen ihre Augen von soviel Traurigkeit."
"Lasst mir die Tesla in Frieden", schnarrte der Korken­zieher. "Gehören wir nicht alle hierher und sind ihr Ei­gen­tum."
"Sogar das Mädchen ist ihr Eigentum", gackerten die Ga­beln.
"- und hat es schlechter als wir", klapperten die Mes­ser.
"Sie bewegt sich", rief der Tisch aufgeregt. "Der Traum geht ihr abhanden. Der Atem fällt ihr aus dem Schlaf!"
Tesla stemmte die Hände auf den Tisch und drückte sich in die Höhe. So stand sie schwankend und blickte bö­se um sich, als habe sie alles mitangehört.
"Es ist besser, eine Blinde hat in ihr drin keinen Sohn. Wie kam sie zu ihm? Warum zeigt sie ihn nicht? Welcher ist der Vater? Was ist in ihrem Bauch anders als roter Wein?"
So wischte Tesla wütend die Weinlache vom Tisch, dass Tropfen noch den Schrank an seinem Bein trafen. Ein Regen von Spritzern ergoß sich über die Stühlen.
"Wer ist ein bes­serer Vater als der Kummer? Nennt ihr mir einen, ihr Antworten! Wer sorgt sich mehr um sein Liebstes als eine Schrullige? Sagt schon, ihr Klugschrau­ben! Wer war mir treuer je als das WÜNSCHEN? Seid ver­dammt, wenn ihr nur meinen Frieden wollt!" Tesla drohte mit der Gabel, bohrte sie in den Tisch, und fiel rücklings ihren Schlaf­sitz zurück.

Chapter 60. Li als Nadims Freundin

Prinzessin Nadim sah dieses Mädchen zum ersten Mal. Es stand und betrachtete eines der Bilder. Nadim stellte sich hinter sie und betrachtete mit ihr das Bild. Das Mädchen bemerkte sie nicht.
Nadim hatte noch nie dieses Bilder betrachtet. Ei­gent­lich hatte sie immer gedacht, dass es albern war, eine Blüte und einen Vogel zu betrachten, der auf eine Wand gemalt war.
Schließlich, als ihr das Betrachten zu lang geworden war, sprach sie das Mäd­chen an. "Wenn du eine Dienerin bist, warum arbeitest du nicht? Wenn du aber keine Diene­rin bist, wer bist du ihr dann?"
Erschreckt wandte sich das Mädchen um. "Ich bin kei­ne Dienerin, das bin ich nicht!" Sie schien nicht einmal zu wissen, dass Nadim die Prinzessin war.
"Ich kenne dich nicht", sagte Nadim streng.
"Ich bin die Li", sagte das Mädchen und wurde rot.
"Ich kenne keine Li, genausowenig wie diesen Vogel, den jemand auf unsere Wand gemalt hat."
"Ich bin mit einem der Fürstensöhne gekommen, als seine Chronistin."
"So, so", sagte Nadim spöttisch. "Hat er schon ein so bedeutendes Leben, dass er eine Chronistin braucht?"
Li lächelte und legte den Finger auf die Lippen. "Er weiß nicht, was eine Chronistin ist. Er denkt, dass eine Chroni­stin Gedichte schreibt. Es wäre mir lieb, wenn du mich nicht verrätst."
"Ich bin die Prinzessin Nadim und verrate niemanden, den ich mag!"
"Du bist ... ihr seid eine der Prinzessinnen?", fragte das Mädchen erschrocken. "Das wusste ich nicht."
"Sehe ich nicht wie eine Prinzessin aus?", fragte Nadim und war eigentlich empört.
"Irgendwie nicht", sagte Li. Eine Prinzessin hatte sie sich anders vorgestellt. Nun war es zu spät, die Un­wahrheit zu sagen.
"Wie sehe ich denn aus?"
Das Mädchen betrachtete sie so eindringlich, wie sie eben den Vogel auf dem Bild betrachtet hatte.
Weil sie wieder sehr lange zum Betrachten brauchte, fragte Na­dim ein weiteres Mal: "Sehe ich wie jemand aus, zu dem man 'du' sagt?"
"Ich habe wirklich gedacht, ihr seid ein Mädchen wie ich", sagte Li mutig. "Ich habe mir sogar vorgestellt, wir könnten Freundinnen werden."
"Was ist eine 'Freundin'? Was bedeutet dieses Wort?"
"Ihr wisst nicht, was eine 'Freundin' ist?"
"Nein, weiß ich nicht. Wenn eine 'Freundin' nicht eine Dienerin, eine Kaiserin oder eine Schwester ist, dann weiß ich nicht, was eine 'Freun­din' ist."
"Ich habe mich doch nur vertan", beeilte sich Li zu sa­gen. "Wenn ich gewusst hätte, dass ihr eine Prinzessin seid, wäre mir das mit der Freundin doch nicht eingefal­len!"
"Also ist man entweder eine 'Prinzessin' oder eine 'Freundin', nicht wahr?"
"So ist es", sagte Li erleichtert.
"Und was IST nun der Unterschied?" Nadim dachte nicht daran, Li entkommen zu lassen.
"Eine Prinzessin sprechen alle mit 'Sie' an, aber eine Freundin ist ein 'Du'. Das wäre ein Beispiel."
"Also befehle ich dir, mich mit 'du' anzureden, damit ich eine Freundin bin", sagte Nadim kurz­ent­schlos­sen.
"Ja, natürlich, dann ... bist du eine Freundin", bestä­tigte zögernd Li und gestand der Prinzessin: "Weißt du, ich hat­te noch nicht ­viele Freun­dinnen ... eigentlich nicht eine einzige."
"Und ich hatte immer nur eine Schwester. Wir, Prin­zes­sinnen sind manchmal sehr einsam."
"Ich habe davon gehört", sagte Li.
"Kennst du noch andere Prinzessinnen?"
"Ich kenne viele Prinzessinnen. Mein Vater und meine Amme haben mir als Kind Geschichten von ihnen erzählt."
"Ach, die mag ich nicht. Wer sich so etwas ausdenkt, hat kei­ne Ahnung, wie wir Prinzessinnen wirklich sind!"
Da musste Li nun lachen. Der kleine Vogel vom Wandbild hüpfte ihr übermütig auf dem Kopf herum.
"Was lachst du denn?", fragte Nadim. Fast wurde sie bö­se. Schliesslich stand eine echte Prinzessin vor Li, da hätte sie zuhören können statt zu lachen.
"Es ist nur", erklärte Li und war wieder ernst, um Nadim nicht zu kränken, "weil es Mär­chen sind. Die Prinzessinnen haben sie sich nur ausgedacht ... eben jeder kann eine Prinzessin sein, in einem Märchen."
"Ich jedenfalls mag keine Märchen! Wer wirklich eine Hexe ist oder eine Fee, eine Prinzessin und ein Prinz, der mag keine Märchen, glaube ich."
Li überlegte. "Da hast du wohl recht. Ich mag wohl nur den, der sie er­zählt. Dann stelle ich mir vor, dass ICH die Prinzessin bin ..."
"Sei froh, dass du keine bist", antwortete ihr Nadim. "Manchmal ist es schwer als Prinzessin."
Li betrachtete den übermütigen, kleinen Vogel und dach­te, dass er in einem Käfig sicherlich unglücklich wäre.
"Helfen sich Freundinnen auch?" Nadim hatte einen plötz­lichen Einfall.
"Freundinnen sind füreinander da", sagte Li ernst.
"Dann musst du mir etwas über den Fürstensohn erzählen, den du kennst. Oder ist er auch deine Freundin?"
"Nein, er ist keine Freundin", sagte Li lachend.
"Magst du ihn? Ich meine, würdest du ihn heiraten?"
"Nein, heiraten würde ich Woi auf keinen Fall!"
"Und den anderen?"
"Auch nicht - noch weniger!"
"Aber einen von ihnen MUSS ich heiraten", sagte Nadim traurig.
"Woi ist ganz nett", sagte Li. "Ich kann mir nur nicht vorstellen, dass er verheiratet ist. Er ist irgendwie noch ein Junge!"
"Ich bin auch ein Mädchen. Wenn ich verheiratet bin, dann bin ich eine Frau, sagen sie."
"Vielleicht, wenn er mal kein Jun­ge mehr ist, wird Woi ja genau­so nett wie sein Vater. Der Fürst ist wirk­lich ein sehr lieber Mensch."
"Siehst du", sagte Nadim glücklich, "nun kannst du dir doch vorstellen, dass er mit mir verheiratet ist!"
"Magst du das Bild?", fragte Li plötzlich.
Nadim sah sich das Bild noch einmal genau an. "Nein", sagte sie schließlich. "Ich mag Vögel und auch Blüten. Aber warum malt einer etwas, von dem es genug gibt?"
"Siehst du", sagte Li. "Genau das hätte Woi auch gesagt - oder jedenfalls gedacht!"
Erst strahlte Nadim, dann überlegte sie. "Das würde doch JEDER sagen!", sagte sie unwillig.
Li blickte heiter fragend zurück.
"Du meinst, nicht JEDER denkt so, sondern nur wir, ich und der Woi?"
"Von allen, die ich kenne, seid ihr die einzigen!", be­stätigte Li feierlich.
"Freundinnen sagen einander immer die Wahrheit?"
"Freundinnen dürfen sich nicht lügen!", sagte Li.
Nadims Blick verlor sich in der Ferne, während Li zum Himmel emporsah, der mit dunklen Wolken den Abend nicht er­war­ten konnte.
"Komm", sagte Li, "es wird kalt ... Kennst du das Mär­chen von der Prin­zessin, die einen fürch­terli­chen Schnup­fen bekam, und nie­mand konn­te sie er­lösen, und der König war ganz un­glücklich, und statt der schönsten Prinzen lud er die tüchtig­sten Ärzte ein."
Nadim hielt ihr lachend den Mund zu. Dann verließen sie den Garten. Es hätte nicht viel gefehlt und sie wären Arm in Arm gegangen.

Chapter 61. Woi im Sündenviertel

Von den äußeren Mauern der Nachtstadt hin­gen Lam­pions herab. Im Gehen betrach­te­ten sie sich: erst Baldeina schlank wie ein Baum­jähr­ling, Woi groß wie ein Hüne - dann Baldeina breit wie ein Haus, Woi kleiner als ein Keller­tier.
Das Viertel der Sünde war von einer so nied­rigen Mauer umgeben, dass Baldeina darüber blicken konnte und be­gei­stert ausrief: "Da ist es, Woi! Ich sehe, ich sehe es!"
Am Eingang stan­den al­te Frauen, die aus zittern­den Hän­den Blumen und aus zahnlosen Mündern Geflü­stertes anboten. Man­che der Ankömmlinge hat­ten die Hand voll Blu­men, an­dere lehnten ab, sa­hen die al­ten Frauen ver­ächtlich an.
Baldeina nahm sich eine Blume. Die alte Frau er­griff seine Hand und flüsterte ihm etwas zu. Sie zog ihn durch das Tor, bellte und hu­stete die anderen Frau­en weg. Bal­dei­na wollte sie abschütteln, aber sie löste ihre kral­lige Hand nicht von seinem Arm.
Als Baldeina um Hilfe rief, kam ein Mäd­chen und ver­trieb die Alte, indem sie drohte, ihr die Blu­men in den Mund zu stop­fen. Baldeina wollte sich bei sei­ner Retterin bedanken und ihren Na­men erfragen, aber sie war stumm und deutete ihnen knapp, welche Richtung sie zu nehmen hatten.
Auf beiden Sei­ten war der Weg von aufge­stell­ten Pech­fackeln be­leuchtet, die in ein klei­nes Wasser ge­steckt waren, das links und rechts des Weges floß. Hinter jeder dieser Fackeln stand ein Mäd­chen, drehte sich mit dem Umhang für jeden Blick.
Eine war ganz dick. Die Fett­wulste tanzten auf ihren Knochen. Der Mann, der vor ih­nen ging, rief ihr etwas zu. Sie rief zu­rück. Als er auf sie zu­kam, warf sie ih­ren Um­hang wie ein Netz über ihn und zog ihn auf die Wiese in die Dunkel­heit hinter den Fackeln.
Baldeina starrte ihr nach. "Auf der Wiese, auf dem Bo­den, unter diesem schwarzen Um­hang, hörst du sie? Woi, da sind noch mehr!", rief er.
Tat­sächlich hoben und senkten sich in der Dunkelheit wei­tere schwarze Hügel, die zweierlei Stimmen besa­ßen. "Gutja, Gut­ja, Gut­ja", riefen die hel­len. "Umm­hach, Umm­hach, Umm­hach", antworteten ihnen die dunklen.
Ei­n Hügel, der still­gele­gen hatte, gab nun einen Mann frei, der sich ängstlich nach allen Seiten um­sah und mit gesenk­tem Kopf in die Dunkelheit steu­erte.
Als er fort war, tauchte der Kopf von einem Mädchen auf. Sie hat­te ein Geld­stück zwi­schen den Zäh­nen, das sie sich in die Bac­ken schob, wo es auf andere stieß. Als sie Woi und Bal­deina bemerkte, die ihre Blicke nicht lösen konn­ten, lachte sie ihnen zu, dass es in ihren Backen klick­te und klackte.
Das Mädchen schlenderte zum Bach, machte eine schwungvol­le Kehrtwendung und hock­te sich darüber, indem sie mit einer Hand aufreizend den Um­hang hob, während die andere Hand verschwand. Am Plät­schern hörten sie, dass sie sich wusch. Bei ihrer Ver­rich­tung sah das Mädchen Bal­dei­na saugend an und hat­te sich ein Geld­stück auf die Zunge ge­schoben.
"Heißt das, wieviel es ko­stet?" frag­te Baldeina zur der Seite, wo niemand stand. Sie lach­te, dass es nur so klirr­te in ihren Backen.
Woi zog ihn nun mit Gewalt wei­ter. "Das ist nicht wich­tig", flüsterte er, "wir haben ja doch kein Geld!"
Der Weg schlän­gelte sich zwischen den Fackeln hindurch. Während die Mädchen immer jünger und hüb­scher wurden, waren die Hügel diesselben und machten mit zwei Stimmen nichts ande­res als "Gut­ja!", und "Ummhach!"
Überall blieb Baldeina ste­hen, bekam nicht genug davon, zu sehen und zu horchen. Als er wieder stehen blieb, wandten die Mädchen sich ab.
"Was ist denn?" fragte Baldeina er­schreckt.
"Sie wol­len dei­n Geld. Für schöne Worte kannst du hier nichts kaufen", erklärte Woi leise.
"Aber wie können sie wissen, dass wir nichts haben?"
"Sie riechen, wie­viel du dabei hast", sagte Woi. "Das wissen sie ge­nauer als du selbst. Also komm, sonst werden sie böse."
"Werden sie böse?"
"Was meinst du, wofür die Pech­fackeln sind?", flüsterte Woi ihm ins Ohr. "Da­mit du besser sehen kannst, dass sie nichts anhaben??"
"Wirk­lich, du meinst, sie ...?"
"Ja, sie stecken dir die Fackeln in die Hose."
"Bren­nend?", rief Baldeina und fasste mit beiden Händen seinen Gürtel.
"Meinst du, sie lö­schen sie erst im Was­ser? Das wäre ja dann eine Rie­sen­saue­rei."
"Du machst einen Spaß, nicht wahr!?", sagte Baldei­na. Aber er zog Woi jedenfalls eilig fort. Sein Gang wirkte steif, solange sie nicht die letzte Pechfackel hinter sich gelassen hat­ten.
Nach einer scharfen Kehre des Weges wurde der Untergrund fest. Häuser wandten ihnen den Rücken zu, bis sie vor einem Haus standen, des­sen offene Tür sie ein­lud, einzu­treten.
Auf einer kleinen Bühne saßen zwei Mäd­chen und spielten eine Musik. Eine Geige warf ihre verweinten Klänge an die Decke, eine Harfe schwebte auf durchgeschlissenem Rock über den Boden.
Im Inneren herrschte großes Gedränge. Als der Gesang der Männer über die Musik her­fiel, wur­den sie an ei­nen Tisch ge­scho­ben und hingesetzt. So wild die Männerkehlen auch gegen die Musik vorgingen, diese erhob sich immer wieder, fand ir­gendwo eine Lücke, um im Armenkleid hervorzu­blin­zeln.
Die Stühle, auf denen sie sa­ßen, waren wackelig. Am Tisch war kein Halt zu finden. Der ganze Raum war so von umher­schwap­penden Män­nergesang er­füllt, dass es sie hin- und herwarf.
Ein schwe­rer Mann, der auf Bal­deina ge­fallen war, schüt­te­te Woi mit seinem Getränk voll. Traurig zeig­te er sein leeres Glas und begann, seine Ge­schichte zu er­zählen. Bal­deina versuchte, ihn von seinem Schoß herunterzubekommen, aber der Mann war beladen mit einem schweren Schick­sal und hatte die Kraft nicht und wollte auch nicht, so­lange das Glas leer war und das Leben ihn für Übeltaten ausge­sucht hat­te, und das Trin­ken ihm den Durst so groß hatte werden lassen, und die Frauen ihm das Geld abnah­men, für das er so hart gearbeitet hat­te, an­ständig und schwer, nicht wie die­se Huren, die soviel ver­dienten, dass einem schwin­delig wurde.
"In einer Nacht, in einer Nacht, in einer Nacht" rief er und klopf­te mit dem leeren Glas auf Bal­dei­nas Kopf, "wenn ich nicht sel­bst zugesehen hätte, wenn ich nicht selbst zugesehen hätte, selbst, selbst zu­gesehen hätte!"
Es gelang Baldeina, mit dem Stuhl umzukippen, was den schwe­ren Mann mit seinem schweren Schicksal an einen an­dern Tisch beförderte. Immer wil­der drehte sich der Raum. Sie wurden in Ecken ge­drückt, gegen völlig leblose Kör­per gepresst, duckten sich unter wüststen Flüchen, streiften einen Streit um ein herrenloses Ge­tränk und sa­ßen mit ei­nem Mal auf der Straße auf dem Pflasterboden, griffen nach einem Tisch, wo keiner war, und sahen verdutzt, dass sie heil geblieben waren.
Im Licht der Türöffnung hatte Woi gerade noch den Um­riss eines Mannes gesehen. Er war klein gewesen, fast wie ein Zwerg. Nun war er fort, eingetaucht ins Schwarz der Mau­ern. Die Häuser hatten keinen oder einen geheimen Eingang. Nirgendwo war eine Tür zu sehen. Die Fenster waren mit bemalten Stoffen abge­hängt. Manches Mal lie­ßen sie einen kleinen Spalt frei.
Immer wieder stellte Woi sich auf die Zehenspitzen. So er­haschte er ei­nen Blick auf ein Mäd­chen, dass in durch­sich­tigster Seide aus einer Kanne Tee eingoß. Auf dem Kis­sen lag faul ein gelber Fuß und ließ sich bedienen.
In einem anderen Haus saß ein nacktes Mädchen auf dem Schoß eines angezogenen Mannes und spielte mit et­was, das aussah wie ein Zinnsoldat. Im näch­sten Fenster wurden einem Mäd­chen die Lippen rot an­ge­malt. Sie band sich die Haare hoch, dass man den schwar­zen Flaum in ihren Ach­sel sehen konnte. Ein Fen­ster weiter war der Spalt grö­ßer. Als Woi hinein­lugte, blickte er in das Ge­sicht eines Mäd­chens, das hin­aus­geblickt hatte und nun mit einem Ruck den Vor­hang zuzog.
"He, ihr beiden", rief sie ein alter Mann an, auf dessen po­liertem Schädel die Lichter der Lampions tanzen, als sei der Kopf ein kleiner Hügel der Sünde. "Ich kenn' euch. Ihr wohnt beim Kaiser an seinem Hof. Seid gar von hoher Ge­burt."
Schnell sammelten sich die Mädchen und machten einen Kreis von Mündern. Baldeina war nicht wenig stolz und machte eine Verbeugung. Er strich sich über den Bauch, eine Angewohnheit, die er hatte, wenn ihm keine rechten Worte einfallen wollten.
"Ihr habt nichts?", krähte der Mann.
"Geld meinen sie?", fragte Baldeina höflich.
"'Geld meinen sie?'", äffte der Mann.
"Ganz wahr, die Herren", schrillten die Mädchen, "hier tun sie's für Geld."
"Das ist nun leider, dass wir nicht vorbereitet waren ...", sagte Baldeina. "Sag' du doch auch etwas, Woi!"
"Ich hab' gleich gesagt, dass sie es nicht mögen."
Da begannen die Mädchen zu singen, schrill, aus schnap­penden Mündern:

Hihi, haha, Hihi
Kein Held ohne Geld
Kein Tanz ohne Glanz
Keinen Blick ohne Klick
Keine Hur für 'nen Schwur
Kei­ne Musch für 'nen Tusch
Kei­nen Ritt für 'ne Bitt
Hi­hi, ha­ha, Hihi!"

"Sehr schön", sagte Baldeina. "Ich hätte nicht ge­dacht, dass sie auch singen ... ich meine, dass sie so schön auch singen können."
"Was sind sie, Hoch­gestell­te!?", rief eine. "Ei, die hab ich jeden Tag ein Dutzend, die sich hoch­stel­len!"
"Was sind sie, Wohl­geborene!?", rief eine andere. "Ei, im Sau­stall kommen die Schweine mir alle gleich!"
"Was sind sie, Herr­schaften!? Sind das die Herren, die mit dem Schaft mich reihnach grüßen?"
"Kommt, Mäd­chen", rief der Mann, "wir zeigen ihnen, wo die Feinen zwischen Pflaum und Birnen wählen, wo die Edlen im Schwarzhaar ba­den und der Hohe seine Ernte läßt. Wo's für die fei­nen Herrschaft umsonst was gibt!"
Zwei Umhänge wurden nach vorne gereicht und mit merkwür­dig faulem Geruch über sie ge­wor­fen. Woi hör­te, dass Bal­dei­na: "Aber, meine Damen!" rief, was ufer­lose Heiter­keit her­vorrief.
"Nehmt den anderen, lasst mir diesen!", hörte Woi eine Stimme mit Schärfe sagen. Für kurze Zeit war es still. Jemand egriff Wois Hand, riss mit einem Ruck den Umhang herunter und zog ihn aus dem Kreis her­aus in die Dunkel­heit.
In der Entfernung hörte Woi die Rufe Baldeinas und das Gelächter der Mädchen, den Ansporn des Mannes, aber er ließ sich von der Hand füh­ren, bis sie an einem Ufer zu stehen kamen, wo Woi flache Häuser buntbe­leuchtet auf dem Wasser liegen sah.
Der Mann, der Woi entführt hatte, rückte seine Gestalt ein wenig ins Licht.
"Erkennst du mich?", fragte er.
"Sie sind der ...", sagte Woi.
"Ja, der Zwerg!", vollendete der Mann. Das Wort schien ihm nichts an­haben zu können.
"Was machen Sie mit meinem Freund?", fragte Woi.
"Soldaten kommen und nehmen in mit. Es passiert ihm nichts."
"Und warum nicht ich?"
"Das ist einfach so", sagte der Zwerg. "Ich wollte, dass wir uns kennen."

Chapter 62. Li beim alten Schreiber

Als der alte Mann Li seine Hand entgegenstreck­te, zit­ter­te sie, wie seine Stimme bebte. "Sieh mal, wie alles ist, mein Kind. Bin für einen Schrei­ber un­brauch­bar. Wie freue ich mich, wenn jemand kommt. Wie freue ich mich, wenn der Hofpoet LoBe eine Schreiberin von Ge­dich­ten schickt."
Die Tasse Tee in seiner Hand schlug solche Wel­len, dass er sie schnell wie­der ab­setzten musste, um nicht alles zu ver­schüt­ten.
"Soll ich euch helfen?", fragte Li. "Ich kann die Tasse halten und sie euch zum Mund führen."
"Nein, da will ich lieber ver­dursten. Was ist das für ein Dasein? Kein Leben, dass ich leben möch­te. Ein Schrei­ber, der nicht schreiben kann. Ich werde Tusche trinken, so­viel, dass ich mich ver­gifte, wie es sich für einen Schrei­ber gehört, der nicht mehr schreiben kann. Mei­ne letzten Trä­nen zeichnen schwarz ein Wort, mit dem ich Ab­schied neh­me."
"Das solltet ihr nicht sagen", bat Li ihn. Der alte Mann hatte nur den Stuhl, auf dem er saß. So musste sie ste­hen und er zu ihr aufsehen.
"Ich kann nicht ein­mal den Tee allein trinken. Wie könnte ich mit Tu­sche ver­giften? Nicht ein­mal das ist mir ver­gönnt. Ich wer­de dich beizeiten um einen kleinen Dienst der Freund­schaft bit­ten."
"Ich soll euch helfen, dass ihr euch mit Tusche tötet? Das kann ich nicht!"
"Muss ich also sie­chen und warten. Zitternd steh ich in der Reihe und zeig den Schreibern des Todes mein Recht ... Wenn ich dir sage, im Bett heute mor­gen, als ich den Blick hob und mein Fuß die Decke ab­streifte, da zit­terte auch er, ein etwas wackeli­ges, sagen wir 'unsi­che­res' Zittern, nennen wir es ruhig 'Vor­zit­tern'. Das sollen alle sehen, die sich in der Reihe zum Tod nach vorne drängen!" Hier unter­brach er sich, nahm Lis Hand und gab ihr von seinem Zittern ab.
"Eigentlich möchte ich etwas über die Verban­nung wis­sen." Vorsichtig zog Li die Hand fort, die er verges­sen hatte, ihr zurückzugeben.
"Die dort sind, musst du fragen! Wer nicht dort war, weiß nicht, wie es ist. So darf sich jeder seinen Schrek­ken aussuchen."
"Der Dichter sagt, dort findet jeder die wunderbarsten Gedichte, wenn er sich nur nach ihnen bückt."
"Aus welchem Munde weiß dein Dichter das? Nicht wahr, darüber schweigt dein guter Dichter!"
"Kam niemand je zurück?"
"Um zu berichten? Die Strafe ist, dass nie­mand weiß, wie es dort zugeht. Die Verbannung gleicht dem Tode darin. Hör­test du je von einem, der von DORT zu­rückkehrte?"
"Das ist schrecklich!"
"Für uns schrecklicher als für die, die dort sind. Denk an den Tod! Der Mensch DARIN lebt ohne Angst."
"Wie kommt man aber hin."
"Sieh mich an. Ein Fädchen noch, dann bin ich ruhig ..."
"Die Verbannung meine ich. Wie kommt man dahin?"
"Sie kommt von außen wie der Tod und kommt zu dir, nicht du zu ihr!"
"Dann muss ich ein Verbrechen begehen?"
"Weiß nur zu sagen, dass die Verbannung nicht sehr in Gebrauch ist. Der Mensch zeigt sich vor dem, was gewiss ist, ängstlicher als vor dem Unge­wissen. Die Furcht packt ihn vor dem Gesehenen. Dagegen das Ungesehene raubt ihm keinen Schlaf. Die Krät­ze fürch­tet er, das Zit­tern, den Hunger, aber nicht den Tod. Das Ver­lies, die Zwangs­arbeit, die Ketten fürch­tet er, aber nicht die Ver­ban­nung. Fast wie der Tod ist sie verges­sen wor­den."
"Für die Verbannten ist es eine doppelt ungerechte Strafe, wenn niemand an sie denkt!"
Als er sah, dass die Hand des Kindes von allein gezit­tert hatte, war der alte Schrei­ber gerührt.
"Ach, mein Kind, will lange ist es, dass du am Hofe bist?"
"Tage sind es."
"Also eine gan­ze Reihe von Stunden, eine schier endlo­se Kette von Minu­ten und Sekunden, die man zu zählen aufgege­ben hat."
"Es ist wegen meinem Vater", begann Li. "Das ist der wahre Anlass, wegen dem ich euch besuche."
Dem alten Mann war es recht. War es wenig­stens eine Sache, die ihn nützlich machte.
"Er wurde vor langer Zeit verbannt. Fast am Anfang meines Lebens war es! ... Ich dachte, weil ihr so alt seid, wisst ihr viel­leicht den Grund dafür."
"Weiß nichts von diesen Dingen", sagte der alte Schrei­ber. "Da wurde nichts geschrieben, nur geredet im Gehei­men."
"Selbst ihr wisst nicht, warum es geschah ...", sagte Li hoffnungslos.
"Der Grund und alles, was sich fassen lässt, ging mit deinem Vater in die Verbannung. Ich sagte schon, das ist die Strafe."
"Dann gibt es niemanden, der mir helfen kann?"
"Kind, die alte Zeit ist längst in jungen Köpfen tot!"
Um sie aufzuheitern, setzte sich der alte Schreiber die betrübten Augen des Mädchens auf, lieh sich von ihren Lip­pen den dünnen Unter­strich der Ratlosigkeit, wollte sich am Rot ihrer Oh­ren versuchen, als die Tür zu Seite fegte, und ein Junge mit beiden Bei­nen in das Zimmer sprang, als sei sein ei­gentli­ches Ziel, durch den Boden zu stoßen, um in das Zim­mer dar­unter zu gelangen.
"Meister", rief er, "stellt euch vor - Wer ist denn die hier? - Kenn ich die? - Verstehe, soll die nicht ken­nen! - Also ich gehe, wie ihr ge­sagt habt -"
"Nimm die­sen Lappen hier, Li", rief der Meister dazwi­schen, "und stopf ihm schnell den Mund. Es ist mein Lehr­ling, die Schande meines Al­ters, der Ruin meiner Ge­lassen­heit, das Verderben meiner - "
"- Meister, Meister, hört mich erst an! Es ist so schrecklich viel passiert auf meinem Weg. Ja, wo beginn ich denn, ach ja, ich sollte doch - was war es noch? - für euch suchen. Fand sie aber nicht und verlor sie aus meinem Kopf, weil ich mich so spute­te, mit langen Schritten über den Gang eilte und such­te. Es wird mir einfallen, was ich suche, dachte ich, wenn ich nur kräftig aus­schreite. Mit einem Mal sind alle ge­rannt, und ich dach­te, wo sie hin­rennen, kann es nicht mehr weit sein. Wird auch für mich richtig sein, genau dort, nur dort zu su­chen. War also das Beste in eurem Sinne si­cherlich, mit­zu­laufen und Aus­schau zu halten, dass mir wieder einfällt, was ihr zu suchen mir aufgabt. Hört doch, hört! Sie riefen alle in meinen Kopf hin­ein, dass die Kaiserin eine Versammlung halte. Da rannte ich, weil alle rannten, für euch, der ihr wegen eurem Zucken nicht mehr laufen könnt, dass wenig­stens ich an eu­rer Stel­le bin und euren Ohren bringe, was die Kaise­rin auch euch zu sagen hat, und habe hin­gemerkt, dass mir nichts entgehe, denn gese­hen habe ich nichts, weil vor mir alle grö­ßer waren. Aber einer der Kopfhöchsten hat gesagt: 'Da ist die Kai­se­rin, sie spricht, aber man sieht sie nicht.' Nun, dachte ich, auch wenn ich größer wär, hätt ich sie nicht gese­hen, ist die Größe also recht. Nun lauscht ihr gespannt, nicht wahr!? Es ist die Kaise­rin, hab ich gedacht und war richtig froh, dass sie mich nicht sieht und nicht denkt, dass ich nicht hören soll, was sie sagt, und mich wegschickt und gar­ nicht drauf hören will, dass ich nur für euch da bin, weil ihr ja den Kno­chenrap­pel habt und euren Lehrjun­gen schickt, dass er euch alles be­sorge und sich merke und ge­nau hin­schaue, dass er für euch und für sich was lerne ... was sie gesagt hat? Die Kaise­rin? Ja, was! Natürlich hat sie nicht gleich angefan­gen, stie­benstu­benstill wa­ren sie alle, man hätte die Knochen von euch klappern hö­ren, so still waren sie alle ... bitte, ich sag, wie sie's gesagt hat. So also hat sie gesprochen: Weil wir ihre Lieben, ihre Wackeren, ihre Gu­ten, ihre Eif­ri­gen sei­en, habe sie uns mitzuteilen, dass in der Nacht der Kai­ser in die Flam­men gebracht worden sei, dass er brenne im Kreise seiner Ge­lieb­ten, wie er es sich ge­wünscht ha­be. Man solle ihm seine Ruhe lassen, ihn nicht wei­ter stö­ren mit Belangen. Auch mit den Gerü­chen habe es nun ein Ende, weil an dem Kaiser nichts ge­fehlt habe, als dass er in die lo­hern­den Flammen komme. Wer sich gesagt habe, dass der Kai­ser kein Herz habe, der sei ein nacht­fin­ste­rer Schurke und das Brot nicht wert, das er aufgegessen habe. ­So hat die Kaiserin ge­sagt, ge­weint hat sie, weil ihr alles sehr nah gewe­sen war. Und viele habe ge­weint, weil es so unaus­ge­sprochen schreck­lich war. Der Dicke hat immer geheult und die Nase hoch­ge­schneuzt, da habe ich nicht mehr alles so genau ver­stan­den. Der Kai­ser sei nun in Asche verwandelt und bleibe so, weil ein Korken auf der Urne ist. Das sei eine Angelegenheit, der er sich nicht schämen müs­se, son­dern er solle al­les mitma­chen, was die an­de­ren Kai­ser da oben so den ganzen Tag machten, damit er nicht so einer werde, der wel­cher keine Zähne hat und ihm die Spucke aus Mund läuft, und er ins Bett macht und am Morgen nichts von nichts mehr weiß, weil er in seinem Kopf einen Haufen von Scherben hat und das Schüt­teln in jedem seiner Glieder und das Zittern -"
Der Schreiber hatte sich erhob, tat einen sicheren ersten und einen schnellen zweiten Schritt und gab seinem Lehrjun­gen eine in Ansatz und Ausführung völlig ungezit­terte Ohr­fei­ge.

Chapter 63. Geschenke der Prinzessin

Woi schwitzte, während Baldeina gähn­te, was beides in gleicher Weise die Dienerinnen in Empörung versetzte.
"Meine Herren", rief die, welche die weiße Paste ange­rührt hatte, "sie machen Risse, wenn es sich här­tet. Es wird aussehen, als wäre ihnen das Gesicht zersprun­gen. Was sollen die Prinzessin von ihnen und unserer Arbeit den­ken!?"
Woi gähnte. Dafür zupfte ihm die Dienerin die Augen­brauen zur Strafe, dass es schmerzte. Eine Träne lief ihm aus dem Auge und wurde mit einem Wattestäbchen unschädlich gemacht.
Bei­de trugen sie die völ­lig gleiche, völlig weiße Klei­dung. Eine Hals­krau­se, weiße Bastschuhe und Handschuhe aus Seide, die für Woi so lang waren, das sie vorne um­knick­ten, während er Baldeinas wohlgestaltigem Fingerspiel zusah.
Als alles fertig war, fühlte sich Woi so unwohl, dass er am liebsten fortgerannt wäre. Baldeina war neben ihm in der kurzen Zeit einen Kopf gewachsen. Eine fette Fliege um­summte ihn achtungsvoll.
"Meine Herren, es ist soweit", sagte der Diener. "Wir können nichts mehr für sie tun. Wir wünschen ihnen Glück und Gedeih."
Von den Dienerinnen wurden sie in einen hohen Raum geführt. Leise flüsterte eine in ihren Rücken: "Bedenken sie - das Zimmer der Kaiserin!"
Als Woi die Sol­daten neben der Tür sahen, die Haltung angenommen hat­ten, überließ er die Flucht­gedanken sich selber.
"Hinter dem Standbild - die Prinzesinnen!", teilte ihnen die Flüsterdiene­rin mit.
Vorn auf dem Bild turnte ein kleiner Sing­vogel kopfüber an einem blü­henden perl­schnur­dünnen Kirsch­zweig. 'Hier steigt mir kei­ne Katze nach!', lachte es frech aus seinen Schwarzbeeräug­lein. Darunter schritt sitt­sam und ernst eine Frau durch einen kleinen Park. Die Mauern, die ihn umgaben, waren vom selben Grau wie ihr langes Kleid. Sie war wohl in Gedan­ken bei sich und wandte dem Betrachter den Rücken zu, als habe sie nieman­den bemerkt.
Auf Baldeinas Gesicht lag ein Lächeln in den letzten Zü­gen, während Woi an einem ver­trockneten Husten schluckte. Erst als die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte, bemerkten sie die Kaise­rin.
Sie schlenderte und sah sich nicht um, als durchgehe sie einen leeren Raum, übertraf die Standbilddame mühelos an In­nigkeit und Seelenverlorenheit. Überrascht schlug sie die Augen auf, als sie vor Bal­deina zu Stehen kam.
"Bitte", sagte sie. Nichts als ein 'Bitte', das keine Be­deutung in Besitz nahm. Mit leichtem Schritt-Schritt trat sie zurück, als wol­le sie sich nicht von den wild pochenden Herzschlägen des jungen Mannes tref­fen lassen.
Kurz streifte ihr Blick den anderen jungen Mann, der ihr trotzig entgegensah und ihr äußerlich ungelenk und inner­lich unge­stalt zu sein schien. Hatten sie sich verabre­det, dass der eine von ihnen Reiz und Nehmeherz besitzen durf­te, während der andere Verzicht übte? Konnte es sein, dass 'Alles' und 'Nichts' wie Freunde nebenein­ander stan­den?
"Sie", sagte die Kaiserin, "haben Geschenke für sie."
"Bitte", sagte Baldeina. Auch dies nur ein 'Bit­te', das Bedeutungen umherstieß. Als ihm das auffiel, war es zu spät und den Augen der Kai­serin nicht mehr zu ent­reissen.
"Dort", sagte die Kaiserin und trat zur Seite.
Das Sil­berbe­steck fun­kelte. Baldeina nahm es in die Hände und be­trachte­te es lange verzückt.
"Ein Geschenk ... meiner kleinen Dessa", erklärte die Kaiserin.
Woi war ne­ben Baldeina getreten und warf einen dumpfen Schat­ten.
"Ich kann das nicht spielen", sagte er. In den Händen hielt er ein Spiel mit Figuren, die aus Elfen­bein wa­ren.
"Nadim, du hörst doch, was er sagt?", tupfte die Stimme der Kaiserin.
"Es ist einfach so!", sagte Woi. Er nahm das Spiel mit den Figuren hoch, um sie wenig­stens anzusehen.
'Aus Zahn­bein gefertigt, gelb, scheckig, glanz­los - stumpf wie sein Gemüt', dachte Baldei­na und freute sich an seinen Worten.
Da fielen die Figuren alle um und klackerten auf dem Boden umher. Woi murmelte etwas, was das bisher Gesagte an Unfreundlichkeit übertroffen haben dürfte.
Mit seinen Handschuhen war es ihm unmöglich, die Figuren zu fas­sen. Sie flutschten immer weg und roll­ten weiter. Der graubehangenen Da­me auf dem Standbild hat­te sich Weh auf die Schultern gelegt, wäh­rend Woi im­mer weiter den Figuren nachkroch.
"Oh ...", hauchte die Kaiserin, als er ihr zu nah kam.
"Es ist seine Art", flüsterte Baldeina ihr zu.
"So ...?", kam ihm anvertraulich von der Kaiserin zu. Wie­der so ein Wort, dass seine Bedeutung mit dem Bild von Wois knieendem Jammer füllte!
Als Baldeina seinen Blick und sein Silberbesteck in das Licht der Kaiserin hielt, rannte einer der ungesehenen Prin­zessinen hinaus. Der klei­ne Vogel mit den Schwarzbeer­augen flog nicht einmal auf.
"Soll ich ... muss ich ihr nach?", besorgte sich Baldei­na.
"Wie es ihnen ...", hauchte die Kaiserin Unferti­ges, aber ihre Hand berührte bittend die Hand von Baldeina. Beide sahen sie auf den umherkrie­chenden Woi herab und waren sich ei­nig, dass Baldeina ritterlich genug war, eine schö­ne Frau in einer derartigen Situation nicht al­lein zu lassen.
Woi sprangen immer noch die Figuren aus den Hän­den. Eine letzte rollte unerreichbar unter einen Schrank, als die zweite Prinzessin rannte. Er­staunt sah Woi, dass das Standbild der Prinzessin am Bo­den lag. Er blickte sich nach seinem Freund um.
"Er hat nichts bemerkt!", stellte Baldeina beeindruckt fest. Die Kaiserin dachte lächelnd, dass Rohheit und Unge­schick oft ein glückliches Paar sind. Ähnli­ches mochte auch Baldeina gedacht haben, denn sein Lächeln ging aus dem ihren hervor und lag ihm spiegelgleich.
Woi stellte eine weitere Figur auf das Brett, zog die Handschuhe aus und legte sie dazu. Dann ging er ohne Wort und ohne Blick hinaus.
"Wenn sie möchten, dass ich ... auch ich will, muss nun...", wandte sich Bal­deina an die Kaiserin und war rot geworden.
Die Kaiserin trat an das Fenster und sah hinaus. "Kommen Sie", sagte sie, ohne sich nach ihm umzusehen. "Treten sie für einen Moment an meine Seite."
Baldeina tat, wie ihm geheißen war. Weil sie ihm nichts sonst aufgetragen hatte, sah er hinaus. Es war be­reits Abend. Der Tag war wohl warm gewesen, denn ein Die­ner wischte sich den kahlen Kopf.
"Berichten sie mir", begann die Kaiserin leise, "von gewissen Dingen, die sich zutrugen."
"Kaiserin, sie meinen ...?"
"Ja, diese Dinge! Sprecht, wie es geschah! Eure Worte will ich hören."
"Kaiserin", begann Baldeina tonlos, "ich bekenne, ich beichte!" - 'Die Kaiserin musste erfah­ren, dass er nicht al­lein gewe­sen war!' - "Es ist uns, ich spreche für mich und meinen Freund, ihm und mir eine Sache wi­der­fahren, die sich als ein schreck­li­cher Irrtum heraus­ge­stellt hat" - 'Warum hat­ten die Sol­da­ten nur ihn, Baldei­na, ergriffen? Wie hat­te Woi sich un­sichtbar machen kön­nen?' - "Was als eine Er­kun­dung begann, ortsun­wissend wie wir sind, führte uns in einen Stru­del von Miß­ver­ständ­nissen, ent­führte uns ge­wis­serma­ßen dahinein." Die Kaise­rin berührte das Fen­ster, als wolle sie sich von seiner Wirk­lichkeit über­zeugen. "Wo wir Op­fer waren, da wur­den wir auch schul­dig, muss ich ge­ste­hen. Es ist unsere Unerfahren­heit, die Rede führen soll wi­der unsere Schuld. Kaiserin, es fällt uns - mir schwer, ih­rer angesichtig, die richtigen Worte zu fin­den, aber seien sie ge­wiss, dass uns nichts trieb als die Neu­gier, die auf­gesta­chelt wurde von der Unerfah­ren­heit, der die Gele­gen­heit eine Falle stellte, und nun stehen wir - ich hier, tue Abbit­te dafür, dass der An­schein gegen uns spricht. Lassen sie sich nicht täuschen, wie wir uns täu­schen lie­ßen! Las­sen sie nicht den Schein für sich spre­chen, son­dern fordern sie von ihm die Wahr­heit! Lassen sie nicht Gnade walten, die wir nicht anneh­men dürfen, son­dern Ver­ste­hen! So ich nun vor ihnen ste­hen, Kaiserin, sollen sie über mich richten!"
Die Kaiserin betrachtete den Him­mel, der sich mit Röte überzogen hatte, als hätte sich die Hitze unter Baldei­nas weißer Paste einen anderen Weg ge­sucht, ihr vor die Augen zu tre­ten.
"Aber ich verstehe", sagte sie. "Ihr sollt wissen, dass ich ver­stehe."
Als sich Baldeina ihr voller Dankbar­keit zuwandte, zeigte sie auf das Bild, dass sie und er spie­gelnd vor dem Abend in der Scheibe des Fensters abgaben: "Seht ihr es? Das Bild von ihm und ihr? ... Ihr müsst wis­sen, die Frau sah ich oft, aber nie sah ich einen bei ihr. Im­mer sah sie mich traurig an. Aber es kam niemand, und was hätte ich dieser Frau ver­sprechen können?"
"Auch ich verstehe, glaube ich ...", sagte Bal­deina mit verhängter Stimme.
Eigentlich aber bestand sein Ver­stehen aus purem Nichts. Es war sozusagen nur eine Ah­nung, dass ein Verstehen ihm nicht würde hel­fen kön­nen.

Chapter 64. Der Adjudant bei Tesla

Das Mädchen zog den Vor­hang einen Spalt auf, trug einen Licht­strahl vorsich­tig durch den Raum und legte ihn der schlafenden Tesla auf die Au­gen.
"Herrin, ihr wolltet ge­weckt werden. Die Boote stoßen von den Stegen ab. Am Ufer, hört ihr, fegen sie die Blumen von den ­Wegen."
Sie räumte bei den Cremes und Salben auf, leg­te das Mor­genkleid zurecht, stellte die Schuhe an das Bett. Die Puder­dose und die Bürste legte sie nebenein­ander auf das Tisch­chen, damit Tes­la sie leicht finden konnte.
Es war eine wun­derbare Bür­ste. Das ­Mädchen strich mit der Hand über den Griff und stellte sich vor, dass die Bür­ste durch ihr eige­nes Haar glitt. Es würde kni­stern und glänzen, den gan­zen Tag.
"Hörst du nicht?", rief Tesla in ihren Rücken. "Träumst du wieder? Da ist jemand. Es ist keins von unseren Booten. Gleich wird es anlegen. Geh hin­aus und sieh nach, wer es ist."
Als das Mädchen aus dem Zimmer getreten war, hörte sie jeman­den rufen. Sie beug­te sich aus dem Fenster und sah einen Mann, der ihr erst zuwinkte. Er trug sehr hohe Schuhabsät­ze und et­was bedeckte seinen Kopf, das aus­sah wie ein klei­ner Gong.
Der Herr hatte sich mit einem sei­ner hohen Absätzen ver­knickt. Er hielt mit den Händen das Geländer umklammert, weil das Git­ter am Steg seinen Schuh mit eiser­nen Zäh­nen gepackt hielt. Eine halben Absatz hat­te er schon verloren.
"Bit­te", sagte der Mann, "du muss mir helfen. Ich kam wohl in den falschen Schuhen hierher."
Schweißbahnen glänzten auf der Stirn des Herren. Seine Augen flehten das Mäd­chen an. Be­vor er ihre Hand richtig zum Halt nahm, drehte er sie, als müsse er erst sehen, welche die rich­tige Seite war. Als das Mädchen ihm auch ihre zweite Hand gab, ging alles ganz leicht. Der Absatz, der verloren schien, war nur ein wenig verschrammt. Es waren die Schuhe eines hohen Hofbe­amten, und er hatte recht, dass sie nicht zum Klettern geeignet waren.
"Du hast mir das Leben gerettet. Das Wasser hätte mich sicher verschlungen. Dank schulde ich dir, das ist ge­wiss", sagte er.
Seine Stimme war auf eine besondere Art weich. Sie war wie von Jade, die so oft ge­schliffen worden war, dass die Hände nicht glauben wollten, ei­nen Stein zu be­rühren. So weich und glatt wie der Griff von Teslas Bürste, die sie ge­rade ge­halten hatte.
"Wisst ihr denn, wer euch den Dank schuldet?" fragte er.
"Ich schuldet mir keinen Dank und keinen Namen", sagte sie und sah den Mann an.
Etwas hatte ihn traurig gemacht. Er sagte nun nichts mehr zu ihr. Aber als seine grünen Augen sie wieder an­sahen, war es, als zerfielen sie in lauter Splitter. Dann wand­te er sich zum Haus. Fast stieß er sie zur Seite und stöhn­te da­bei, als habe er sich doch ver­letzt.
Tesla stand in der Tür und hatte alles in sich aufgenom­men. Sie hatte aufmerksam, fast angestrengt gelauscht, wie sie es selten tat. Etwas war einge­treten, dass sie er­war­tet hatte.
"Ich kam für ein kleines Gespräch mit der Fürstin der Nachtstadt", sagte der Mann. Sei­ne Stimme hatte sogleich ihr Lä­cheln wiedergefunden. "Nie­manden habe ich mehr nö­tig, als eine kluge Frau, die ich als Freundin weiß."
"Ich freue mich den Adjudanten des Kaisers empfangen zu dürfen", sagte Tesla würdevoll.
Der helle Tag sah verwundert, dass Teslas Erschei­nung einem ungemachten Bett ähnlich war, wiewohl sie in der Hal­tung einer großen Dame zum Besuch empfing.
"Geh hinauf in dein Zim­mer", sagte Tesla zu dem Mädchen. "Bereite uns ei­nen Tee. Lass dir ruhig Zeit. Ein Ge­spräch mit einer klu­gen Frau ist keine Treib­jagd."
Der Mann geleitete Tesla am Arm, obwohl sie jeden Winkel ihres Haus kannte. Jede seiner Bewegung schien nun kostbar und brachte den, der sie annahm, in seine Schuld.
Im Zimmer, wo das Mädchen den Tee kochte, waren seine und Teslas Stimme fern. Irgend­wo stießen Steine gegen­ein­an­der, wie bei einem Ku­gel­spiel, dass alte Männer zu been­den ver­ges­sen hatten.
Während das Teewasser aufstand, hatte das Mädchen Zeit. Sie sah die grünen Augen des Mannes, die Sprünge, wie ein zer­bro­chenes Glas. Das war, als er sie angesehen hatte. Tes­la muss­te ein­mal sehr schön ge­we­sen sein, wenn sie sol­che Din­ge wie diese Bürste be­saß. Das Tee­wasser ver­langte sein Recht ein wenig lau­ter, als es ange­bracht war.
"Es muss vor Ort entschieden werden, wie es geschehen kann", hör­te sie den Mann sagen. "Ich rate, jemanden auszusu­chen, der seinen Kopf hat und eigene Wege geht."
Das Mädchen ging behutsam die Treppe hinunter. Die Un­tertel­ler fragten leise, ob die Tassen wüss­ten, mit wem sie heu­te die Bekanntschaft ma­chen würden. Natürlich wuss­ten die Tas­sen das, aber es gehöre sich nicht, darüber zu spre­chen. Die Unter­tassen waren sich uneins, ob die Neun­mal­klu­gen wirklich etwas wussten.
"Sei­en sie ge­wiss, dass ihr Sohn Unter­stützung fin­den wird, wenn es gelungen ist, ihn ..."
Der Mann unterbrach seine Rede, um aufzustehen, als er das Mädchen auf der Treppe sah. So­fort setzte er sich wieder. Ein schneller Blick zu Tesla über­zeugte ihn, dass sein Verhal­ten von ihr nicht bemerkt wor­den war.
"Auf wen immer ihre Wahl fallen wird", setzte er äußer­lich ruhig seine Rede fort, sah das Mädchen nicht an, als sie ihm die Tasse reichte, "bedenken sie, er muss von Adel sein, wenn er das Vertrauen des Ge­nerals gewinnen will. Mit Gewalt allein wird sich nichts erreichen lassen."
Der Mann spürte, dass das Mädchen auf seinen Blick war­tete. Der Tee war gerade so erkaltet, dass er ihn schnell trinken konnte. Er blickte unter dem Tisch auf ihre Füße, die weißen Knöchel, den schmalen Spann.
"Sie ist meine Ziehtochter", sagte Tesla.
"Wer ist ihr Ziehtochter?", fragte der Mann hastig. Die Fra­ge war schneller gewesen als das Erkennen, dass er die Blinde nicht hatte täuschen könne.
"Ich bin ihre Ziehtochter", sagte das Mädchen ruhig und hätte fast den Blick des Mannes eingefangen.
"Geben sie ihr einen Namen!", verlangte Tesla von ihm.
"Einen Namen? Ich? Warum ich?", fragte der Mann und wag­te nicht, das Mädchen anzusehen.
"Sie sind der erste, der vor ihr erschrickt", sagte Tes­la. "Von ihnen soll sie den Namen bekommen!"
"Ich verstehe nicht ..." Der Mann nahm die Tasse auf, obwohl er sie ausgetrunken hatte.
"Ich habe keine Namen", sagte das Mädchen. "Das meint sie."
"Wie findest du den Namen 'Da­hima'?", fragte der Mann, indem er in seine Tasse sah.
"Sie soll nichts FINDEN!", sagte Tesla grob. "Das ist ihr Name und damit gut!"
"Dahima ist ein sehr schöner Name", sagte das Mädchen sanft und berührte seine Hand, als sie ihm die Tasse aus der Hand nahm.
"Dahima", sagte der Mann, "nun weiß ich, wem ich Dank schul­de - doch ich muss gehen - komme wie­der." Seine Stim­me war heiser geworden und hatte vergessen, was der Hof sie gelehrt hatte.Er stand auf und ging, ohne zu warten, dass sie ihn be­gleitete und schloss allein die Tür in sei­nem Rücken.
"Stell die Tassen hin", sagte Tesla. "Wir wollen reden. Setz dich her."
"Worüber wollen wir reden?"
"Über die schlechte Nachricht, die du für mich hast."
"Ich weiß wirklich nicht ...", sagte Dahima schnell, aber wie bei dem Mann war das Gesprochene dem Verste­hen vor­ausgeeilt.
Tesla wartete. Hatte das Mädchen vergessen, dass die tiefen Bilder, die sich eine Blinde mach­te, die Wahr­heit waren! Die Bilder drau­ßen, die keine Ord­nung hatten - wem waren sie leserlich!?
"Dahima, sag die schlechte Nach­richt", forderte Tesla sanft ihr Mäd­chen auf.
"Ich bin schön geworden", sagte Dahima. "Ich sah meine Schönheit in den Augen des Mannes."
Sie hatte begonnen, die Tassen einzusam­meln. Leise ging sie die Treppe hinauf, als wolle sie nicht hören, das Tesla schlecht über ihre Schönheit sprach.
"Es wäre besser, Dahima sähe ihre Schönheit nicht", sag­te Tesla zu sich. "Eine Blinde hat es leichter mit der ihren."

Chapter 65. Woi bei Paschmann

"Dich treibt es wieder in die Nachtstadt?", fragte eine Stimme.
Woi schreckte herum. Er sah niemanden in der Dunkel­heit, aber er hatte die Stimme erkannt.
"Ich habe auf dich gewartet", sagte der Zwerg und blieb im Dunkeln stehen.
Woi sah zu den Wachen, die die Köpfe zusammengesteckt hatten. Sie beobachteten die Szene, konnten aber nicht sehen, mit wem er sprach. Noch waren sie sich unschlüssig, ob sie kommen und nachsehen sollten.
"Mach schnell!", sagte der Zwerg. "Sie sollen mich nicht se­hen."
Also trat auch Woi ins Dunkel und ging dem Zwerg nach, der es nun eilig hatte. Auf einem dunklen Platz, wo sich die Straßen trafen, blieb er stehen und horchte in alle Richtungen. Dann nickte er zufrieden.
"Wusstest du, dass ich komme?", fragte Woi, als sie ru­higer gingen.
"Ich habe mir gedacht, dass es sein könnte", antwortete der Zwerg. Mehr war ihm nicht zu entlocken.
Die Wirte schauten aus den Fenstern und blickten jedem traurig nach, der nicht einkehrte. Offenbar kannten sie den Zwerg, aber sie waren nicht neugierig, wen er mit sich führte.
"Wir suchen eine Taverne ohne Namen", sagte der Zwerg.
"Sie hat keinen Namen?"
"Er ist heruntergefallen. Es geht niemand mehr hin. Nicht einmal ich, weiß wo sie ist!"
"Hey", rief ein tonnendicker Mann sie an, "kommt her! Wollt ihr nicht trinken." Er kam auf sie zu und schlug den Mantel auf. Darunter hatte er sich ein Fass umgebunden. Er drehte an einem kleinen Hahn in Bauchhöhe und leckte sich die Finger sauber.
"Der Ausschank in Gläsern ist mir verboten, aber wenn ihr euch bückt ... Es ist ein guter Preis."
"Nein", sagte der Zwerg.
"Wir suchen eine Taverne ohne Namen", sprach Woi ihn an.
"Ich bin eine Taverne ohne Namen", sagte der Mann la­chend, "aber es gibt eine andere." Er zeigte ihnen den Weg und ging schwankend davon, als sei er heute noch nichts von seiner Last losgeworden.
"Was fragst du ihn?", knurrte der Zwerg zur Seite.
"Was ist dabei?", fragte Woi erstaunt.
"Er redet. Überall redet er."
"Und warum gehen wir ausgerechnet in diese Taverne?"
"Weil wir jemanden treffen."
"Ich dachte, es geht niemand mehr hin!"
"Du wirst sehen", grummelte der Zwerg, "dass wel­che da sind."
Der Mann hatte ihnen den Weg gut beschrieben. Einem Haus würden sie begegnen, welches unten neu und oben alt war. Ne­ben dem Haus zweige eine Gasse ab. In der Mitte des We­ges sei ein Rinn­sal und an seinem Ende befinde sich die Ta­verne ohne Namen.
Sie fanden al­les so vor, wie er gesagt hatte und betra­ten den Schankraum. Die Türe waren seit langem niemand mehr bewegt worden. Ihre Scharniere saßen nachgebend im morschen Holz der Fassungen.
"Wirt!" rief Woi laut in den Raum hinein.
Es waren zwei Tische besetzt. An einem saß mit dem Rücken zu ihnen ein alter Mann und spielte mit sich selbst Würfel. Er hatte statt eines Getränkes ein großes Stunden­glas vor sich ste­hen, das er dann und wann hob und drehte. An dem anderen Tisch saß einer, der ihm ähnlich sah. Nur waren seine Haare grau und wuchsen ihm auf die Schultern, während der erste eine glänzende Glatze hatte.
"Ei, der Wirt ...", sagte der Grauhaarige und wurde nach­denklich. "Vor langer Zeit war hier einmal ein Wirt. Es war ein gu­ter Mensch, aber seine Gäste waren schlechte Menschen. Von solchen kann ein Wirt nicht leben. Ist er also weitergezogen. Ohne Wirt mögen die Gäste - und seien sie noch so schlecht - nicht in der Taver­ne hoc­ken. Sind also auch sie weitergezogen. Ja, so war das."
"Und warum hockt ihr hier?" fragte Woi. Er sah sich nach dem Zwerg um, ob es wieder erlaubt war, Fragen zu stellen. Aber der Zwerg war fort. Woi war allein mit den beiden seltsamen Gestalten.
"Sobald mein Spiel zu Ende ist, bin ich hinaus!", rief der Glatzköpfige. "Hörst du, Tischmann? Das kann er sich doch denken, dass ich mein Spiel zu Ende spielen." Er rieb heftig kreisend eine Stelle auf seiner Glatze.
"Ei, sei ihm nicht gram, Paschmann. Was weiß er von un­serem Spiel."
"Seht her, ihr zwei!" rief Paschmann und hielt sein Stundenglas hoch, das er schüttelte. "14 Tage habe ich heute gewonnen schon. Die Würfel fallen gut. Nun lasst mich in Ruh!"
"Setzt dich her", sagte Tischmann. "Kümmere dich nicht um Paschmann."
"Hat die Taverne keinen Namen?" fragte Woi.
"Woher weißt du, dass sie keinen Namen hat?"
"Ich kann keinen lesen vorne auf dem Schild", antwortete Woi.
"Ei, ei, es hat dir jemand gesagt, dass sie keinen Namen hat. Niemand sieht hinauf und liest die Schilder. Was fän­de er dort für seinen Durst? Also hat es dir jemand ge­sagt. So ist das!"
"Ja, ihr habt mich", gab Woi zu. "Ich kam mit dem Zwerg, doch nun ist der fort."
"Ich hab gewonnen! Er bringt mir Glück! Wahrhaf­tig, er bringt mir Glück!", rief Paschmann. "Soviel Tage habe ich noch nie in einem Spiel gewonnen."
"Was macht er mit seinen Tagen, die er gewonnen hat?" fragte Woi leise.
"Er setzt sie wieder ein" antwortete Tischmann leise.
"Ich setze sie wieder ein! Allesamt! Das du es weißt!" jubelte Paschmann. "Ich werde der Erste sein, der sein ganzes Le­ben zurückgewonnen hat! Der Erste werde ich sein! Fünfzig Jah­re bin jetzt 3 Tage und 23 Stunden und habe mir 10 Jahre, 267 Tage und 6 Stunden zu­rückgeholt." Er hielt ihnen eine dicke Rolle hoch, auf die er seinen Gewinn no­tiert hatte.
"Ich staune", sagte Woi und war sicher, dass Paschmann ein völ­lig Verrückter war. Langsam, als sei er in Gedan­ken, legte Woi sein Messer auf den Tisch.
"Lass ihn nur", bat Tischmann ihn leise. "Er ist so am glücklichsten. Ich kannte ihn noch, als er versuchte, ohne Schlaf auszukommen, um sein Leben zu verlängern. Das hat ihn damals arg mitgenommen. Eigentlich ist er harm­los."
Wenn Paschmann den Becher schüttelte, dann schüttelte er gleichzeitig seinen kahlen Kopf. Wenn er den Be­cher verborgen hielt, dann konn­te man denken, dass die Wür­fel in seinem Kopf waren.
"Wegen dem Schlaf hat er sich nicht einmal mehr hinge­setzt. Wir dachten schon, er sei tot", berichtete Tisch­mann leise. "Im Stehen gestorben. Er war ganz steif. Wir waren uns sicher, dass er nicht mehr lebte. Da sprang er uns an und schrie, wir sollten mit unserer Zeit nicht in die Nähe der Paschmann-Zeit kommen."
Ein Lichtstrahl war auf das Messer gefallen und irrte im Raum umher. Schließlich fand er ein Ziel und ruhte auf Paschmanns Hinterglatze, auf der Stelle, die er kreisend gerieben hatte.
"Der Zwerg sagte, ich solle hier jemanden treffen."
"Du siehst ja, es ist niemand hier außer uns", sagte der Nachbar. "Es wird auch niemand kommen. Es ist schon lange her, dass jemand kam."
"Wen hat der Zwerg bloß gemeint?", sagte Woi nachdenk­lich. Dabei blickte er zu Pa­schmann, der sich dort, wo das Licht tan­zte, wieder auf seiner Glatze juckte. Er rückte näher an Paschmann heran und ließ nun, als diene er diesem Manne zu dessen Besten, das Licht aus näch­ster Nähe auf der Glatze zur Wirkung kommen.
"Manchmal denke ich", sprach Paschmann in den Raum, "die­ses Spiel brennt mir den Ver­stand weg. Ihr versteht?! Ich gewinne zwar, aber in meinem Kopf wird es heiß."
Woi sagte, dass ihm das unerklärlich sei. Pa­schmann stelle ihn vor ein Rätsel. Tischmann beobachtete inter­essiert, was Woi mit Paschmann anstellte.
"Stimmt das wirklich, dass es in dieser Taverne seit lan­ger Zeit keinen Wirt gibt?" fragte Woi.
Er wollte mehr wissen, aber Tischmann hatte be­reits sei­ne Holztaler hervorgeholt und sah Woi an, als habe er ihr Ge­spräch bereits vergessen. Er türmte die Holztaler auf, bis sie schwankend zusammenfie­len.
"Warum seid denn ihr hier?", fragte Woi. "Ihr seid doch nicht wie er so ... " Auf Paschmanns Glatze stiegen haut­nah Dampfschwaden auf, wie von einer frisch auf­gegos­senen Tasse Tee.
Tischman zeigte auf seine Holztaler. "Das bin ich dem Wirt für Speis und Trank schuldig. Ehe ich meine Schuld nicht beglichen ha­be, muss ich hier­blei­ben."
"Aber der Wirt ist doch lange fort. Das habt ihr doch selbst gesagt!"
"Junger Mann", sagte Tischmann stolz, "es ist dies nicht eine Frage, ob der Wirt fort ist oder nicht. Es ist eine Frage der Ehre. Versteht ihr das?"
"Ich glaube nicht", gab Woi ehrlich zu.
Paschmann hatte die Arme erhoben. Langsam, als zwinge ihm jemand einen Willen auf, setzte er sich aufrecht. In den Händen hielt er sein Stundenglas. Er schien es mit unmenschlichen Kräften ge­presst zu halten. Da fiel sein Kopf dumpf auf den Tisch, mit der Stirn auf die Rolle, wo sein Wett­stand notiert war. Die dünnen Arme blieben weiter in die Höhe ge­streckt.
"Es wirkt! Das mit dem Messer wirkt", sagte Woi.
"Ihr könnt jetzt gehen. Es ist spät geworden für ihn", sagte Tisch und zeigte auf Paschmann.
"Ich dachte, es kommt noch jemand, den ich treffen soll."
"Uns solltet ihr treffen!"
"Euch? War das geplant?"
Tischmann nickte ernst. "Wir sollen herausfinden, ob ihr der richtige seid."
"Und bin ich das, eurer Meinung nach?", fragte Woi, fast ein wenig ärger­lich, dass sie ihm nichts gesagt hat­ten.
"Für das Abenteuer, das ihr bestehen sollt, seid der Rich­ti­ge. Aber nun geht, ihr hört noch von uns!"
Paschmann hatte im­mer noch die Hände erhoben, als wolle er fortdauernd gegen die Spiel­unterbrechung protestieren. Tischmann lächelte und streichelte mit der Hand die glattpolierte Glatze seines Nachbarn. Er legte die Würfel in den Becher, wendete das Stundenglas, entriegelte Pasch­manns Arme und leg­te sie fürsorglich vor ihm auf den Tisch.

Chapter 66. Gespräch über Woi

"Ihr müsst wissen, Herr Baldeina, dass wir Prin­zes­sinnen nur ZUSAMMEN heira­ten. Das müsst ihr wis­sen!" Die Worte ihrer Schwester hatte Dessa unterstrichen, indem sie gänzlich fortgeblieben war.
"Das wusste ich nicht", bekannte Baldeina. "Ein bit­terer Stoß dem Herzen, das noch hoffte!"
"Leiht euch nicht fremde Worte! Sprecht aus, was mit ihm ist!" Nadim stand in der Tür und gab sich keine Mühe, ihre Stimme zu dämpfen.
"Woi ist mein Freund. Wie kann ich über ihn sprechen!"
"Ihr müsst wissen, HERR Baldeina, Nadim und ihre Schwester Dessa versprachen sich, Glück und Un­glück zu tei­len. Ist Nadim unglücklich, dann nicht minder ihre Schwester Dessa! Bedenkt wohl, was das heißt. So ra­tet uns mit gu­tem Verstand!"
"Woi eignet sich nicht für eine Heirat, das ist es! So wäre mein Rat."
"Wie sprecht ihr über euren Freund. Er ist doch euer Freund?"
"Nicht so laut, ich bitte euch'! Ein Freund ist er - eeh - von früher, ein guter - gewiss - damals ..."
"Was spricht gegen ihn?"
"Eehm, also ich bin kein Sachverständiger in diesen Din­gen, und was wird er sagen, wenn er es erfährt?"
"Ihr wisst doch etwas! Sagt es heraus!"
"Das würde er niemals verzeihen, schlimmer noch, er wür­de mir etwas antun."
"Huch, ist er so arg!?"
"Übellaune ringt in ihm mit Zorneswüte!"
"Denkt euch für ihn etwas aus. Mir aber sagt alles, wenn euch die Heirat lieb ist!"
"Kommt herein und haltet euch versteckt!"
"Verstecken soll ich mich, sagt ihr?"
"Er kann ganz plötzlich kommen, tritt gegen Türen, wenn sie sich nicht öff­nen!"
"Und wo verstecken sich Prinzessinnen?"
"Im Bett", schlug Baldeina vor.
"Das ist nicht schicklich und darum Pfui!"
"UNTER dem Bett?"
"Da ist es schmutzig und darum ebenfalls Pfui!"
"Dann weiß ich nichts!"
"Im Schrank, das wäre der Ort", sagte die Prinzessin.
"Bedenkt, da sind meine Kleider!"
"Die müssen raus, allesamt!"
"Sie würden knittern. Es sind meine besten. Für die Hoch­zeit, von meinem Vater ausgesucht -"
"- es gibt keine Hochzeit, wenn ihr die Kleider unserer Bitte vor­zieht."
"Aber - ummn - also gut, die Klei­der auf das Bett."
"Nun sprecht, ihr seid sicher, und ich bin es auch."
"Was soll ich sagen?"
"Was ist mit Woi? Gehört haben wir, dass er oft fort ist und auch nachts. Nichts sollten wir davon erfah­ren!"
"Ich bin nicht unterrichtet."
"Von euch war auch die Rede: Ihr hättet einen Streit gehabt mit Sol­daten, in einer frühen Morgenstunde."
"Gekämpft habe ich mit ihnen, jawohl!"
"Gekämpft, so ernst war es!?"
"Sie wollten nicht glauben, dass ich der Sohn eines Für­sten bin. So musste ich das Schwert mit ihnen kreuzen!"
"War er dabei?"
"Nein, er war plötzlich fort, der Freund, als der Kampf begann!"
"Und ließ euch allein, vermuten wir."
"So war es! Einen Freund will ich ihn dafür nicht nen­nen."
"Denkt an die Hochzeit, Freund oder nicht Freund! Was ist es, das ihn unstet macht?"
"Es ist diese ... also ich habe gehört, wie ... aber ich kann nicht sagen, ob es Wirkung hat."
"Was ist es, dessen Lücken ihr so in die Länge zieht?"
"Ein Fluch ist es!"
"Wie?"
"Ein Fluch, Woi ist verflucht worden."
"Erzählt!"
"Ich war dabei. Es war in einer Nacht. Da stand sie plötzlich vor seinem Fenster."
"Wer ist SIE?"
"Ihscha heißt sie. Eine Kun­dige sei sie, sagte man mir. Woi glaubt, dass sie eine Fee ist. Ich verste­he nichts von die­sen Din­gen. Ich weiß nur, dass sie singen und tan­zen konnte und von großer Schön­heit war ... wenn man nicht tie­fer blickt, als wo das Wesen ei­ner Frau beginnt."
"Sprecht weiter von dieser Nacht!"
"Er hatte ihr wohl am Abend davor die Haare alle abge­schnitten. Da stand sie nun, mit den Haaren in der Hand und sah zu sei­nem Fenster hoch. Als er es öffnete - ich war grade wach, weil ich im Fremden einen leichten Schlaf ha­be - belegte sie ihn mit ih­rem Fluch und schleu­derte ihre Haare in die Nacht."
"Was waren ihre Worte?"
"Niemals solle er gewahr werden, so ihr Fluch, wenn eine Frau ihn liebt. Und rief es. Und schrie es. Dreimal in der Folge. Es war schrecklich und furchtbar."
"Aber was trieb ihn, ihr die Haare abzuschneiden?"
"Es war eine Sache zwischen ihnen wegen seines Dolches, der Dolch von seinem Vater und dem Fürstentum."
"Den gab er ihr?"
"Den nahm sie sich, sagt er!"
"Er ist ein Mann und sie nur eine schwache Frau!"
"Sie hätte so eine Macht gehabt, sagt er. Er hätte ihn gegen ihren Willen nicht ein­mal anheben können, den Dolch."
"Da schnitt er ihr die HAARE ab??"
"Er sagte, sie hätte die Macht durch ihre Haare ge­habt. Sie waren wunderschön ... also jedenfalls lang. Den Dolch bekam er zurück, aber dafür auch diesen Fluch. Er lastet schwer auf ihm. Wie wäre an eine Heirat zu denken!"
"Ein Fluch, das ist doch ein Unsinn!"
"Er weiß nicht, wie er sich dazu stellen soll."
"Was treibt ihn in der Nacht umher?"
"Ich bin nicht dabei! Was denkt ihr euch!?"
"Hat er nicht davon gesprochen?"
"Es gibt Dinge, darüber ist eine Mann ver­schwiegen."
"Ist es eine Frau, auch mit Haaren oder anderweitig 'wun­derschön'? War das nicht euer Wort?"
"'Wunderschön', das sagt man eben so."
"Er, Baldeina, hat dieses Wort gebraucht, nicht Woi!"
"Es ist ein Wort wie jedes! Gebt mir ein anderes, so nehm' ich es gerne in Gebrauch dafür!"
"Was die Augen sprechen, das braucht keine Worte!"
"Bin ich nun schuldig, dass sie solche Haare hatte!?"
"Er mag vielleicht an anderen Mädchen viele Dinge? In seinem Sinne ohne Schuld!"
"Aber nein ... aber wieso?"
"Braucht es da WORTE!"
"Das ist nicht fein: Ich berichtete wahr über einen Freund, legte die Verschwiegenheit ab, bringe mich in Ge­fahr, um Herzen zusammenzuführen ... also jedenfalls, dass es ihnen nicht so schwer ist -"
"- erst verriet er einen Freund und dann sich selbst, nicht wahr!?"
"Nie wieder werde ich -"
"- dies eine Mal war weit genug. Ich möchte gehn, da­mit sei­nen Kleidern nicht länger ein Leid geschieht."
"Erst - bitte - gehe ich hinaus. Folgt mir nach, wenn ich nicht klopfe, in zweimal zehn Schritten Zeit."
"Ich frage mich, wenn - wie er sagt - er nächtens seine Klin­ge kreuzt: Wo ist sein Mut am Tage?"
"Um MEIN Leben hab' ich keine Furcht, die Sorge gilt nur EUCH."
"Ritterlich sind seine Worte, das ist gewiss wie un­ser Dank."

Chapter 67. Puppentest bei der Prinzessin

"Ich glaube, ich würde ein Abenteuer nicht erken­nen können?", sagte Baldeina. "Vielleicht bin ich schon an einem vorbei gegangen, ohne es zu merken, was denkst du?"
"Ich glaube, es ist anders. Das Abenteuer kommt und sucht sich jemanden aus. Dann geht es zu ihm hin und schüttelt ihm die Hand, redet vielleicht solange auf ihn ein, bis es erkannt wird."
"Du meinst also, nicht ICH bin an den Abenteuern vorbei­gegangen, sondern DIE sind an MIR vorbeigegangen? "
"Uhum, so ungefähr."
"Ganz schön eingebildet sind sie, deine Abenteuer, sage ich! Ich kann sehr gut ohne sie aus­kommen! Vielleicht trauen sich deine Abenteuer auch nur nicht, mich zu fra­gen, weil sie eine Antwort bekommen würden, die sie -"
Woi war plötzlich aus dem Bett gesprungen, weil er ein Ge­räusch gehört hatte, das wie das Zischeln einer Schlan­ge war. Als er auf den Boden sah, ent­deckte er, dass un­ter ihrer Türe langsam ein Pa­pier hin­durchgeschoben wur­de. Schnell fasste er den Türgriff, aber die Tür war von außen verschlossen. Und sie hielt stand, obwohl er sich dagegen stemmte.
"Die Tür hat jemand von außen gut zu­gemacht", stellte er fest. "Viel­leicht steht was auf dem Zet­tel. Lies du mal, Bal­deina, er ist ja für uns bei­de."
Baldeina besah sich den Zettel lange: "Es ist ein Plan für den Weg, den wir einschla­gen sol­len. Aber was dort ist, steht nicht drauf. Es wäre bes­ser, wir wüssten es. Mir wäre woh­ler dabei."
"Das ist das Aben­teuer!", rief Woi. "Du merkst auch gar nichts! Kannst du den Plan le­sen?"
"Doch", sagte Bal­dei­na, "glaub' schon, aber wenn die Tür zu ist, kommen wir nicht raus, da kann ich den Plan lesen, wie ich will."
"Die Tür ist wieder auf!"
"Das kannst du doch gar ­nicht wis­sen!"
"Ich weiß es eben, weil ich Abenteuer kenne."
Und so war es, stellte Baldeina fest. Die Tür war nicht mehr abgeschlossen. Woi gürtete sich bereits seinen Dolch um und zu nochmaligem Zögern tat es ihm Baldeina nach.
Mit dem Plan in der Hand such­ten sie ihren Weg, ließen sich von anhänglichen Au­gen und von of­fenen Mündern nicht ab­drängen, fan­den ih­ren Weg durch vie­le Fra­gen hin­durch und hatten schließlich alle Verfolger abge­schüttelt.
"Hier ist es", sagte Baldeina und zeigte auf die schmale Trep­pe, die tat, als ginge sie das alles nichts an.
Mit jedem ihrer Schrit­te hinauf bedeutete ihnen die Treppe, dass sie völlig falsch waren, beklagte sich über die doppelte Beschwernis, prote­stierte laut, weil Bal­deina ihr fast das Geländer abbrach, und schwieg end­lich dro­hend, als die beiden sie nicht wei­ter be­achte­ten.
Weil die Tür am Ende dieser Treppe nur angelehnt war, wusste Woi, dass sie richtig waren. Im Raum, den sie be­traten, drängten sich ihnen Klei­der­pup­pen in allen Grö­ßen und Damengewändern entgegen, schub­sten sich kräf­tig, wo sie nicht auf Angenähtes acht­geben muss­ten, und ar­bei­teten sich mit den Schultern nach vorne, sofern es die anderen zuließen. Alle wollten sie in der er­sten Reihe stehen.
Die vorn Stehenden woll­ten nicht glau­ben, was sie sahen. Schnell sprach sich nach hinter her­um, dass die Neu­an­kömmlinge jun­ge Män­ner waren, die sich wohl ver­laufen hat­ten. Einige der Jüngeren began­nen, albern zu kichern, hier und dort stießen Schreie mit ihren Spitzen zusammen. In einer Ecke brachte sich ein leises Lied in Er­innerung, was wie­der an­dere leise zi­schend beendet sehen woll­ten, weil es ein wenig unan­stän­dig war.
Als Woi ei­nen Schritt nach vorne machte, wi­chen sie zu­rück, selbst die Frech­sten hatte gänzlich der Mut ver­las­sen. Auch Baldeina war neben seinen Freund getreten.
"Nein", sagte er, "hier sind wir falsch. Wir mussten be­stimmt eine Treppe run­ter, nicht rauf. Lass uns umkehren!"
"Ich sage dir, sie können nicht ein­mal einen Plan richtig lesen", sagte eine Stimme, die aus dem anderen Ende des Raumes kam,
"Sei nicht ungerecht", sagte eine zweite Stimme, "sie ha­ben uns doch gefunden. Es war gewiss nicht einfach."
"Zwei von den Puppen können spre­chen", sagte Woi und fügte hin­zu: "Eine redet sehr schlau daher."
"Sind wir also doch richtig!", stellte Baldei­na erleich­tert fest.
"Meinst du, sie sind sehr schüchtern?" fragte eine Stim­me.
"Nun hör auf sie zu är­gern! Wir werden sie noch ver­trei­ben", wies die zweite Stimme sie zurecht.
"Ein rich­tiges Abenteuer", sag­te Woi, "nicht wahr, Bal­dei­na, so wie wir es gerne haben. Zieh deinen Dolch! Ge­wiss wird es zum Kampfe kommen! Wir werden sie mit Waf­fen zwin­gen, uns ihr Geheim­nis zu verraten. Sie haben ei­nen Schatz ver­steckt, der bald uns gehören wird."
"Viel­leicht haben sie zwei Prin­zessinnen in ihrer Ge­walt", sagte Baldei­na.
"Ich hoffe nicht, dass du Recht hast", sagte Woi.
"Wie er das bloß gemeint hat?", fragte eine Stim­me in den Raum hinein.
"Ich glau­be, ein Schatz wäre ihm lieber", er­klärte Bal­deina vorlaut.
"Wir werden es nie erfahren", stieß Woi ihn an, "wenn wir nicht mit ihnen kämpfen! Also los, Rücken an Rücken wollen wir ste­hen und ihre hundert­fachen Schläge parie­ren."
"Ich glau­be", sagte die eine Stimme, "wir müssen ihnen sa­gen, dass wir sie nicht zum Kampfe gerufen haben, sonst werden die Tapferen uns die Pup­pen zer­hauen."
"Du är­gerst sie im­mer", hielt ihr die zweite Stimme vor. "Es soll doch ein Spaß sein."
"Also gut, kommt herüber, ihr Für­stensöhne. Nein, war­tet noch, bis wir euch er­klä­rt haben, was ihr zu tun habt."
"Es war ihre Idee", entschuldigte sich die zweite Stim­me.
"Aber du hast gesagt, sie gefällt dir!"
"Baldeina, du hattest recht. Es ist kein Schatz, bloß Prinzessin­nen" flüsterte Woi.
"Schschtt, Woi, wir wollen se­hen, was sie vorhaben."
"Wir sind die beiden Prinzessinnen, aber ihr werdet uns nicht erkennen, weil wir uns verkleidet haben. Das heißt, eure Augen wer­den uns nicht unter­scheiden können. Ihr müsst uns dennoch erkennen. Hört auf das, was euch eure Herzen sagen. Wir wollen sehen, ob ihr uns danach unter­scheiden könnt."
"Ist das aufre­gend", sagte Woi und blies sich die Bac­ken auf.
"Ihr könnt jetzt kom­men", riefen zwei Stimmen gleichzei­tig.
Woi und Baldeina gingen nach vorne, durch die Rei­hen der Kleiderpup­pen hindurch , die ängstlich nach ihren Dol­chen sahen.
An der Wand auf ei­nem kleinen Podest standen zwei Mäd­chen. Sie waren beide gleich groß, hatten densel­ben weißen Rock, den sie der Länge wegen hoch­gerafft hat­ten. Ihre weißen Füße standen im Schühchenquartett zueinander. In ihrer starren Aufstellung waren auch von Klei­der­puppen nicht zu unterscheiden.
"Du kannst zuerst wählen, Woi", sagte Baldeina.
"Nein, mach du. Als mein Freund darfst du zu­erst wäh­len."
Baldeina zeigte auf die linke von den bei­den: "Diese dort ist die Richtige!", rief er
Woi kniff die Augen zusammen und sah scharf hin. Erst sah er die eine an, dann die andere. Er war sich sicher, dass es unmöglich war, einen Unterschied zwischen den beiden zu entdecken. Baldeina hatte bestimmt zufällig seine Wahl getroffen!
"Ich kann das nicht", sagte er achselzuckend. "Ich fin­de, sie sind sich völlig gleich. Ich ... nein, ich geb es auf. Ein blödes Spiel ist das!"
Die Starrheit der beiden Puppen gefror und ­klagte an.
"Tut mir leid", sagte Woi, nachdem er sie noch einmal ins Visier genommen hatte, "für mich sind sie bei­de gleich."
Die Puppe, die rechts gestanden hatte, sprang nun vom Po­dest und rannte zwi­schen ih­nen hindurch. Schnell rannte die andere Puppe ihrer Schwe­ster nach. Verdutzt sahen ihnen die Kleiderpuppen und die Fürstensöhne nach.
"Wie schaffst du es nur" frag­te Baldeina, "dass sie immer weg­rennen?"
"Das kann man nicht ler­nen", ant­wor­tete Woi.
"Warum hast du dich nicht für die entscheiden, die übrig war? Es war doch so einfach!"
"Ich war mir nicht sicher. Sie waren sich zu ähnlich. Ich glaube, das mit dem Fluch stimmt doch."
"Aber wir hatten doch ausgemacht, dass ich zuerst aus­suche."
"Ich habe gedacht, du hast geraten. Wie hast du das bloß ge­wusst, welche die richtige ist? Sie waren sich doch völlig gleich!"
Baldeina war nicht wenig stolz: "Es ist einfach in mir drin! So et­was kann man nicht ler­nen."
"Ich verstehe, das ist wie bei Abenteuern. Die lassen sich ja auch nicht ler­nen", sag­te Woi und war eigentlich mit seinem Schicksal zu­frie­den.

Chapter 68. Abschied bei Tesla

Tage waren vergangen. Tesla wusste, die Zeit zu verab­reichen wie ein Medikament. Als ihm die Ungeduld nicht mehr erträglich war, traf ihre Nach­richt ein. Das Mädchen sei krank, ob er komme, sie zu pflegen.
Als liege alles hinter ihm, brach er auf. Nahm einen Um­weg, um den Men­schen nicht in Augen sehen zu müssen. Als ein Spion schlich er sich den schmalen Pfad ent­lang, als Verworfener, als Glücklicher. Das Stoff­tier, das er Dahima schenken wollte, trug er wie eine Ket­te um den Hals. Er ließ zu, dass es in sei­ne Haut schnitt.
Die Luft zit­terte, die Häuser wür­den auf ihn her­abfal­len, die Schreie der Vögel ihn begraben, wenn sein Herz so wild pochte. Er watete durch die Wärme­lachen des Abends auf den Gassen und hielt die Luft an, um nicht er­stic­kt zu sein, ehe er zu ihr ge­lang­te.
"Sie ist oben", sagte Tesla, "und hat nach ihnen ver­langt."
Er ergriff die Hand der Blinden, küsste sie, wusste nicht, wofür. Und schämte sich nicht, dass sie ge­wahr wurde, wie krank er geworden war.
Jeder Schritt die Treppe hoch musste erobert wer­den. Als kleiner Jun­ge hatte er sich ausgedacht, wer die Stufen zählt, ihre Höhe nicht zu fürchten braucht. Seit­dem hatte er sich angewöhnt, sie zu zählen. Jede Trep­pe am Hof kannte er und wuss­te ihre Zahl. Doch diese Stufen hatte er ver­gessen zu zählen!
Wie konnte er die Tür öffnen, ohne anzu­klop­fen? Wie sprach er die Schlafen­de an, wenn er in ihr Zim­mer tritt?
Dahimas Gesicht wandte sich der Wand zu. Das schwarze Haar war sich selbst überlassen. Ein Arm streckte sich nach ihm aus, der andere schlief fest bei ihr unter der Decke. Ne­ben ihrem Bett stand ihr Nacht­topf. Der An­blick er­schreckte und erregte ihn.
Weil sie krank war, räumte er ihre Sachen auf. Er legte sie schön gefaltet vor das Fußende ihres Bettes. Ihre waren ein­fache Kleider. Die schönsten und kostbarsten Stoffe würde er ihr dafür schenken. Niemals hatte sie sol­che gesehen und musste stumm sein vor Entzücken.
Er nahm sein kleines Stoff­tier vom Hals und setzte es auf ihre Kleider. Fast fröh­lich be­trachtete es die Füs­se sei­ner neuen Besit­zerin.Er setzte sich vorsichtig an ihre Seite, damit ihr Schlaf keine Druckstelle bekam.
"Töchter­chen", sagte er leise. Warum hatte er so etwas gesagt? Und doch fühlte er, dass es aus seinem Herzen kam. Dann war es gut. Es war, wie es war. Er wollte nicht dar­über nachden­ken.
"Töchterchen", sagte er noch einmal. Er strich über ihr Haar. Wie fremd diese Hand ihm war, wie vertraut das fließende Schwarz! Er be­rührte ihre Wange so vorsich­tig, so inniglich.
"Ich bin schwach", sagte sie. "Wirst du deinem Kind die Haare kämmen wollen."
"Ja, das will ich gerne für mein Kind tun, dass es schön ist, schöner, als seine Mutter je war."
Als sie sich aufsetzte, berührte ihre Wange sein Ge­sicht. Fast hätte ihn dieses Nichts vom Rand des Bettes gesto­ßen. Eingeladen, sich betäuben zu las­sen, floss nun ihr herr­liches Gift in seinen Adern.
Schwer lag die Bürste ihm, dem Ungeübten, in der Hand. Mit jedem Strich wurde ihr Haar schwärzer, bis es mit Men­schenhaar nichts mehr gemein hatte. Sagten die Menschen in sei­ner Heimat nicht, dass die Haare der Liebesgöttin so schwarz sind, dass die Nacht darüber zum Tage wird.
"Wie gut du mir bist. Die Nacht lag dein Mädchen wach. Die Dunkelheit hat ihm Fieber gemacht. Wirst du ihm den Kör­per waschen?"
"Das will ich wohl. Verlange von mir, was du willst."
Dahima stieg aus dem Bett wie ein Schwache, sah den Nachttopf, sah, dass seine Blicke sich dort brachen. Sie hob sich das Kleid und setzte sich darauf. Er war wie er­starrt. Während sie ihr Wasser plätschern ließ, sah sie ihn mit großen Kinder­augen an. Als sie ein gehauchtes Tön­chen hö­ren ließ, füllten sich ihre Au­gen mit Scham.
Er kniete vor ihr, als er mit einem Schwämmchen über ihre Beine strich. Immer wieder machte er ihn feucht, und immer wieder hob sie das Schlafkleid für seine sich sor­genden Hände. Keine Stelle ließ er aus. Nur einmal muss­te sie die Hand ihm führen.
"Du warst gut zu mir" sagte Dahima. "Zu schwach bin ich, um lauten Dank zu sagen. Hinle­gen will ich mich nun. Wie wun­derbar schliefe ich ein, wenn ich den Vater bei mir wüsste. Trag mich ins Bett nun, willst du? Decke mich zu und streichle mich, dass ich wieder einschlafe."
Er tat, wie ihm aufgetragen war. Er würde sich an ihren Rücken schmiegen, wie sie es verlangt hatte. Seine grobe Klei­dung, die den Staub der Straße gesehen hatte, legte er ab. Sein Unterge­wand war vom selben Stoffe wie ihr Schlaf­kleid.
Er nahm das mitgebrachte Stofftier vom Boden auf und legte es ihr in die Hände, weil er wusste, wie Kinder sich be­ruhigen ließen. Ihre Hände befühlten das Stofftier und nahmen es freund­lich an.
Dahima drehte sich - als achte sie nicht darauf - in ihre Decke. Er starrte auf ihren Rücken, der kaum zur Hälf­te be­deckt war. Sie bohrte ihren Finger­nagel in den Leib des Stofftieres, riss die Naht auf und zog etwas her­aus. In den Hän­den hielt sie eine Spange. Sie hatte die Form und den wei­ßen Glanz des halben Mondes, und war schö­ner als alle Mon­de in allen Nächten zusammen.
"Ich träumte davon, dass ich etwas sehr Verbotenes tue", flüsterte er in ihr Ohr. "Nun fürchte ich mich davor ..."
"Schsch, still", kam es leise zurück. "Was wissen denn Träu­me von Verboten?"
Dann weinte Dahima, ganz für sich, weil die Span­ge, die sie in ihren Händen hielt, so ohne jedes Maß schön war.
"Ich habe geglaubt, ich könnte es ertragen", sagte er leise.
"Darf ich die Spange behalten?", fragte sie.
"Du darfst nicht an mich denken, versprichst du das?"
Sie hatte ihn nicht gehört, hielt die Spange hoch, ge­gen das Fenster, durch das ein schma­ler Mond hin­einsah, und dachte, dass die Nacht für ihr schwarzes Haar keine schö­nere Span­ge besaß als die, welche Dahima in ihren Händen hielt.
Leise schloss der Mann die Tür. Die Stufen, die hinab­führten, machten ihn schwindelig. Er begann sie von oben zu zählen. Wie leicht war es, hinabzustür­zen, wenn man ihre Zahl nicht wusste.
Tesla saß an ihrem Tisch und hatte ihr Wissen in den Händen liegen.
"Was raten sie mir?", fragte der Mann.
"Sie können Dahima nicht besitzen", antwortete Tes­la. "Es wür­de ihnen nicht anders ergehen als einem Dieb, der im Tempel stiehlt."
"Ich verstehe", sagte der Mann. Er war ein Diener und konnte nur einen Traum besitzen, nichts als einen Traum, wenn er ihn heimlich hielt.
"Sie sind mir einen Rat schuldig", sagte Tesla
Der Mann stand und hatte kein Leben in sich.
"Sprechen sie", forderte Tesla ihn auf. "Sie wissen, wor­über sie sprechen sol­len."
"Ich höre Dinge ...", der Mann zögerte, gab sich dann aber einen Ruck: "Wenn es stimmt, was geflüstert wird - ich bin geneigt, es zu glauben - dann hat er bestimmt, dass nicht seine Frau ihm als Kaiserin nachfolgen soll!"
"Das KANN nicht sein!"
"Es sind die Zeichen: Das Testament bleibt ungeöffnet, der Hofmarschall trägt sein grimmigstes Gesicht, der Rich­ter ist zu jedem freundlich. Besorgnis lese ich in den Blicken der Eingeweihten."
"Ihr meint, er hat IHN, meinen ... unseren Sohn be­dacht?" Dies eine Mal nur hatte Tesla die Stimme gesenkt.
"Wenn nicht die Kaiserin, wen dann, frage ich!"
"Weiß sie es?"
"Ich denke, erst wenn sie die Macht fest in den Händen hält, wer­den sie das Testament vor ihr verlesen."
"Dann ist es Zeit, Vorsorge zu treffen."
"Das wäre mein Rat", sagte der Mann und verbeugte sich.
Als er ging, trug er an einer neuen Schwere. Sie saß wieder auf seinen Schultern, aber mit ihr war die Angst in sein Herz eingezogen, tiefer als jede Sehn­sucht.

Chapter 69. Krönung der Puppe

"Bist du nicht einer von den Fürstenjungs", fragte der Wachsoldat. Sein Gesicht war mit Pocken über­sät, die sich im Licht der Nacht wie Löcher in seiner Haut aus­machten. Ein Stück von seiner Oberlippe fehlte.
Er war ein Riesen­kerl, einen Kopf größer als Woi, und hatte sich direkt vor ihn hingestellt, aber Woi wich keinen Schritt zurück.
"Ja, du bist einer von den Fürstenjungs", stellte der Soldat nach der atemnahen Durchsicht von Wois Gesicht fest. "Ich habe dich mit deinem Freund gese­hen. Das ist doch so ein ziem­lich Fetter, nicht wahr?"
"Bei uns zu Hause sind die Wachsoldaten nicht so ge­schwätzig", sagte Woi und sah ihn streng an.
"Alle Wachsoldaten schwatzen gern. Das weißt du nicht, weil du nichts weißt. Was machst du überhaupt hier? Haben sie vergessen, dich ins Bett zu bringen? Es muss ja so an­strengend, den gan­zen Tag nichts zu tun!"
"Lass ihn", sagte der andere Wachsoldat. "Du kriegst nur wieder Ärger. Was legst du dich immer mit sol­chen an?!"
Der Pockennarbige führte sein Gesicht ganz nah an das von Woi. "Ich lass ihn ja in Ruh. Der macht sich doch gleich nass!"
"Wer hat dir denn die Lippe angebissen?" fragte Woi freundlich. "So etwas würde ich nie machen. Du redest zwar dumm daher, aber ich finde, das ist kein Grund, dir ein Stück von der Lippe abzubeissen?"
Dem Wachsoldat zuckte vor Wut das Kinn. Sein Kollege zog ihn an der Schulter von Woi fort und gab ihm einen knap­pen Befehl. Sie zogen sich beide in den Schatten des Tores zurück.
Woi war zufrieden, dass ihm das mit der Lippe einge­fal­len war. Eine Moment lang war er doch sehr über­rascht ge­wesen, dass der Wachsoldat ohne Grund einen Streit mit ihm ge­sucht hatte.
Er war noch früh. Eine Zeitlang würde er noch war­ten müs­sen. Deshalb stellte er sich so, dass die Wachso­lda­ten ihn nicht sehen konnten.
Im Haus gegenüber zeigte sich ein junges Mädchen. Sie trug die Haare offen zur Nacht, wollte nur kurz nach den Blumen sehen. Heute war der pockennarbige Soldat, der sie immer so beobachtete, nicht da. Noch niemals hatte er ein Wort zu ihr gesagt. Vielleicht durfte er nicht spre­chen. Es war ja immer einer dabei, der auf ihn auf­pass­te. Schnell verschwand sie wieder im Haus. Geräusch­voll schob sie den Riegel von innen vor.
Eine alte Frau kam die Straße entlang. Sie schüttelte den Kopf, während sie ihre Füße über das Pfla­ster zog. Alle paar Meter nahmen ihre Füße und ihr Kopf eine Pau­se. Dann setzte sie schlürfend und kopfschüttelnd ihren Weg fort.
Während Woi ihr nachsah, trat ohne jeden Laut eine kleine Ge­stalt an ihn heran. Zuerst er­kannte Woi ihn nicht, weil der Zwerg ihm sein Lächeln zu­wandte. Auf seine Zähne hatte Woi noch nicht geachtet. Sie waren nach unten spitz zu­geschliffen. Sein Gebiss sah dem eines kleinen Raubtier ähnlich. Er muss­te un­menschli­che Schmer­zen beim Abschlei­fen erduldet ha­ben.
"Ist das dein kleiner Bruder?" fragte der Wachsoldat mit dem Narbengesicht von hinten. Es war wieder eine Frechheit von ihm, denn Woi und der Zwerg sahen sich überhaupt nicht ähnlich!
"Lass ihn", sagte der Zwerg, als Woi auf den Soldaten zugehen wollte. Er hielt ihn mit der Hand am Arm zurück. Der Sol­dat trat auf sie zu und sah gebannt auf die Hand des Zwer­ges, der sie schnell zurückzog.
"Was ist das auf deiner Hand da?" fragte der Soldat.
"Ein Hand eben. Ein bißchen Tinte", antwortete der Zwerg, ohne ihn anzusehen.
"Komm, es ist Zeit zu ge­hen", sagte er zu Woi.
"Ich habe gefragt, was das auf deiner Hand ist" kam es böse von dem Soldaten. Als er keine Antwort bekam, sagte er: "Ich habe es gesehen. Ich kenne das. Es ist der ge­spaltene Drachenkopf."
Der Zwerg zog Woi auf den Weg zu den Häusern.
"Halt", rief der Soldat, "so leicht kommst du mir nicht davon!"
Sie waren schon zwischen den Häusern, als Woi bemerkte, dass der Soldat ihnen folgte. Er stieß den Zwerg an und sagte: "Er geht hinter uns her. Was wollen wir machen?"
Der Zwerg lächelte sein spitzgeschliffenes Lächeln. "Wenn er es nicht besser weiß ... Er wird uns nicht lang fol­gen können."
"Warum nicht?" fragte Woi.
Der Zwerg antwortete nicht, sondern setzte ohne besonde­re Eile seinen Weg fort. Als sie an einem Haus vor­beika­men, das unbewohnt schien, machte der Zwerg an einem Fen­ster ein Klopf­zei­chen. Dann ging er weiter, ohne zu war­ten, dass jemand herauskam.
Der Zwerg schritt nun kräftiger aus, als sei ihm die­ser Weg vertraut. Er führte sie in völlig freies Gelän­de. Als der Mond ein paar Wolken beiseite schob, um nach ihnen zu se­hen, hielt der Zwerg an. Mit der Dunkelheit setzte er seinen Weg fort.
Am Fuße einer kleinen Anhöhe hielt der Zwerg an. Er holte zwei Maske aus seinem Um­hang, und sah zu, wie Woi die seine über das Gesicht zog.
"Nie­mand soll uns beide zu­sammensehen", erklärte er, indem er auch seine Maske überzog. "Ver­giss für ein paar Stunden, dass du einen Namen hast. Steh einfach nur da. Es ist das Beste."
Woi sah sich um, ob der Soldat sich nicht versteckte, um sie zu belauern. Er wollte nicht glauben, dass dieser sich so leicht hatte abhängen lassen. Doch ausser ein paar Bäu­men, denen alle Äste angeschnitten waren, und einer schräg stehenden Steinplatte war nichts zu sehen.
"Du darfst nicht sprechen", erklärte der Zwerg. "Deine Stimme könnte dich verraten."
Sie muss­ten war­ten, bis es stockduster geworden war. Dann erst zog der Zwerg Woi mit sich fort. Sie gingen in Rich­tung der Stein­platte und betraten so plötzlich eine Trep­pe, dass Woi vor Überraschung beinahe gestol­pert wä­re. Es ging ein paar Dut­zend Stufen hinunter. Am Ende wur­den die Stufen brei­ter. Kleine Fackeln an den gemauerten Wän­den be­leuchteten den türlosen Zu­gang zu einer niedri­gen, aber brei­ten und langen Halle.
Dort hatten sich bereits viele Zuschauer versammelt, die sich in drei Gruppen von jeweils einem Dutzend Personen teilten. An der Stel­le, wo sie selbst sich auf­stellten, löschte der Zwerg das Kerzen­licht an der Wand. Nie­mand sah sich nach ihnen um. Keiner im Raum sprach eine Wort.
Vorne stand eine Art Thron, der in dunklen, im Licht bläu­lich schim­mernden Stoff gehüllt war. Armlehne und Bei­ne waren mit Silber be­schlagen. Die Rüc­kenlehne reichte bis unter die Decke. Das Kopf­teil stellte einen Drachen­kopf dar, der gespalten war, als sei ihm gera­de der Kopf mit einer Axt in zwei Stücke ge­hauen worden.
Ein Mädchen betrat den Raum mit einer Puppe im Arm, sie sie auf den Thron setzte. Anschließend begann sie, die prachtvol­len Kleider der Puppe zu ordnen. Als sie auch die Haare glattgestrichen hatte, trat das Mädchen zur Sei­te. In den Händen hielt sie jetzt eine sil­berne Krone, die ei­nen ein­zigen schweren schwar­zen, fun­kelnd geschlif­fenen Stein trug.
Da erst er­kannte Woi das Mädchen wie­der. Es war dies­selbe, die er in der Nacht mit der blin­den Frau an der Bah­re des Kai­sers gese­hen hatte! Damals hatte sie einen Schleier getragen, aber ihre Haltung, die Bewegungen wie nach einer Musik, die sie allein für sich hörte - dies alles ließ sich nicht verwechseln.
Wäh­rend der ganzen Zeit sah Woi das Mädchen an. Er ver­such­te, sich ihr Äuße­res ein­zu­prägen, damit er sie wie­der­er­kannte. Aber es war ihm nicht ­möglich. Wenn er ein Bild von ihr abnehmen wollte, fiel es zu Boden und zer­brach.
Langsam ging das Mädchen auf den Thron zu. Dort verneig­te sie sich tief. Alle anderen verneigten sich mit ihr und hiel­ten die Köpfe gesenkt. Der Zwerg stieß Woi an, weil er immer noch das Mädchen anstarrte, ohne sich verbeugt zu haben.
Dann setzte sie der Puppe vor­sichtig die Krone auf. Ei­ner nach dem an­deren tra­ten die An­wesenden vor und küss­ten der Puppe den Fuß­saum. Das Mäd­chen stand so ohne Re­gung neben der Pup­pe, dass man den­ken konn­te, die beiden seien ein Paar.
"Wir brauchen nicht nach vorne", flüsterte der Zwerg. "Komm, wir wollen als erste hinaus! Sie sollen uns nicht nachsehen können."
So schlichen sie sich fort, heimlicher noch, als sie gekommen waren. Sie gingen den Weg zurück. Diesmal be­traten sie das verlassene Haus. Dort zeigte der Zwerg auf ein Zimmer, das Woi öffnen soll­te.
"Hinter der Tür war­tet eine Wiedersehensfreude auf dich", flüsterte er. "Du hörst von mir, wenn etwas soweit ist."
Als Woi die Klinke drückte, fiel ihm die Tür ins Ge­sicht und der völlig betrunkene, pockennarbige Soldat hin­ter­drein in die Arme.
"Sie", lallte er, "haben mich so gemacht, deine Freun­de, schöne, die du hast ... ich kann selber laufen, du und dein wenn-ich-den-seh, ich brauch euch nicht."
Woi sah sich um, aber der Zwerg war verschwunden und hatte ihn mit dem Betrunkenen allein gelassen.
"Bist du nicht der, wer mir in meine Lippe abgebissen hat?", jammerte der Soldat. Dann ließ er sich von Woi am Arm fassen und langsam aus dem Haus steuern.
Der Soldat hatte keine Waffen mehr. Seine Uniform war aufgerissen und überall mit Schnaps bekleckert. Er glotzte sein Bild in einem Fenster an und war nicht fortzubewegen.
"Ich bin euch gefolgt, aber, nicht wahr, hab euch fast erwischt, da war was und ihr wart fort und habt mir eine Falle gestellt, ihr Gemeinen!", jammerte er weiter.
In den oberen Fenstern zeigten sich müde Ge­sichter, wäh­rend vor den un­teren überall die Holzblenden herumgeklappt wurden.
"Niemand macht mir Angst, hört ihr! Niemand von euch und niemand von den anderen!" Er polterte mit den Fäusten ge­gen die Holzblenden, und Woi musste ihn immer wieder stüt­zen, damit der Soldat dabei ihm nicht umfiel.
"Kann ich helfen?", hörte er hinter sich eine Stimme, die einem Unteren gehörte, der Woi beiseite zog, und dem Soldaten seinen Arm reichte.
"Ja, da endlich seid ihr da!", jubelte der Soldat und fiel dem Unteren in die Arme.
"Kommt, kommt mit!", rief er, als die beiden anderen Sol­daten ihn emporgezerrt hatten. "Ich zeig euch meine Falle, wo die mich gemein be­trun­ken machten, weil ich sie verfolgt hab, ich zeig sie euch. Kommt mit, da werdet ihr staunen, werdet ihr, staunen ..."
"Ich staune auch so", zischte der Untere und fasste zu­sammen: "Eigenmächtig von der Wache entfernt, betrunken wie eine Fassratte, die Waffen verloren oder verkauft, ein Aufruhr vor allen Leuten und handgreiflich werden ge­gen unsereinen."
"Den gespaltenen Kopf, kenn ihn doch!", protestierte der Soldat.
"Warum säufst du dann so einen billigen Fusel?", knurrte der Untere.
"Ich mein' dem Drachen sein Kopf, mit der Axt mitten­drin!" Der Soldat wollte zum Schlag ausholen, um seinen Kameraden zu zeigen, was er meinte, aber der eine Soldat packte sei­nen Arm von hinten, und der andere klemmte sei­nen Kopf ein. Als der Poc­kennarbige etwas von einer Falle rief, bekam er vom Unteren einen jaulenden Tritt in die Seite.

Chapter 70. Ken und die Prinzessinnen

Die Stallungen waren riesig. Ohne Ende reih­ten sich die Pferde­bo­xen aneinander. Weil die Tür hinter ihnen zu­gefallen war, fassten sich Nadim und Dessa, mut­los ge­worden, an den Händen. Es roch für die Na­sen von Prin­zes­sinnen ausgespro­chen unfein. Überall ra­schelte es, und sie hofften, dass es nur die Pferde wa­ren und keine Tiere, vor denen sie sich fürchten müssten.
"Hallo?", rief Nadim.
"Hallo?!", riefen Nadim und Dessa gemeinsam.
"'Hallo' ist hier und hat zu tun", antwortete ihnen eine Pferdebox.
Sie traten heran, aber sahen nichts, als das gewaltige Hinterteil eines Pferdes. Es besaß einen seidig gepflegten Schwanz und begrüßte sie, indem es mit dem Huf gegen das Gatter der Box schlug, dass es zitterte.
"Was wollt ihr von mir", sagte das Pferd mit hoher Stim­me. "Woher wisst ihr, dass ich sprechen kann. Hat euch mein Stalljunge, der gute und tüchtige Ken, das gesagt?"
"Nein, nein", sagte Dessa eilig. "Niemand hat uns etwas verra­ten. Wir wussten nicht ein­mal, dass ihr sprechen könnt, und ein Ken ist uns gänzlich unbekannt."
"Für ein so großes Pferd hast du aber eine sehr hohe Stimme", sagte Nadim und stellte sich vor ihre Schwester.
"Das ist", sagte das Pferd und schien zu überlegen, "weil ich einen Mund zum Essen habe und einen Mund zum Sprechen. So ist das."
"Ah, so. Ich verstehe. Und wo bitte ist dein Mund zum Sprechen."
Das Pferd schlug mit seinem Schwanz hoch. "Habt ihr ihn gesehen", fragte es. "Unter meinem Schwanz ist er. Während ich vorne Hafer kaue, kann ich mich hinten unter­halten."
"Baah! Pfui!", schimpfte Nadim ihn aus. "Du bist ein Spitzbube. So etwas erzählt man Damen nicht. Und wir sind die Prin­zessinnen, dass du es weißt."
"Oh", sagte die Stimme, "das wusste ich nicht. Wisst ihr, ich kann mit meinem Hin­terteil nur sprechen, nicht se­hen. Da werdet ihr mir sicher verzeihen können."
Dessa kicherte, als sie einen Jungenkopf zwischen den Beinen des Pferdes hervorkommen sah. Nadim wollte sie fortziehen. Sie war immer noch böse, aber Dessa hielt sie zurück. "Wä­re der nicht richtig für uns, Nadim? Überleg doch mal!", sagte sie.
"Wenn ihr die Prinzessinnen seid, dann bin ich Ken", sagte der Junge. Seine schwarzen Haare wuchsen wie un­durchdringlich rauhes Moos auf seinem Kopf. Seine Augen glitzerten frech, als er ihnen seine Hand zur Begrü­ßung ausstreckte.
"Meine Hand bekommst du nicht", sagte Nadim. "Du willst wohl, dass sie so schmut­zig wird wie deine?"
"Nun lass ihn doch", beschwichtigte sie Dessa. "Wir müssen ihn ein wenig saubermachen und ihm Kleider anzie­hen."
"Spielt ER denn gerne Streiche?", fragte Nadim.
"Er, Ken, spielt gewiss gerne Streiche, aber es hat sich ausge­spielt, hat der Meister gesagt. Noch ein Streich, hat er zu Ken gesagt, und er kann die Kühe hüten gehen. Und Ken hat zu sich gesagt: Es hat sich ausgespielt, Ken, nur dass du es weißt!"
"Was würde er dazu sagen, wenn aber ein Streich erlaubt wäre?"
"Er würde denken, dass es ein Streich ist, den man IHM spielt. So ist Ken eben, ich kann nichts daran machen!"
"Aber ihr könntet doch mit diesem Ken sprechen und ihm ein Eh­renwort geben, dass es kein Streich ist."
"Hmm, tja", überlegte er. "Er ist klug dieser Ken, aber neugierig eben auch, da könnte ich schon mein Wort bei ihm für euch einlegen."
"Ich habe mir diesen Streich ausgedacht", erklärte ihm Dessa. "Wir wollen dem Woi, das ist der Sohn von einem Fürsten, einen Streich spielen, weil er meiner Schwe­ster einen Streich gespielt hat. Wir brauchen aber die Hilfe von ei­nem erfah­renen Streichespieler."
"Hm,hm", sagte der Junge. "Wenn dieser gewisse Ken euch hilft, ist er dann ein Ritter?"
"Ein Ritter für einen Streich, ja", sagte Nadim.
"Ritter reiten aber ...", kam es von Ken.
"Ja, sie reiten", sagte Dessa.
"Also, dann reite ich in meinem Streich?", fragte Ken. "Ich darf näm­lich nicht reiten ... nur heimlich."
Nadim und Dessa sahen sich an. Dann nickten sie bei­de.
"Natürlich wirst du reiten", sagte Nadim. "Wenn du ge­wa­schen bist und wir dir Kleider angezogen haben, dann su­chen wir dir ein Pferd aus."
"Nehmt ihr dann dieses?"
Nadim sah sich das Pferd von der einen Seite an, ihre Schwester von der anderen.
"Ein schönes Pferd", sagte Na­dim.
"Ein prächtiges Ritterpferd", sagte Dessa.
"Hast du gehört, Pferd", rief Ken und gab ihm einen kräftigen Klaps, "wir spielen zusammen einen Ritterst­reich! Was sagst du jetzt?"
"Oh, Ken", sagte das Hinterteil des Pferdes, "das ist ja großartig. Wie ich mich freue?"
Nadim sah ihn dafür böse an. Ken sah schuldbewusst drein. Er schüttelte den Kopf. Solche Späße waren nicht Rittter­art. Er hatte verstanden. Sie brauchte es ihm nicht zu erklären.
"In unserem Streich bist du der Sohn von einem Fürsten", sagte Nadim.
"- und kommst von weither an diesen Hof", ergänzte Dessa.
Ken gab seinem Pferd einen Klaps.
"Und wo kommt er her?" fragte Nadim ihre Schwester. Dessa schüttelte den Kopf, weil sie sich noch nichts überlegt hatte.
"Reitervolk!", schlug Ken vor. "Wir leben in Zelten, die wir aus den Häuten unserer Feinde machen und trinken nur aus Schädeln. Jeder von uns hat minde­stens drei Frauen. Wenn sie nicht gehor­chen, dann schlagen wir ihnen mit den herumliegenden Knochen unserer Feinde auf den Kopf."
"Bisher hat er nicht EINMAL etwas Vernünftiges gesagt", sagte Nadim vorwurfsvoll zu ihrer Schwester. Des­sa stöhnte leise auf. Auch das Pferd schüttelte traurig den Kopf.
"Wenn ich nicht viel sage, dann könnte es klappen", sag­te Ken und überlegte. Vielleicht könnte er der taubstumme Sohn eines blinden Fürsten sein, der aber unermesslich reich war, weil er - als er noch sehen konnte - die ein­zige Tochter eines Sultans geheiratet hatte. Das wäre dann Kens Mutter. Er würde einen schwarzen Turban tragen und mit seinen Gold­zähnen lächeln. Sein Pferd würde er 'Wü­sten­wind' nennen.
Nadim nickte. "Wenn er anfängt zu reden, dann ist es aus. Es bleibt nur, dass er nichts sagt."
"Keeenn", brüllte eine Stimme den Gang entlang. "Kee­enn! versteckst dich wieder, was? Denk an die Kühe, lang seh ich nicht mehr zu!"
"Seid ihr wirklich ehrlich die Prinzessinnen? Ich muss mich darauf verlassen können", flüsterte Ken. "Gebt mir euer Wort drauf!"
Nadim drückte ihm die Hand. Dann fiel ihr ein, wie schmutzig seine Hand war, und sie wischte sie an seinem Pferd ab.
"Ich habe zu tun!", rief Ken in den Gang.
"Das will ich hoffen", rief der Gang zurück. "Sag nur: Ist es das, was ich ge­sagt habe, oder ist es das, was ich denke?" Die Stimme ge­hörte zu einem Mann, der die gelben Zähne von einem Pferd besaß und auf einem Strohhalm kau­te.
"Was ist das denn für ein Besuch?" fragte er erstaunt. Er trat nah an Nadim heran, weil er nicht gut sah und im Stall war es noch schlechter. Er schnupperte an ihr und an ihrer Schwester.
"Es sind nur die Prinzessinnen", sagte Ken. "Es geht da um eine Sache, über die ich am besten nicht spre­che."
"Das ist in der Tat das Beste", sagte Nadim.
"Und wir sind wirklich die Prinzessinnen", be­schied ihn Dessa.
"Und das hat sich dieser Frechbeutel nicht ausgedacht?" frag­te der Mann misstrauisch.
"Wir sind wirklich die Prinzessinnen und möchten, dass Ken uns hilft", sagte Nadim mutig.
Der Mann schnupperte noch ein bißchen, dann gab er sich zufrieden. "Mir war er noch nie 'ne Hilfe", brummte er, "da glaub' ich nicht, dass er euch eine ist."
"Es ist aber eine spezielle Sache", sagte Dessa.
"Der Bursche kann nicht mal einfache Sache. Je nachdem ist er zu dumm oder zu faul!"
"Aber es ist abgemacht, wenn wir es wünschen?", fragte Dessa.
"'türlich ist es das. Bin ja nur überrascht. Habe so oft ge­träumt, dass ihn ei­ner wegholt ... nun endlich ist einer gekommen!"
"Er meint es nicht so", sagte Ken leise und war froh, dass ihm die Prinzessinnen ihr Wort gegeben hatten.

Chapter 71. LoBe mit Gedicht

"Li", rief LoBe und kam gerannt, die Hände auf dem Rüc­ken haltend. Sein Bauch tanzte den Gang hinunter, und sein restlicher Körper versuchte vergeblich, den Takt zu fin­den. "Dein Hofpoet hat ein Gedicht ge­schrieben! Wirf dich vor sei­ne Füsse und bettle dar­um! Sag, dass du zu allem be­reit bist. Kein Verspre­chen zu hei­lig, kein Plan zu verderblich, kein Vorha­ben zu nied­rig, kein Boden zu schmutzig, wenn du es nur lesen darfst!"
Li sah sich um. Es war niemand da. Sie hätte sich hin­knieen und in LoBes Worten um sein Gedicht flehen können, aber dieser würde den Spaß nur immer weiter treiben, bis er genü­gend Zuseher hat­te.
"Also gut", sagte sie schließlich und ernst, "zeigt mir, was ihr bei euch habt."
LoBe streckte seine Hände aus. Sie waren leer. Traurig­keit zerdrückte ihm das Gesicht.
"Liebste Li, komm mit auf mein Zim­mer", bat er. "Du musst mir das Ge­dicht mit dei­nen feinen Fin­gern aus der Fla­sche her­ausholen."
"Was für ein Gedicht, das sich vor euch in einer Flasche versteckt. Das war nicht klug von ihm. Da findet ihr es leicht."
"Bitte, Li, ich ertrage keinen Spott. Wenn du sagen willst, dass ich ein Trinker bin ... ich ließ die Fla­sche stehen! Denn schade wäre es um das Ge­dicht, wenn ich sie leerte."
LoBe führte Li durch einen Gang, der zum Ende hin so nied­rig und schmal wurde, dass sie gebückt gehen muss­ten. Sein Zimmer war gerade so hoch, dass es für einen in die Breite gewachsenen Menschen zum Stehen reichte.
Auf einem Stehtisch stand eine halbvolle Fla­sche Wein, darin, in den Hals gerollt, ein Stück Papier. Das Bett be­fand sich in einem aufgelösten Zu­stand. Die Bettdecke hätte sich nicht dünkelhaft über eine gebrauchte Tisch­decke erheben dürfen.
Ein bein­dickes Rohr lief an den Wän­den hoch, quer über die Decke, die Seiten her­unter, schien verwirrend aus al­len Rich­tun­gen zu kom­men, um sich in LoBes Zimmer zu treffen und aus­zu­tau­schen.
Vorsichtig reichte Lobe die Flasche. Im oberen Teil hielt sich das Papier fest. An seinem Ende leck­te bereits der Wein.
"Ich bekomm es nicht her­aus", sagte er und zeigte Li zum Beweis den tauglichsten seiner dic­ken Fin­gern. "Ver­such es mal, Li. Du hast fei­ne Fin­ger. Wenn ich mal tot bin und kein Fleisch mehr an mir ist, dann werd ich auch so weiße, fei­ne Fin­gerlein haben wie du."
"Ihr macht euch lustig", antwortete Li und hatte das Papier mit Leichtigkeit herausgeholt. "Hier habt ihr euer Gedicht zu­rück. Ich will es nicht le­sen."
"Nein, meine Li, abgemacht und ausgemacht - du das Papier und ich den Rest der Flasche."
Während Li las, trank LoBe aus der Flasche, leg­te sich mit gefalteten Händen auf sein Bett und machte ein beküm­mertes Gesicht. Wenn das Gedicht schlecht war, sah er sein Ende gekom­men und die Schar der Kno­chen­ritter mit den Sen­sen erhoben über ihm zum Schlag.

EIN SCHWEIN FRISST MEINE WOLKEN

Im Blaugras lieg ich augenfern
Und geh der weißen Herde nach.
Zu Kopf am Himmel steht ein Schwein
Es scheuch ich fortschweinwegdichsonst ...
Es rülpst für einen Donner gut
Und ist ein Schwein, ein rosa Schwein.
Die Schnauzenflinte schwenkt den Lauf
Es schleckt sich meine Wolken faul.
Und treibt zu Boden mit dem Bauch
Der vorne kaut und hinten drückt.
Wo ich die Stunden zotteln sah
Jagt nun der Wind den Winterfuchs.

"Hast du es gelesen?", fragte er tonlos.
"Aber ja doch! Es ist nur ein wenig fremd. Wenn ich ein Gedicht schreibe, dann male ich dazu. Es gehört zusammen und -"
"- dann male mein Gedicht!", rief LoBe und sprang aus seinem Bett. "Mein Gedicht bittet dich, es zu malen, bietet dir sei­ne weiße Haut an, die Schenkel, die Brust ... viel­leicht den Rüc­ken?"
"Ich kann ein solches Gedicht nicht malen. Wie soll ich ein Schwein ma­len, dass den Bauch voll Wolken hat, weil es den Him­mel leer­ge­fres­sen hat!?"
"Bist du ehrlich? ... Ja, sie ist ehr­lich! Dann ver­steht es nie­mand! Wenn es nicht gemalt werden kann, werden sie sagen: 'Wozu dann sollen wir es lesen?' Weißt du, was ich ma­che? Ich esse mein Ge­dicht auf! Dann ist es auf und fort und hat mich ein Stücklein satt gemacht!"
LoBe riss von seinem Bo­gen ab und stopf­te ihn sich in den Mund: "Iihh, bah, es malt sich nicht und schmeckt sich nicht, bahiih! Es ist ein schreckli­ches Ge­dicht. Zu nichts nütze, dieses Gedicht!"
"Ich will es schön aufschreiben mit meiner Schrift. Es ist ein ... ungewöhnliches Gedicht. Ich heb es auf, bis ich wirk­lich gut malen kann."
"Li, ein gutes Kind bist du, und verstän­dig wie­wohl­als­gleich. Hier, nimm es, ich vertraue dir. Sei meiner Ge­dichte Wächterin!"
Das Rohr in seinem Zimmer ließ ein bauchiges Knurren hören, dass knat­ternd in einem stoßartigen Angriff über­ging. Dann tön­te ein hohles Pfei­fen nach, das in zweiter Reihe gestanden hatte. Das Rohr musste sich sicher sein, dass niemand ihm zuhör­te.
"Die­ses Rohr läuft in jedes Zimmer", erklärte LoBe, sich im Kreise drehend, "in jeden Raum. Ohne dass jemand es gewahr wird, kann ich al­les, alles, ich sage alles, hören. Jedes flü­ster­lei­se Geheimnis, jeder scheue Hand­griff, jede noch so verborgene Tätigkeit. Nichts verbirgt sich vor mir! Ich weiß alles, es kommt zu mir, ich kann mich nichts da­gegen tun ..."
Aus dem Rohr kam ein gur­gelndes Ge­räusch, das im Zimmer umher­irrte, und sich mit einem entlaufenen Pfeifen zu ei­nem knotigen Kichern verband.
"Ich will nicht mehr jeden ihrer Für­ze hören! Versteht du das? Und wenn sie nicht furzen, dann scheissen sie. Und wenn sie nicht scheissen, dann schnarchen sie! Ich, ein Mensch, ein Dichter, ein Un­sterblicher, muss mir dies al­les anhören!" Aus dem Rohr kam ein dumpf aufsetztendes 'Jampff' und ein höhendes 'Lichli­cher stirbirb!'.
"Ich wer­de eine Rei­se antreten, allein oder in Beglei­tung einer jungen Dichterin. Sie wird uns in das Land der Verbannten führen. Dort werden wir weilen, wo über dem Vergessen die Er­innerung als ein Leichtes schwebt, wo die Sonne im im­merwäh­renden Abschied steht, wo der Todesbaum in un­sterb­lich weißer Blüte steht, wo die Menschen meine Worte trinken und ich ihren Wein."
"Meint ihr das ernst? Wovon werden wir leben auf un­serer Reise?"
"Wovon wir leben? Das sag ich dir! Ich besu­che meine Dich­terfreunde, von Stadt zu Stadt, von Hof zu Hof, von Huren­haus zu Hurenhaus werden wir eilen. In der letzten Kaschemme werden wir sie aufspüren, die Mannen des Dur­sta­dels! Sie waren alle schon bei mir, ihrem Hof­poe­ten, ih­rem Ober­sten, und haben ihre Seele freigeschwommen. Nun komme ich, begehe den Weg der letzte Eh­rung, ich, der König der Dichter ... und du bist meine Tochter! Aber nein, das glau­ben sie nicht! Du bist mein Königlicher Lehrling, ein jun­ger Mann, den sie dann nicht weiter be­achten werden. Das ist wohl gut so, machen sich doch man­che von ihnen gerne einen gro­ben Spaß mit den Schwachen und den Schö­nen."
"Wie gern würde ich euch auf dieser Reise begleiten! Ihr findet dort für euch die wunder­barsten Gedichte und ich für mich meinen Vater. Wenn ihr es nur wirklich ernst damit meint ..." Ihre Blicke flüchteten vor seinem Selbst­spott, der sich Worte suchte.
"Ernst, sagst du, soll es gemeint sein? Denkst du, dass der Ernst sich in meine Nähe wagen würde? Denkst du das? Ich bin ein al­ter Mann! Sieh nur an die dicken Hände! Sieh nur an das Grau meiner Au­gen, wie es schwimmt im trüben Gelb! Wärst du nicht eine Dame, ich könnt dir Dinge zei­gen, um die es noch viel schlech­ter steht!"
"Dann komme ich nie in dieses Land zu meinem Vater!", stellte Li ent­täuscht fest und hatte sich, ohne es zu bemerken auf das Bett ge­setzt.
"Li, ich sag heraus, du kennst die falschen Leute! Der Dichter, der ein freier Geist ist, hat keinen Körper, der für eine Reise taugt, die Sohlen gegen Blasen tauscht. Die Prinzessin, deine Freun­din, hat Reisefüße, aber Hochzeits­schuhe an! Warum machst du nicht Freund­schaft mit einem Seemann? Einem Hünen, der dich in sei­nen Sack steckt, zu den Broten, dem Schmalz und dem Schnaps, als Notpor­tion. Warum nicht Freundschaft ma­chen mit ei­nem Kauf­mann? Dem gibst du Gedichte, und er tauscht sie in Seide. So wird er reich und liebt dich wie einen Schatz! Wärst du dreißig Jahre früher gekommen, un­geboren sozu­sa­gen - du hättest auch in mir den Mann ge­fun­den, den du suchst." LoBe klapp­te mit der Hand das spaßma­cheri­sche Auge zu.
"Ich finde euer Gedicht nicht schön", sagte Li ganz plötzlich. "Es tut nur so, als wäre es ein Gedicht. Aber in Wirklichkeit, ist es keines. Ein Spott will es sein und trägt bloß die Kleider von einem Ge­dicht!"
LoBe überlegte er, ob er ihr gewortete Empö­rung ent­gegenwerfen oder sich ihren Mut gefallen lassen sollte. Letzte­res sei vorzuziehen, fand er und so fügte er sich in klaglose Kläglichkeit und trank, in sich gekehrt, den Rest vom Weine aus.

Chapter 72. Woi bei den Drachenzähnen

Vorsichtig bewegte Woi den Griff der Tür. Ohne ­ein Geräusch zu machen, schlüpfte er in den Raum. Er stand still, die Tür in seinem Rücken. Durch das Fen­ster blickte ein halber Mond auf die Reihe der weißen Bet­ten rechts und links. Ansonsten war es dun­kel.
'Schleich dich durch den Schlafsaal der Näherinnen. Sie werden sicherlich schlafen', hatte der Zwerg gesagt.
Woi war sich sicher, dass die Mädchen NICHT schlie­fen. Im Schlaf bewegte sich das Mädchen, vor dem er stand. Sie dreh­te sich, bis ihr die Decke von den Bei­nen ge­glitten war. Sie lag auf dem Bauch und hätte ihm wohl mehr ge­zeigt, wäre er nur nicht wei­tergegangen. Die ande­ren la­gen still und bel­ausch­ten den Atem ­des Ein­dring­lings.
'Tu so, als sähst du sie nicht', hatte der Zwerg ge­sagt. 'Sie wissen, wohin dich dein Weg führt.'
Eines der Mädchen lag ihm mit dem Kopf zugewandt. Er sah, dass sie wie ein Kind am Daumen lutschte. Ihre Lippen glänzten feucht. Ihm war, als lächele sie. Aber es war nicht das Lächeln eines Kindes.
'Sie wissen, wer wir sind', hatte der Zwerg gesagt. 'Sie verraten uns nicht.'
Ein Mädchen stöhnte leise im Schlaf, als sein Blick auf ihr lag. Sie begann zu flü­stern, als spreche sie zu ihrem Traum, der wach neben ihr lag.
Woi versuchte, zu hören, was sie sagte. Aber statt wei­ter zu flüstern, ließ sie ihre gespreizten Fin­ger den Sta­brand ih­res Bet­tes ent­langgleiten.
'Sie schlafen, die Mädchen', hatte der Zwerg gesagt. 'Wir wählen diesen Weg zu unserer Sicherheit.'
Das Fenster seufzte tief, als Woi es öffnete. Wieder hörte er ein Geräusch. Diesmal war es in seinem Rücken. Es erinnerte ihn an das Kni­stern eines anglimmenden Kohle­feu­ers.
'Geh zum Fenster und greif den Sims ab. Fasse das Tau. Unten wartet ein Pferd auf dich', hat­te der Zwerg gesagt.
Woi fand alles so vor, wie der Zwerg es gesagt hatte. Als das Pferd ihn oben sah, stellte es sich so unter ihn, dass er es direkt besteigen konnte. Der Sattel war noch trocken, als habe gerade jemand davon abgesessen.
Das Pferd schien seinen Weg gut zu kennen. Als sie die Mauer verlassen hatten und er den Fluß nicht mehr roch, hatte Woi jede Orientierung verloren.
Der Boden war weich. Woi musste sich an den Hals des Pferdes ducken, sonst wären ihm die Äste ins Gesicht ge­schlagen. Es war ein wenig benutzter Pfad, weitab von je­der Straße. Auf einer kleinen Anhöhe sah er im Mondlicht die ersten Baumkronen.
Als schwarze Wolken zogen sie über ihn hinweg. Einen Augenblick war er sich nicht sicher, ob er nicht alles nur träumte. Er strich dem Pferd über den Hals und fühlte seinen feuchten Schweiß.
Mit einem Mal stand das Pferd still und wartete auf et­was. Da fiel Woi ein, dass der Zwerg ihm aufgetragen hat­te, wie ein Käuzchen zu rufen.
Als er dieses Zeichen rief, hörte er in der Nähe das Klop­fen eines Spechtes. Er dachte noch, dass ein Specht nicht zu den Nachtvögeln gehörte, als er einen Rei­ter neben sich bemerkte, den er nicht hatte kommen hö­ren.
"Komm", sagte dieser mit einer rauhen Stimme. "Sie war­ten bereits." Als er sich zeigte, sah Wo­i, dass sein ganzes Gesicht bis zum Hals von weißlich schimmernden Narben ent­stellt war, so wie Woi es noch bei keinem gese­hen hatte.
Wegen der Nar­ben war es unmöglich, in seinem Gesicht ein Gefühl zu le­sen. Als er mit der Hand über sein Ge­sicht fuhr, als wolle er die Blicke ent­fernen, be­merkte Woi auf seinem Handrücken den auftäto­wierten ge­spaltenen Drachen­kopf, den er auch bei dem Zwerg gesehen hatte.
"Hier ist es", sagte der Narbige. Auf sein Zeichen stie­gen sie von den Pferden, denen er einen Klaps gab. Sie trab­ten los und schie­nen zu wissen, was er von ih­nen er­wartete.
Woi sah nichts als einen mächtigen Baum, an dem der Nar­bige hochsah. Die Rin­de war glatt, und die er­sten Äste waren unerreichbar hoch. Der Narbige machte mit dem Griff seines Messers ein Klopfzeichen.
Kurz darauf sauste eine Strickleiter herunter und pen­delte ihren Fall aus. Der Narbige nahm die unterste Holz­stufe auf und ruckte kräftig nach oben.
"Du zuerst", sagte er. "Ich hal­te die Leiter fest, damit sie nicht schwankt. Dann ist es nicht schwer."
Woi sah nicht nach unten oder oben, sondern achtete darauf, voll auf die Stufen zu treten. Er spürte, dass der Narbige jeden seiner Schritte mit einem Zug von unten begleitete.
Als er leicht mit dem Kopf gegen eine Luke stieß, öff­nete sich diese und ließ ihn hindurchkriechen. Unter dem Dach des Bau­mes war eine Ast­ebene durch Bretter verbun­den worden, sodass eine Hüt­te ent­standen war, deren Exi­stenz man von un­ten nicht ver­mutet hätte.
Auch der Nar­bige war hinter ihm durch die Luke gekro­chen. Sofort wurde die Leiter einge­holt und der Boden wieder ver­rie­gelt.
Am Boden im Rund saßen drei weitere Gestalten, zu denen sich der Narbige setzte. Sie hatten sich in den Schatten gesetzt und verbargen so ihre Ge­sichter vor Woi. Alle hatten sie die rechte Hand auf das Knie gelegt, sodass Woi im Mond­licht auf jeder von ihnen den ge­spal­te­nen Dra­chen­kopf er­kennen konn­te.
"Er sagt", fing der Narbige an und deutete auf den Zwerg, der den Kopf hochnahm, "du hast Mut bewiesen."
"Wir hören, du bist der Sohn von einem Fürsten", sagte ein anderer, ohne sein Gesicht zu zeigen.
Woi nickte. Als er sich setzen wollte, schüttelten sie die Köpfe. Also blieb er stehen. Sie schienen ihm nicht feindlich, aber auch nicht freundlich gestimmt. Er stand in ihrer Mitte, weil eine Entscheidung über ihre Gesinnung noch zu treffen war. Woi konnte nichts tun als abwarten.
"Auch wir", sagte ein anderer, "sind die Söhne von Für­sten, die falschen Söhne von Fürsten." Die anderen lach­ten. Woi lachte nicht.
"Unsere Väter sind Fürsten wohl, aber unse­re Mütter sind Huren", wurde er von einem anderen be­lehrt. Die anderen lachten wieder.
Woi setzte sich einfach auf den Boden und brachte das Lachen zum Verstummen. Er sah nun in ihre Gesichter. Sie waren alle nicht viel älter als er. Nur das Alter des Nar­bigen hätte er nicht sagen können.
"Damit ihr es wisst", sagte Woi, "mein Vater ist ein Fürst - das darf so gelten - aber meine Mutter habe ich nie kennengelernt, und mein eigentlicher Vater ist ein Sol­dat."
"Den Huren, unseren Müttern, ist es verboten, mit den Herren vom Hof, Kinder zu haben. Verboten, hörst du? Es ist ein Verbrechen, und die Kinder werden ihnen abgenom­men. Da gibt es keine Soldaten als Ammen!"
"Sind die Herren vom Hof denn allesamt Fürsten?" fragte Woi unschuldig.
"Nein, sind sie nicht! Aber ihre Macht ist so groß wie die von Fürsten. So schlau sind wir auch, dass wir das wis­sen!" Der ihm das erregt erwidert hatte, besaß eine fast vorspringende Stirn, sprach hastig und mit störend ho­her Stim­me. Seine Augen schienen zu brennen. Ihm gab Woi für sich den Namen 'Schädel'.
Sein Nachbar zog Schädel die Kapuzze über den Kopf und lach­te. Er war kräftig gebaut und größer als die anderen. Woi sah in ein freundli­ches Ge­sicht. Seine Au­gen lagen in tie­fen Schat­ten, als habe er lange kein Bett mehr gesehen.
"Von denen werde ich 'Tatze' genannt", sagte er und schüttelte Woi die Hand. "Einen richtigen Namen haben wir nicht." Seine Hände waren so behaart, dass sie seine Täto­wierung fast verbargen.
"Du bist schon eine gan­ze Zeit am Hof des Kai­sers", sag­te Schädel. "Sag uns, was du da machst!"
Von seinem Neben­mann Tatze bekam er einen Stoß.
"Er soll es sagen", zischte Schädel zurück, "oder kann er nicht sprechen?"
"Was ich da mache, das frage ich mich selbst", sagte Woi. "Ich soll eine der Prinzessinnen heiraten, aber das wird nichts. Wir verstehen uns nicht sehr."
"Nichts zu tun den ganzen Tag und zum Schlafen kei­ne Müdigkeit", stell­te Tatze fest, als wisse er, wovon er redete.
"Weißt also nicht, was du anstellen sollst?", fragte der Nar­bige.
Woi nickte. Das stimmte, und es stimmte nicht. "Ich überlege noch, was ich machen soll. Aber lange bleibe ich nicht mehr da."
"Vielleicht findet sich was", sagte der Zwerg.
Die ande­ren, auch Woi, sahen ihn erstaunt an.
"Ich den­ke immer, es wird sich schon etwas finden", schwächte der Zwerg ab. In seinem Blick aber konnte jeder lesen, dass er mehr wuss­te, als er sagen wollte.
"Ich möchte wirklich wissen, was sie an DEM fin­det!" ent­fuhr es Schädel.
"Halt deinen Mund", wies ihn der Zwerg zurecht. "Und es noch ist nichts entschieden. Nichts, gar­ nichts, hörst du?!"
Der Nar­bige stieß Woi von der Seite an. "Geh jetzt", sagte er. "Es ist genug geredet." Er öffnete die Luke und warf die Leiter hinun­ter.

Chapter 73. Prinzessinnen mit Baldeina

Nadim und Dessa hiel­ten sich noch an den Händen ge­fasst, als sie vorsichtig klopften, Nadim mit dem Knö­chel, Dessa kaum hörbar mit dem Weichen der Fingerkuppe.
"Wer ist da?" rief Baldeina hinter der Tür. Als er nichts hörte, wie­derholte er seine Frage in Gesangsform mit HEHE und HIHI und einem HEUJUHI als gesungenem Frage­zeichen.
"Wir Prinzessinnen", sagte Dessa leise und verschwand hinter einer Säule.
"Wihir", sang Nadim ihre Antwort.
Baldeinas Kopf erschien in der Tür. Er trug einen dichten Schnäutzer aus weißem Schaum. Schnittwunden und Schaumreste zeigten sich in etwa gleicher Menge über sein Gesicht ver­teilt.
"Oh!", sagte er und wurde rot. Er hatte Woi erwartet und deshalb gesungen. Nun hatte Nadim einen völlig falschen Eindruck von ihm bekommen. Sie hatte die Augen, durch sein Gebaren beschämt, niederge­schlagen und war einen Schritt zurückgewi­chen. Ihm kam es vor, als denke sie bereits dar­über nach, was sie ihrer Schwester über ihn zu sagen habe.
Da war noch etwas, was nicht richtig war? Ihm fiel die­ses Etwas nicht ein und so bat er sie, ein­zutre­ten, halb­ra­siert und wundverkrustet, wie er war.
Nadim fasste vor­sichtig seine Hand und zog ihn auf den Gang und hinter einen Vor­sprung.
"Hältst du zu uns oder zu Woi?", fragte sie leise.
"Ich glaube zu euch", sag­te er. "Aber verratet es ihm bit­te nicht."
"Er glaubt, er hält zu uns", zischelte Nadim ihrer Schwester hinter der Säule zu. "Wir machen es trotzdem mit ihm, oder?"
"Er hält zu uns, Nadim. Sei sicher!", flüsterte Dessa. Baldeina erstarrte. Sie war nicht ferngeblieben, ließ ihn ihre Stimme hö­ren, war näher als jemals, stand hin­ter ei­ner Säule, ohne sich zu zei­gen! Als wäre es verein­bart zwischen ihnen, tat sie den Schritt nicht vor sei­ne Au­gen, bevor sie sich nicht sei­nes Herzens si­cher war.
"Wir können uns bestimmt auf ihn verlassen!" drängte Dessa ihre Schwester. Sie war beinahe ein wenig böse mit Nadim, weil diese sich über Baldeina lustig machen woll­te, der doch an Wois Verhalten schuldlos war.
"Baldeina, hör zu", sagte Nadim. "Weil du dich bestimmt gleich weiterrasieren willst, mache ich es kurz."
Baldeina fuhr mit der Hand zu seinem Gesicht hoch. Ihm war eingefallen, was er vergessen hatte! Ärgerlich mit sich betrachtete er den Rasierschaum auf seinen Fingerkup­pen. Es ­woll­te ihm nun als glückliche und hohe Fü­gung er­schei­nen, dass Dessa und er noch im Zustand der Herzen wa­ren.
"Wir haben Besuch morgen", setzte Nadim lächelnd fort. "Es ist der Sohn von einem Fürsten. Er kommt auf einem Pferd, aber er spricht kein Wort, weil er aus einem frem­den Land kommt. Er ist gar prächtig gewandet. Erzähl du weiter, Dessa!"
"Er soll um Nadim freien", half Dessa ihrer Schwester aus.
"Er SOLL?" entfuhr es Baldeina.
"Sag du es ihm, Nadim. Ich mag nicht mehr." Dessa hatte keinen Spaß mehr an der Sache. Sie war sich nicht einmal sicher, ob Nadim mit Woi so umgehen durfte.
"Er kommt an­gerit­ten, aber er darf nichts sagen", er­klärte Nadim hastig. "Wenn er etwas sagt, ist alles aus!"
"Was ist AUS?" fragte Baldeina.
"Wir wol­len Woi ein bißchen eifer­süchtig ma­chen", er­klärte Dessa hinter ihrer Säule.
"Nein, so ist es nicht", widersprach Nadim entschieden. "Ich will ihn nur är­gern, weil er mich geärgert hat. Es ist mir egal, ob er eifersüchtig ist, ganz bestimmt!"
"Wir wollen wissen, wie er es aufnimmt", erklärte Dessa. Fast war ihr um Nadim mehr bang als um Woi.
"Ich verstehe", sagte Baldeina. "Keine Sorge, die Sache liegt in guten, fühlsamen Händen." Er ver­beugte sich auf eine sitt­same Art, sah die Säu­le einen Moment länger als Nadim an und ver­schwand in sei­nem Zim­mer.
Während er mit seiner Toilette be­schäftigt war, dach­te er an Dessa. Manchmal war ihm, als sei sie ganz eigentlich kei­ne Prin­zes­sin. Ein anderer Junge als Bal­deina hatte ei­nen rei­chen Fürsten zum Vater und ein ande­res Mäd­chen als Des­sa war eine Prin­zessin. Er stellte sich vor, dass er und sie in einem Wald waren. Dessa stand hin­ter einem Baum. Die Herzen waren vereint, es war der Mo­ment der Au­gen!
Als er sich vorstellte, wie sie sehr leise und ver­schämt auf ein erstes Wort wartete, hörte er, dass Woi im Nach­bar­zimmer die Tür hin­ter sich zuschlug. Wenn er sie zu­schlug, als wolle er sie zer­stören, konnte dies nur bedeu­ten, dass er schlech­teste Laune hatte!
Die Prinzessinnen wussten nicht, wie unberechenbar Woi in seinen Stimmungen sein konnte. War es klug, ihn dazu eifer­süch­tig zu machen? Aber weil er im Wort bei Des­sa war, wür­de er hinübergehen, um sei­nen Auf­trag aus­führen.
Er klopfte bei Woi an und stellte fest, dass die Tür nur lose in der Angel hing.
"Hallo", rief er. "Woi, bist du da? Ich habe dich ge­hört, wie du die Tür ..." Baldeina schob sie vorsichtig auf, die unüberhörbar den Gewalttäter anklag­te.
"Hast du etwas gegen diese Tür?" fragte Baldeina. Er streichelte sie. Die Tür wimmerte noch ein wenig, aber der Trost tat ihr hörbar gut.
Baldeina setzte sich auf den einzigen Stuhl im Raum und sah Woi zu, wie dieser mit wilden Bewegungen versuchte, sich ein zu enges Hemd über dem Kopf auszuziehen. Man konnte so­gar Wois Bauchmuskeln erkennen, so wenig Speck hatte er auf seinem Körper. Nur ein bißchen Haut und darunter Mus­keln. Baldei­na formte die Fettschicht auf seinem Bauch zur Rolle und wackelte an ihr.
"Da du ja ein wenig Zeit für mich hast", begann Bal­deina vorsichtig. "Es ist, weil ich ge­hört habe, dass ... ich habe es nur gehört, verstehst du?"
Baldeina fand, dass es Zeit war, eine Entscheidung zu fällen. Entweder musste er eilig fliehen, oder er musste etwas sagen. Ob sich die Prinzessinnen auch alles gut über­legt hatten? Wenn es daneben ging, würde Nadim sich schnell einen Schul­digen aussuchen.
"Du kennst doch Nadim? ... eeh, ich mei­ne, du kennst natür­lich Nadim. Also, es ist so ... Es ist noch jemand da, der Nadim heiraten will. Also eigent­lich ist er noch nicht da, sondern er kommt auf einem Pferd. Aber dann ist er da und spricht nicht un­sere Spra­che, wenn du weißt, was ich mei­ne. Er soll sehr in Nadim ver­liebt sein, habe ich gehört. Ich wollte dir das nur sagen und jetzt gehen."
Baldeina spürte, wie sein Gesicht rot wurde. Er hatte plötzlich ein sehr schlechtes Ge­wissen sei­nem Freund ge­gen­über bekommen und war froh, dass Woi we­gen dem Hemd über seinem Kopf nichts se­hen konnte. Ehe es dazu kam, dass Woi sich aus seinem Hemd befreien und et­was erraten konnte, stand Bal­deina ohne ein Wort auf und ging.
Draußen war ihm richtig übel. Ihm war, als müsse er sich überge­ben, so schlecht ging es ihm, weil er seinen Freund belogen hat­te.
Aber er hatte den Auftrag der Prinzessinnen ausgeführt. Mehr war nicht von ihm verlangt worden, und es war auch viel­leicht zu Wois Bestem.
Da fiel ihm ein, dass er das Wich­tigste vergessen hatte! Wegen dem Hemd hatte Baldeina nicht ­­sehen können, wie Woi die Bot­schaft aufnahm - ob er eifersüch­tig wurde oder nicht. Das aber war doch gewe­sen, was die Prin­zessin­nen von ihm hatten wissen wollen!
Er ging noch einmal zu Wois Tür. Aber bevor er klopfte, überlegte er. Davon, was Woi sagen wür­de, hat­te Bal­deina eine genü­gende Vor­stellung - nichts würde Woi sa­gen, keine Miene und kein Wort würden ihn verraten! Nun war es so­wieso zu spät, und womög­lich hatte sich Woi noch nicht aus seinem Hemd befreit. Baldeina be­schloss, sich etwas zu erfinden, dass so gut wie eine Wahrheit war.
Woi habe nichts gesagt, würde er den Prinzes­sin­nen be­richten. Er habe einen ver­schlossenen Ein­druck ge­macht, sei irgendwie uneinsehbar gewe­sen.
Er, Baldeina, habe den Eindruck gehabt, Woi wolle sich nicht an­merken las­sen, dass ihn et­was be­rührt hatte. Nicht aufgeschaut habe er und Bal­dei­na gebe­ten - mit so ei­ner ge­wis­sen Stimme spre­chend - ihn al­lein zu lassen.
Ja, so würde es Bal­dei­na den Prin­zessinnen sagen! Da wür­den sie sich etwas aus­den­ken können!
Sicherlich würden die Prinzessinnen fragen, was für eine Stimme es gewesen sei.
Eben so eine fremde, die anders gewesen sei als seine bekannte, würde Baldeina ant­wor­ten.
Ja, das würde den Prin­zessinnen genug zu denken geben!

Chapter 74. Woi mit Dahima

"Was willst du von ihr?" fragte das Mädchen. Ihr Blick sagte Woi, dass sie wusste, wer er war. Andere mussten es ihr gesagt haben. Sein Kommen war angekündigt worden.
"Von mir will sie etwas. Ich will wissen, was es ist." Woi versuchte, dem Mädchen ruhig in die Augen zu sehen. Sie konn­te nicht wissen, dass er sie bei der Krönung der Puppe angesehen hatte. Es war nur in sei­nem Kopf gewesen, nir­gendwo sonst.
"Sie ist nicht da", sagte das Mädchen. "Aber du kannst hereinkommen, wenn du willst."
"Du weißt, wer ich bin!" sagte Woi. "Du hast von mir gehört. Das merke ich. Sie haben über mich ge­spro­chen." Ohne ihm eine Antwort zu geben, schloss sie die Tür. Ihr Lächeln ging an ihm vor­bei, als gebe es ihn nicht.
"Wofür komme ich denn?", fragte Woi. Aber er war nicht zornig dabei und ging ihr nach.
Auf der Treppe wandte sich plötzlich um. Er musste zu ihr hochsehen. "Du gehst zu dicht hin­ter mir her. Das ge­hört sich nicht."
Er ging nun in einem Abstand von ihr die Treppe hoch und sah auf die Stufen.
"Hier wohnt sie, wenn sie da ist", er­klär­te das Mäd­chen. "Ich wohne dort."
Ihr Zimmer war klein. Es war nicht mehr als ein Bett dar­in. In der Ecke standen zwei aufeinander­ge­stellte Stüh­le hinter einem umgekippten Tisch. Eigent­lich konnte sich Woi nicht vorstellen, dass sie hier wohnte.
"Bist du ihre Tochter?" fragte er. Sie strich eine Strähne beiseite. Etwas in ihrem Lä­cheln stimmte nicht.
"Nein, ich bin nicht ihre Tochter. Aber ich bin bei ihr, seit ich ein kleines Kind bin."
"Hat sie keine eigenen Kinder?"
"Doch sie hat einen Sohn. Aber er ist fort."
"Ich frage mich, was sie von mir will ..."
"Ich heiße Dahima", sagte das Mädchen. "Wie findest du meinen Namen?"
"Ich heiße Woi. Wie findest du MEINEN Namen?"
"Du verstehst nicht", sagte sie traurig.
"Es ist ein seltener und schöner Name", sagte Woi, weil das Mädchen ihm leid tat.
"Du hast mich angesehen, als diese Krönung war, nicht wahr? Ich weiß das." Das Mädchen sah Woi fest an.
Woi tat, als habe er sie nicht verstanden. "Sie hat ei­nen Sohn, sagst du?" fragte er. Das Mädchen hatte ihn also trotz der Maske bemerkt!
"Ich kenne die Augen wieder. Wenn sie mich angeschaut haben, vergesse ich sie nicht!" Sie öffnete den Seiden­knoten ih­res Haares und ließ es her­abfallen.
"Bleib, wo du bist", befahl sie. "Du sollst mich nur von dort ansehen." Sie nahm eine Bürste vom Bett und strich ihr Haar.
Woi blieb stehen, wo er stand. "Ich möchte wissen, war­um sie nicht da ist, wenn sie etwas von mir will?"
"Du findest mich schön", sagte das Mädchen. Sie wusste, dass es so war. Er brauchte es ihr nicht zu sagen. "Wenn du mich schön findest, wie fühlt es sich an? Ist es in deinem Kopf oder im Bauch?"
"Sie ist doch eine ...?" fragte Woi und zeigte nach draußen, wo man schon die ersten roten Laternen angezündet hatte.
Das Mädchen kam auf ihn zu. Sie nahm seine Hand und strei­chelte die Innenseite.
"Ich will wissen, wie es bei dir ist", sagte sie for­dernd. "Du hast mich ange­schaut, also trau dich, mich an­zufas­sen." Sie öffnete ihre Bluse und führte sei­ne Hand über ihre Brust.
"Wie ist es?", fragte sie, als seine Hand ganz still in der ih­ren lag. "Sag es! Kein Geld fordere ich von dir! Nur das Wissen sollst du mir geben!" Es war ihr ernst. Ihre Augen blieben fest.
"Jede hat eine Schön­heit, die ihr gehört", erklärte Wo­i, "aber in dei­ner Schönheit sind alle Stücke zusam­men­gefügt. Es ist, als hätte ich etwas gefun­den, was nicht wirklich ist. So etwas wie einen Stein, der zu spre­chen beginnt. Aber das ist Unsinn!"
Aufmerksam hatte sie zugehört. Dann nickte sie und öff­nete ihre Bluse ganz. Er zog seine Hand sofort zurück, aber konnte den Blick nicht von ihr lassen.
"Denk nach! Erzähl mir keine Lü­gen!"
Nach einem Zögern sagte er: "Es ist, als sei ein Fremder ist in mir drin. Ich kann nichts machen. Er hat die Macht über mich. Ich weiß nicht einmal, wer er ist." Nach einem Rück­blick entfuhr es ihm: " Es ist eigent­lich nicht sehr schön!"
"Ich glaube dir", sagte sie. "Leg dich auf das Bett. Lass mich nur machen. Du musst nur immer weiter nachden­ken. Alles will ich wis­sen! Wenn du mir etwas ver­schweigst, dann ist es aus!"
Als sich Woi auf das Bett gelegt hatte, setzte sie sich neben ihn. Ihr Haar war so lang, dass es seine Hand be­rührte.
"Als du mich gesehen hast, was war das Besondere an mir?"
Woi schloss seine Augen. Er spürte, wie sie zu ihm auf das Bett kam und sich auf ihn setzte. Er roch, dass ihr Haar ganz nah war. Es fiel auf seine Stirn.
"Hörst du? Du musst sagen, warum du MICH so angese­hen hast? Mich, von all denen, die Mädchen sind?"
"Ich weiß nicht. Es war mir, als hätte ich dich schon einmal gesehen." Sie ließ ihn nicht über ihren Rücken streichen. Er dachte nach, obwohl in seinem Kopf das Fie­ber war. "Es ist, als hätte ich dich nur vergessen und dann wie­derer­kannt."
"Was du redest, verstehe ich nicht!" Sie glitt von sei­nem Körper. Die Haare streiften sein Gesicht. Es war kalt dort, wo sie auf ihm gesessen hatte.
"Ist es aus?" fragte er.
Sie stand in einer Ecke, unerreichbar, und kämmte ihr Haar. "Das hängt davon ab, was er mir zu sagen hat. Er redet so wirr. Wie kann er mich erkennen? Wir haben uns doch nie zuvor gesehen!"
"Wie meine Mutter", sagte Woi. Er wollte, dass sie wie­der kam. Ihm war kalt und heiß zu­gleich. "Die kenne ich auch nicht, weil sie starb. Aber irgendwo in mir - so­dass ich es selbst nicht finde - ist ein Bild von ihr. Du bist sie, in dir erkenne ich meine Mutter wie­der."
Er hörte, dass sie wieder zu ihm kam. Als sie sich auf ihn setzte, hielt er die Luft an. Ihm war, als habe er etwas schrecklich Dum­mes ge­sagt, von dem er nur begriff, dass er sich schämen musste.
Sie beugte sich zu ihm herab, ganz nah an sein Ohr, wäh­rend ihre Haare sein Gesicht bedeckten. "Kanntest du eine, die so war wie ich? Sag es! Jetzt!"
"Keine kannte ich, die so war wie du", sagte Woi und blin­zelte durch den schwarzen Vorhang ihrer Haare.
"Eine gab es. Ich seh' in den Augen, dass es eine gab."
"Gut, eine halbe ..."
"Was war anders bei ihr?"
"Ich war nicht wehrlos." Woi berührte ihr schwarzes Haar, das ihn sehr an Ihscha erinnerte.
"Ich verstehe, was du meinst."
"Ich glaube, du verstehst es nicht völlig", sagte Woi und sah Ihscha vor sich, die ihr schwarzes Haar in die Nacht hinaufwarf.
"Denk nicht an sie!", verlangte das Mädchen und sah ihn forschend an.
"Sie ist sehr weit weg."
"Ist sie fort? Sag es!"
"Sie ist fort, nichts von ihr mehr da ..."
Sie hatte begonnen, sich auf ihm zu be­wegen. Obwohl das Mäd­chen hatte nicht eines ih­rer Kleider ausge­zogen hat­te, war sie doch nack­ter in ihm, als Ih­scha es jemals ge­wesen war.
"Ich bin die Einzige?", flüsterte das Mädchen.
Irgendwie schaffte es Woi zu nicken. Sie war ein Bild. Ein heißer Wind. Ihre Au­gen die schwarzen Vögel in seinem Kopf. Ein erwachender Traum. Warmer Re­gen aus wol­kenlo­sem Himmel.
Er nahm nicht wahr, dass sie ihn an­schrie: "Ich habe es verstanden! Es gibt ein Bild von mir. In der Schön­heit wer­de ich eins mit dem Bild. Dann in der Liebe ver­lischt das Bild - ICH, ICH bleibe übrig!" Sie schüttelte ihn vor Be­gei­ste­rung. "Ich danke dir, Fürstensohn. Das ist er, der Schatz! Per­len­ket­ten, dass ich sie nicht tra­gen kann. Die­ne­rinnen wie Ringe an den Fin­gern. Die Stunde des Ta­ges, Hunden gleich zu meinen Füs­sen. Ich habe den Schlüssel, den es nicht geben soll. Da ist die Tür, durch die noch keine Liebe trat."
"Du bist verrückt", keuchte Woi. Es platzten bunte Bienen. Oder waren es Blumen? Oder waren es Sterne?
"Ist es schön?" fragte sie sein Ohr.
"Ja, es war schön", sagte sein Mund.
"Es WAR schön?"
""Es ist doch vorbei, oder?", sagte sein trockener Mund. "Aber, es muss doch bleiben! Wie mache ich, dass es bleibt? Sag mir das! Werd' jetzt nicht müde!"
"Eben, ganz ehrlich, habe ich es gewusst. Doch nun ist es fort, fällt mir nicht wieder ein ... Nein, es ist hoff­nungs­los, wir werden das alles auf ein nächstes Mal ver­schie­ben müssen." Woi schüt­tel­te traurig den Kopf.
Sie hatte genug von ihm. Sie wollte aufstehen von ihm. Aber er hatte den Arm um ihren Nacken gelegt und hielt sie nun fest.
"Du bist verrückt, nicht wahr?" flüsterte er. "Was du redest und für Fragen stellst, das ist doch verrückt. Sag, dass es bei dir nicht stimmt. Nicht wahr, die anderen sind nicht wie du!?"
Sie wollte sich befreien, aber gegen seinen Griff kam sie nicht an.
"Die anderen nehmen Geld", keuchte sie. "Das nehmen sie und dann ...? Sie lassen sich kaufen, und es ist ihnen gleichgültig, wenn sie das Geld wieder fortgeben müssen. Ver­stehst du, warum ich nicht das Geld will? Wenn sie mich kau­fen, was habe dann ICH? Sie sol­len MIR gehö­ren, ver­stehst du? Dann habe ich al­les: das Ansehen, den Na­men, das Geld und ... eben al­les! Was sagst du, ist das ver­rückt?"
Woi gab ihr keine Antwort. Langsam lockerte er seinen Griff.
"Die anderen sind wie die Mägde vom Vieh", zischte sie. "Da gehst du hin, dass sie dich melken. Es ist gleich, wel­che es macht. Sie sind alle gleich. Sie kosten das glei­che. Sie tun das gleiche. In ihren Köpfen schwappt die Milch."
Er strich ihr die Haare aus dem Gesicht und blies ein letztes von ihren Lippen.
"Es sind die anderen, die ver­rückt sind!", sagte sie vol­ler Haß. Allein war sie mit sich. Es gab nicht den, auf dem sie saß.
"Nun weiß ich, warum Tesla nicht da ist", sagte Wo­i. "Sie wollte nur sehen, ob ich komme."

Chapter 75. Li fragt den Kapitän

Li war am Morgen zum Hafen gegangen. Dort hatte sie ei­nen Platz. Sie saß auf der Mau­er einer kleinen Brücke und konnte alles über­sehen, ohne bei der Arbeit auf den Schif­fen, beim Beladen der Tiere im Wege zu sein.
Viele Men­schen kamen an ihr vor­bei. Jedem betrachtete sie gründ­lich das Gesicht. Es waren zu viele zu­erst, doch nach einer Zeit ließen sie sich unter­scheiden.
Die Gesich­ter der einen wa­ren von Sonne und Wind ver­brannt und zu Leder geworden. Ihre Au­gen verrieten, dass sie ein nachgiebiges Herz hat­ten. Sie sahen Li an und moch­ten wohl sehn­süchtig an ihre Familie denken.
Die Gesichter der an­deren waren weich, die Körperformen rund, die Hände weiß, die Kleidung fließend, aber die Au­gen wa­ren hart und flink, glitten an Li wie an etwas Wert­losem ab und suchten sich anderswo einen Halt.
Über die Brücke wurden zwei Männer geführt. Die Haare waren ihnen kurz geschoren. Auf ihre Backe war mit schwar­zer Kohle ein Viereck gemalt und bedeutete wohl, dass sie Gefangene waren. Sie sahen elend und müde aus, über­haupt nicht ge­fähr­lich.
Ein Mann blieb auf der Brücke stehen und rief den Leu­ten etwas zu, die hinter den beiden hergingen. Er machte ihnen mit der Hand ein Zeichen, dass sie sich sputen sollten. Zwei Fin­ger fehlten an sei­ner Hand. Er drehte sich zu Li um und sah ihr direkt ins Gesicht.
"Was schaust du so? Das war eine Hand, prächtig, wie es nur eine gab, mit fünf der be­sten Finger, die je zur See gefahren sind. Aber dann hat der Räuber sie mit dem Säbel ... oder war es der Fisch, den sie Hai nennen ... oder war es, weil ich nicht achtgab beim Essen?" Er schüttelte ver­wirrt den Kopf und schmun­zelte.
Li musste lachen, obwohl sie an die beiden Gefangenen denken musste, die auf sein Schiff gebracht worden waren. Er war be­stimmt der Kapitän.
"So ein Töchterchen, wie du es bist, habe ich zu Hause auch ... oder waren es zwei ... oder war es nur eine, aber dafür ein Sohn?" Wieder wusste er nicht weiter und kratzte sich an der Stelle, wo ihm zwei Finger fehlten.
"Worauf wartest du, mein Kind. Hast du gar einen Vater, der zur See fährt?" Er überlegte unter der grübeligen Stirn. Dann sah er sie an wie ein Schelm. "Bist du gar eine Tochter von mir? Das ist so lang her, da kann es jede sein!"
"Und so habt ihr mich doch erkannt!" rief Li in Erstau­nen. "Mei­ne elf Schwestern, die mich herschickten, dass ich auf euch war­te, die sagten mir, ihr hättet uns alle ver­gessen."
"HaHaHa", lachte der Seemann. Er musste sich setzen, so lachte er. Wäre sie nicht so zerbrechlich gewesen, hätte er ihr auf die Schulter gehauen, wie es unter See­leuten üblich war, dass es krachte und in die Füße ging.
"Na, du bist mir eine!" sagte er. "Schau, du bringst einem alten Seebären die Tränen in die Augen."
Schließlich wurde er ernst und fragte: "Was machst du denn hier? Das ist kein Ort, wo ein Mädchen sich aufhal­ten sollte."
"Ich warte auf jemanden, der mir etwas über die Verban­nung sagen kann", sagte Li. Sie sagte es so leise, dass er es zuerst nicht richtig ver­stand.
In seinen Gedanken war der Seemann längst bei seiner Familie gewesen. Er dachte oft an sie. Immer wenn er an Land war und die Mäd­chen sah, dachte er an seine Tochter. Er war mit Leib und Seele Ka­pitän, aber irgendwann würde er damit aufhören und ein nor­males Leben führen wie andere Väter auch.
Die Tochter würde heiraten. Dann würden die Kinder auf sei­nem Schoß sit­zen, und er würde ihnen von den Pira­ten er­zählen, von den Stürmen und von den Näch­ten, wenn die Sterne in das Was­ser fal­len.
"Ich möchte wissen, wie ich in das Land der Verbannten komme", sag­te Li wieder.
Nun sah sie der Kapitän genauer an. Was für ein seltsa­mes Mäd­chen sie war! Sie war klein und wäre ihm kaum auf­ge­fal­len, wenn sie nicht auf der Kaimauer gesessen hätte, genau dort, wo er gestanden war, um Atem zu holen.
Sie gehörte zu den Men­schen, die wie die ruhige See waren, wenn das Blau am Ho­ri­zont ein grauer Streifen säumt, dünn wie ein Band, als liege es an den Augen, die müde geworden waren. Wer aber dies Zeichen nicht sah, dem konnte es schlecht ergehen mit sei­nem Schiff!
"Ihr kennt doch alle Wege und Häfen. Sagt, wie komme ich in das Land der Verbannten." Li hatte sein Zögern be­merkt und war nun ängstlich, dass er einfach aufstand, ohne et­was zu sagen. "Habt keine Angst, niemand achtet auf uns."
Er wischte den Gedanken an Angst mit seiner verstümmel­ten Hand verächtlich fort. "Euch Landleuten kann man mit Verboten Angst machen, aber die See hat ihr eigenes Ge­setz."
"Wisst ihr, ich bin schon weit gereist - für ein Mäd­chen weit gereist!"
Der Kapitän wäre am liebsten aufgestanden und gegangen. Doch wie sie ihn ansah, da musste er wieder an seine Toch­ter denken. Es war ihre Traurigkeit, die er nicht ein­fach ab­schütteln konnte. Sie sah ihn mit den Augen seiner Toch­ter an, mit den Augen der zurückgebliebenen Töchter aller Seefah­rer blick­ten sie ihn an. Wenn er jetzt ging, wür­de er sie alle mit auf sein Schiff nehmen. Gehörten sie da etwa hin?
"Kind, da kommst du nicht hin, ver­boten ist es und auch unmöglich! Denk einfach nicht dran und führ ein Leben wie alle ande­ren. Geh, hei­rate einen Mann und krieg Kinder, wie sie alle es tun. Was denkst du, wer du bist?"
"Ich denk immer daran. Ich kann nicht anders und bin krank davon. Wisst ihr, ich habe nur meine Träume, ihr aber habt ein Schiff. Wie leicht ist es für euch, zu sagen, dass es für mich zu schwer ist!"
Der Kapitän dachte daran, dass er Durst bekam. Es wurde bereits Abend, und er saß immer noch neben einem sittsamen Mädchen und seiner Traurigkeit. Dabei hätte er längst in einer Schen­ke sein können. Dort kannte er die Mädchen auch nicht, aber dafür stellten sie keine Fragen und waren lustig, wenn man ih­nen vom richtigen Geld ge­zeigt hatte.
"Es ist ein schreckliches Land", sagte er. "Was ich von seinem Inneren weiß, ist nicht viel. Nur kann ich sagen, dass wir selbst im Hafen, wo wir die Verbannten abgeben, keinen Wein bekommt und keine Mädchen ... die einem die Krü­ge bringen. Nichts! Keine Stunde später, als dass ich sie dort abgeliefert habe, bin ich wieder auf See."
"Dann gibt es nur diesen Weg mit dem Schiff?", fragte Li.
Sie hatte sich vorgestellt, dass alle, die mit ihrem Vater das Schicksal der Verbannung erlitten hatten, mit schwe­ren Füßen und krummm gebeugt über staubige Wege lie­fen, in einer Reihe, deren Anfang und deren Ende sie nicht sehen konn­te. Ihr war es ein wenig leichter um das Herz, dass er auf dem Was­ser in das Land der Verbann­ten gefahren war. Viel­leicht konnte sie LoBe doch für diese Reise gewin­nen!
Der Kapitän nickte. "Das Land liegt zwischen unpassier­baren Bergen und dem offenen Meer. Einzig mit dem Schiff kann jemand dort hinkommen. Doch denk nicht, dass es dir mög­lich ist. Nur Verbannten oder Soldaten liefern wir dort ab - und selbst ver­bannt werden willst du doch nicht oder?"
Was für eine Idee! Dieses Mädchen machte ihn so krank, dass er wirres Zeug redete. Dabei hätte er längst betrun­ken sein müssen. Er kannte hier doch eine ... hieß sie nicht 'Goldpu­der'? Nein, das war sie nicht, das war woan­ders. Hieß sie nicht 'Wein­wänglein'? Oder war ihr Name 'Lieb­zwei'? Nein, auch wo­an­ders, aber wo? Er kratzte sich, wo er seine beiden Finger ver­lo­ren hat­te.
"Es musste dir mal jemand sagen, dass es nicht geht", sagte der Kapitän gutmütig.
Sie sah ihn jetzt dankbar an und strahlte vor Glück.
Nun, auch er fühlte sich jetzt erleichtert, obwohl es ihn wunderte, wie sie es geschafft hatte, ihn so­lange festzu­halten. Jetzt wusste er, wie die Schenke ge­heißen hatte: 'Der volle Ha­fen'! Ja, das war ihr Name ... oder nein? 'Der tolle Kapitän' hieß sie ... 'Der tolle Hafen'? Oder doch, wie er am An­fang ge­dacht hatte: 'Der vol­le Kapi­tän'??

Chapter 76. Woi mit Tesla

Der Fährmann hatte bereits abgelegt, als Woi sich um­blickte. Das Haus kam Woi verlassen vor. Es war kein Licht zu sehen, und Dahima hätte ihn gewiss gehört, denn das Boot war laut genug gegen den Steg gestoßen.
Die Tür war offen und pendelte leicht, als wolle sie ihn auffordern, einzutreten. Was war schließlich dabei? Der Fährmann hatte gesagt, dass Tesla da war, und auf das Haus gezeigt. Was konnte das anderes bedeuten, als dass er eintreten durfte?
Als Woi die Tür öffnete, sagte eine Stimme mit Sing­sang: "Niemand ist da, aber Tesla ist da." Unter der Stim­me quietschte in tieferer Lage ein Lehnstuhl.
Vorsichtig, weil er nichts sah, ging Woi in den Raum hinein. Als hin­ter ihm die Tür zu­schwang, war es stockfin­ster, und er ­blieb stehen, wo er war.
"Sind sie Tesla?", fragte er und fand, dass seine Stimme ängstlich klang.
"Das Mädchen ist nicht da", sagte sie. "Ich bin allein, aber das ist gerade recht."
"Beim letzten Mal kam ich umsonst", sagte Woi. Da war seine Stimme schon fester.
"Sie ist schön, nicht wahr!?"
"Sie meinen Dahima?" Es war noch viel Weiches in der Stimme.
"Sie sagt, du hättest keine Furcht vor ihr gehabt."
"Warum sollte ich vor Dahima Angst haben?"
"Ich kenne viele, die HABEN Angst vor der Schönheit."
"Angst vor einem Mädchen ...?"
Tesla lachte und wippte in einem Stuhl. Das Lachen hielt sie in einer leeren Flasche gefangen.
"Warum machen wir kein Licht?", fragte Woi.
"Weil ich blind bin und besser sehen kann, wenn du mich nicht ansiehst. Außerdem ist das Mädchen fort. Sie macht das Licht."
"Ich habe sie gesehen", sagte er, "sie und das Mädchen ... im Hof, in der Nacht beim toten Kaiser, als sie etwas genommen haben."
"Und du kommst trotzdem her?"
"Ja, warum nicht?"
"Recht hast du, nie­mand ver­misst sein Herz. Sie mei­nen wohl, er hätte kei­ns gehabt."
"Ich habe mich gefragt, was für einen Grund es dafür geben kann." Woi griff nach der Tür in seinem Rücken und hielt sie einen Lichtspalt offen.
Für einen Moment war es sehr still. Selbst ihren schwe­ren Atem hielt Tesla für einen Moment an. "Der Grund ist, dass es mir je­mand aufgetragen hat", sagte sie, als die Frage ihrem dü­ste­ren Schweigen nicht auswich.
"Dieser Jemand muss aber mächtig gewesen sein!"
"Ja, du sagst es, mächtig war er. Es war der Kaiser selbst, wenn du es wissen willst."
"Er wollte selbst, dass ihr -"
"- dass ich sein Herz nehme, jawohl! Aber nun Schluss damit, es sind Dinge, über die ich nicht sprechen darf."
Tesla sagte nichts mehr. Ihr Atem war schläfrig gewor­den. Das Schweigen dauerte eine lange Zeit, als sei Tesla schon eingeschla­fen war, weil sie ihn vergessen hatte. Er glaubte, dass sie immer genau das tat, wo­nach ihr zu Mute war.
"Der Zwerg sagt, ich solle zu ihnen kommen", unterbrach er schließlich die Stille. "Hier bin ich, aber ich weiß nicht, warum."
"Ja, das ja ... Komm näher, trau dich, es steht nichts im Weg. Hier ist ein Stuhl, du stößt gleich dagegen, dort setz dich."
Woi tastete sich an den Stuhl heran. Tesla reichte ihm ein Glas. Erst fühl­te er ihre Hand, dann fasste er das Glas. Frei­händig schütte­te sie sein Glas voll. Er trank und schmeckte, dass es Rot­wein war. Sie trank ihr Glas aus und schüt­tete sich wieder nach.
"Du bist gekommen, weil der Zwerg es dir gesagt hat?"
"Nein, der Zwerg hat mir nichts zu sagen. Ich wollte einfach erfahren, was sie von mir wollen."
Tesla schenkte ihm noch einmal nach. "Hattest du eine Mutter?"
"Sie starb, als ich geboren wurde."
"Also hat sie dich nie ent­täuscht ..."
"Enttäuscht? Nein, sie war ja tot."
"Ich habe einen Sohn, den nahm mir das Leben fort."
"Wo ist er denn?"
"In einem Kerker, seit er ein Junge ist."
"Werden Kinder eingesperrt?"
"Manchmal", sagte Tesla und schwieg düster.
"Aber wenigstens lebt er noch ..."
"So spricht einer, der es gut mit seiner Mutter hatte. Dieser Sohn lebt! Ein Toter bleibt immer gut ... weiß ich, wie schlecht ein Lebender sein kann?"
"Das verstehe ich nicht. Ehrlich, das verstehe ich nicht."
"Ich will ihn befreien, das verstehst du? Ich will, dass er bei mir ist."
"Ja, das verstehe ich."
"Zur gleichen Zeit, im gleichen Herz will ich ihn NICHT befreien. Ich will, dass alles bleibt, wie es war. Was ist, wenn er nur herauskommt, um mich zu enttäuschen?"
Wenn die Alte in ihrer schwarzen Schattengestalt saß, dann nahm sie an Mächtigkeit zu. Sie war schwarz wie ein Berg, der größer wurde, je tiefer die Nacht den Wande­rer umfing.
"Er triffst die Entscheidung!", sagte Tesla plötzlich. Der Stuhl wippte nicht, als das Lachen sich knarzend entkorkte.
"Er? Wieso denn er?"
"Ich weiß nicht so und nicht so. Also ist es seine Ent­scheidung!"
"Ist seine Befreiung denn schwierig?"
"Er wird in einem Kerker gefangen gehalten, bewacht von den Soldaten einer ganzen Garnison."
"Ihr denkt dabei an mich, nicht wahr?"
"Du und die Drachenzähne werden dabei sein."
"Also deshalb ...
"Ja, es hat alles damit zu tun."
"Aber warum ich?"
"Du bist der Sohn eines Fürsten. Für dich ist es leich­ter. Es ist ein General dort. Du wirst dich in sein Ver­trauen schleichen."
"Aber welchen Grund sollte es für mich geben, dabei zu sein?"
"Der Zwerg sagt, du kämst aus Langeweile mit."
"Ich überlege es mir", sagte Woi, um klarzustellen, dass er anders dachte. "Es ist schon so, dass ich im Au­genblick eine Lücke in meinem Leben habe ... wir werden sehen."
"Lass dir von einer Blinden sagen: Du suchst nach dir in den Din­gen. Die großen Dinge machen dich groß, die kleinen klein. Wenn nichts passiert, bleibt von dir ein leerer Fleck, wo an­deren ihr Wesen be­ginnt­."
"Das klingt fast wie ein Fluch!"
"Ein Fluch ist nichts als ein Spiegelwort!"
"Ach, so habe ich das noch nicht gesehen ...", sagte Woi nachdenklich.
"Du bist dein Fluch. Wer sonst sollte es sein?"
"Dann ist ein Fluch eigentlich nicht so schlimm!"
"Schlimmer noch als schlimm, wahrer noch als wahr!"
"Ist das schwierig!", stöhnte Woi. Gerade eben war er Tesla noch dankbar gewesen, weil sie ihm gegen Ihscha ge­holfen hatte, da warf sie wieder alles um.
"Meine Blindheit ist nichts als eine Laune. Geschlagen hat das Schicksal mich mit dem SEHEN!"
Woi schüttelte verständnislos den Kopf. Immerhin wollte er sich merken, dass ein Fluch nur ein Spiegelwort war. Das konnte ihm gegen Ihscha helfen.
"Ich denke manchmal", sann Tesla, "dass es an ihm ist, sogar den Zeitpunkt zu bestimmen. Er hätte es jederzeit und mit anderen voll­bracht, doch nun hat er uns ausge­sucht. Nicht WIR haben die Wahl, sondern ER!"
"Ich verspreche, dass ich es mir überlegen werden", sag­te Woi. Es war Zeit, Abschied zu nehmen. In dem Berg vor ihm wuchs ein Beben heran.
"Es gibt nicht zu überlegen: Er ist mächtiger als du und ich und zwingt uns unter seinen Willen."
"Ihr Sohn, der im Kerker ist?"
"Kerker, was heißt das schon", schnaufte Tesla verächt­lich. "Gerade der Kerker macht ihn so mächtig. Aber das verstehst du nicht!"
Nein, das verstand Woi nicht. Und der Wein schmeckte beim dritten Glas nicht besser als beim ersten.
"Denkst du manchmal über das Schicksal nach?"
"Nein", gestand Woi. Er war sich sehr sicher, dass er noch nie über so etwas nachgedacht hatte.
"Warum geschieht mit uns dies und das? Gibt es einen Grund, ein Schicksal? Warum bin ich blind? Warum die Mut­ter eines Kerkersohnes? Warum finde ich jemanden wie dich, der Dinge tut, weil sie Dinge sind?"
"Ich habe noch nicht zugesagt!", protestierte Woi.
"Geh", sagte Tesla rauh, "ich ruf dich, wenn es soweit ist!"
"Ich werde darüber nachdenken", sagte Woi.
"Lache!", verlangte Tesla mit einem Mal von ihm. "Lache! Verstehst du nicht: Du sollst lachen, LACHEN!"
"Es gibt nichts Lustiges! Worüber sollte ich lachen kön­nen?", hielt ihr Woi unwillig entgegen.
"Denke nach! Denke nach!", höhnte Tesla daraufhin. "Du sollst nachdenken, NACHDENKEN!"
Woi fand, dass Tesla eine lustige Art besaß, ihm Sachen zu erklä­ren. Und vermutlich hatte sie recht: Das Lachen ge­horchte ihm nicht, ebenso­wenig das Nachden­ken. Es würde sich nicht von ihm rufen lassen, sondern erst kommen, wenn es zu spät war.

Chapter 77. Auftritt von Ken

Ken lag im Stroh und träumte, dass er auf ei­nem Pferd saß und zwei Prinzessi­nen begegnete, die auf einer Wol­ken daherkamen. Sie riefen ihm zu, ob er sein Pferd gegen ihre Wolke tauschen wolle.
Das hatte er geträumt, als der Alte ihm ei­nen Stoß gab, und Ken auf dem harten Bretterboden lande­te. Doch der Traum hatte ihm zugerufen, dass Ken sein Pferd nicht tau­schen sol­le, unbedingt nicht und keinesfalls ge­gen eine Wolke, als er einen erneuten Tritt bekam, der ihn endgül­tig weck­te.
"Geh früher ins Bett, wenn du lange schlafen willst! Für heu­te - weißt du doch!? - hast du de­n Mäd­chen vom Kaiser was versprochen. Mach schon los! Und dass ich mir nicht wegen dir was anhö­ren muss, hörst du!?"
Der Alte warf die Kleider auf den Stuhl. "Und denk dran: Das Pferd kann nicht dafür, dass du solche Sa­che machst." Kurze Zeit später hatte er sich wieder in eine Ecke ge­legt und schnarchte kräftig weiter.
Erst einmal be­trachte­te Ken ungestört und lange seinen neuen Sachen. So schöne Klei­der hatte er selbst bei der Jagd mit den hohen Herren noch nicht gesehen! Er strich dar­über. Wei­cher noch als das Fell von einem Fohlen waren sie.
Die langen Hosen konnten sich nicht entscheiden, ob sie blau oder schwarz wa­ren. Die Stiefel waren silber­ver­ziert und machten einen schönen Krach auf dem Boden. Als er das Hemd mit den vie­len Knöpfen zumachte, kam er or­dentlich ins Schwitzen und legte die Jacke erst einmal über die Schulter. Dünn wie Papier waren die beiden weißen Hand­schuhe, die er sich in den Gürtel steckte.
Erst wollte er hinausschleichen, wie er es als Pferde­junge gewohnt war, doch dann trat er mit den Hacken or­dentlich auf, dass der Alte sich an sei­nem Schnarchen verschluckte.
Früh musste der Alte heute aufgestanden sein, denn das Pferd war prächtig anzuschauen. Den Sattel zierten dies­sel­ben Beschlä­ge, wie sie auf Kens Stiefeln waren. Die Mähne hatte der Alte mit Zöpfen verziert und mit bunten Perlen ge­schmückt. Dabei wird er wohl böse gelä­chelt haben über solche Mädchensachen.
Das Pferd hatte die Augen niederge­schlagen und einen Hin­terhuf geho­ben. So war es vornehme Pferdeart, die es wohl irgendwo abgeschaut hatte.
Ken verließ den Hof über einen Seitenausgang, um nicht von den Wachen gesehen zu werden. Das Pferd führte er an der Hand. Es hatte seinen Kopf tief gebeugt und stieß mit der Schnauze immer wieder gegen seinen Gürtel. Zu spät bemerkte Ken, dass es einen sei­ner weißen Papierhandschuhe gefressen hatte. Ihm fiel ein, dass der Alte dem Pferd wohl noch kein Stroh zu fressen ge­geben hat­te.
Als erstes ritt er zu einer saftigen Weide, die er kann­te. Eine Magd, die dort ein gutes Dutzend aufgeregter Gän­se hütete, erkannte Ken nicht. Sie, die sonst das lau­teste Mundwerk von ihnen allen besaß und einmal mit einem Ei nach ihm ge­worfen hatte, ging für sich, als gehö­re sie nicht zu den Gänsen. Das lange Haar träumte auf ihren Schultern. Sie machte einen wei­chen Mund, als kenne der kein böses Wort.
Als das Pferd neben ihr zu stehen kam, gestattete sie Ken von oben einen nabeltiefen Blick in ihren Ausschnitt. Sie lä­chelte, als er seine Augen für immer ver­loren gab. Ken fiel ein, dass er nichts sagen durfte. Er hätte auch nicht gewusst, was er sagen sollte. Weil er stumm blieb, sang sie ihm mit bewegter Brust ein Lied:

Der Morgen ruft zum weißen Haus,
Schwarz die Äuglein, schwarz das Glas!
Der Mittag ruht beim Schattenbaum
Wo Wasser fließt, da trinkt der Bursch.
Der Abend schenkt vom Weine aus
Rot die Wänglein, rot das Glas!
Die Nacht ist tausend Dächer schwarz
Wo Liebe ist, da liegt sie wach.

Mit ihrer Hand strich sie immerfort an Kens neuen Stiefel hinauf und hinab, dass Ken bald die Augen voller Tränen hatte.
Al­lein das Pferd zeigte sich teilnahmslos und trug sei­nen Reiter ohne Abschied fort. Ken rutschte auf dem Sattel hin und her, weil ihm die neue Hose ein wenig eng war. Sie ritten zu einer anderen Weide.
Dort legte er sich ins Gras. Sie hatte ihm, Ken, ein Lied ge­sun­gen, stell­te er glück­lich fest. Nun wohl, er steckte in schö­nen Klei­der, aber war er des­halb weni­ger Ken? Er streck­te sich zufrie­den aus und schlief ein wenig, bis das Pferd ihn mit dem feuchten Maul weckte.
Dann ritt er durch die Stadt und schaute nicht, wie die Leute ihn angafften. Am Markt sah er einen Mann, der sei­nen Arm in einer Schlinge trug. Während sein Mädchen be­diente, stand der Mann im Schatten und machte ein düsteres Gesicht. Ken ritt einmal um ihn herum, weil ihm das Aus­sehen des Mannes gefiel. Es war erdenklich vornehmer, ei­nen Arm als zwei zu haben! Auch dachte er dar­an, dass das Pferd ei­nen seiner Hand­schuhe aufgefres­sen hatte.
Also tauschte er Perlen von der Mähne des Pferde gegen ein sehr feines schwarzes Tuch. Dieses ließ er sich von dem Mädchen um den steif ange­winkel­ten Arm binden. Das Mädchen hatte einen Glanz in den Augen und fragte Ken nach seinem Schicksal. Aber Ken biss sich stumm auf die Lippen, so ohne Worte und für sich war sein Schmerz. Da lief ihr eine Träne herab, so dick und glän­zend wie eine Perle. Wie gern hätte Ken sie umarmt! Aber er fand, einarmig gewor­den, keinen rechten Ansatz und stand der Düsternis ihres Vaters sehr im Weg.
Als er am Hof zu den Wachen kam, saß er auf­recht zu Pferde und hielt den Zügel mit einer Hand. Der leere Ärmel schwang leblos an seiner Seite. Ken machte we­gen sei­nem schweren Schicksal ein ern­stes Ge­sicht. Der Hun­ger, der seit dem Morgen immer stärker ge­worden war, ließ ihn ein wenig bleicher dreinschau­en und grim­miger als sonst.
Die Wachen versperrten ihm den Weg und warteten darauf, dass er sich erkläre. Sie konnten auch einen einarmigen Men­schen nicht einfach passieren lassen. Sein Schicksal dauerte sie, und seine Haltung nötigte ihnen Respekt ab, aber sie mussten mit ihm verfahren, wie sie es gewohnt waren.
Ken überlegte. Dann sagte er langsam und dunkel: "Ich kommen, um zu freien die Hand der Prinzessin. Mein Vater ist Fürst KenKen vom Volk der Sagichen."
Die Wachen erschraken. Ein Fürstensohn hatten sie erwar­tet, doch hatten sie nicht gedacht, dass er bereits so jung ein­armig geworden war. Zweimal waren die Töchter des Kaisers gestern bei ihnen gewesen und hatte ihn angekün­digt. Immer wieder hatten sie gesagt, dass er kein Wort in ihrer Spra­che spreche. Die ihn erklärenden Worte musste er auf seiner Rei­se ge­lernt haben.
Der eine der Wachen nahm Kens Pferd vorsichtig am Zügel und führte es über den Hof. Es war ein zutrauliches Tier, stupste ihn freundschaft­lich mit der Nase und zupfte an seinem Hemd.
Die Magd, die Ken ein Lied gesungen und den Stiefel ge­streichelt hatte, schaute aus einem Fenster heraus, aber Ken sah nicht dorthin. Der Alte stand in der Tür und kratzte sich den Rücken.
'Da sieh mir das ei­ner an', dach­te er. 'Aus einem Laus­bub mach ich mir eher einen Für­sten als einen ordentlichen Stall­jungen.' Als der Alte bemerk­te, dass Ken seine Vor­stellung einarmig gab, hielt er sich den Blechbecher vor den Mund, als trinke er.
"Sie speisen gerade", erklärte der Wache. "Soll ich sie trotzdem zu der Prinzessin bringen."
Ken nickte nachdrücklich. Obwohl er die fremde Sprache gerade kaum beherrschte, war er doch sehr hung­rig.
Der Wache hatte ihn beobachtet. Wie die Augen des ein­armigen Fürstensohnes leuchte­ten, darin erkannte er eine wahre Zuneigung. Das war gut, dass nun ein Ehrlicher kam, war doch der andere ein Missmut und, schlimmer noch, ein Herumtreiber gewesen.
Sie hatten den anderen Fürstensohn alle gesehen, wie er immer wieder loszog, kaum dass ihre Wache begonnen hat­te. Man schwieg über den Vorfall mit dem Zwerg, war doch der Soldat, den man be­trunken gefunden hatte, ein be­kannter Raufbold gewesen. Doch konnte er sich seinen Teil denken. Dieser andere Fürsten­sohn hatte etwas mit dem Zwerg zu schaffen, das war ge­wiss!
Ken wurde in einen großen Saal geführt, die lange Reihe der Speisen entlang. Der Soldat und er selbst waren über­aus beeindruckt von der Fülle der aufgehäuften Spei­sen. Weil viele der Die­ner an der Tür standen, wollte auch der Soldat dort stehen, bis die Herrschaften gegessen hatten.
"Ich will treten an Tisch, wo Prinzessin ist", verlangte Ken, und dies so entschieden und hohl, dass der Soldat ihn sofort wei­ter­führ­te.
Hinter den Essensbergen verbarg sich ein langgestreckter Tisch. An sei­nen Enden sa­ßen die Kai­se­rin, die nichts aß, und der Hofmar­schall, der etwas schrieb statt zu essen.
Der Soldat führt Ken zu den Prinzessinnen. Nadim war starr, als sei ihr ein Schrec­kensbild erschienen. Des­sa hätte am liebsten ihre Schwe­ster in den Arm genommen, wenn es schicklich gewesen wäre und sie damit nicht alles verraten hätte.
"Wer ist der junge Mann?", fragte die Kaiserin.
Alle schauten von ihren Tellern auf und sahen Ken an. Er wies stumm auf Nadim, die für ihn sprechen sollte. Doch Nadim war die einzige, die auf ihren Teller sah.
"Hat er keinen Namen? Kennt ihn keiner?", fragte der Hofmarschall. Als niemand sich freiwillig meldet, wandte er sich an Ken: "Dann müsst ihr selbst für euch sprechen."
"Mein Name ist Ken, weil ich Sohn bin von Fürst Ken­Ken", ant­wortete er. "Ich komme einen wei­ten Weg, weil ich ge­hört habe, Prinzessin ist ohne Mann."
"Aber wir haben zwei Prinzessin­nen, die keinen Mann ha­ben", warf die Kaiserin belustigt ein. "Will er sie nicht bei­de?"
"Nein, er nur will von ihnen diese!", sagte Ken und zeigte auf Nadim, die mit ihren Blicken den Teller durch­bohrt hatte.
"Und er würde sie wirklich für immer mit sich nehmen?", fragte die Kaisern hoffnunsgvoll.
"Er sie nehmen für Leben bis Ende in Tod", verkündete Ken.
"Bitte", sagte die Kaiserin, "er soll einen Platz ein­neh­men - neben der Prinzessin Nadim."
"Er kann sitzen, wo ich gesessen habe", sagte Woi und erhob sich.
"Wenn er von einer weiten Reise kommt, ist er sicherlich hungrig", sagte die Kaiserin.
"Sehr weite Reise das war", sagte Ken, "so sehr lang wie Leben von ein Lamm." Würdevoll trat Ken an seinen Platz und ließ sich von Woi den Stuhl unterschieben. Dann hob er langsam den abgebundenen Arm auf den Tisch.
"Wie ist es passiert?", fragte die Kaise­rin.
"Arm ist fort von Speer von Feind", sagte Ken und nahm sich ein Bratenstück.
"Sie sind uns willkommen", sagte die Kaiserin.
"Ich ...", sagte Ken kauend, "... großen Dank."

Chapter 78. Woi bei den Drachenzähnen

Die beiden Wachen sahen Woi gelangweilt an. Heute mach­ten sie keinen frischen Eindruck.
"Na, dein Freund mit den Zähne nicht da", grüßte der eine ihn. "Wohl zum Nachfeilen gegangen, der Kleine ..."
Der an­de­re gähnte und stampfte sich die Füße warm.
"Ich will mein Pferd!", sagte Woi.
"Wenn du mir mein Bett holst, besorg ich dir dein Pferd", bot der Soldat an.
"Nun habt euch nicht so", sagte Woi. "Die Ställe sind dun­kel. Sagt mir wenigstens, wer die Schlüssel hat."
"Na ja, wenn es keinen Lärm macht, dein Pferd", sag­te der sprechende Wachsoldat. "Geh, Schnör, zeig ihm das Häus­chen vom Stallmeister, damit wir unsere Ruhe haben."
Der stumme Wachsoldat blickte Woi an, ob er kein Er­bar­men hatte mit ihm oder wenigstens mit dem Pferd. Aber die Zeit auf Wache ver­ging schneller, wenn einer etwas tat, als wenn einer nichts tat. Also schüt­telte er sei­ne Träg­heit wie die Nässe von ei­nem Pelz ab und winkte Woi mit dem Kopf, dass er ihm folgen solle.
"Danke", sagte Woi zum sprechenden Soldaten.
"Dich mag ich", sagte der Soldat. "Ist nur dein Freund, der Rat­ten­zahn, den ich nicht mag. Dem Schnör ist alles egal."
Der eine Fuss des stummen Soldaten schritt aus, während der andere sich ziehen ließ, als sei er noch nicht geweckt worden. Sie gingen um die Ställe herum auf eine flache Hüt­te zu, die Woi bisher für die Behausung eines Wachhun­des gehal­ten hatte.
Der Soldat nahm den Speer hoch und polterte mit dem stumpfen Ende gegen eine lose Tür. Von drei Scharnieren, die sich eisern in ihnen festgebissen hatten, wurden die Bretter daran erin­nert, dass sie sich keine Hoffnung auf eine Freilas­sung machen brauchten.
Ein stoppelbärtiger, fetter Alter zeigte sich und kratz­te sich ver­schlafen den kahlen Kopf. "Grümm nummm ehr wasnloswasn."
"Mein Pferd will ich", sagte Woi.
Der Soldat nickte. Dass der Stallmeister es nur glaubte und sich zu bewegen anfing. Betrunken war er, und faul war er, schon wenn er nüchtern war.
"Die Pferde sin' am Schlaf'n. Alles zu un' dunkel schon lang."
"Dann bitte geht und weckt mein Pferd", verlangte Woi. "Es ist wichtig!"
"Wichtig is', dass ich schlaf und wichtig is' ..."
Der Wachsoldat hatte seine behandschuhte Hand langsam aus­gestreckt, und der Stallmeister musste mit sich weiten­den und krei­senden Augen ansehen, dass seine Nase ge­packt und lang­sam aus sei­nem Gesicht herausgedreht wurde.
"Jaul aul uihm uhmpf!"
Der Wachsoldat nickte der Nase zwischen seinen Fingern freundlich zu. Weich war sie und schien ihm recht biegsam. Es tat ihr nun weh genug. Sie würde nicht wollen, dass er ihr noch weher tat. Vielleicht war es nun wich­tig ge­nug, dass der Jun­ge endlich seinen Gaul besorgt bekam.
"Ich mpfgeh schonmpf, ioua, meine Nase!"
Der Wachsoldat drehte die Nase so, dass sie wieder saß, wie sie gesessen hat­te. Er war sich nicht si­cher, aber er glaubte, dass das Gesicht so oder ähnlich ausgesehen hatte. Ein biss­chen würde der Stallmeister noch drehen müs­sen.
Des Mannes gequetschte Klagen hörten sie im Stall. Ir­gendwo schlug sein Kopf dumpf vor, dann leistete Sat­tel­zeug Widerstand. Schließlich kam er mit einem Pferd zu­rück und hielt sich die Hand vor das Gesicht.
"Danke", sagte Woi, als er Prinz in Empfang nahm.
"Umpf numpff", antwortete der Stallmeister und winkte ih­nen zum Abschied mit der Hand, die nicht die Nase hielt.
Der Wachsoldat strich das Feuchte aus der Nase zwischen seinen Fin­gern am Rücken des Pferdes ab. Es bekam wie Woi einen Klaps, damit es nun endlich losging.
Woi sprang auf und ritt langsam, um keinen Lärm zu ma­chen, über den Hof. Erst als das Tor in der Dunkelheit ver­schwand, ließ er Prinz freien Lauf.
Vor sich sah er bald die ersten hohen Bäume, die im Schat­ten aussahen wie die Stangen, auf denen die Soldaten ihre Helme ablegen. Eben ein wenig größer, mit Helmen für Rie­sensoldaten.
Sobald der Waldboden die Schritte von Prinz unhörbar mach­te, hielt Woi an. Es war zwecklos umherzureiten. Er musste sich etwas einfallen lassen. Irgendwo dort oben unter den Riesenhelmen schliefen die Drachenzähne, und weil sie sich sicher fühl­ten, schliefen sie fest.
Eigentlich hatte Prinz die Idee. Als er leise schnaubte, beschloss Woi, ihn die Pferde der Drachenzähne suchen zu lassen. Wahrscheinlich hatten sie für ihre Pferde ein Ver­steck in einer Senke des Waldbo­dens ge­baut.
Prinz brauchte nicht lange, bis er von ir­gendwoher Witterung aufgenommen hatte, die Ohren drehte und immer weiter in den Wald hin­einschritt. Dabei trat er vorsichtig auf, denn der Boden war mit feinhakigem Ge­strüpp übersät.
Schließlich blieb Prinz stehen und begann, zu schnauben und zu scharren. Hier hatten sich die Ballen wie zufällig zu einer Platte verhakt. Die Rinde des Baumes wies von Pfei­len punkt­förmi­ge Auf­spren­gun­gen auf. Woi sah hinauf, aber nichts ver­riet die Drachen­zäh­ne.
Woi stieg vom Pferd und schob das ballige Gestrüpp aus­ein­ander. Es ging ganz leicht. Unter ein paar Hölzern standen tatsächlich die Pferde der Vier und schnaubten.
"Es ist der Fürst", hörte Woi die Stimme von Schädel über sich zi­schen.
"Sicher ...?", grummte Tatze.
"Wenn er es doch sagt - glaubt es ihm einfach!", rief Woi hoch. "Habe ich euch geweckt?"
"Wir Drachenzähne schlafen nie", tönte Schädel. "Schlaf findet nur, wer ein Zuhause hat."
"Stell dein Pferd zu den anderen", rief Tat­ze.
Woi stieg die heruntergeworfene Leiter hoch, die heftig schwankte, weil niemand sie von unten fest­hielt. Er war froh, als er die Dachluke zu fassen bekommen und sich auf das Plateau gezogen hatte. Die Drachenzähne saßen in sich zusammengesunken. Ihr Schweigen war noch et­was schlaf­trunken.
"Ich habe euch gesucht", sagte Woi und wartete, dass sie wach wurden.
"Ja", sagte der Zwerg heiser, "und nun hast du uns ge­fun­den."
"Ja", sagte Woi. "Es ist wichtig, sonst hätte ich euch nicht geweckt ... ich meine, gestört."
"Nein ...", sagte der Zwerg.
"... hättest du nicht", vollendete Tatze.
"Grummnjum", der Narbige.
"Ich fange am besten vorne an", schlug Woi vor.
Schädel war dafür, den anderen war es egal, wo er an­fing.
"Also vorne ..." Woi atmete tief durch. "Ganz von vor­ne!" Diesmal war es auch Schädel egal, wo er anfing.
"Ich will euch etwas fragen. Wollt ihr wissen, was es ist?"
Keiner von ihnen wollte sich so schnell festlegen. Tatze kratzte sich den Kopf, und der Zwerg gähnte wie ein Wie­sel. Schädel setzte sich wieder, und der Narbige lehnte sich zurück.
"Warum macht ihr bei der Befrei­ung von Tesla Sohn mit? Das macht ihr doch oder?" Woi kam sich nun ziemlich blöd vor. Er hatte die Drachenzähne nur für diese Frage ge­weckt. Sie war ihm so wichtig vorgekom­men, dass er nicht mehr hatte schlafen können.
"Ich mache mit, weil sie alle mitmachen", sagte Tatzte und war stolz, dass ihm zuerst ein Grund eingefallen war.
"Ist doch egal, warum", grummte der Narbige.
"Wenn Tesla es sagt", war die Begründung des Zwer­ges.
"Ich überlege noch", sagte Schädel grinsend. "Kommt über­raschend, dass ich einen Grund brauche."
"Dann haben wir alle keinen richtigen Grund!", rief Woi triumphierend.
"Ich? ... wie? ... aber ich ...?", kam es aus Tatze.
"Du meinst, ich brauche mir keinen Grund zu überlegen, um mitzuma­chen?", fragte Schä­del erleichtert.
"Wenn keiner von uns einen Grund hat, dann kann eigent­lich nichts schiefgehen bei unserem Abenteuer, hab' ich mir gedacht."
"Ah hümm", gnalte der Narbige.
Es war ganz still bei ihnen hier oben. Der Wind war aus­ge­sperrt, heulte und zog an dem alten Baum, der nur mür­risch knurrte und im tiefen Schlaf sein mächtiges Haupt wiegte.
"Meint ihr, ein Abenteuer ist es selbst wert, dass man es macht?", un­terbrach Woi den Todschlaf des Gesprächs.
"Auf jeden Fall!", sagte Schädel, ohne nachzudenken.
"Schaden wird's nicht", bemerkte der Zwerg.
"Wie? Was hat er gesagt?", fragte Tatze ohne großen Wis­sensdrang.
Der Mond sprang zwischen den jagenden Wolken umher. In wechselnder Folge erschienen Woi die Drachen­zähne hel­den­mutig, dann wieder brüterisch.
"Dann geht's also bald los?", stellte der Narbige fest.
Nun nickten sie alle. Nur der alte Baum schüttelte ganz langsam seinen Kopf. Ihm konnte niemand erzählen, dass es gut war, für ein Abenteuer fortzu­ziehen. Er würde bleiben, wo er war, da konnte ihn der Wind mit seinen wilden Gebär­den nicht aufstacheln. Jeden Abend kam dieser angekrochen und heul­te, weil er sich die Glie­der verrenkt hatte bei seinem Umher­jagen.
"Eigentlich", sagte Woi, "wollte ich euch nur sagen, dass ihr mit mir rechnen könnt."
Der alte Baum schüttelte immer mehr den Kopf, als der junge Mann, kaum war er gekommen, wieder die windige Lei­ter herunter­kletterte. Als die Drachenzähne sie ein­ziehen wollten, hielt der Alte sie fest, um die Burschen ein we­nig zu är­gern, aber sie zerrten an dem Leiterding mit al­len Kräf­ten, und schließ­lich gab er sie frei. Eine Ast wollte er für ihre Narre­teien nicht op­fern!

Chapter 79. Li beantragt die Verbannung

Noch einmal schlug die Gerichtstür auf. Sol­daten traten mit schweren Schuhen herein und schoben eine dicke, trip­pelnde Frau vor sich her. Zwei Bau­ers­leu­te kamen ihr ent­gegen, die der Hun­ger so ge­zeichnet hat, dass man kaum sagen konn­te, wel­cher der Mann und wel­che die Frau war. Die Soldaten schoben die Frau auf die Bank.
Dort saßen bereits ein Dicker mit einer Glatze und ein junges Mädchen, außer­dem ein Langer und ein Klei­ner in guten Klei­dern. Aber solche kannte sie, würde ihnen nicht die Hand mit den Ringen daran reichen! Ver­ächt­lich machte sich die Frau noch dic­ker, so­dass das jun­ge Mäd­chen auf der ande­ren Seite fast herun­ter­gefallen wäre.
"Ich hoffe, der Richter ist gerecht", eröffnete sie das Gespräch. "Wie einfach liegt mein Fall, wenn nur der Rich­ter gerech­t ist."
"Müde ist der Richter heute, Li. Ich weiß nicht, ob es gut ist, dass wir ihn behelligen", sagte der dicke Mann zu dem jun­gen Mädchen.
"- die Borstige, dieses Weibsstück!", setzte die Frau zur Ausführung ihres Falles an. "Hab ich doch nur gesagt, und das werd ich hier bezeugen, jawohl, dass sie aussieht wie eine Hexe, wie ein garsti­ges, böses, borsti­ges und al­tes Zauber­weib. Und nun sagt sie, sie hätte einen Fluch auf ih­rem Vieh und auf den Eiern und den Früchten, weil ich gesagt habe, sie ist eine Hexe. Dabei habe ich nicht ge­sagt, dass sie eine Hexe IST, sondern nur AUSSIEHT wie eine." Sie woll­te niemanden von der Bank herun­tersto­ßen, aber sit­zen musste sie nun ein­mal, das war ihr nicht zu verweh­ren.
"Gleich bringen die Diener dem Richter die Decke", erklärte der dicke Mann. "Damit seine Füsse ihm nicht frieren, sagen sie. Aber ich höre sein Schnarchen, weil ich darüber woh­ne. Ich hö­re, wenn sie die Türen schließen, kurz dar­auf sein Sägewerk."
"Wie steht der Angeklagte sich vor dem Richter", fragte der Kleine den dicken Mann, "wenn er sagt, dass er hat einen Hunger am Leib gehabt und hat getan alles, was sie sagen, nur für das Brot", fragte der Kleine.
"Schlecht steht er sich bei ihm, würde ich sagen, schlecht. Der Richter beklagte die letzten Wochen eine Störung des Magens und des Abgan­ges, wie er sagt. Ich würde vor ihm nicht von Essbarem sprechen. Ich höre in meinem Zimmer, wie es ihm geht in der Nacht, wenn er aufsitzt und für sein Stöh­nen sein Schnarchen aufgeben muss."
"- doch die Borstige hat eine Tochter, die wo was man hört, einen wilden Busen hat und den Poli­zisten kennt, der vom den Prä­fekten weiß, dass er ein Haus hat, von dem nie­mand wissen darf, dass darin eine wohnt, die nichts zu tun hat, als dass sie sich die Haare kämmt und Sa­chen trägt, die wo jeder durchsehen kann!"
"Wie steht er sich vor dem Richter, wenn er sagt, dass die Schuld war keine Schuld und war nur Werk­zeug von Zufall, das ihn hat gefangen damit?"
"Schlecht steht er sich", der Dicke schüttelte traurig den Kopf. "Ich saß und schrieb ein Gedicht über den Miss­mut - solche und andere Sachen - als ich, um mich von meinem Schick­sal ab­zulen­ken, sein Urteil hörte in dem Falle zwei­er Ma­trosen, die in einer Schenke gewütet hat­ten, wo Soldaten sie inmitten ihrer Trümmer aufgriffen. Nichts zuge­ben woll­ten sie, als dass sie die Ersten wa­ren, die angepackt hätten, um den Scha­den zu beheben, worauf die Täter sich lachend da­vongemacht hätten."
"Nicht gut ...?" fragte der Kleine.
"Er fragte nicht einmal, wie das sein könne", sagte der Dicke mit der Glatze.
"- 'und wenn die Borstige eine Hexe ist', sa­gen mir die Leute, 'und fort muss, was sollen sie', fragen sie frech, 'saufen dann, um zu lie­gen auf der Straße in ihrem Dreck?' Also legen sie mich in Ei­sen und trinken von der Hexe weiter ihr Gebrautes. Aber die Ge­rech­tig­keit will ich her­beiru­fen, dass sie kom­mt auch in unsere Stadt, da­mit sie sieht all die Leute, die Trinker, die Gau­ner, die Huren, die Hexen ..."
Ein Saaldiener stieß mit dem Fuß dreimal feste gegen die Bank, dass es alle durchschüttelte. Rechts an ihnen ging der Richter vorbei.
"Er trägt sein Kissen heute selbst", flüsterte der Dicke mit der Glatze. "Er wird müde sein. Ist in der Nacht viel aufgestanden, wie ich von meinem Bett gehört habe und hat gedrückt und gedrückt, aber es hat ihm keine Trö­stung ins Was­ser fallen wollen."
Der Richter sank langsam in seinen Sessel und in ein bleiches Schweigen hinein. Dann schreckte er auf, sah sich frem­delnd um und sagte schließ­lich mit dünner Stimme: "Wir werden heute gelegentlich kurz unter­bre­chen müssen, ich habe da eine schwierige Sit­zung, die mei­ne Anwesenheit erfordert."
Er wirkte bedrückt. Die einst wie Trauben sonnenpral­len Tränensäcke unter sei­nen Augen waren einge­trocknet und mergelig. Er trank die halbe Ka­raffee Wasser leer und tauschte mit dem Saaldiener einen besorg­ten Blick.
"Zum Fall der Frau Hella", begann er wieder und sah müde auf vollgeschriebene Papiere.
"Bella ist es!", warf die Dicke gutgelaunt in den Saal.
Den Richter wurde Haut unter Haut fahl, als sie sich zu Grö­ße und Umfang erhob.
"Gut, Frau Sella, eben ... der Fall der Frau Sella", sagte er und sah seinen Gerichtsdiener an.
"Nein, Herr Richter, sie machen es wieder falsch", lärm­te die Dicke. "Es ist schon 'Sella', aber eben 'Sella Bel­la'. Das ist mein voller Name, und mein Vater, der die besten Würste gemacht hat in unserer Stadt, hat gesagt, das ist ein Name, wie zwei Würste hin­tereinander, dass man gleich sieht, dass das Ding zusam­mengehört."
Der Saaldiener trat mitleidig an die Seite des Richters. Er war ein großer Bursche, dessen kräftige Muskeln sich deut­lich unter einem engen Ober- und Unterteil abzeichne­ten. Es war ein heimeliger Eindruck, ihn dort vor­ne stehen zu sehen, wie er die Hand des Richters hielt. Und es tat dem Rich­ter Gutes. In seinem Ge­sicht zeigte sich Wölk­chenrot über den Wangen, wan­derte von den Backen zur Stirn, von dort zu den Ohren und sam­melte sich auf der Nase. Schließlich schaffte es der Richter, seine ganze restlich verfügbare Kraft in einen Blick zu legen, mit dem er Sella Bella böse an­sah.
Sie hatte derweil weitererzählt von den Würsten, die der Vater noch selbst mit der Hand herauszogen hatte, und vergaß nicht zu sagen, dass sie ihr, seiner Tochter Sella Bella, immer zu glitschig waren und ir­gendwie unap­pettit­lich, natürlich nur, wenn sie roh aus der Presse kamen, dann glitschten sie, dass sie die nicht fas­sen konnten.
"Frau Sessel Bell oder so!", keuchte der Richter. "Sie stehen hier vor dem Ge­richt des Kaisers, halten sie den Mund, sonst werde ich eine Maul­sperre anordnen."
Frau Bella erhob sich, setzte sich, und erhob sich wie­der. "Herr Richter!", sagte sie und empörte ihre Augen.
"Halfi", sagte der Richter und ließ die Hand seines Saaldieners los, "nimm eine von den neuen. Sie lassen sich leichter anbrin­gen." Der Richter hatte eine Schublade auf­gezogen und reichte ihm ein starr geöffnetes Gebiss.
Halfi steuerte auf Frau Bellas Mund zu. Sie sah ihn fas­sungslos an, öffnete ihren Mund, schloss ihn wieder und als sie ihn wieder öffnete, schob ihr Halfi augenschlag­schnell das Gebiss zwi­schen die Zäh­ne, welches sich mit metal­lische Klang in ihrem Sprech­organ ein­rastete. Nun hatte Frau Sella Bella ein angestrengt ausdauerndes Lachen befallen.
Halfi war zufrieden mit seinem Werk und nahm den Richter wie­der an der Hand.
"Frau Bellsell, ich verweise sie und ihren Fall zurück an den zuständigen Präfekten. Soll er nach seinem guten Dünken mit ihnen verfahren. Ich kenne diesen Mann, wohnte einst in seiner Stadt. Er hat ein reizendes kleines Häus­chen dort, an das ich nur die angenehmsten Erinne­rungen habe."
Frau Sella Bella lächelte breit und schwieg.
"Die beiden dort", der Kleine und der Große erhoben sich, "die missbräuchlich das Siegel des Kaisers für ihre fal­schen Prägungen benutzt haben, um den Menschen damit die Gewogenheit des Kai­sers zu ver­kaufen, um auf die niedrig­ste Art zu betrü­gen - ich bin geneigt, sie auf das streng­ste zu bestrafen." Halfi nick­te, als habe er nur dieses Urteil als das einzig ge­rechte erwar­tet.
"Ich sehe nicht, was Unrecht war daran", hob der Kleine an. "Die Menschen sind gekommen zu uns und haben abgegeben Taler. Die Menschen sind gegangen zum Hof und ha­ben abge­geben Be­schwer­de. Ist kein Unrecht, was ich sehe. Ist nicht verbo­ten, Taler zu geben. Ist nicht ver­boten, Be­schwerde zu haben."
"5 echte Goldtaler in die Gerichtskasse zu Halfis Hän­den oder ein schreckliches Urteil, das ist mein letztes Wort", kam es aus der Tiefe des Richtersessels.
Der Große sah den Kleinen an. Dieser blies er­leich­tert die Backen auf. Auch sie fassten sich an den Händen und setzten sich.
"Halfi, was wollen diese beiden dort?", fragte der Rich­ter ermattend und zeig­te auf den Dic­ken mit der Glatze und das junge Mäd­chen, das seit ei­niger Zeit neben der Bank ge­standen hatte.
"Kenne ich nicht. Weiß nicht, was die wollen", sagte Halfi. Unter den geweiteten Augen des Richters kratzte er sich im Schritt. Immer wenn er glaubte, irgendwie etwas Wichtiges verges­sen zu haben, kratzte er sich dor­t. Es war eine unge­tilgte Ange­wohnheit aus der Zeit, als er noch Ge­fan­ge­nen­wärter gewesen war.
"Ich kenne sie", sagte der Richter und zeigte auf den Dicken. "Aber das Mädchen kenne ich nicht", sagte er und zeigte auf Li.
"Ich bin Dichter zu Hofe und tra­ge den Namen LoBe", sag­te der Dicke und trat vor. "Dieses junge Mädchen an mei­ner Seite heißt Li. Ich habe ihr ver­sprechen müssen, den ehrenwerten Kai­serlichen Herrn Rich­ter um eine Ver­ban­nung nach­zusu­chen. Falls sie also die Gnä­dig­keit ha­ben, uns zu ver­ban­nen, wir wären zu jeder Zeit bereit, die Rei­se mit dem Schiff anzu­treten"
Der Kleine sah den Großen an. Der Richter sah seinen Saaldiener an. Frau Sella Bella hätte gerne etwas gesagt, aber sie lächelte nur.
Der Richter erhob sich und lächelte nicht. "Herr Dichter LoBe, ich kenne sie als einen Mann des Spaßes und der Kurz­weil, aber dies ist nicht der Ort, der auf ihren Auf­tritt gewartet hat."
"Wir bieten uns an - können tauschen mit jemandem, der ein wahres Unrecht begangen hat!", rief der Dichter.
"Ich habe nicht all die Jahre mein Bestes gegeben, Schuld und Unschuld zu wägen", sag­te der Richter, "um mich von ih­nen verulken zu las­sen."
"Dann sprechen sie mich schuldig, dass ich meiner Spra­cher Gewalt zufügt habe, dass ich an meiner Gabe Betrug be­ging, dass ich meine Ideen mit den höfischen Räubern auf­wachsen ließ", rief LoBe, der Dich­ter. "Ist nicht manch einer für viel weniger in Ketten aus diesem Saal geführt worden?"
"Das kann euch auch passieren! Nehmt euch nicht zu viel heraus!", sagte der Richter und hatte sich bleich und auf Halfi gestützt erhoben. "Ich habe dringli­che­re Ge­schäf­te zu erledi­gen, als euren Unsinn anzuhören."
Der Dichter LoBe war nicht der Mann einem anderen - und sei er ein noch so dringlich bedrückter Richter - das letzte Wort zu überlassen, aber Li zog an seinem Ärmel. "So hört doch, was er sagt!", flüsterte sie. "Wenn er uns einsperrt, dann haben wir keine Hoffnung mehr."

Chapter 80. Das Abenteuer

"Dieser Ken ist erstaunlich", sagte Baldeina, "Er ist noch nicht einmal so alt wie wir und hat schon einen Arm im Kampf ver­loren."
"Der hat eben Glück!", sagte Woi, der auf seinem Bett lag und zur Decke sprach.
"Glück?", rief Baldeina entsetzt. Er hatte sich vor­gestellt, wie der Arm auf dem Boden zappelte, als gäbe es für ihn noch etwas zu kämpfen.
"Mit dem Arm, das war Pech", erklärte Woi. "Aber er hat Glück, weil er bei einem Rei­ter­volk aufgewachsen ist. Da findet er sie leicht, die Abenteuer."
"Also ich für mich bin froh, dass mein Vater kein Rei­tervolk hat. Es geht uns doch gut! Ehrlich!"
"Ihr passt sicherlich gut zusammen, du und dein Vater und euer Volk", fand Woi.
"Ich glaube, Nadim mag Ken weniger als dich", sagte Bal­deina und wurde rot.
Es hatte draußen zu regnen begonnen, und der Wind hatte gedreht. Jetzt schlugen die Tropfen gegen die zwei kleinen Scheiben.
"Sind die Fenster zu?", fragte Woi.
"Ich habe extra nachgesehen", log Baldeina.
Woi lag auf dem Bett und sah zur Decke hoch. Baldeina saß auf dem Schemel über sei­nen Bauch gebeugt, um diesem an­zuzei­gen, dass er sich in den näch­sten Stunden keine Hoff­nung auf eine Mahlzeit zu ma­chen brauchte.
"Ich glaube, die anderen mögen mich erst, wenn ich mich selber mag", sinnierte Woi zum Regen hinauf.
"Aber ich mag dich doch ... wie einen Freund", warf Bal­deina ein. Er sah, dass sich an den Fen­stern Wasser sam­melte. Es war ein Rinnsal, jedenfalls sah es so aus. Viel­leicht war es auch nur ein Riss. Der Regen trommelte gegen die Scheiben, als mache er sich Hoffnungen.
"Ich mag MICH nicht - das ist das Wichtige!", rief es ungnädig zur Decke hinauf.
Baldeina dachte darüber nach, dass Leute mit Abenteuern oft keine Zeit hatten, um zu es­sen. Manchmal waren sie auch gefangen und bekamen nichts - nicht einmal ein Bett, worauf sie mit ihrem Hunger schlafen konn­ten.
"Ich mag mich eigentlich genug", sagte Baldeina. Er sag­te lieber nichts weiter, um vor Woi nicht als Feigling zu erscheinen. Da sie ja Freunde waren, würde er hel­fen, wenn Woi in sei­nem Aben­teuer einen Freund brauchte. Das konnte er sich gut vor­stellen.
"Ich glaube, Abenteuer gibt es genug", sagte Woi. "Nur die passenden Männer gibt es zu wenig!"
Bal­deina nick­te und beugte sich über sei­nen Bauch.
"Ein Abenteuer geht von einem zum anderen, glaube ich, bis es schließlich einen fin­det."
"Bestimmt sucht ein Abenteuer ziemlich lange", sagte Baldeina, aber das war irgendwie nicht, was er hat­te sagen wollen.
"Wenn ein Abenteuer jemanden ge­funden hat, weiß es noch nicht, ob er der Richtige ist ...", dachte Woi laut nach.
"Ich glaube, für ein Abenteuer ist jeder erst mal nur ein Anfänger, wie der Küchenjunge für den Koch."
"Nein, bestimmt nicht!" widersprach Woi. "Sonst könnte ja je­der Aben­teuer lernen, wie jeder das Ko­chen lernen kann. Das stimmt aber nicht!"
Baldeina pflichtete ihm bei: "Du hast recht. Das Aben­teuer, stelle ich mir vor, holt sich ein paar gute Leute zusam­men -"
Das hörte sich schon besser an, fand Woi.
"- dann zie­hen sie los, und am Ende ist ei­ner übrig, eben der Be­ste. Das spricht sich herum bei den anderen Aben­teu­ern, bis alle wissen, was für ein tol­ler Mann er für sol­che Sa­chen ist. Natürlich kommen sie alle jetzt zu ihm und zu keinem anderen!"
Woi nickte. Dafür, dass Baldeina kei­ne Lust auf Aben­teu­er hat­te, konn­te man gut mit ihm darüber reden.
"Du musst nicht den­ken, dass ich feige bin", sagte Bal­dei­na.
Woi gab ihm zu verstehen, dass er überhaupt nicht so gedach­t hatte.
"Es ist nur, wenn ich es mir aussuchen könnte, dann müsste es nicht unbe­dingt ein Abenteuer sein. Ich fin­de auch an­dere Dinge gut ... Aber wenn ein Freund bei einem Aben­teuer Hilfe braucht, dann kannst du dich auf mich ver­las­sen."
"Weiß ich doch", sagte Woi.
"Und was ist mit Nadim?" Baldeina sah zu den beiden Fen­stern hoch, die von innen be­schlagen waren. Der Regen schlug, als werfe einer aus der Hand Wasser dagegen.
"Ich weiß nicht", gestand Woi, "mal denke ich so, dann wieder so. Es hat keinen Zweck, über irgendetwas nachzu­den­ken."
"Ist es der Fluch?", wagte sich Baldeina vor.
"Es war vielleicht nicht klug ... das mit den Haaren", gestand Woi.
"Tut es dir nun leid?", fragte Baldeina etwas verwirrt.
"Nein, es war nur nicht KLUG!"
Baldeina überlegte: "Ist es denn wichtig zu wissen, ob sie dich liebt. Es geht viel­leicht auch mit Nadim, OBWOHL du verflucht bist!"
"Und wenn es nachher doch wichtig ist? Was würde Nadim sa­gen!?"
Baldeina überlegte, ob er sein Wissen über Nadim für sich behalten oder weiterge­ben sollte. 'Eigent­lich', dach­te er, 'habe ich Glück, dass es so einfach bei mir ist. Und Dessa hat natürlich auch Glück!'
"Ich würde gerne mit dir heiraten!", rutschte es Baldei­na heraus. Er war gerührt, dass Woi wie ein richtiger Freund war. Vielleicht war es aber auch der Hunger, der ihn in eine Stimmung versetzte.
"Mit mir HEIRATEN?"
"Ich habe dir noch nicht gesagt, dass die Prinzessinnen nur zusammen heira­ten wollen. Du verstehst doch? Dessa hei­ra­tet mich nur, wenn auch Na­dim einen heiratet. Das ist für mich ziemlich schwierig. Ehr­lich gesagt, wärst du mir zum Heiraten am liebsten, weil es wegen der Freundschaft ist!"
"Du kannst doch auch mit dem Ken heiraten!"
"Ich weiß nicht, ich habe so ein gewisses komisches Ge­fühl bei ihm", stotterte Baldeina und hatte sich fast ver­raten. "Ich meine, wenn ich seinen Arm sehe - also den, der noch dran ist ... "
"Aber das kann dir doch egal sein", unterbrach ihn Woi.
"Eben nicht! Die Prinzessinnen sagen, dass sie al­les teilen werden, auch nach der Heirat ... Glück und Un­glück meine ich, sonst natür­lich nichts!"
"Wenn Nadim unglücklich ist, dann auch Dessa und du?",
fragte Woi amüsiert.
"Ich finde es nicht lustig", sagte Baldeina empört.
"Dann komm doch mit auf mein Abenteuer", schlug Woi vor.
"Das fände ich überhaupt noch weniger lustig!", antwor­te­te Baldeina.
'Ein Abenteuer in der Küche, das wäre das Richtige für ihn!', dachte Woi verächt­lich.
"Findest du nicht, dass auch eine Heirat mit einer Prin­zessin ein Abenteuer ist? Ich meine, wenn man es mal an­dersherum sieht."
"Also wirklich", empörte sich Woi, "du willst es mir nur madig machen!"
"Was ist denn GENAU der Unterschied?", fragte Baldeina streitlustig.
"Wenn du es wissen willst - ein Abenteuer ist geheim und eine Heirat nicht."
"Das ist nicht viel an Unterschied!"
"Außerdem, wenn ich es bestanden habe, dann ist es vor­bei und ich kann stolz sein!"
"Auch nicht viel an Unterschied!"
"Man muss dafür mutig sein - heiraten kann schließ­lich jeder!"
"Das ist es nämlich, was du wirklich denkst! Dass ich nur heirate, weil ich feige bin. Ich frage dich, ist es MUTIG, dass du einfach vor Nadim ab­haust?"
"Du hast die Fenster nicht verschlossen!", stellte Woi fest und tippte mit dem Finger auf das Rinnsal. "Es ist deine Schuld, dass es hereinregnet."
"Gut", sagte Baldeina und stieg auf sein Bett, um die Fenster zu schließen. "Es ist meine Schuld, dass es her­einregnet, und wir sind wieder Freunde."
"Abgemacht", sagte Woi, "und außerdem kann ich nicht hierbleiben, weil ich schon versprochen habe, dass ich dabei bin."
"Wem versprochen?", fragte Baldeina erstaunt.
"Eben denen, über die ich nicht sprechen darf."

Chapter 81. Li und LoBe mit Papierregen

Lis Dichter war betrunken. Es half nichts, er hatte zu­viel getrunken, als dass er nun aufhören konnte, und er hatte viel zu­viel ge­trunken, als dass er es vor Li hätte ver­bergen können.
Nein, er hatte nicht nur getrunken, auch ein Ge­dicht war ihm ein­ge­fallen! Doch hatte er es wieder verlo­ren. Es war schnell einge­fallen und ebenso schnell wieder ausgefallen.
"Es war ein schlechtes Gedicht. Ein gutes Gedicht ver­liert sich nicht. Es war ein Hofgedicht, ein solches, wie sie sich leicht verlieren. Ein gutes Gedicht ist wie ein Mensch, ein wirklicher Mensch. Man bindet ihn auf einem Tisch fest und quält ihn so­lange, bis er mehr ver­raten hat, als er gewusst hat."
Er machte Anstalten, auf den Tisch zu steigen, um sich von Li quälen zu lassen. Es war ein schwächlicher Tisch, der nie mehr getragen hatter seine Hose hochzie­hen würde, die ge­nug von seinem be­haarten Gesäß zeigte, dass eine Dame sich zweifach schämen muss­te!
'Warum', dach­te sie, 'trägt dieser Dichter Ho­sen, die besser etwas ande­res wären, und klagt - derselbe Dichter klagt! - wenn mir beim Ab­schreiben seiner Gedichte ein Kleck­ser­chen pas­sier­te?"
Der Dichter fasste seinen Bauch und seinen Gürtel und zog sie gegenläufig aneinander vorbei.
'Warum', dach­te sie, 'trägt dieser Dichter Ho­sen, die besser etwas ande­res wären, und klagt - derselbe Dichter klagt! - wenn mir beim Ab­schreiben seiner Gedichte ein Kleck­serchen pas­sier­te?"
Der Dichter fasste seinen Bauch und seinen Gürtel und zog sie gegenläufig aneinander vorbei.
"Du sollst nicht nach den Unsterblichen fra­gen, Kind", sagte er und setzte die Arbeit an der Hose rücksei­tig fort. "Du machst mich trauervoll traurig."
Er ging um den Tisch herum und nahm einen Schluck aus der Flasche. "Ich will es dir erklären. Sie handeln vom Tod, den als Pfand die Liebe sich erbat, vom Glück und der Trunkenheit, von der Nacht, die mit ihren Sterne die schwarzen Kie­fer schmückt ..."
Er schüt­tel­te lose den Kopf: "Und nichts habe ich davon er­lebt, dass ich es dich­ten könnte. Wie könnte die Liebe sich vor den Wachen am Tor ausweisen? Das Glück hier wird verteilt mit der Wurst, dem Bad und der Tusche. Zu ster­ben hat nie­mand ein Recht als der Kaiser al­lein."
"Was sollen wir tun", sagte Li und gab sich keine Mühe, ihre Traurigkeit zu verbergen. "Wir werden nicht verbannt und von ihnen, Herr Dichter, wird man andere Din­ge in Erinnerung haben, als dass sie Gedichte schrieben. Die Men­schen wer­den sa­gen: 'Das Zimmer dort oben haben wir seit seinem Tod nicht mehr in Gebrauch, so ging es dort zu. Er machte Spaß und trank. Schließlich trank er, um Spaß ma­chen zu kön­nen. Irgend­wann war sein Zimmer so voll leerer Fla­schen ... viel­leicht lebt er noch, wir wissen es nicht."
"Da deine Bosheit wie deine Schrift ohne einen Makel ist, will ich sie dir gern verzeihen ... Findest du ehr­lich, es sieht so schlimm dieses Zim­mer, so leervoll mein Leben aus?" Er sah sie freundlich an und lach­te in Ge­danken an ihre Rede.
Dann machte er ein ernstes Gesicht. "Ich könnte ... weiß, wie es geht ... Die unsterb­lichen Ge­dichte schreiben sich selber auf, in den Kopf hinein, ohne Papier. Was schlecht ist, fällt weg. Das Gute bleibt. Selbst das Trinken scha­det ihnen nicht, hmm."
"Dann fangen wir damit an!" Sie nahm das Papier fort und füllte ihm ein Glas nach.
"Fangen wir wirklich an?" fragte der Dichter zaghaft.
"Ich HABE schon angefangen, es gibt kein Zurück mehr in die Sterblichkeit."
"Denk an mein Alter", jammerte der Dichter, "ich rief das Sterben schon, da kommst du mir mit der Unsterblich­keit!"
Der Dichter stand im Zimmer. Er sah sich traurig um, als gelte es Abschied zu nehmen von einem Bekann­ten. Er sah die Gegenstände an, als müsse er einem toten Freund das Zimmer leerräumen. Er nahm ein Blatt Papier auf und zer­riss es langsam, als zer­reisse er eine Urkunde, die ihm Be­sitz und Wohler­gehen garantie­rte. Die Papierfetzen regne­ten feierlich zu Boden. Als er sie schweben sah, so wie ein Nichts eben schwebt, klär­te sich sein Gesicht zu einer Helle auf.
"Hilfst du mir?" fragte er Li. "Wir wollen alle Papier­schatten einsammeln, die leeren und die bekritzelten, und sie zerreis­sen. Wir machen einen schönen Regen. Jeder soll sehen, dass etwas geschieht."
Li suchte Papier. Überall fan­d sie es. Geknüllt und feucht, abgerissen und löchrig, voller Weinflec­ken, roten und weißen. Und immer wieder fand sie eins, das leer war, dass von Wein und Tusche vergessen worden war. Diese legte sie vor­sich­tig beisei­te.
Die anderen gab sie LoBe, der sie zerriss oder sich damit den Schweiß von der Stirn wischte. Sein Gesicht sah bald wie eines der zerknitterten Papiere aus. Dort hatte Wein abgeschmiert, hier umgab ein Kranz von Tusche dem Mund. Und die Stirn, gekraust in der Brei­te, ge­furcht in der Länge, schwitzend und schmierig, nahm un­ter­schied­los alles an, was ihr geboten wurde.
"Das ist ja Arbeit", keuchte Zaz. "Man wird an meinem Grab sagen: 'Als sein Geist sich aufmachte zur Unsterb­lichkeit, grad' da starb ihm das Fleisch. Er schlafe sanft und schnarcherlos. Schenkt ihm keine Träne. Seufzt, wenn ihr selber sterbt. Lacht über ihn, wenn er es wert war. Die Arbeit raffte ihn hin, als das Genie ihm die Hand zu kei­ner Hilfe bot.' Sie wer­den stehen und die Köpfe beugen und unver­ständig sein, dass niemand diesem Mann bei der Fron zur Hand ging. 'Hat niemand gesehen', werden sie fragen, 'dass er aus edlerem Stoffe, feinerem Schliff war und Schwielen nicht vertrug?' So werden sie Jagd machen auf die Schuldigen mit ihren Fragen wie die Jäger mit einem Rudel von schrecklichen Hun­den."
Während Li nach und nach vom feinen Papier einen kleinen Stapel gebildet hatte, während der Dichter immer schneller und schneller redete, sahen von unten die Men­schen hinauf, als hätten sie bereits eine Ahnung, dass es ihnen regnen würde.
Sie hörten die Stimme des Dichters, der sich aus dem Fenster gebeugt hatte und in den Hof rief, damit sie es alle hörten, denn so mühevoll war die Papierschnitzelei gewe­sen, dass es nicht unbemerkt vorüber sein durf­te. "Seht!", rief er. "Blickt! Starrt! Merkt auf! Ihr Diener und ihr Her­ren, Bücklinge und Sitzlinge, der Dich­terhimmel gibt euch ein Zei­chen."
Sie hörten, dass eine Mädchenstimme ihn zurechtwies. Es folgte eine Wolke von Papierfetzen. Dann schloss sich das Fenster. Darauf verkündete sich den ratlos Be­schneiten aus der Höhe eine ant­wortlose Stille.
"Höre, Li", sagte der Dichter. Er war ruhig geworden. Fast ohne Gier hatte er im Umhergehen die Flasche geleert und sich auf das Bett gelegt. Es verging eine Zeit, die mit nichts gefüllt war als dem atmenden Tappen seiner Hand auf der ausgewölbten Bauchdecke und dem zählenden Zucken des losesten und größten der Zehen.
Schließlich ächzte er laut und sagte: "Li, nimm eines deiner weißesten Blätter! Schreib dies Gedicht auf, dass wir es nicht bei der Ge­burt ver­lieren!"

Am Feldrand fasst er Gatter
In jedem Aug' ein Kreis.
Er ist so früh betrunken
Dass er zum Himmel ruft:

Ich bin der kleine Junge
Der einst dich schneien sah.
Ich sah hinauf und dachte:
Wie Asche ist der Schnee,

Wie Trauer und wie Staunen
fällt er auf Hand und Haar.
Ein Wagen kommt auf Wogen
Man wirft ihm zu den Ring.

Doch er ist sturzbetrunken
Und fällt zu Boden um.
Wenn ich bald sterb', ruft er,
und brenn, 'nen Jungen holt ...

- Der Wagen ist schon weiter
hört kaum mehr sein Geruf -
... dann schneit ihm meine Asche
auf Hände und auf's Haar.

Chapter 82. Woi nimmt Abschied

Der Narbige bedeutete Woi, dass sie zu Fuß zum Tor ge­hen sollten. Sie sahen den Sol­daten zu, die sich den weg freigerufen hatten. Ihre Kleidung war stau­big und knitt­rig. Die Ge­sichter mür­risch, die Augen sa­hen starr nach vorne. Sie hiel­ten die Pferde so fest am Zügel, dass diese scheuten.
Als sie vorbei waren, sagte der Narbige: "Sie haben ei­nen langen Weg ohne viel Rast hinter sich. Sind nicht aus dieser Gegend und das Pflaster nicht gewohnt." In seiner Stim­me lag ein tie­fer Hass, den er zu ver­bergen such­te. "Ich werde mich ein bisschen umsehen, während du deine Sa­chen zusammensuchst."
"Gut", sagte Woi. "Wann treffen wir uns wieder?"
"Ich werde da sein, wenn du gehst", sagte der Narbige. Er beobachtete angestrengt, wie die Soldaten am Tor in Empfang genommen wurden. Sie wurden durchsucht und mussten ihre Papiere vorweisen. Das alles war kein Spiel, wie die Soldaten es aus Langeweile trieben. Er­schöpft und gereizt waren die Neuangekommenen. Unruhig, fast ein wenig ängst­lich wirkten die Solda­ten, welche sie in Empfang nahmen.
Woi fand einen Stall für sein Pferd und versorgte sich in der Küche mit Brot und Fleisch. Einem Koch, den er kannte, gab er ein wenig Geld. "Wenn einer kommt mit Narben im Gesicht - der gehört zu mir. Gebt ihm ordentlich zu essen."
Auf dem Weg begegnete ihm Baldeina, der sich mit einer kleinen Zwischenmahlzeit versorgt hatte. Baldeina erzählte kau­end von Dessa. Für ihn war es eine Sache des An­standes, den Freund über Dessas groß­arti­ge Tugen­den und Vor­züge in Kennt­nis zu set­zen.
Als er zusätzlich einen Stapel süßer Obla­ten in seine Hand gebracht hatte, kam er auf Nadim zu spre­chen. Das heißt, er schwieg einige Momen­te lang und sah Woi tief teilneh­mend an. Der schien aber nicht verstehen zu wollen.
"Du und Nadim", begann Baldeina aus tieferen Lagen, "... wir sprechen oft über euch. Dessa ist ein so guter Mensch. Und sie liebt ihre Schwester so von Herzen ganz und sagt immer, wie traurig Nadim über alles ist."
Woi erbat sich einen der süßen Oblaten. "Ich werde sie ver­missen, die Oblaten, die Pflaumenküch­lein, die Sahne­säckchen, die Cremetaler, besonders die hellen, die du mit Sirup bestreichst. Wo ich hingehe, werde ich froh sein, wenn ich mit Brot satt wer­de."
Baldeina sah ihn entsetzt an. Nadim würde untröst­lich sein! Wie sollte er ihr das beibringen? Wie würde es ihre Schwester, seine Dessa, verkraften? Das hatte Nadim nun von ihrem gan­zen Schwindel mit diesem Pferdeburschen!
Woi umarmte Baldeina, dass diesem das Herz ganz weh wurde. "Wenn für mich eine Por­tion übrig ist, Baldeina, dann sollst du sie bekommen. Was immer es ist, du sollst es an meiner Stelle essen dürfen."
"Du macht einen Spaß", sagte Baldeina. "Ich habe es nicht geglaubt, als Nadim davon gesprochen hat, dass du fortgehen wirst. Sag ehrlich: In Wirk­lich­keit bist du gekom­men, um mir zu sa­gen, dass ihr euch nun endlich verliebt habt, du und Na­dim!"
Woi schüttelte den Kopf. Er sah Baldeina nicht an, son­dern zur anderen Seite. Eine Tür war von selbst zugeflo­gen. Draußen sang eine der Köchinnen unter dem offe­nen Fenster.
"Ich werde euch verlassen", sagte Woi. "Ich mache kei­nen Spaß damit. Ich kam, um meine Sachen zu holen."
Er betrat sein Zimmer. Es war so ordentlich, als habe niemand darin gewohnt. Fast war er sich unsicher, ob dies sein Zimmer gewesen war. Nichts war hier, was ihm gehörte. Aber auf dem Schrank lagen die Sachen, die er mitnehmen wollte. Es war nicht viel.
Er hörte, wie Baldeina sagte: "Ich warte lieber draußen auf dich."
Woi sah sich ein letztes Mal um. Auf seinem Bett, oben im Schat­ten des Kis­sens, sah er eine Locke von schwarzem Haar lie­gen. An ei­nem Ende war sie in rotes Sie­gellack gedrückt worden. Dar­unter fand er einen Zettel. Nur ein paar Worte waren es:

Wenn du gehst
Lass hier meinen Schmerz.

Wenn du lachst
Vergiss, dass ich wein.

Wenn du liebst
Sagt mir's der Wind.

Woi war wütend, weil er nicht wusste, was er tun soll­te. Sollte er die Locke an sich nehmen oder so tun, als habe er sie nicht bemerkt? Es war eine verflixte Sa­che! Zum Ab­schied schnitt ihm Nadim von ihrem Haar ab und schrieb solche Worte!
Er fühlte sich schuldig. Dabei konn­te er sich nicht ver­lie­ben, und sie wusste, dass er es nicht konnte!
Wenn er ging, dann machte er sie trau­rig, blieb er, dann war es ein ebenso großes Elend. Was er mach­te, sie hat­te da­für ge­sorgt, dass es falsch war!
"Ich gehe", sagte er halblaut und voller Wut. Er packte seine Sachen in den Sack und nahm eine kleine Dose. In diese tat er ihr Haar und drückte sie fest zu.
Baldeina stand draußen und wartete. Er war eigentlich froh, dass er nicht solche Dinge in seinem Bett fand. Er stellte sich vor, er würde eine Locke finden, die nicht von Dessa war.
'Ich schwöre, dass ich nicht weiß, von wem sie ist!', so seine Rede.
Aber Dessa glaubte ihm nicht. 'Du lügst, ich hab es im­mer gewusst!', so ihre Ent­geg­nung.
'Mit sol­chen Haaren ken­ne ich keine, ich schwö­re!'
'Sag, wer sie ist, sonst bist du ein Treuloser, Baldei­na, und ein Lüg­ner dazu!'
'Ich lieb' doch dich nur, meine Dessa!'
'Das hört sie gern, deine Dessa, denkst du bei dir. Aber, pfui, sie glaubt ihm nicht, dem Baldeina!'
Ihn, Baldeina, brachte allein die Vorstellung, dem Fund einer unbe­kannten Locke ausgesetzt zu sein, den Tränen nahe, aber Woi lächel­te und zeigte sich kalt wie der Griff von ei­nem Schmie­detor.
"Was willst du tun?", fragte Baldeina. Er hoffte instän­dig, dass ihm nicht Botengänge zugedacht waren. Er wus­ste, wie Dessa ih­rer Schwe­ster zuge­tan war. Sie wür­de nicht ver­stehen wol­len, dass Woi schlicht unfähig war, Nadim oder ir­gend­einem Mädchen sonst das einfache oder sonst ir­gendein Glück der Liebe zu schenken.
"Bitte", sagte Baldeina, als Woi nichts sagte, "du kannst alles von mir ver­langen, aber, was immer es ist, lass mich aus dem Spiel. Ich habe mein kleines Glück ge­fun­den, und -"
"Kann ich dich beruhigen", sagte Woi. "Das muss ich alleine mit mir ausmachen. Ich habe mir gleich gedacht, dass du nur für dei­ne Dessa da sein willst. Au­ßerdem sind wir schon voll­zäh­lig."
"Wovon sprichst du denn, bitte", verlangte Baldeina zu wissen.
"Von dem, was ich tun will. Von was sonst?"
Baldeina war wirklich erleichtert. "Du sprichst nicht von Nadim und dem allen?"
"Ach", sagte Woi, "du bist wirklich ein schlechter Abenteue­rer! Du denkst nur an deine Bequemlichkeit und dass Dessa nicht böse wird mit dir. Pah, es gibt ja wohl noch etwas anderes als Mädchenlaunen."
"Und was wäre das bitte?", verlangte Baldeina mit Rauh­beinstimme zu wissen. Er hatte es nicht nötig, sich von Woi beleidigen zu las­sen. Der wollte einfach nicht er­wach­sen werden, das war es doch!
"Darüber darf ich nicht sprechen", antwortete Woi ernst. "Ich kann nur sagen, dass wir eine Bande sind, de­ren An­füh­rer ich bin."
"Eine Bande?" Baldeina griff sich an den Kopf. "An­dere denken daran, ein Paar zu werden, und du wirst An­füh­rer von einer Ban­de - ich begreife es nicht!"
"Das verstehst du nicht!"
"Das, gestanden sei es dir, verstehe ich wirklich nicht", sü­ßelte Baldeina. "Dazu fehlt mir ... was immer es ist. Ich finde nicht einmal das Wort dafür, so sehr fehlt es mir."
"Ach, lass mich in Ruh! Du denkst, du bist besonders klug mit deiner Dessa, aber tauschen möchte ich nicht!" Woi überlegte kurz, gab dann Baldeina aber doch die Hand.
"So", sagte er, "ich gehe jetzt. Wir werden uns wohl nicht mehr sehen. Viel­leicht hörst du ja von mir, wenn ich be­rühmt bin."
Baldeina war zugleich zum Lachen und zum Heulen zumute. Er umarmte den Verrückten ganz feste und wünschte ihm von Herzen alles Gute.
"Ich meine das nicht so, du weißt schon, das mit dei­ner Bande. Du wirst bestimmt ein ganz berühmter Anführer wer­den", sagte Baldei­na.
"Ich meine es auch nicht so, das mit deiner Dessa und dem", sagte Woi und sah knapp an Bal­dei­na verheultem Ge­sicht vorbei.

Chapter 83. Nadim entdeckt Wois Abreise

Wenn jemand kam und sich verwunderte, würde Nadim ihn sogleich mit träume­rischer Stimme ansprechen: 'Wo bin ich hier? Ich habe mich ver­irrt. Manchmal schlafe ich schlecht und gehe um­her.' Das würde sie sagen und sich zu ih­ren Gemä­chern zurückfüh­ren lassen.
Aber es kam niemand, und das war gut so, denn sie war am Ziel. Eigentlich war­tete sie nur noch auf ein ganz wenig Mut. Sie musste sich sagen, dass alle schliefen und nur sie wach war. Das musste sie sich sagen und sich mutig stimmen!
Sie lehnte gegen den Türrahmen und sah sich um. Niemand war in der Nähe, nirgends ein Geräusch. Wenn sie glauben durfte, dass Woi abge­reist und sein Zimmer leer war - warum hatte Baldeina sie so ange­sehen, als er es sagte? Wusste er etwas, oder war es nur seine übliche Art, mit­lei­dig zu schauen?
Wie hätte Nadim Schlaf finden können, ohne zu wissen, ob Woi ihre Locke genommen hatte oder nicht? Sie konnte diese Dummheit nicht ungeschehen machen, aber sie musste wenig­stens wissen, wie es mit ihr ausgegan­gen war!
Viel­leicht war Woi nicht in sein Zimmer zurückge­kehrt, und die Locke lag dort, wo Nadim sie hingelegt hatte? Dann war sie eine glückliche Prinzes­sin, die wie­der schlafen konnte und nie mehr etwas so Dum­mes anstellen wür­de!
Sie legte ihr Ohr an die Tür und lauschte. Ganz still war es. Das Laute­ste war ihr Herz, das ihren ganzen Körper mit seinem Po­chen ausfüllte. Aber die Tür war kalt an ihrem Ohr und dahinter war nichts, was sich hören ließ. Also hatte Baldeina recht: Woi war abgereist!
Es ver­setzte ihr einen Stich. Fast wurde sie ganz mut­los. Doch dann sagte sie sich, dass sie nachsehen musste, um wieder schlafen zu kön­nen. Und schla­fen musste sie, sonst würde es immer schlimmer mit ihrer Verwirrtheit wer­den!
Und wenn Woi doch im Bett lag, weil Baldeina sie belo­gen hatte, oder weil er wieder zurückgekehrt war? Wenn er nur gewartet hatte, dass sie sich ihre Locke wieder holen würde?
Aber nichts als Verwirrtheit war dies! Woi war fort, da war sie sich sicher. Es ge­hörte nur ein wenig Mut dazu, einen Blick in das Zimmer zu tun. Ein Mo­ment, nicht mehr als ein Au­gen­schlag, genügte, und sie wäre wie­der fort mit ih­rem Wissen.
Von alleine hatte sich die Tür einen Spalt geöffnet und war dabei so leise gewesen wie eine Freundin, die ihr zur Hilfe gekommen war. Es war ein Spalt, nicht mehr als ein Fin­ger breit, und schon war es geschehen! Ein Blick hin­ein - da war nie­mand! Das Bett war ge­macht - es lag nie­mand dar­in. Das Kissen lag darauf, als sei es unbe­rührt. Und schon war sie hineingeschlüpft und legte die Tür lei­se hinter sich in das Schloss.
Atem anhaltend näherte sich Nadim dem Kissen. Die Locke lag nicht auf dem Kissen! Er hatte sie mitgenommen - nein, genauso war möglich, dass er sie UNTER das Kissen gelegt hatte!
'Du selbst hast dir diese Dummheit zuzuschreiben', sagte sie zu sich. 'Du allein bist schuld und machst es nur ver­wirrter!' Also fasste die linke Hand, die mutiger war als die rechte, das Kissen an und hob es vorsichtig hoch. Nichts lag darunter! Die Locke war fort, der Schlaf war fort, und es war ent­schieden.
... wenn sie nun aber eine der Mägde und nicht Woi ge­funden hat­te! Die hatte die Locke in Hand ge­halten und nichts da­mit anzufangen gewusst. Und war er­staunt, dass der junge Mann sie ver­gessen hatte. Sah sie nicht wie ein Glücks­brin­ger aus, die­se Locke? Brauch­te er kein Glück, der junge Mann? War es ihm nicht wich­tig, dass es ein Mädchen gab, die ihm ihre Treue verhieß?
Traurig sah Nadim auf das leere Bett. Es war schreck­lich: Jetzt, da sie wusste, dass auch unter dem Kissen keine Locke lag, war ihr die nächste Ungewiss­heit einge­fal­len!
'Arme Na­dim', sagte sie zu sich, 'wenn du einen Mut fin­dest, der mit dir einen Schritt tut, dann findet ihr auf eurem Weg nichts als wei­tere Löcher für deinen Schlaf.'
Das Zimmer machte ihr ein sehr trauriges Gemüt. Es war kalt und einsam darin. Weil es ihr sehr das Herz zusam­men­zog, musste sie sich setzen. Wie traurig war es, wenn ein Mensch für immer ab­gereist war! Das Herz ging im Abschied in ei­nem lee­ren Zim­mer um­her und fragte sich, ob jemand darin gewesen war.
Da musste sie weinen, obwohl eine Prinzessin nicht wei­nen durfte. Aber heute in diesem Zimmer, das ganz verlas­sen war, weinte sie, weil die Tränen einem Mädchen schwer sind und nicht anders als herabfließen können, wenn das trauri­ge Herz es ihnen befiehlt.
Nadim legte sich auf das Bett und weinte in das Kissen. Nicht um Woi weinte sie, nicht um das leere Zimmer, nicht um eine Prinzessin, die alles, nur nichts vom Glück be­sit­zen durfte - nein, das war alles nicht! Immer wieder schüt­telte sie den Kopf. 'Ich weine, weil ich weine', sagte sie sich. Immer wieder sagte sie es sich und wunder­te sich, dass ihr Wei­nen kein Ende nahm.
Und so fand sie der Schlaf, der im Haus nach ihr gesucht hat­te und den Spuren ihrer Gedanken bis hin­auf in dieses Zimmer gefolgt war. Er entfernte ihr das trübe Salz aus den Augen und gab nur solchen Träumen Zugang, die scho­nungsvoll mit ihr umzugehen versprachen.
Und dergestalt fand eine Dienerin, als sie am näch­sten Morgen das Zimmer rich­ten wollte, die schlummernde Nadim im Bett des Fürstensoh­nes vor, sah gera­de­wegs in den er­wa­chend sich klarenden Blick der Prinzessin hin­ein, warf schnell und er­schreckt die Tür ins Schloss, als kön­ne ihr die Prinzes­sin das, was sie ge­sehen hatte, wie­der ab­neh­men.
Eiligst entfernte sie diese Dienerin, um den Skan­dal fortzu­tragen, den sie mit ihren, den eige­nen Augen gesehen habe. Die Prin­zessin habe gelegen in Raten-sie-welchem-Bett ... Gera­dewegs von dort gekommen sei sie und wisse nicht einmal, ob sie dar­über sprechen dürfe ...

Chapter 84. Woi bei der Wirtin

Es war zu spät geworden, als dass Woi die Reise über die Stadt hinaus hät­te fortsetzen können. Ob er mor­gen oder heute ankam, war nicht wichtig.
So kehrte er in einer Schenke ein. Die Wirtin beugte sich über den Tisch und er­zählte ihm, dass sie ihren Mann nicht vor dem übernäch­sten Abend zurück­er­warte. Sie lä­chel­te dem jun­gen Mann fraulich zu, als sie seine Augen in ih­rem gut gefüll­ten Ausschnitt ertapp­te und fragte, ob es recht sei, dass sich sein Zimmer sozusagen Wange an Wan­ge mit dem ihren befin­de.
Ob sie schon gesagt habe, dass sie ih­ren Mann gewiss nicht vor dem übernächsten Tag zurück­er­war­te. Froh sei sie - in einer Zeit, da sie gewis­sermaßen schutz­los zu nen­nen sei - einen jungen, ein­fühlen­den Mann als Gast be­grüßen zu dürfen, der gewisser­maßen ein wenig auf sie auf­passen wer­de.
Sie (hochge­stimmt) sei früher einmal in der Sangeskunst tätig gewe­sen, bevor sie (tiefgestimmt) mit ihrem Mann zusammen­stoßen sei.
Aber er, der junge Edelmann, sei doch si­cherlich müde, und sie wolle nun ei­len und ihm vor­ausge­hen als Kun­dige des Hau­ses, welches ihr im übri­gen von ihrer Mut­ter (dankvoll) her gehöre, inwie­fern und inwie­weit ihr Mann (dankleer) nicht besser als ein Gast sei.
Während sich ihre Hüften die Treppe emporschwangen, re­dete sie von Ab-, Zu-, Viel- und Andersneigung und ver­strömte einen süßlich nebelnden Duft, der Woi das Treppen­steigen schwer werden ließ. Weil er sich auf einen Abstand hielt, der einer Dame gegenüber (Treppen stei­gend, rück­seitig zu­gewandt) statthaft war, nahm sie ihn an der Hand und zog ihn flugs und war­um-eigentlich-soll­te-sie-nicht? die Treppe hinauf.
An ihre Hand genommen, wollte Woi nun nicht weiter bum­meln und rannte mit ihr den Gang entlang zu seinem Wange an Wange liegenden Zimmer. Sie (Tür schwingend) und er (Hand windend) füllten den Raum, der übrig blieb, wenn man das üppige Bett und einen winzigen, ihm zu Diensten ste­henden Tisch abzog.
Der junge Mann sol­le ihr ver­zei­hen, dass sie so gern ver­wöhne. Von Herzen und mit allem gastfrei sei sie und wolle eilen, ihn mit einer Kleinig­keit zu befürsor­gen. Schon eil­te sie, schwang Hüften und Tür. Einen Blick (gast­frei) ließ sie zurück.
Woi zog sich die Schuhe aus, um das Fenster zu öffnen, das sich zur Decke hin jedem menschlichen Zugriff entzogen hatte. Es machte Geräusche, als geschehe ihm ein großes Leid. Als es einmal offen stand, entwickelte sich ein Gespräch mit der Tür und dem Bett über allerlei Kläg­lich­keiten und Ungeschmiertheiten und Alterssorgen.
Als sich Woi niederlegt hatte, um die Augen zu schlie­ßen, knarrten und gnier­ten und fienten sie über den jungen Gast und die Her­rin des Hauses. Uneins waren sie sich, ob er so muntermänn­lich sei, wie sie dachte, oder so edel­männlich, wie sie sagte.
"Da ist sie wieder", meldete ihnen die Tür. "Sie eilt mit dem Ta­blett herbei. Die Wurst, noch in der Pelle neben dem Brot, schwankend im Glas, der Wein, der süßtrau­mende, der rotmundige, der ach-je-verführerische ..."
"Wisst ihr noch", erinnerte das Bett, "wie sie sich wälz­ten beim letzten Mal und im selben Takt kein Ende fanden. Ein Mann in den zweitbesten Jahren, den roten Kopf, den schweren Körper vom Schweiße beglänzt, und sie, die Worte suchende Wirtin. Den Hän­den gab ich letzten Halt und sah, wie sei­ne Backen blähten und von Glas das eine Auge sich verdreh­te. Ich hab es überlebt mit Glück, besitz einen rauhen Hals seit­dem, bin taub, wo meine Fe­dern hal­ten und fühl es in den Lei­sten. Hat nicht der Bo­den auch gezittert und um seine Fas­sung gerun­gen?"
"Oh, sie wird mir gleich wieder den Mund verbieten wol­len", vorahnte das Fenster. In der Tat war es so, dass die Hausherrin hereingekommen sich ihre Schuhe ausszog. Sie musste sich tief bücken dafür, und weil sie nicht wollte, dass er ihr dabei auf den Busen, aus der Form drängend, sah, drehte sie ihm, beu­gende Form bildend, ihr Hinter­teil zu.
Durch ihre Beine schaute sie und hätte auch ohne Späh­blick sagen kön­nen - war halt ein Gefühl, das jede im Ge­sangsfach Geübte für die Blicke der Zu­schau­er bekam! - dass er seinen Blick dort hatte, wo er ihn anständiger­wei­se nur bei­läufig oder im Versehen stol­pernd hätte haben dür­fen. Doch da war er, der Blick! Und ein Außenstehender hät­te ihn kleinlicher­weise als 'zu­dring­lich', Sitten­stren­ge über­treibend, als 'ein­dring­lich' be­zeichnen müs­sen.
Sie achjahte kurz, als sie die Schuhe los war und huch­jehte, als sie den Busen linksseitig und rechtsseitig wie­der an sei­nen Platz schob. Als sie das Fenster schließen wollte, musste sie das Bett bestei­gen. Woi moch­te sich nicht mehr mit der Rolle des Zuse­henden begnügen und bot ihr zu Hilfe und zu Halt seine Hände, die sie sich si­chernd unter das Hemd schob. Kalt seien seine Hände - Huch, huch! - niemand solle sagen können, er habe sich von wegen dem Fenster bei ihr ver­kühlt.
Doch nun, da ihm - wie sie sehe - warm werde, wolle sie etwas gegen seinen Hunger tun. Wenn er nur möge, wolle sie ihm gleich auf der Stelle eine kleine Mahl­zeit bereiten. Sie setzte sich neben ihm auf das Bett, nahm die Decke vom Tablett und zeigte ihm ihre Appetittlichkeiten. Grad so nah rück­te sie, dass er an al­les gut herankam. Ein gutes Stück von der Wurst zeigte sie ihm, vom Laib Brot zwei feste Scheiben, gut mit fetter Butter beschmiert, ein wenig Salz, dass es ihm mun­de. Das könne sie ihm bieten und sehe mit Freude seine Gefal­len daran. Es sei eine ein­fache Küche. Raffi­neriertere Dinge beherrsche sie nicht.
Sie nahm die Wurst und zog behutsam die Pelle herun­ter. Sie be­reite zu, wie sie es kenne. Es mache ihr Freu­de, dass es ihm schmecke. Das lange Ende gab sie ihm und leck­te sich die Finger. Er soll nur nicht lan­ge warten und sich bedie­nen, wie er mö­ge.
Sie wolle ihm den Vortritt lassen, an ihre Figur in ih­rem Alter müsse sie ein wenig denken. Wie er fühlen könne, hier gleich hier, habe sie ein wenig zu­genommen. Sei ihm das nicht aufgefal­len? ... und diese Stelle? Er meine doch auch, dass sie auf die achten müs­se - ach, er SAGE nur, dass es nicht so sei!
Nur mit den Augen dürfe sie vom Mahl sich nehmen. Beim Genuss wolle sie Gesell­schaft sein und ihm so recht zu Diensten stehn. Das Brot sei doch nicht trocken schon? So recht wohl ausge­hungert sei er! Ob er denn niemand habe als eine Frau in ihrem Alter? Liefen die jungen Dinger denn nicht, ihm nachzusehen?
Den Kennern der Bir­nen sei die Pflückzeit die be­ste, wenn sie saftig am Baume hingen, dazu süß und rund sich schüttelten. Doch ste­he den Bur­schen der Sinn wohl meist nach den grü­nen, den zwi­schen Birne und Quitte unent­schie­denen, die hoch am Bau­me nach Klet­teraf­fen rie­fen.
Er tue recht dar­an, gleich zuzu­lan­gen. Schande sei es, wenn ein junger Mann der Natur Ge­schenk ver­schmä­hte! Wer so gestöhnt, dem sei die Sättigung grad zur rech­ten Zeit ge­kom­men, nicht wahr!? Wer so ge­schwitzt, der habe mit Lust ge­speist, nicht wahr!? Wer so sich strecke, der sei nun satt und froh, nicht wahr!? Sie gehe nun, dass al­les wie­der sauber werde und sich schön ausnehme für ei­nen neu­en Appet­it.
Die Tür schwang ihr auf. Das Bett glaubte feststellen zu dür­fen, dass das Schlimmste hinter ihm liege. Das Fen­ster schwieg nicht anders als mundverschlossen.
Woi wälzte sich auf den Rücken und atmete zur Decke. Erst dachte er an nichts, dann dach­te er an Nadim. Er ver­suchte sich von ihr wegzudenken. Seinen Vater sah er in dem großen Saal. Klein war er und saß in einem Stuhl, der wackelig auf sei­nen Beinen stand. Der Vater wollte auf­stehen, aber er besaß kei­ne Bei­ne. 'Woi', sagte er, 'wie geht es dir bei deiner Nadim? Seid ihr euch manchmal uneins? Seid ihr euch manch­mal eins? Schlägt ihr Herz für dich?' Mit je­der Frage wurde er mit dem Stuhl kleiner. Woi sah, dass eine El­ster auf seiner Schul­ter gelandet war, ohne dass der Vater es bemerkt hätte.
'Woi', rief die Elster, und ihre Stimme war ganz nah und hell. 'Eine Braut hat kei­ne Flü­gel. Ich sah einen Garten und fand keine Blu­men darin. Ich stahl dir etwas, aber ich weiß nicht, was es ist. Sag du das Wort aus dei­nem Fluch. Ich gab dir eine schwarze Locke, nicht wahr, und du mir ei­nen bösen Traum. Das Wort muss sich schä­men. Oder ich bin ein Vo­gel, der zu dir fliegt, weil eine Prin­zessin immer weint.'
Der Schlaf verstellte den Worten den Weg. Er füllte mit ihnen die Kissen. Nur ein Wort wollte ihm immer wieder ent­wi­schen. 'Nicht wahr!?' teil­te sich und floh, machte sich klein und ent­wich, wollte frech den Sack am Bande öffnen. Doch was küm­merte den Schlaf ein ein­ziges Wort, wo er die anderen si­cher wusste.
Lächelnde, wol­kenleichte, in Herden zie­hende Wort­kis­sen tru­gen Woi in den Abend.

Chapter 85. Bärenmahl mit der Wirtin

Sie wisse nicht einmal, wie er heiße, sagte die Wir­tin, als er zu Pferde wollte. Loslassen werde sie den Zügel erst, wenn sie sei­nen Namen wisse.
'Keil' hei­ße er, und sein Hengst höre auf den Namen 'Woi'.
Darauf drohte sie ihm scherzend mit dem Finger und hauchte auf die Wangen vom zärtlichsten Rot.
Ob Keil noch Lust habe auf eine klei­ne Mahl­zeit, bevor es ihn in die Fremde ver­schla­ge.
Woi antwortete ihr, dass es Keil, so dürfe er sa­gen, an nichts gefehlt habe in ihrem Haus, aber Keil könne nicht länger den Woi herum­stehen lassen. Das Pferd wolle los, das merke er.
Doch die Wir­tin blieb unn­nachgie­big, ja bettelnd gast­lich. Eine klei­ne Mahlzeit, sozusa­gen im Stehen, was sei das schon. Woi, der schließlich ein rechter Hengst sei, würde die­se sei­nem Herrn, dem Keil, si­cherlich nicht ab­schlagen.
Doch Keil ge­stand ihr, ein Ziel zu haben. Es sei aber nicht, was sie den­ke. Ihre Hand nahm er und küsste eine Trä­ne ihr von der Nasen­spit­ze, die nicht wie die anderen in den Ausschnitt gefallen war.
Ein Pick­nick im Wald, wel­chen Traum er ihr damit erfül­len würde! Sie würde ihn ein Stück zeh­rend be­gleiten. Der Mann (bekanntlich fort) habe noch ein Pferd im Stall gelassen, über dass sie ver­fügen könne, wenn Keil nur wol­le, dass sie verfüge. Das Picknick sei, seine Ant­wort vorausnehmend, schon fertig und gemacht.
Schnell war das Pferd aus dem Stall geführt, einem ängstlichen Fuß in den Bügel geholfen, der Rock über einem entblößten Bein in Ordnung gebracht, ein aus­knic­kender Po gehalten und gestützt und in den Sattel ge­bracht.
Als sie die Straße herunter­ritten, wurden die Fenster rasch zugezogen. Haus nach Haus fielen die Türen ver­ächtlich ins Schloss. Das Spiel­zeug auf der Straße war kinder­los. Eine Frau er­klärte ih­rem Hund, dass die Häuser alle­samt an­ständig seien und ehr­bar. Sie sei­en nicht von rei­chen Leu­te, aber mit ehrli­chen Hän­den erbaut.
Als die Straße eine Krümmung machte, wurden die Häuser ärmlich und duckten sich gegen den Wind hinter die ande­ren, standen schief und eng gegenein­ander gestellt, als vertrau­ten sie nicht mehr der eigenen Kraft. Der Weg wurde schlechter, aber breiter, und wenig später ritten sie in den Schatten von hohen Bäumen.
Welche Tiere es wohl gebe, fragte sie, die Wirtin im Wald.
Füch­se, Biber, Rehe und wohl sicher ein paar Bä­ren gebe es.
Sogar Bären gebe es.
Er sei einer von ihnen. Er sei ein Bär. Ein junger zwar, aber auf seinem Wappen sei er ein Bär.
Huch - eine Frau im besten Alter und ein jun­ger Bär, nichts um sie herum als Wald, wenn sie sagen dür­fe, tiefer Wald - huch.
An einem feinen Moosplatz, den sie sah und zeigte, stie­gen sie ab. Ein Tuch breitete sie aus, stellte zwei Kör­be darauf. Nein, helfen solle er ihr nicht, für nichts als für den Hunger solle er sorgen. Einen klei­nen Korb knöpfte sie auf, zwei Vasen mit Korken stellte sie neben­einander und deckte ein fei­nes Tuch dar­über, eine Schüssel mit Bee­ren, eine Schale mit Sah­ne in gläsernem Ver­schluss, die Scheiben Brot sitt­sam ein­ge­wic­kelt und das Ganze be­deckt mit einem dünnen Leinen.
Sie sagte leise, dass nur der näch­ste Baum es hörte: Er solle vom weißen Tu­che zwei Strei­fen reissen und mit ihnen am Baume sie fes­seln, grad so fest, dass eskeine Strei­fen auf der Haut gebe. Wenn der Bär komme, der hung­rig sei und gute Sachen rieche, wolle sie nur zu­schauen, und wenn es nötig werde, die Augen schlie­ßen.
Keil fes­selte sie an den Händen und den Bei­nen, nicht fest, aber so, dass die Bänder nicht herun­terfielen. Sie stand sehr atem­still und hatte im Körper ein Beben und auf dem Gesicht eine Röte, die ihren Platz nicht fand. Woi, der Hengst, stand da­bei und sah seinem Keil, dem Bären, zu.
Der schlich herum und beguckte sich tatzentapsig ihr La­ger, beschaute sich, den Bärenkörper wiegend, recht lang das gefesselte Weib. Da und dort schnup­perte er an ihr und fuhr ihr leckend mit der rauher Zunge über das Ge­sicht. Er brummte und knurrte sie an, weil er der Starke im Walde war. Zeigte ihr sei­ne Tat­ze und schaute ver­wun­dert auf die rotlackier­ten Lippen, die keine Sprache ha­tten.
Doch, was ist das? Unter dem Tuch ver­bor­gen, da sind wohl Sa­chen, die einem Bären ge­fallen kön­nen! Eine Tatze ta­stet, eine Nase wit­tert und hung­rig grollt ein Bären­bauch. So hung­rig ist der Bär, dass er das Tuch her­unter­reisst und alle Sachen wackeln lässt.
Mit weiten Au­gen starrte die Menschenfrau. Stand ge­fes­selt und war ­stumm. Es wunderte ei­nen Bä­ren, dass die Men­schinnen so­lan­ge mit ihren weißen Augen starren können. Sie haben eine Angst, die keine Haare hat, weich und voll wie ihre Zit­zen. Das wun­derte einen Bären. Dann brach die Fresssucht seinen Blick. Er zerrte den Korb sich ran. Rei­ßend sprangen die Knöpfe vor seiner Tatze Dro­hung auf. Er hörte noch, wie sie keuchend schrak. Sollte lieber froh sein, dass er genug zu Essen hatte!
Erst steckte sich die Schnauze tief hin­ein, dann kreiste die Zun­ge. Mit dem Tat­zenschie­ber schau­felte er die Sahne sich in den Mund, quetschte die süßen Bee­ren mit der Zungen. Währenddem und mit jedem Teile anders wand das Menschenweibchen am Baume sich und irrlich­terte mit ihren Augen umher.
Den klei­nen Fläs­chen entzog er sau­gend kleinste Korken und be­schlab­berte sich den Mund. Von Brot konnte er nur das Wei­che essen. Die Rinde schob er weg und fort und grummte und röhmte, weil er so satt war, wie es ein Bär im Wald nur eben selten ist.
Er tapste zu ihr, öff­nete ihr die Fes­seln, weil er nun satt war, satt eben, nichts mehr wollte! Schnell wickelte sie ihr Brot in ein Tuch und stam­melte und wollte strei­cheln.
Was wusste sie von der Bären Satt­heit? Der Bär war böse nun und stieß sie weg. Satt war er nun, das merk­te sie doch! Dies Wirtin­weib, was wollte sie noch? Stumpf sah er sie zu Pfer­de gehen. Und als sie ritt, legte er sich auf den Rücken und schickte ihr seine Bären­schnar­cher hin­terher.
"Nicht wahr, die feinen Damen ha­ben allerlei Leckeres zu bie­ten", sagte eine Stimme. Eine alten Frau stand neben dem Baum und sah den Verschlafenen an. "Un­sereiner ist arm, aber sage mir keiner, dass die Rei­chen keinen Hunger lei­den, wollen satt werden und be­kom­men Apetit von al­ler­lei und haben einen guten Magen, wenn ich es sa­gen darf."
Sie gab seinem Pferd eine Wurzel, die ihm krachend schmeckte. "Müde sind mir die Füße, ei, und ich muss lau­fen und lau­fen, dass ich mein Töchterchen finde." Die Frau zeigte auf ihre Schuhe, die zu fein für einen Fußmarsch waren. "Nun können die Beine nicht mehr, die Schuhe sind durch­gelaufen, und die Füße schmerzen mir so."
"Ihr tragt die falschen Schuh' für einen sol­chen Weg?", sagte Woi gähnend und zeigte ihr die eigenen festen.
"Ich trag' die falschen Schuh' und trag gewiss das fal­sche Kleid, und nenn' fürwahr die eigene Tochter ein falsches Kind, dass ich ihr nachzulaufen muss."
"Ich will euch gerne helfen", sagte Woi. "Mein Ziel hat es nicht eilig mit mir." Er war wach und zweifach munter.
"Ei, wollt ihr das wirklich tun? Ich sah doch gleich, dass ich euch bitten darf. Eine ehrliche Stirn habt ihr, die Haltung von einem Edelmann und seid wohl reich genug, dass ihr als Loh­n nur Herzensdinge nehmt. Es ist mein ein­zig Kind, und der Mut­ter Liebe verzieh ihm schon, was sie tat."
"Seid ihr im Wald zu Hause?"
"Ich wohne nicht weit. Es ist eine gute Hütte, aber ohne Kind bin ich allein und wag nicht weit mich fort."
"Ich such euch euer Mädchen. Mit dem Pferd ist es wohl leichter. Doch wird sie auf mich hören ...?"
"Ich kenn das Mädchen. Auf einen feinen jungen Bursch wie euch wird sie wohl gerne hören."
"Und wie erkenn ich sie?"
"Schön ist sie, das sagen alle. Sieht nicht aus wie falsch und treulos. Was soll sie sich verstecken, wenn IHR sie ruft? Hat Kleider weiß, als ginge sie zur Kirch und trägt das blonde Haar so lang, als ginge es zum Tanz."
"Wie sprech ich sie denn an, wenn ich sie treff."
"Lirla ist ihr Name, wie es die Vögel singen, und einem solchen gleicht sie mehr als einer Tochter. Hütet euch, ihr in die Augen zu sehen! Sie zaubert, und sie hext euch auf die Knie und reitet zu Pferde fort, eh euch wie­der ein­fiel, wofür ihr kamt. Sie schämt sich für nichts und stahl, denk ich, einem guten Mädchen das Unschuldsge­sicht."
"Nun sagt schon, welche Richtung sie nahm, dass ich ihr nachreiten kann", forderte Woi die gute Frau auf, die kein Ende mit ihm fand.
"Ei, ihr habt recht. Und recht. Und recht. Was steh ich hier und halt den auf, der ihr zur Rettung kam? Seht ihr den Baum, der traurig seinen Spitze neigt? Dem Weg zu seiner Rechten folgt und ruft sie beim Namen. Er gabelt sich, wo eine kleine Brücke seht, die Füssen in einem Was­serfall. Weit kann sie von dort nicht sein."

Chapter 86. Nadim und der gelbe Käfer

Prinzessin Nadim hatte an diesem Morgen schon wach­gele­gen, als der Hof unter ihrem Fenster noch ganz still gewe­sen war. Sie überlegte, was sie geweckt hatte, wenn es der Hof nicht war. Als es ihr wieder einfiel, atme­te sie tief und hielt sich den Mund zu, so­lange es ging.
'Der Skandal', stummte ihr Mund, 'die Erinnerung an den Skandal war es gewesen, die dich geweckt hat. Erinnerst du dich nicht an deine Dummheiten? Erinnerst du dich nicht an den Skandal?'
'Die Prin­zes­sin Nadim', flüsterte der Skandal, 'jawohl, un­sere Prinzessin Nadim, hat träumend im Bett des Für­stensohnes Woi gelegen, jawohl, wie ich es gesag­t habe ... aber nein, nicht MIT ihm! Wie ginge denn das, wo er doch schon abge­reist ist? Allein lag sie darin, aber ganz und gar zu­ge­deckt, bis sie dort von einer Dienerin ent­deckt wurde, die eilig da­vonlief und erst wenig sagte, schließ­lich dann viel!'
Heiss wurde Nadim der Kopf, wenn sie nur dar­an dach­te. Auf all die Dummheiten der letzten Tage, die sich kaum über­einander hatten halten können, war die letzte, die größte, die schauder­hafteste der Dummheiten geklet­tert und hatte sich als als Gip­felbesteige­rin offenbart.
Und nun war es Mor­gen, und was soll­te sie tun? Erst einmal schloss sie die Augen und legte sich das Kis­sen über das Gesicht.
Schließlich war es so spät, dass die Mägde hereinkamen und fragten, was die Prinzessin zum Tage anziehen wol­le.
Nichts, sagte die Prinzessin ihnen, sie sei krank und wolle nieman­den se­hen.
Schnell waren die Dummen ge­rannt, um die Klei­der für das Kranken­bett zu holen.
Deshalb hatte Nadim alleine die Kleider durchgese­hen und sich von jedem etwas Unpassendes ausgesucht. Da­mit würde sie am heutigen Tag umhergehen, und jeder würde an den Skandal denken, wenn er sie in ihren Kleider ansah. Und wenn einer fra­gen würde, was sie anhabe, dann könnte sie er­staunt an sich heruntersehen und ihm laut vor den ande­ren antworten, dass sie nicht wisse, was sie tue. Sie sei sich in der eigenen Betrach­tung unerklär­lich, tue Dinge, von denen sie nachher nichts wis­se, sage Dinge, als spre­che eine fremde, kaum klug zu nennende Per­son aus ihr. Aufge­standen sei sie, aber mehr wisse sie nicht von diesem Mor­gen.
Nadim wählte einen Rock mit Ledernähten, den sie ab­scheulich fand. In die gelben Schuhe stieg sie, ihr so schrecklich wie unbekannt. Eine Bluse mit hohem Ess­kragen nahm sie und eine Per­len­kette vom Abendko­stüm. Als sie alles angezogen hat­te, band sie sich die Haare streng nach hin­ten, ließ nur eine Locke frei, die ihr in die Stirn fiel und zwi­schen den Augen umherschwang.
Als sie langsam den Gang ent­lang ging und in den Hof hinein, wartete sie vergeblich, dass jemand sie ansprechen würde. Die Dienerinnen schauten mit großen Augen und sahen eilig wieder fort. Dann eilten sie sich, um außer Sicht­weite zu kommen und sich im Flüstern auszutau­schen.
Auf der Treppe begegnete ihr der Hofmar­schal, der nichts sah und wie immer durch sie hindurchgrüßte. Von Bal­deina, der schnell an ihr vorbeiging, hörte sie, dass er es eilig habe. Und sonst traf sie niemanden, außer dem Eunuchen, der sich allgemein und ausdauernd die Hände rieb.
Sie ging einfach so lange, ohne dass jemand sie fragte, bis sie im Garten war. Die Stille machte Nadim nichts aus. Außerdem hatte sie es gern, wenn sie allein mit sich war. Von weither trug der Bambuswind ihr einen Morgengruß zu. Die alten Weiden traten näher, um zu hören, was es gab.
"So traurig wie ihr bin ich", sagte Nadim, "und wohl in wenig trauriger noch." Worauf die alten Weiden allesamt nickten, und der Bambuswind nicht wusste, wie er Nadim trösten sollte.
Ein kleiner Käfer versuchte, auf ihre gelben Schuhe zu krie­chen. Dabei fiel er jedes Mal herunter und versuchte es doch immer wie­der auf's Neue.
"Siehst du nicht, wie dumm du bist?", fragte ihn Na­dim, aber sie ließ ihn und stieß ihn nicht fort.
Hinter einer Hecke verschwand der Kopf eines Gärt­ners. Nadim wollte ihn rufen, aber da war er schon fort. Nun wurde sie endgültig trau­rig. Eigentlich gehörte es sich nicht für eine Prin­zessin, traurig zu sein. Aber es gehör­te sich ebensowe­nig für sie, allein im Garten zu sit­zen, wo nur die Gärt­ner waren.
'Prin­zes­sinen habe nicht so­viele Freun­de, dass sie nicht jeden von ih­nen vermissen', dachte sie. Es war nicht an­ständig von Woi, dass er eine Prinzessin allein ließ. Das gehörte sich nicht. Sie sah auf ihre gelben Schuhe. Der kleine Käfer hatte aufgegeben und war fortge­krabbelt.
Nadim sah sich um, ob jemand sie sah. Dann weinte sie. Die Tränen tropften auf ihre gelben Schuhe. Sie lie­fen ihr über die Wangen und machten ihr den Hals eng. An ihren Vater dachte sie. Und weinte über seinen Tod. Dann weinte sie über ihre gelben Schuhe und auch über den klei­nen Käfer. Sie weinte um jeden, dem das herz so eng wie ihr war. Und schließlich - fast war kei­ne Trä­ne mehr da - wein­te sie um Dessa, die auch eine Prinzessin war.
Aber mit ei­nem Mal war die Traurig­keit vorbei, hatte jeden­falls alle Trä­nen ausgeweint und tat nun sehr er­staunt, dass die Prinzessin sich hatte gehen lassen.
Der kleine Käfer krabbelte auf einen Stein und fiel von dort ebenso herunter wie von ihren gelben Schuhen. Was hatte er gelernt? Er würde sein Leben lang auf zu glatte Din­ge klettern und herunterfallen!

Chapter 87. Lirla

Woi gab seinem Pferd einen lauten Klaps auf den Rüc­ken und war froh, dass ihn nichts mehr aufhielt. Ein Stück folgte er seinem Weg und ritt dann auf den trauri­gen Baum zu, den die Alte ihm gezeigt hatte.
Er fand alles vor, wie sie es beschrieben hatte. Der Was­serfall sprühte und rauschte eine plötzlichen Ab­hang hinab, zwischen Bäu­men hindurch, wurde einge­sammelt, wie­der ausgebreitet und setzte neu zu einem Sprunge an. Es war nicht zu sagen, ob es einer oder mehrere waren. Hier taten sich zwei zusam­men, um zu ent­schwinden. Dort suchte ein Ängstlicher den Bäumen und Felsen auszu­wei­chen.
"Lirla", rief Woi. Kein Echo kam von den Vö­geln. Stumm saßen sie auf den Ästen, die Augen schaukelnd auf wel­ligem Wind.
"Lirla", rief Woi noch einmal. Eine breite Ratlosigkeit bevölkerte die Äste der umliegen­den Bäume.
"Lirla!" Ein kleiner Hund schwanzwedelte über das Brück­chen und blieb in der Mitte stehen. Wuffend wies er darauf hin, dass der junge Reiter ihm nur folgen solle, wenn die Lirla sein Ziel war.
Woi musste sein Pferd an einen Baum binden, weil ihm die kleine Brücke arg wackelig erschien. Der Hund drehte ein paar Runden bellend um das Pferd, um seinen Sieg über die­sen Riesen auszuko­sten.
"Nun komm aber auch", ermahnte ihn Woi. Der Hund sah kurz zu den Vögeln hinauf, um sich zu vergewissern, dass es niemandem entgangen war, wie wichtig er war. Dann trip­pel­te er stolz, ohne sich hetzen zu lassen, über die Brük­ke. Während er das Geländer rechtsseitig mit einem Strahl bedachte, war ihm das linke Geländer nur ein paar Tröpf­chen wert.
Woi folgte dem Hund und dem Weg, der immer schmaler wurde und endlich dort endete, wo eine kleine Senke war, die mit klarem Bergwasser gefüllt war. Der Hund schaute den steilen An­stieg hinauf, wuffte und wedel­te.
"Lirla!", rief Woi, und schaute ebenfalls hoch. "Deine Mutter sucht dich! Sie ist in Sorge. Lir­la, hörst du? Mich hat sie geschickt, dich heimzuho­len."
"Lirla ist hier oben", rief eine Stimme. "Ganz oben ist Lirla und schaut, wer zu ihr will."
"So komm doch herunter", rief Woi. "Ich habe ein Pferd. Darauf wollen wir heimreiten."
"Erst will Lirla den Reiter sehen, eh sie zu ihm auf das Pferd will steigen. Zeig dich im Spiegel, der zu deinen Füßen ist. Wundere dich nicht, sieh hinein! Erst zeig du mir dein Gesicht!"
Woi blickte in die Senke. Sie verlangte sein Lachen zu sehen. Woi bemühte seine Fröhlichkeit. Dann sollte er be­trübt ausschauen. Er bedeckte seine Gesichtszüge mit einiger Finster­keit. Lirla erbat zu wissen, ob er kräftig sei. Woi zog den Ärmel hoch und zeigte der Senke grimmig seine Kraft.
"Ein Reitersmann bist du, wie er der Lirla gefallen will. Hinauf möcht' sie dich bitten. Dort nimmt sie grad ein Himmelsbad. Rei­ters­mann, wenn du es wagst, dann steig herauf zu ihr!"
Woi lachte. "Vor dem Zauber deiner Augen hat die Mutter mich gewarnt, das du es weißt! Wenn diese mich behexen sollen, was muss ich fürchten erst, wenn ich dich beim Bade seh' ... "
Lirlas Lachen fiel glitzernd und sprühend den Berg­quell hinab. "Lirla sieht dich, Mann von meiner Mutter. Nicht älter als ein Junge ist er, der freche Rede führt. Wenn dass die Mutter wüsste!"
"Lirla, ich komme!" rief Woi. "Ich hoffe nur, ich ver­kühl mich nicht bei dir im Him­melsbad."
"Lirla zieht das Kleid sich aus und taucht den Fuß hinein", rief es von oben. "Es ist nicht kalt. Ich bin schon drin. Die Wol­ken schwimmen drauf, als hätt' die Mutter sie zu Schaum gemacht."
"Woi kommt sogleich!", rief es von unten.
"Zieh dir die Kleider aus und wirf sie weg!", rief es von oben. "Hier ist das sittsam, was sich woanders schämt. Wirf weg das Zeug, dem Himmel zeige dich im Kleid der Vö­gel!"
"Nichts als Schuhe hat Woi an", rief es von unten und dachte sich zugleich: '... wenn das die Mutter wüsste!'
Ein kleiner Teich war auf dem kahlen Wipfel, gefüllt bis zum Rand mit azurblauem, reglosen Wasser. Ein paar Wolken schwammen darin, als hätte eine Rast von wei­tem Zug sie hergetrieben.
"Lirla!", rief Woi. Ihn fror ein wenig in seinen Schuhen. Er hielt seine Blöße mit beiden Händen bedeckt und ver­suchte, nicht daran zu denken, was für ein Jammer­bild er abgab. "Ich bin es, dein Reitersmann! So zeig' dich doch!"
Während drei der Wolken weiter ruhten, kam die vier­te auf ihn zugeschwommen, und Lirlas Kopf tauchte aus ihr hervor. Sie besaß lan­ges, fast wol­ken­wei­ßes Haar und in einem weichen Gesicht zwei fließende Himmel­saugen.
"Sind das die Augen, vor denen ich mich hüten soll?" fragte Woi. "Wieviele junge Männer mögen sie wohl schon verzaubert haben?"
"Der kleine Hund, der dich bebellte, die drei Wolken dort und diese hier, mehr sind es nicht und treu der Lirla seit diesem Tag."
"Dann hast du der Wolken genug und einen Hund zuviel", gab ihr Woi zu bedenken. Seit sie aufgetaucht war, hatte sich die Luft erwärmt. Wo sich ihm vorher vor Kälte die Haut zusammengezogen hatte, rannen die ersten Schweiß­trop­fen.
"Hast du überlegt, was aus Woi werden soll?" Scher­zend war es von ihm gesprochen, aber sie lachte nicht.
"Komm ins Wasser, neuer Mann, dann sollst du es wissen. Warm ist das Bad, wenn du es wagst. Erst die Füße, die es nicht glauben wollen, nun die Knie, nicht minder dein Handgehü­te­tes ... Leg dich auf den Rücken jetzt. Lass die Hän­de dir zur Sei­te und schäm dich nicht dafür. Das Him­mels­wasser wird dich tra­gen. So ... nun zieht Lir­la dich wie ein trei­bend Gut in des Himmelteiches Mitte, wo ihre war­me Quel­le ist."
Woi lag auf dem Rücken. Über sich den Himmel, eine grau hängende Wolke und Lirla, die mit geweiteten Augen seinen Blick leer­zutrinken suchte. Woi fasste unter Was­ser nach ihrem Kör­per, aber wo ihr Unterleib sein sollte, da war nichts. Er suchte sie am Hals zu berühren, aber er fand ihn nicht unter ihrem Kopf.
"Ich fühle deinen Körper nicht", sagte er leise und dachte an die Warnungen der Mutter.
"Lirlas Körper hat ihr die Elsterfrau gestohlen. Sie steht am Tor der Stadt und zeigt für Sünden­stunden, welch schlanke Bei­ne Lirla einst be­saß. Und Lir­las schöner Kör­per, weißt du, schickt sie mit je­dem fort, der Hu­ren­geld be­sitzt. Ist die Nacht vor­bei, dann flü­stern die an­deren Mädchen über die Diebische, flü­stern, dass die Augen der schö­nen Hure sind die Au­gen einer To­ten. "
Ein Rabe krächzte in den Himmel auf und drehte wider­sprechend sei­ne Kreise über ihr. "Verrückt bist du!", krächzte er. "Sah es der Reiter nicht? Was liegt er da und rührt sich nicht? Es weiß ein jeder hier, dass der Kopf dir krank ist. Lass ab von ihm! Ertrin­ken wird er von deinen Hän­den und zappeln in deines Wahnes Netz."
"Wenn Lirla einen kriegt, der sie zur Sünde rief, dann weiß die arme Lirla schon, was sie tun hat. Mögen sie doch glau­ben, dass sie mit Seufzern Lirlas Tränen, mit Küssen Lirlas Träume fan­gen können! Mögen sie doch glauben, dass sie all dann viele Dinge dür­fen! Lirla, Lirla, arme Lirla ... Lir­las Herz, dem man die Treue schwor ... Lirlas Ant­litz im Tränenbad ... Lirla muss sich vorse­hen ... Lir­la darf sich nicht verlie­ren ... Lirla hat ge­lernt, was eine kluge Lirla tut! Lirla weiß, was SIE für welche sind! Schenkten Lirlas Schönheit einer Hure. Ver­ga­ßen ihren schlanken Kör­per am Tor der Stadt ... die ranken Beine zum gröh­lenden Tanz ... die goldnen Haare im Schmuck der Gier ... der Bu­sen so weiß für die Hände-Hände ... sie nah­men und trugen alles in die Nacht zu einer Hure."
Der Rabe krächzte, kreiste und krächzt: "Lass doch die­sen, den die Mutter dir schickte! Der böse Bill, der für sein Fischweib dich griff, der ruht als Stiefel am Grunde. Der eilige Karl blieb als Stein für immer hier. Der Nol, der mit Geld nach dir warf, führt nun als Hund die Neuen her. Gibst du denn niemals keine Ruhe?"
"Treibe, mein Reitersmann, treibe. Hör nicht auf Raben­gekrächz! Ein Treibebaum bist du. Dein Stamm, so schwer und mächtig gewachsen gegen Zeit und Wind, hat nun kein Gewicht. Wünschtest von Lirla, ein Treib­gut zu sein. Wünschtest von ihr eine Liebe, die rein ist und treu wie der Himmel über ur­alten Bäumen. Nicht von Buben ge­schändet und zum Spott der Gas­senju­gend."
Warm umgab das Wasser Wois Körper, und Lirlas Stimme starb. Nur das Ferne hört ein Baumstamm, in der Nähe nichts. In den Fingern und Zehen harzte das Blut. Geöffnet blickten die Augen ohne Liderschlag. Es schmerz­te nicht, dass sie trocken wurden. Die Farben gaben das Tren­nende auf, verschmol­zen mit den Tönen zu Kreisen, die in den Wel­len schwammen.
"Psst, hör zu! Lirla mag es nicht, wenn du von anderen sprichst im Schlaf. Psst, Lirla mag es nicht, wenn du in die Ferne lauschst. Such, was du suchst, in Lirlas Augen. Ruf, wenn du rufst, nach Lirla und Lirla bloß. Grüble nicht verlorenen Stunden nach und längst ver­gessenen Na­men."
Der Rabe flog krächzend auf, spottete der körperlosen Lirla, deren abwehrendes Lächeln das Wasser kräuselte.
"Ra, ra, ra", rief er. "Ich sehe was, Lirla! Ist nicht auf Rabenjagd, kam nicht zum Fischen her. Denk' nicht, Lirla, denk' nicht, dass ein je­der bei dir bleibt. Ra, ra, ra. Es schleicht sich um und grinst, führt Schlechtes im Sinn und Ver­borge­nes unter dem Wams. Ich seh dein Hund­chen, gibt kein Tön­chen von sich und nicht ein einziges Tröpf­chen mehr."
Derselbe Zauber wirkt die Seelig­keit des Wassers und des Verstehens. Drei Wolken um­schwim­men taub Lirla und den treibenden Baum. Kann das Unendliche die Schale der Hän­de füllen? Welche Lippen trinken den Himmel leer? In der ­leerblauen Tie­fe sucht ein sil­ber­ner Fisch einen schwar­zen Vogel zu ja­gen. In einer Wolke verschluckt, die Li­bel­le, die den Schatten ei­nes Stei­nes stör­te. An den Fäden des Abends baumeln früh die Mücken.
Die zwergenhafte Gestalt hatte die langen Schatten ge­nutzt, um sich anzuschleichen. Er lächelte sich zu und schreckte mit dolch­spitzen Zähnen die äugenden jun­gen Re­he. Grau belauerte er das him­melblau trei­bende Paar, dann zog er aus dem Wams ein gefaltetes Bündel und warf es aus.
Das hölzerne Treibgut hob blinzelnd die Augen unter der Rinde, drehte sich, Wasser schluckend und pru­stend, ver­wickelte sich in schlagende Hände, verfluch­te die Tricks der Weiber, überhäufte eine Körper­lose mit Rache­schwüren, boxte verfehlend, be­schimpfte körperloser Mädchen Kopf­inhalt und suchte, als er keine Worte mehr fand, zur Unbeweglich­keit verknäult, seinen Trost in sich abdre­hender Star­re.
"Oh, Reitersmann", hub Lirla nun an. "Wie kannst du so über Lirla denken? Weh ihr, weh dir!"
"Psst", machte der zwergenhafte Netzfänger. "Psst", machte er leiser, den Finger vor dem Mund, und es klang wie das Zischen einer Schlange.
Hinter ihm traten weitere Finsterlinge in ihr Licht. Wie die Finger einer Schreckenshand lagen vier Schatten auf dem Wasser, machten den Baum zu ihrem Daumen.
"Wir wollen unseren Spaß mit ihr haben", sagte ein Schatten, und die anderen nickten.
"Nein", sagte der kleinwüchsige Netzfänger. "Zieht ihn ran. Los, er wird uns sonst noch versaufen."
Sie holten murrend ihr Paket ein, von dem Lirla nun las­sen musste. Sie flüsterte Abschied und nässte die Augen.
"Was ist, wenn sie uns ver­rät?", fragte einer. "Wollen wir sie nicht wenigstens er­säufen?"
"Nein", sagte der Zwerg, "keiner hört auf diese Verrück­te!" Lirla tauchte den Kopf unter Was­ser. "Wir haben zu lang gebraucht. Macht den Sack auf, dann geht es los! Ich will Tesla nicht warten lassen."
Woi wurde genetzt, frierend und tropfend in den Sack gesteckt und geschultert.
"Einer liest seine Sachen auf und nimmt sie mit", sagte der Zwerg.
"Ich mache das", sagte einer anderer. Es war Schädel. Er stieß mit dem Knie gegen den Sack und flüsterte: "Werd's mir ge­nauer an­sehen, das Bündel vom Söhnchen."
Bäuchlings wurde Woi auf sein Pferd gelegt. Die Wärme des Tieres tat ihm gut. Sein Magen wurde tüchtig durchge­knetet und seine Füße waren wie Eis.
"Leg' eine Decke rüber", sagte der Zwerg. "Damit keiner was sieht."

Chapter 88. Woi im Sack

"Wir haben ihn mitgebracht", hörte Woi den Narbi­gen sa­gen. "In dem Sack ist er drin." Woi wurde auf den Boden gestellt. Dann war es still.
"Macht ihn auf!", befahl Tesla. "Ich habe ge­sagt, ihr sollt ihn bringen, aber doch nicht in ei­nem SACK!"
Die Drachenzähne banden den Sack oben auf, und Woi konn­te seinen Kopf herausstecken. Er stellte sich auf, hielt den Sack aber in Bauchhöhe fest, weil er darunter völ­lig nackt war. Von drei gro­ßen Fackeln war der Raum be­leuch­tet.
Er stand vor Tesla, die auf ihrem Stuhl saß und ärger­lich dreinschaute. Jeder von den Drachenzähnen hielt ei­nes von Wois Klei­dungsstücken in der Hand. Schä­del hielt die Locke hoch und sah ihn finster an.
"Wo habt ihr ihn gefunden?" fragte Tesla streng.
"Er schwamm mit einem Mädchen in einem Waldsee", sagte der Zwerg. "Es war nicht schwer, sich anzuschleichen. Sie haben uns nicht bemerkt."
"Ich wollte nur hilfsbreit sein", bemerkte Woi.
"Die Arme, sie kam nicht alleine aus den Kleidern", zwit­scherte Schädel und grinste.
"War er auf dem Weg zu uns?", fragte Tesla und würdigte ihn keines Blickes.
"Natürlich", sagte Woi vor den anderen, "aber ich bin aufge­halten wor­den. Es gab viel zu überlegen."
"Er hatte die Augen geschlossen", sagte der Zwerg knapp, "kann sein, er hat nachgedacht."
Schädel prustete. "Hat nachgedacht! Sehr lustig das! Ich hab gesehen, woran er gedacht hat. Sein Teil war doch nicht zu übersehen, im Wasser jedenfalls nicht!"
"Ruhig!", befahl ihm Tesla. "Streitet euch nicht! Ihr wartet ab, was ich euch zu sagen ha­be."
"Ihr schätzt diese Lirla völlig falsch ein", protestier­te Woi dazwischen. "Sie hat mich mit ihren Worten be­täubt. Ihr kamt ge­rade recht. Was wäre sonst mit mir ge­schehen!?"
"Ich schwöre", sagte Schädel, "das Teil, das wir aus dem Wasser ragen sahen - von Betäubung keine Spur."
"Er war jedenfalls vom Bauch hinauf zum Kopf recht wil­lenlos", schlug der Zwerg schlichtend vor.
"Es könnte auch der Teil von einem Ast gewesen sein", meldete sich Tatze zu Wois Unterstützung. "Wenn etwas im Wasser ragt, kann es auch von einem Baumstamm sein. Ehr­lich, das gibt es!"
"Habt ihr euch jetzt geeinigt?", fragte Tesla ungedul­dig.
"Sie hatte gar keinen Körper" meldete sich Woi noch ein­mal. "Sie war eine Hexe, das müsst ihr mir glauben! Begebt euch bloß nicht in ihre Nähe! Ihr würdet euch in große Gefahr bringen."
"Dann sind wir ja dann gewarnt", sagte der Narbige be­dächtig.
"Wir wollen ihn nun fragen, ob er dabei ist." Tesla hat­te sich in ihrem Stuhl aufgesetzt und die Hand von Dahima gefasst.
"Jawohl, ich bin dabei!", sagte Woi. Eine gewisse Dank­barkeit wärmte ihn von innen. Wenn er es recht bedachte, dann hatte sie ihn aus den Fangstim­men dieser Verrückten befreit, und er musste ihnen dankbar sein.
"Können wir uns auf sein Wort verlassen?", warf Schädel ein. "Dem Mädchen hat er auch Versprechungen gemacht. Es sah nicht aus, als sei er auf dem Weg zu UNS gewe­sen."
"Nichts habe ich dem Mädchen versprochen", rief Woi dagegen. "Ihre Mutter hat mich gebeten, dass ich sie zu ihr zu­rückbrin­ge. Der habe ich etwas verspro­chen, sonst nie­mandem!"
"Er ist eben ein Ritter", sagte der Zwerg.
"Ein schwimmender Ritter", ergänzte Schädel.
"Ich glaube ihm", sagte Tatze, weil keiner etwas sagen wollte. "Und ich freue mich sogar, dass er dabei ist."
"Es war da noch eine, von der er - eeh - aufgehal­ten wur­de", berichtete der Zwerg. "Es war mitten im Wald."
"Was sollte ich denn machen?", protestierte Woi. "Sie war SEHR aufdringlich!"
"Er wehrte sich, solange er die Kraft hat­te", kam ihm Schädel scheinheilig zu Hilfe. "Die Kleider ließen auf einen Kampf schließen."
"Bestimmt auch eine Hexe ...", bemerkte der Narbige.
"Nein, keine Hexe - eine Wirtin!" Woi winkte schwach mit der Hand ab. Es war zwecklos, ihnen widersprechen zu wollen. Sie hatten ihn die ganze Zeit beobach­tet und beurteilten alles nur nach dem Augenschein.
"Das sind doch Sachen, die nicht von Interesse sind", unterbrach Tesla, die ungeduldig gewartet hatte. "Ihr werdet meinen Sohn be­frei­en. Zusam­men, so wie ihr steht, wird es euch möglich sein!"
Woi hüpfte in seinem Sack zu den Drachenzähnen, damit sie ihn nicht immer ansahen, als sei er ein Treuloser.
"Ich möchte nur noch wissen, woher er DIESE hier hat", sagte Schädel und streckte die Hand, in der er die Locke hielt, aus.
"Das geht dich nichts an!" Woi hüpfte auf ihn zu, um sich seine Locke zu holen.
"Was ist es denn?" fragte Tesla. "Was ist so wichtig, dass du wieder streiten musst mit ihm?"
"Es ist eine Locke. Das schwarze Haar von einer Frau. Das Mädchen im Teich und diese, die er Wirtin nennt, hatten anderes Haar." Schädel hielt die Locke so hoch, dass Woi nicht dar­an her­ankam, ohne seinen Sack loszulas­sen.
'Sie dürfen un­ter keinen Umständen erfah­ren, von wem ich sie habe', dachte er. Da fiel sein Blick auf Dahi­ma. Ihre schwar­zen Augen waren warm und boten ihm Hilfe an.
Als Woi ihr zunickte, sagte sie: "Die Locke ist von mir. Sie geht niemanden etwas an. Was schert ihr euch um seine Sachen!"
Die Drachenzähne sahen sie überrascht an. Dahima erwi­derte fest ihre Blicke. Teslas Gesichtsausdruck war un­durchdringlich.
"Gut", sagte der Zwerg, "es reicht. Schädel, gib ihm die Locke wieder. Wir haben Wichtigeres zu tun. Es ist seine Sache und ihre."
"Recht so", sagte Tesla. "Geht nun! Der Zwerg wird euch sagen, wann es soweit ist."
Als auch Woi sich erhoben hatte, um hinterherhüpfend an seine Kleider zu gelangen, sagte Tesla: "Der Fürst wird hier übernachten. Da­hima zeigt ihm sein Zimmer. Nicht wahr, das tust du doch, mein Kind?"
Die Drachenzähne lieferte die Kleidungsstücke darauf einzeln bei Dahima ab. Schädel kniff ein Auge, der Zwerg war nicht bei der Sache, und das Ge­sicht des Narbigen blieb wie immer unleser­lich. Tatze legte ihr den Mantel auf den Arm. "Also 'Gute Nachtruhe' sag ich mal", kam es freundlich von ihm.
"So sagt man doch ... oder?", wandte er sich unwillig fra­gend an Schä­del, der wieder ein Gesicht gemacht hatte.

Chapter 89. Dahima und Woi

Tesla Haus war in die Jahre gekommen. Es nahm nicht mehr wahr, was das Wasser ihm flüsternd zutrug, son­dern klagte nur lei­se daher, wie schwer ihm das Stehen im kal­ten Grund gewor­den war. Einstmals war es stolz ge­wesen, hatte vor Schif­fen, die sich vorbeiarbeiten muss­ten, ge­brü­stet, et­was Besseres zu sein. Doch nun wollte es nicht mehr ste­hen. Es träum­te von einem Alters­teil an Land und wartete, dass es müde genug wurde für einen tiefen Schlaf.
Woi hatte Schrit­te vor sei­ner Tür ge­hört. Es konnte nur dieses Mäd­chen sein. Außer ihr war nur noch die Blinde im Haus. Als sie in der Höhe seines Zimmers war, machte sie ihre Schritte leise. Diesen Mo­ment nutzte Woi, um ruck­artig die Tür zu öff­nen und sie in sein Zimmer zu zie­hen.
"Ich bin es", sagte das Mädchen leise. "Lass mich los. Was willst du von mir? Bitte, sie wird uns noch hören!"
Als sie vor ihm stand, sah Woi, dass sie sich ver­klei­det hatte. Sie trug einen Hut mit ei­nem Pelzbesatz, unter dem sie ihr langes Haar ver­borgen hatte, und die Kleider in der Art eines Schauspie­lers. Durchweg alt­mo­disch waren sie, aber Woi verließ fast der Mut, so schön war Dahima darin an­zu­sehen.
"Lass mich, ich habe dir nichts getan." Sie sprach sehr leise, als stände noch jemand hinter der Tür.
"Du hast mir etwas getan", sagte Woi. Sie sah ihn fra­gend an. "Du hast mir etwas Gutes getan! Ich habe es nicht vergessen. Aber sag' mir dann auch, warum du es getan hast. Was erwartest du dafür?"
"Ich kann nichts erwarten!"
"Vor den Drachenzähnen hast du gesagt, dass die Locke von dir ist. Damit hast du mir einen Gefallen getan!"
"Ich dach­te wirklich zuerst, sie sei von mir", sagte sie."Als du mich an­gese­hen hast, habe ich ge­meint, dass du ver­liebt bist - in mich! Also ist es doch so, als wäre die Locke von MEINEM Haar, nicht wahr?!" Sie hatte ihm zuviel von sich verraten! Er würde nichts ver­stehen. Es war hoff­nungslos.
Dahima trug ein Hemd, wie man es zum Tanzen trägt, eine Hose, die für die Jagd war und einen Degen in ihrem Gür­tel, der bei jeder Bewegung auf- und abwippte.
"Sie will, dass ich die Sachen trage", sagte Dahima. "Tesla erwartet heute ihren Sohn."
"Sie macht einen Scherz, sicherlich einen Scherz!"
"Nein, das ist kein Scherz. Wenn sie betrunken ist, dann glaubt sie daran und wird böse, wenn ich es verder­be."
Dahima lauschte ange­strengt. "Da, ich glaube, sie hat mich geru­fen."
"Sie ruft die junge Mimim zum Ersten Akt. Es ist Zeit für die Tren­nung, Dahima." Woi öffnete ihr mit einer Ver­beu­gung den gedachten Bühnenvorhang.
Doch Dahima war nicht nach einem Scherz zumute. Teslas Sohn hatte sich ihrer be­mächtigt. Er ging langsam die Treppe hin­unter, als müsse er das Ge­hen noch üben, durch­querte den Gang und drehte einen alten Messing­teller mit unleser­li­chen Schriftzeichen, der an der Wand hing.
Dort, wor keine Tür war, tat sich eine auf. Sie war nicht hoch, und Dahima musste sich bücken. Woi schaffte es, gerade hinter ihr in den Raum zu schlüpfen. Ein Stück seines Hemdes und einen Ärmel aber be­kam die Tür zu fassen und hielt sie erbarmungslos fest. Er hätte sich nur be­freien können, wenn er sich das Hemd mit ei­nem großen Lärm zer­rissen hät­te.
"Da bist du, mein Sohn", rief Tesla mit schwerer Stimme. "Ich freue mich, dass du deine alte Mutter besuchst. Hast einen Freund dir mitgebracht ...?"
Dahima sah sich mit erschrockenen Augen nach dem einge­klemmten Woi um. Als sie sich gesammelt hatte, zeigte auf ihn in Bühnen­manier und sag­te mit ver­stellter Stimme: "Mutter, ich ... liebe Mut­ter, ver­zeih mir. Ich bat ihn zu warten, aber er ... woll­te dich ken­nenlernen, weil ich ihm soviel von dir erzählt habe ... so ist er nun hier, wo Mutter und Sohn allei­ne sein sollten."
Die Trunkenheit konnte sich nicht entscheiden, ob sie Tesla vornüber oder nach hinten kippen sollte.
"Wenn es deine Freunde sind", lallte Tesla, "dann will ich sie alle kennenlerne. Sollen sie draußen ste­hen und sich mir vorenthalten? Hörst du? Deine Mut­ter will jeden von deinen Freunden kennen! Ja, das will sie, und ich möchte wohl sagen, dass sie ein Recht darauf hat. Ver­giss nicht, dass sie deine Mut­ter ist. Du müsstest ihr dank­bar sein und bist es nicht!"
Es roch stark nach Rotwein und flüchtig nach einem Gewürz, das Woi nicht zu benennen wusste. Die Decke hob sich, wenn Tesla redete und senkte sich, wenn sie schwieg und grü­belnd ih­re Balance suchte.
Der Sohn war auf seine Mutter zugeeilt und hatte auf den Knien kriechend ihre Hand gegriffen. Unsichtbare Träger waren Tesla zur Stütze gekommen.
"Oh, Mutter, nein", rie­f der Sohn mit Dahimas Stimme. "Undankbarkeit darfst du nicht von mir den­ken! Wie oft habe ich ihm von mei­ner Mutter erzählt und nichts ausge­lassen!"
"Ist das wahr, junger Mann?" fragte Tesla streng.
"Es ist wahr", sagte Woi und hob die Hand so hoch, wie es ihm die Tür gestattete. "Sehr oft sprach sie - eeh - er von seiner Mutter. Nie sind mir Zweifel ge­kom­men, so mit Leben und Herz erfüllt wurde mir die Liebe der Mutter zuge­schildert."
"Dein Freund liebt die große Pose und eine Rede, die lose ist", stellte Tesla fest und grübelte dunkel auf das gesenkte Haupt ihre Soh­nes herunter.
"Jüngst trat ich einer Schauspielschar bei und hoffe nun, meine Gabe fort für fort zu entwickeln." Was sie von Wois Verbeu­gung hielt, gab ihm die Tür zu verstehen, in­dem sie ihm für seine Ungezogenheit mit lautem Ratsch das Hemd aufriss.
"Ach, lass mich", sagte Tesla und stieß Dahima von sich fort. "Geh weg! Ich will allein sein. Du machst mir heute keine Freude. Kam hierher und war so guter Stim­mung und bekomme von dir nichts als Schmerzen in meinem Kopf. Du bist kein gutes Kind gewesen!"
Tesla saß nun starr in ihrem Gleichgewicht. "Komm, komm her, zeig mir dein Ge­sicht." Sie hob mit bei­den Händen Dahimas Ge­sicht hoch und beugte sich über sie.
Dahima krümmte sich vor Schmerzen unter Tesla Kuss. Als sie sich erhob und um­wandte, sah Woi den blutunterlaufe­nen Ab­druck von Teslas Zähnen auf ihren zitternden Lippen. So fest hatte sie zugebissen, dass in Dahimas Augen die Trä­nen überliefen! Mühsam fand sie ihren Weg, die Schul­tern gebeugt, als sei sie geprügelt geworden.
Woi drehte den Mes­singschüssel, fand aber, dass es ihm nicht recht gelingen wollte. Die Tür ver­schwand im Boden, statt sich zu öffnen. Ein zweites Drehen bewirkte ein andauerndes Quiet­schen, als bewege ein Wind rostig diese Tür in ih­ren An­geln. Wo sie gewesen war, war nun dieses Ge­räusch. Sie selbst aber blieb verschwun­den.
Woi legte seinen freien Arm um Dahima und sah zu, dass sie den Kopf genug beugte, damit sie sich nicht an der niedrigen Türöffnung weh tat.
"Komm", sagte Woi, "es ist besser, wir gehen."
Als sie auf dem Gang waren, zeigte Woi auf die Schat­ten, die sich lang gemacht hatten und einander nah gekommen wa­ren.
Doch Dahima war mit ihren Gedanken woanders. Leise sprach sie ihm vor: "Du verstehst nichts von uns. Siehst du nicht, dass du nichts verstehst?"
"Sprich nicht", sagte Woi. "Es tut dir sicher­lich weh, nachdem, was sie getan hat."
"Wenn sie es NICHT getan hätte, wären die Schmer­zen groß!", entgegnete Dahi­ma heftig. "Was weißt du von ihr und von uns?"
Woi stellte sich zwischen sie und ihren Schatten. Er legte den Finger vorsichtig auf ihre Lippe, die vom Biss dick ange­schwollen war. In ihre Augen zu sehen und dort zu verweilen, war ihm unmöglich. Der Schmerz hatte sie noch schöner gemacht. Also sah er ihr zwischen die Au­gen, um ihren Blick ertragen zu können, und hoffte, dass sie es nicht bemerk­te.
"Was sie getan hat, ist nur von außen. Sie weiß, dass es nichts bedeutet, weiß besser als ich, was wirklich weh tut. Darum hat sie ein Recht, mir weh zu tun. Du aber hast kein Recht, mir weh zu tun, weil du nichts weißt!"
Dahima wandte sich ab und ging zu einem Fenster, gegen das von draußen der Regen schlug. Sie konnte nichts sehen, aber tat, als sehe sie hinaus. Von ihrem Atem war die Scheibe beschla­gen.
Woi trat von hinten an sie heran und berührte ihre Schul­ter. Als sie sich nach ihm umwandte, konnte er sie wieder nicht richtig ansehen. Sie hob die Hand und be­rührte seine Wange. Hit­ze sammelte und staute sich in sei­nem Kopf. Vorsich­tig führten ihre Hän­de sei­nen Kopf an ihren Mund. Woi konnte nichts den­ken, wusste vom Küs­sen nichts, vom Sprechen nichts.
Sie berührte seine Lippen, und er erinnert sich. Auf die seinen legte sie ihre wun­den Lip­pen, als gehörten sie zum Heilen an diesen Ort. Wie ver­letzlich ihre Lippen waren und wie schön, gera­de weil sie den Schmerz in sich tru­gen!
Als seine Lippen weich wurden und ver­letzlich wie ihre, biss sie zu, dass der Schmerz wie eine Feuer­quelle aus Feuerquellen em­por­schoss, in eine heiße Wolkenwolke hin­ein, die an den Rändern lang­sam taubte und starb.
"So weh hat sie mir getan", flüstert Dahima und küsst die Tränen auf Wois Gesicht. "Ein Nichts, ein Ge­schenk - was sonst ist ein Schmerz?"
Schwar­ze Schlacke fiel vom Him­mel zu­rück, bat den Regen, sie wieder grau­zuwa­schen. Ohne Grund weinte Woi, wie eine Wol­ke reg­net, wie Stei­ne grau sind.
"Siehst du", lehrte ihn Dahima, als spreche sie zu ihrem Kind, "die Tränen des Schmerzes sind nichts als die Trop­fen, die draußen vom vorüberzie­hen­den Re­gen am Glas ablau­fen. Wie kann der Schmerz weh tun, wo er nur draußen ist?" Woi betrach­tete nachdenklich ihre Lip­pe. Wenn es so schlimm um seine wie um ihre stand, dann würde er den Dra­chen­zäh­nen wieder keine Er­klä­rung abgeben kön­nen, die sie glauben wür­den.
"Du weißt nicht, was ich sage! Du kannst es nicht ver­stehen! Ein Spötter bist du, kein Schmerzensmensch!", schrie Dahima plötzlich heraus.
"Ich glaube, ich verstehe es", sagte Woi. Seine Ober­lippe war angeschwollen. Der Schmerz ließ etwas nach. Er glaubte, dass es das war, was sie ge­meint hatte. Die un­tere Lip­pe war völ­lig taub und gehorch­te ihm nicht. "Ich verstehe, was du meinst ... mit den Schmerzen das und so", sagte er un­deutlich.
"Wirklich?" Dahima schüttelte hinter vertränten Schlei­ern heftig den Kopf. "Dann verstehe, dass ich eine Prin­zes­sin der Schmer­zen bin. Ich befehle ihnen, habe Macht über sie. Mich haben sie ausge­sucht, weil ich ein Mensch bin. Die Schmerzen brau­chen mich. Ich gebe ihnen Ge­stalt und Wort, ver­stehst du? Ich bin schön und darf für sie spre­chen. Nichts an ihnen ist wirk­lich, aber ich bin es. Ohne mich sind sie nichts, aber was wäre ich ohne sie? Sag mir ehr­lich, was bin ich ohne sie!"
Woi nahm die Hand zur Abwehr vor den Mund. In seinen Fin­ger mochte sie beis­sen, wenn es sie trieb - die Lippen hat­ten genug von ihr für dieses Mal!
"Du bist nicht hier, weil ich von dir die Antwort will", sagte Dahima und strich ihm plötzlich zärtlich über das Haar.
Da fand Woi, den Mut zu nicken. Es war schön, wenn sie zärtlich zu ihm war. Ihre Zärtlich­keit ging auf so schma­lem Grade, dass er sie nicht anzu­tasten wagte. Nur seine Lippen lugten, misstrau­isch ge­blieben, unter ihrer Betäu­bung hervor.
"Geh nun", sagte sie, "geh nun und denk, es war ein Traum. Nichts als ein Regen, den die Wolken nicht mehr tragen konnten. Ein Sonnenstrahl, der nicht zurückfand."

Chapter 90. Die Kaiserin bei Tesla

Wach auf, Woi. Schnell, wach auf!" Dahima schüt­telte den Schlafenden, der keine Regung zeigte.
"Wie be­kom­me ich ihn bloß wach ...?" Sie wirkte verzwei­felt und ratlos.
"Ich wüsste etwas ...", lallte Woi als ein Traum­ent­rück­ter. "Wenn du näher kommst, sag ich es dir."
Dahima seufzte vor Erleichterung. "Steh' auf, Fürst, wenn dir dein Leben lieb ist." Sie schüttelte ihn an den Schul­tern und klemmte ihm mit den Fingern seine Augen auf.
"Aua", beklagte sich Woi. "Das tut weh. So schlimm kann es doch nicht stehen, dass du mir die Augen auskratzen musst."
"Schscht, Fürst. Hör erst zu!" In aller Eile begann Da­hima zu berichten, was geschehen war. "Soldaten stehen unten. Sie war­ten, dass die Kaiserin kommt, haben gesagt, dass sie Tesla ver­haften will. Du musst dich verstecken. Wir haben keine Zeit."
Nun war Woi mit einem Mal hellwach. In seinen Augen blitzte es. Er spürte, wie es durch seinen ganzen Körper ging. Nicht Dahima hatte ihn wachgerüttelt, sondern sein Abenteuer! Er war mittendrin und hätte es fast ver­schla­fen! Das Abenteuer hatte mit einem Pauken­schlag begonnen, direkt an seinem Ohr.
Als Dahima ihn so unternehmungslustig sah, verlor sie jede Beklemmung. Sie mochte Woi eigentlich nicht, weil er sich alles herausnahm, wenn man ihn ließ. Aber nun war sie doch froh, dass er kein Verzagter war.
"Wo kann ich mich verstecken?", fragte Woi leise. Was schaute sie denn so traumselig!
"Hinaus kann ich nicht mehr, also bleib ich drin. Aber wo kann ich bleiben? Schnell, Dahima, denk nach!", drängte er sie.
Dahima dachte nach. Sie dachte sich Zimmer für Zimmer durch das ganze große Haus. "Vielleicht ganz unten im Vorratsraum?" schlug sie vor.
"Wo ist Tesla jetzt?" fragte Woi, ungeduldig geworden. "Dahima, sag' mir, wo sie jetzt ist."
"Sie ist in ihrem Zimmer", antwortete Dahima. Im ganzen Haus fiel ihr kein gutes Versteck ein.
"Ist jemand bei ihr?"
"Bei Tesla?"
Woi schüttelte sie an den Schultern. "Natürlich bei Tes­la, davon spreche ich doch!"
"Bei Tesla im Zimmer ist niemand. Aber vor ihrer Tür steht ein Soldat."
"Nur ein Soldat?"
Dahima nickte abwesend. "Ich weiß kein Versteck", sagte sie.
"Ich aber!", sagte Woi. "Komm, wir haben keine Zeit. Du lenkst den Soldaten ab, und ich versteck' mich in Teslas Zimmer und warte."
"In ihrem Zimmer?"
"Sie haben es doch schon durchsucht?" erkundig­te sich Woi.
"Ja, das haben sie. Weil sie dachten, dass sie nicht al­lein ist."
"Da versteck' ich mich! Sie werden nicht denken, dass sich jemand wieder hineingeschlichen hat." Woi schnipste vor ih­ren Au­gen mit den Fin­gern.
"Nein", sagte Dahima langsam. "Das werden sie nicht. Dann machen wir es so ..."
"Na, dann los!" gab Woi sein Kommando. "Schleichen wir uns an!"
Dahima nickte. Er hatte wirklich wenig Angst. Alles für ihn war ein Spiel. Das war der Grund, warum er so mu­tig war.
Woi sah kurz in den Gang hinaus. Der Soldat an Teslas Tür gähnte. Er war jung und hatte die Nacht womöglich ge­feiert. Sonst war niemand da, und er würde sich langwei­len und ein Gespräch suchen.
Ganz leise flüsterte Woi ihr in's Ohr: "Lock' ihn ir­gendwie von der Tür weg."
"Ich weiß schon, wie", flüsterte Dahima. Sie löste ihr Haar und drückte Woi eine Spange in die Hand. "Ich geb' sie dir", flüsterte sie, "für deine Locke." Und musste lachen über das dumme Gesicht, das er machte.
Sie trat auf den Gang. Als der Soldat hinschaute, schau­te sie weg und fuhr sich gähnend durch das Haar.
"He, du!" rief der Soldat. Als sie nicht schaute, noch einmal: "He, du, Mädchen!"
"He, du, Soldat, meinst du mich?"
"Ja, dich, wen sonst? Komm' her. Oder hast du eine Angst vor mir?"
Langsam ging Dahima auf ihn zu. Die Augen des Soldaten wur­den immer größer. Sie ging auf ihn zu. Kam ihm ganz nah, und ehe er etwas sagen konnten, war sie an ihm vor­bei­gegangen.
"He, du", rief der Soldat heiser, nun seiner selbst nicht mehr so sicher.
"He, ich?" fragte Dahima, ohne sich nach ihm umzuschau­en.
"Ja, du ... mit dem schönen Haar. Das hast du doch?! Dich meine ich."
Dahima hatte sich umgedreht nach ihm. "He du, Soldat mit den schönen Worten. Grad' bin ich aufgestanden und will es käm­men, das schöne Haar, dort in der Badestube. Ich lass' die Tür ein wenig auf und seh' nicht nach, ob jemand schaut."
Der Soldat hielt nun Wache an der Tür der Badestube. So konnte Woi unbemerkt über den Gang huschen und lei­se das Zim­mer betreten.
Tesla saß auf einem Stuhl und hatte ihn bemerkt.
"Ich bin es, Woi, der Fürstsohn. Dahima lenkt den Wa­chen gerade ab. Ich muss mich verstecken!"
Tesla zeigte auf den Schrank. "Da versteck' dich. Sie haben ihn schon durchsucht."
"Ändert sich was?" fragte Woi, bevor er die Schranktür zuzog.
"Was sollte sich ändern?" fragte Tesla hart zurück. Sie hatte sich gekleidet wie eine Kö­nigin. Saß auf ihrem Stuhl, als gebe sie eine Audienz.
"Leg' dich hin", sagte Tesla leise. "Wenn du stehst, wird es knarren."
Woi tat, was sie verlangt hatte und deckte seinen Kör­per mit zwei Decke zu.
"Denk' nicht daran, dass du dich versteckst", sagte Tes­la. "Die Soldaten sind dumm, aber die Kaiserin könnte dei­ne Angst wittern wie eine Hündin."
Woi hörte Dahimas Stimme von irgendwoher. Er dachte an sie. Sie war anders als die Mäd­chen, die er kann­te. Vie­le wa­ren es nicht. Er kannte Li gut und Nadim nicht sehr gut. Aber er konn­te sich bei­de als alte Frau vorstellen. Die Augen würden dies­sel­ben sein, aber der Körper krumm und das Ge­sicht vol­ler Fal­ten. Da­hima war an­ders. Er konn­te sie sich in schönen Kleidern vorstellen, mit Juwe­len be­schmückt, in einem gro­ßen Saal mit vielen Die­nern. Er konnte sie sich sogar als Kaise­rin vorstel­len, aber nicht als Grei­sin. Er glaubte nicht, dass sie einen Mann haben und Kinder be­kom­men wür­de.
Woi hörte, dass die Tür aufgegangen war. Jemand war in den Raum getreten. Er spürte, dass es die Kaiserin war. Sie sagte nichts, und er gab sich nun alle Mühe, nichts zu denken.
Lange Zeit sagte keine der beiden Frauen etwas, dann entfuhr es der Kaiser: "Du bist ja eine Blinde!" Sie hatte lange gebraucht, um zu verste­hen, was sie sah. "Ich habe nicht gedacht, dass du eine Blinde bist ... Ich ver­stehe nicht, wie konnte er sich eine Blinde nehmen!?"
"Es war nachts. Da sah er weniger als ich", sagte Tesla ruhig und fast ein wenig amüsiert.
"Wusste er nicht, dass du blind bist", verlangte die Kai­serin zu wissen.
"Ich glaube, er wusste es nicht", sagte Tesla. Es war nicht wichtig, und sie hatte nicht dar­über nachge­dacht.
"Schämst du dich nicht, es ihm verheimlicht zu haben?", sagte die Kaiserin. Verachtend hatte sie sprechen wollen, es sogar für sich geübt, aber die Eifersucht ließ sich nicht verbergen.
"Er hat nicht danach gefragt, ob ich mit den Augen sehen kann", entgegnete Tesla ruhig. Ihre Stimme trug die Din­ge, die sie tragen sollte. Weis­heit war darin, und Herab­las­sung.
"... ist vielleicht nicht wichtig, wenn man es nur auf das Eine abgesehen hat", giftete die Kaiserin.
Tesla schwieg. Wie jemand, der eine Lüge hört, die furchtsam ist.
"Wie schade, dass du mich nicht sehen kannst", sagte die Kaiserin mit Bedauern. Sie hatte sich schön gemacht, hatte ihren Auftritt vor sich gespielt. Was für eine Enttäu­schung es war, dass diese Tesla blind war!
"Warum ist mein Sehen wichtig?" fragte Tesla gleichgül­tig.
Es war aussichtslos! Wie konnte die Blinde wissen, wovon die Kaiserin sprach. "Hat er nicht gesagt, wie schön ich bin?" entfuhr es ihr.
"Ich kann mich nicht erinnern", sagte Tesla. Der Hass der Kaiserin konnte ihr nichts anhaben. Sie hatte die Kaiserin über­schätzt. Eine machtkluge Frau, die vor nichts zurück­schreckte, hatte sie erwartet. Aber eine Getriebene stand vor ihr, die von wirklicher Macht nichts wusste.
"Du solltest dich klüger verhalten vor einer Kaiserin! Willst du nicht wissen, was ich mit dir mache?"
"Ich warte es ab", sagte Tesla und zeigte, dass das Ge­spräch sie müde machte.
"In unser Gefängnis kommst du. Ich sperre dich ein. Ja, das werde ich!"
"Eine Blinde willst du einsperren?" sagte Tesla. "Wel­chen Schrecken hätte ein Gefängnis für sie?"
"Dann lasse ich dich töten!"
"Das kannst du nicht", sagte Tesla ruhig. Zum ersten Mal verriet ihre Stimme etwas von ihrer Kraft.
"Ich kann dich nicht töten lassen?" fragte die Kaiserin. Einen Augenblick lang war sie unsicher geworden.
"Danach würdest du nicht lange zu leben haben. Das weißt du. Und da du am Leben hängst, wagst du es nicht. So einfach ist das."
"Soldaten", rief die Kaiserin. "Nehmt sie gefangen. Führt sie aus meinen Augen fort. Ich will dieses Weib nicht mehr sehen!" Die Soldaten trampelten eilig in das Zimmer.
"Vorsicht, Soldaten. Ich bin eine alte Frau", mahnte Tesla. "Wenn SIE sich vor mir fürchtet, wie müsst IHR euch erst vor mir fürchten", fügte sie vernehmlich hinzu.
Die Soldaten taten, als hätten sie die Worte nicht ge­hört, waren aber in der Aus­führung des Befehls er­starrt.
Die Kaiserin war un­schlüssig geworden. Was wollte sie mit der alten Frau? Sicher, sie war die Fürstin der Nacht­stadt, aber welche Bedeutung hatte das noch!? Und was konnte eine Blinde einer Kaiserin anhaben? Wenn die Sol­daten sie durch die Stadt abführten - würde die Kaiserin ihr damit nicht mehr Ehre antun, als ihr zustand?
"Sollen wir auch sie mitnehmen?" hörte Woi Dahimas Sol­daten fragen.
"Niemanden nehmt ihr mit!", befahl die Kaiserin plötz­lich. "Sie sind es beide nicht wert, dass wir uns mit ih­nen be­fassen."
Sie wies drei Soldaten an, die restlichen Räume des Hau­ses zu durchsuchen. Ohne ein Wort, mit schnellen Schritten verließ sie Teslas Zimmer.
Überall klopften Sol­daten nach Verborgenem. Plötz­lich war es still. Dann hörte Woi einen Soldaten laut ru­fen. Wieder war es still. Dann san­gen die anderen und johlten. Sie hatten etwas ent­deckt. Ganz of­fenbar war ih­nen Teslas Weinvorrat nicht verborgen geblie­ben. Woi stell­te sich dar­auf ein, dass es spät wer­den wür­de, bis er sein Ver­steck verlassen konnte.

Chapter 91. Woi stößt zu den Drachenzähnen

Als Woi den Markt­platz erreichte, hatte der Abend die Luft bereits abge­kühlt. Das Haus, welches er suchen soll­te, hatte ihm Tesla beschrieben, nicht den Weg zum Markt, wenn er man vom Flussufer her kam.
Das Haus erkannte er nach ihrer Beschreibung sofort. Es hatte viele Fenster, unten waren sie groß und oben klein wie Schießscharten. Kein Fen­ster war er­leuchtet, als sei das Haus unbe­wohnt. Schma­ler als die anderen war es und hatte zwei Ein­gänge. Er solle sich nicht sehen lassen, wenn er es betrat, hatte Tesla gesagt.
Woi stand abseits des großen Platzes und schau­te hin­über. Die Stände wurden abgebaut. Die Händler hatten nichts im Sinn, als ihre Sachen einzupacken und ihre Stände für die Nacht einzurüsten.
In ei­ner Ecke sah Woi zwei Soldaten, die dabei waren, ihre Tie­ren zu besteigen. Drei kleine Jungen standen davor und sahen ihnen zu. Die Soldaten machten wichtige Gesich­ter und versuchten nicht zu zeigen, wie stolz sie wa­ren, dass man ihnen zusah. Ein vierter Junge kam angelau­fen und rief etwas. Er war ganz aufgeregt, wäh­rend die Soldaten sich viel Zeit ließen. Sie nickten, aber es war ihnen nicht wichtig, was er sagte.
Zwei Markthändler waren in Streit miteinander geraten, weil die Fuhre des einen über einen Sack des anderen ge­fahren war. Die vier Jungen liefen auf die Gruppe zu, die sich um die Streitenden gesam­melt hatte. Die beiden Sol­daten folgten ihrem Vorauskommando langsam nach.
Im Rücken der Aufmerksamkeit über­querte Woi den Platz. Er half einem dicken Mann sein Fuhr­werk zu steuern und schlüpfte im Schatten der hohen La­deflä­che in den klei­nen Ein­gang des Hau­ses. Ehe das Fuhrwerk vorbei war, hatte sich die Tür kurz für ihn geöffnet und wieder geschlossen.
"Na also!", sagte der Zwerg und gab Woi einen Puff. "Ein Fürst braucht eben etwas länger."
Er führte Woi durch ein kaltes Haus, das feucht und un­bewohnt roch und nur Licht von außen aufnahm. Das Pflaster des Marktplatzes bildete auch den Bodenbelag dieses Hau­ses. Kleine Pfützen von Feuchtigkeit hat­ten sich gebil­det. Sie gin­gen eine kleine Trep­pe hoch, die im­mer schmaler wurde und in einer Leiter en­dete.
"Verrücktes Haus, nicht wahr?!", sagte der Zwerg. "Ist so eine Sache von Tesla, dient zu geheimen Treffen, aber nicht zum Wohnen."
Er stieg die Leiter hoch und zog an etwas, was unter der Decke hing. Es klang, als falle über ihnen ein Ble­cheimer zu Boden. Kurz darauf öffnet sich eine kleine Lucke und der Kopf des Narbigen erschien.
"Ist er da?", fragte er.
"Kommt gleich", sagte der Zwerg und zog Woi durch die Lucke nach oben.
Sie waren auf dem Speicher. Die anderen Drachenzähne saßen auf dem Dielenboden und schauten Woi an. Nur Schä­del stand am Dach. Er hatte einen Dachziegel beiseite ge­nommen und sah hinaus.
Woi sah die anderen an, aber keiner schien merkwür­dig zu finden, was Schädel trieb. Niemanden schien zu fürch­ten, dass sie von Nachbarn beobachtet wurden.
"Ist er wieder aufgehalten worden?", fragte Schädel.
"Soldaten waren in Teslas Haus", sagte Woi ärgerlich. "Ich konnte es erst verlassen, als sie gegangen waren."
"Er meint es nicht so", sagte der Zwerg und sah Schädel streng an. "Ist so eine Sache ...", sagte er nachdenklich. Woi wusste nicht, ob er sich dabei auf Schädel bezog oder auf ihre Situation.
"Ich habe zwei von den Oberen belauscht", kam es langsam von Tatze. "Der eine hat den anderen gefragt, was es denn mit dem Alarm auf sich hat. Aber sie wussten es beide nicht." Tatze machte eine Pause und wartete, dass die an­deren et­was sagen würden.
"... meist erfinden sie ei­nen Alarm oder hören was falsch", sagte der Zwerg. Dabei sah er Tatze nicht einmal an.
Jetzt wandte sich Schädel von seinem Ausguck weg nach ihnen um. "Ich glaube, es ist nicht irgendein Alarm. Wenn es das ist, was ich sehe, dann sind viele Soldaten hinzu­gekommen. Sie haben Zelte aufgebaut, die sicherlich Platz für eine halbe Garnison bilden."
"Die meisten von ihnen sind Soldaten, die von der Grenze kom­men. Sie sehen müde aus, als hätten sie es eilig ge­habt, von dort hierher zu gelangen", erklärte ih­nen der Narbi­ge. "Aber es sind richtige Soldaten, gut trainiert, nicht so wie die Soldaten am Kaiserhof."
"Dann können wir nicht einfach aufbrechen. Wir müssen überlegen, wie wir fort kommen", gab Woi zu beden­ken.
Als auch Schädel sich zu ihnen gesetzt hatte, saßen die Drachenzähne im Kreis um das erste Wort, das niemand sagen wollte.
"Wollen wir hören, was der Fürst sagt", schlug Tatze vor.
"Kalt hier", sagte Woi. Nur Tatze lachte.
"Ihm fällt nichts ein. Siehst du, deinem Fürsten fällt nichts ein", bemerkte Schädel giftig in Tatzes Richtung.
Der Narbige sagte nichts. Er fand es dumm, dass einer etwas sagen sollte und sich nichts Richtiges überlegt hat­ten. Wenn sie festsaßen, dann saßen sie fest, das war so. Er mochte das Warten nicht, weil es ihn mürrisch mach­te.
"Wie sieht es denn draußen aus?", fragte Woi in den Kreis. Kei­ner gab eine Antwort.
"Nun sag ihm schon einer, wie es aus­sieht", forderte Tat­ze laut. "Er soll etwas sagen, aber er weiß nicht, wie es aussieht."
Der Zwerg warf ein kleines Staubknäuel in die Mit­te. "Also, es sieht so aus: Die Stadt ist voll mit Solda­ten, die jedem ins Gesicht sehen ... Wir kommen nicht raus, so sieht es aus. Es ist, als warten sie nur drauf, dass wir uns raus­trauen. So ist es."
"Dich würden sie mit deiner dicken Lippe vielleicht nicht erkennen, aber uns ...?" Das war Schädel, der das Necken nicht hatte lassen können.
Ehe Woi etwas erwidern konnte, war Tatze schon darüber hin­weggegangen. "Jetzt weiß er alles. Nun soll er sagen, was er denkt."
"Ich hätte eine Idee", sagte Woi und schnippste mit dem Finger das Staubknäuel aus der Mitte heraus. "Wir verklei­den uns, dann ist es ganz leicht. Wenn wir uns Uniformen nehmen, könnten wir die Stadt als Soldaten verlassen."
Alle waren still. Selbst Schädel sagte nichts dagegen, sondern dachte mit den anderen über Wois Vor­schlag nach.
"Ihr sagt selbst, die Stadt ist voller Soldaten", führte Woi aus. "Stän­dig kommen und gehen welche. Keiner weiss von dem anderen. Als Soldaten fallen wir am wenig­sten auf und kön­nen sogar un­sere Pferde dabei haben."
Als erster lächelte der Zwerg, dann einer nach dem an­de­ren, bis auch Tatze über das ganze Gesicht strahlte. Weil er eine Anspannung hatte, knackte der Narbige mit seinen Gelenken.
Schä­del hatte einen roten Kopf bekommen. "Wenn das so einfach wäre, wie ein Fürst es sich vorstellt", sagte er böse. "Ausdenken kann sich jeder alles!"
"Wo bekommen wir die Kostüme her?", fragte Tatze, ohne ihn weiter zu beachten.
"Die Kostüme zu beschaffen ist nicht schwer", sagte der Zwerg.
"Im Heißbad", schlug der Narbige vor. "Da stehlen wir die Uniformen. Wenn die Soldaten von den Mädchen kom­men, dann sind wir längst fort."
"Ich mache das", sagte der Zwerg. "Dort sind Fenster, da komme ich leicht rein. Und der Narbige hilft mir da­bei."
Tatze kicherte. "Wenn wir ein kleines Feuer machen, merken sie nichts ..."
Der Zwerg nickte, während Schädel böse an seinen Wor­ten schluckte. Alle waren sie unruhig gewor­den auf ihren Plätzen.
"Schnell muss es gehen", sagte Woi. "Noch dürfen sie zu den Mädchen gehen. Wenn es erst verboten ist ..."
"Aufbruch!", befahl der Zwerg.
"Es geht los", sagte der Narbige und knackte laut mit den Fingern.

Chapter 92. Erste Nacht im Wald

In dieser Nacht heulte ein einsamer Hund. Ir­gend­wo, sehr weit weg war er und rief nach anderen Hunden. Der Mond schob eine schwe­re Wolke vor einem Guckloch zur Seite, um nachzuschauen, war­um ihm die anderen Hunde nicht antworte­ten.
Die Drachenzähne waren betrunken. Der Zwerg hatte fünf 'Sol­daten-Ko­stüme' und ein kleines Fass Wein gestohlen. In den neuen Sachen saßen sie im Kreis und tranken. Es war ein merkwürdiger Wein, der süss schmeckte. Kei­ner von ihnen hatte solch einen schon einmal pro­biert.
Der Wein machte schnell betrunken, da war es nicht wich­tig, seinen Namen zu wissen. Sie hatten fla­che Schalen dabei, aus de­nen sie ihn schlürfend tranken. Der Zwerg fragte, ob ihnen der Wein schmecke. Es sei doch eine gute Idee gewe­sen, den Wein mitzunehmen.
"Eine dumme Idee, eine äußerst dumme Idee, ihn mitzuneh­men", sagte Schä­del. "Nun wissen sie, dass es ein Dieb­stahl war und kein Brand."
"Aber trinken tust du von unserm Fässchen doch", sag­te der Narbige und betrachtete verächtlich Schädels dünnen und fal­tigen Hals. Reichte es nicht, dass Schädel so häss­lich war? Musste er auch noch die Haut von einer Schild­kröte haben?
Der Mond wich vorsichtig einem kahlen Baum aus, immmer darauf bedacht, sich von dessen Zweigen nicht die blanke Oberflä­che zerkratzen zu lassen. Ein Herr war auf Reisen war er heute und schaute zwi­schen den Wolken hervor als wie aus einer Kut­sche.
Die Drachenzähne hatten kein Feuer gemacht, aber die Luft war eine Decke und der Boden ein altes Bett. Im Bauch war der Wein und gab dem Kopf von seiner Wärme im Tausch für ein paar wertlose Gedanken.
"Was ist", fragte der Zwerg, "trinken wir den ganzen Wein?"
"Is' doch keine Frage das", murmelte der Nar­bi­ge. "... is' schade wirklich eigentlich, dass man 'n Feu­er nicht mit­neh'm kann. Hab'n gebrannt die Soldaten-Fummel, ich sag euch! Ich mein, so'n Wein is' gut, aber so'n Feu­er is' so was ande­res..."
"Habt ihr eigentlich mal dar­über nachgedacht", fragte Schädel, "was wird, wenn wir ihn befreit haben."
"Mach kein' Stunk wieder", warnte der Narbige.
"Hab ich eigentlich darüber nachgedacht, was wird, wenn er weiter so Fragen stellst", zischte der Zwerg und lach­te verglühende Funken.
"Meinst du, ich habe Angst vor dir?!", fauchte Schädel, aber eher leise als laut.
"Hast du nich', kannst du als Vorschlag nehmen", sagte der Narbige für den Zwerg.
Woi dachte, dass alles an Schädel runzelig war. Die Hän­de hatte er wie von einer alten Frau. Nur die Augen brann­ten in die Dunkelheit ein Loch. Wie es wohl war, wenn schlief? Vielleicht war dann seine Haut ganz glatt. Konnte sein, dass die Haut immer run­zelte, wenn die Au­gen soviel Wut ver­brauchten.
"Hei", sagte Tatze, "wisst ihr, dass wirklich alles gut gegangen ist, wie der Fürst gesagt hat."
Woi hatte sich auf den Rücken gelegt und hörte ihnen zu. Sie waren weit weg und ganz nah. Wie er ihre Stimmen hörte, waren es die Stimmen von wirklichen Menschen. Trotzdem musste er an die Räuberbande im Wald seines Va­ters denken. Wie Blät­ter von den Bäumen trudelten die Stimmen her­unter und sam­melten sich dort, wo er lag.
Die Nacht lag auf dem Rücken und war betrunken. Der Mond sah ängst­lich zu ihr herunter, als müsse er fürchten, dass sie mit ihm, dem Nüchternen und Unbescholtenen, einen Streit anfing.
"Hee", sagte eine tiefe Stimme ganz leise neben Wois Ohr, "... war ein toller Plan, mein ich wirklich, kannste glauben."
Woi nick­te und schloss die Augen.

Chapter TEIL 3

Chapter 93. Das Ende der Trauerzeit

Fünf mal fünf Tage lang hatte die Kaise­rin das Sterbe­kleid für ihren Mannes getragen. So verlangte es der Brauch. Darauf hatte der Kaiser vor seinem Tod öffent­lich bestanden. Von allen Kleidern hatte er ihr DIESES ausge­sucht, als wolle er sie strafen.
Sie hatte das Kleid kürzen, taillieren und sein Grau herauswaschen lassen, aber es blieb eine Strafe und war ärgerlich, es bloß ansehen zu müssen.
Zum Ende des heutigen Tag, mit der Stun­de, da ihr Mann gestor­ben war, hatte die Kaiserin das Trauerkleid able­gen dür­fen. So war der Brauch, und ein toter Kaiser war ein toter Kaiser.
Die Kleiderpuppe, welche das für den heutigen Tag ausge­wählte Kleid fünf mal fünf Tage getragen hatte, stand nackt in der Ecke und hatte ihr Trauer­gesicht anbehalten. Also drehte die Kaiserin sie mit dem Gesicht zur Wand und legte ihr die schwarzen Handschuhe über die Schulter.
In der Folge hatte die Kaiserin mit dem Knöchel auf dem Tisch geklopft, weil sie es nicht erwarten konnte, dass jemand kam, um sie abzuholen zur rechten Stunde. Immer wieder hatte sie sich aufgesetzt, war im neuen Kleid um­hergegangen, hatte sich wieder gesetzt und den Nicht Anklopfenden aufgefordert, her­einzutreten.
Endlich klopfte es wirklich an der Tür. "Bitte, tre­ten sie ein, welcher Gast immer es sei!", rief die Kaise­rin mit heller Stimme und setzte sich auf.
Der Hof­mar­schall, der eintrat, ver­beugte sich tief vor seiner Kai­se­rin. Er hatte nicht erwartet, dass die Fenster geöffnet waren, und hatte nicht erwartet, die Kaiserin im feinsten Staate anzutreffen. Also verbeugte er sich noch ein wenig tiefer und noch ein wenig ernster.
Die Kaiserin for­der­te ihn auf, näher zu kommen. "Die­ses Kleid, Hofmarschall", sagte sie und hielt ihm das gebün­delte Trauerkleid entgegen. "Dieses Kleid will ich nie wieder sehen! Ver­brennt es oder ver­senkt es auf dem Grund des Flusses! Wenn ich es noch ein­mal sehe, wer­de ich das Kleid - hört ihr? - und euch darin ins Feuer oder ins Wasser werfen las­sen!"
Hastig nahm der Hofmarschall das Kleid an sich und ver­barg es hinter seinem Rücken.
"Nun, da wir uns zu meiner Freude verstanden haben, fra­ge ich sie, wie ich ihnen gefalle." Die Kaiserin machte einen Kehrtschritt und strich sich ihr neues Kleid über dem Po vor den Augen des Mannes glatt.
"Ich trage jetzt blau", sagte sie. "Das ist die Far­be des Kaiserlichen Dra­chen. Weil sie mir steht, wie ich den­ke, soll es meine Farbe sein."
Der Hofmarschall sagte ihr, dass sie wunder­schön sei. Er sagte das Wort 'wunderschön', als spreche er eines der Wör­ter aus, die man im Anstand vor anderen nicht in den Mund nehmen durfte.
Darauf drehte sich die Kaiserin ihm zu. Sah dem Hof­mar­schall so ungnädig in die Augen, dass dieser sich duckte. Ihm war, als habe er ei­nen Schlag mit der Hand ins Gesicht er­hal­ten.
"Habt ihr mich je angesehen, mich, ja, mich, nicht meinen Mann?", fragte sie außer sich.
"Denkt nicht, dass ich euch eure Gla­sigkeit ver­ges­sen wer­de!", entfuhr es ihr drohend.
Der Hof­mar­schall sagte, dass es seine Pflicht gewesen sei, dem Kaiser zu dienen, und nur ihm, bis zu dessen Tode. Es sei ihrer aller Pflicht gewesen, wenn sie sich erinnern wolle, auch die der Kaiserin.
"Ihr versteht nichts", sagte die Kai­serin. "Ihr seid ein Totendiener und ein Leichenwäscher."
Der Hof­mar­schall verbeug­te sich.
"Wurm", sagte die Kai­se­rin, "Kriechwurm."
Der Hofmar­schall krümmte sich und schwitzte am Körper Feuch­te aus.
Dann rief die Kaiserin ih­ren bei­den Diene­rin­nen her­ein. "Das Kleid zwickt", sagte sie. "Zieht es aus und seht nach, wo es zwickt." Die Dienerin­nen ta­ten, was ver­langt war, und zo­gen der Kaiserin vor den Au­gen des Mannes das Kleid aus.
Der Hofmarschall sah in die Augen der Kai­se­rin, immer nur in die Au­gen der Kaiserin. Ein hautroter Streifen ver­band seine Schlä­fen, als habe man ihm ein ge­faltetes Band über den Augen zusam­men­gebun­den.
Schnell fanden die Die­nerin­nen, was gezwickt hatte. Sie reichten der Kai­serin einen feinen Perlmuttknopf, der zackig ausge­brochen war.
Die Kaise­rin ging im Unterkleid auf den Hofmar­schall zu und gab ihm den Knopf. "Den sollt ihr tragen, wenn ihr mir vor den Augen seid, dass ich mich erin­nere, was ihr mir seid."
Der Hof­mar­schall verbeugte sich und nahm den zerbroche­nen und wert­losen Knopf entgegen.
"Holt mir den General", verlangte die Kaiserin. "Ich will Vorbereitungen treffen, mir mei­n Ge­schenk von der Nacht­stadt abzuholen, wie es der Brauch ist."
Der Hof­marschall eilte bereits davon, als ihm die Kaise­rin nach­rief: "Ich sehe das verwünschte Trauerkleid auf eurem Rüc­ken. Denkt daran, was ich euch sagte. Seid nicht vergess­lich, sonst - das Feuer, das Wasser!"
Wie lach­ten die Dienerinnen da! Und auch die Kaiserin kicherte, ganz wie ein junges Mäd­chen.
"Ihr Treu­en", sagte die Kaiserin, "ihr, nur ihr, wisst, was ich litt. Nehmt von meiner Freude, als sei es die eu­re!" Kurz über­legte sie, hob den Kopf und strich sich mit bei­den Hän­den über den Hals. "Nicht als Lohn für eure Dienste, ach, nicht für den Dienst ... ihr wisst, für unsere Träume und unsere Heim­lichkeit."
Die Jüngere hatte sich in ihrem Lachen unterbro­chen, wäh­rend die Kluge weiterlachte, auch weil die andere ein sol­ch dummes Gesicht vor der Kaiserin machte.
Da polterte der General an der Tür, weil er gekommen war. Es klang, als klopfe er nicht mit dem Knöchel, son­dern mit der Stirn an. Das sagte die Kaiserin ihren Diene­rinnen, und zu dritt beki­cherten sie sich solange, bis der Ge­ne­ral ein zweites Mal mit dem Kopf gegen die Tür gerann­t kam.
"Ja, bitte, herein", rief die Kaiserin, "wenn es kein General ist."
"Aber ich bin - ich es - wie?", stammelte der Gene­ral und fuhr zu einem strammen Gruß zusammen. Immer wenn er nach­dachte, dann pochte es von innen so stark ge­gen seine Schläfen, dass ein Nachdenken unmöglich war.
"Sind sie nicht der General?", fragte die Kaiserin streng.
"Ich bin - bestimmt jawohl - ja, der Gene­ral." Er mach­te nicht den Eindruck, als sei er von der Richtigkeit sei­ner Antwort völlig überzeugt.
"Für dieses Mal will ich es gut sein lassen", mahnte ihn die Kaiserin, "aber in Zukunft erwarte ich Gehorsam." Sie sprach das letzte Wort so zerlaufend kostend aus, dass er es zu­erst für ein fremdes Wort hielt.
"Ich verstehe", sagte er schließlich, als es gegen seine Schläfen nicht mehr so pochte. "JawollJajawoll!"
"Ich habe sie kommen lassen, Herr General, weil ich mor­gen in die Nachtstadt reiten will."
Als sich zwei Soldaten neugierig in der Tür zeigten, ki­cherten die Dienerinnen und hielten sich die Hände vor das Gesicht.
Auch der General hielt sich die Hände vor das Gesicht, aber er kicherte nicht. Es war nur eine Sache, die er tat, damit er besser nachdenken konnte.
"Bitte, Herr General", sagte die Kaiserin unwillig, "ich will morgen in die Nachtstadt reiten, um mein Geschenk ent­gegenzunehmen. Wie ihnen bekannt ist, steht mir als Kaise­rin ein Geschenk von dort zu. Nehmen sie ihre Sol­da­ten mit und begleiten sie mich."
"Aber es ist, nur wenn ein Kaiser kommt schenken sie ihm eine Ge­lieb­te ... bei euch, ich verstehe nicht ..."
"Ich weiss, WAS sie einem KAISER schenken", sagte die Kaiserin sanft und böse.
"Aber ich glaube, ich meine, die in der Nacht-Stadt wis­sen nicht, dass sie als Kaiserin auch ein Geschenk er­war­ten ... haben es ihnen nicht gesagt, weil wir es selbst nicht wussten."
"Deshalb nehme ich ja sie, General, und die Soldaten mit", sagte die Kaise­rin, ebenso freundlich wie dehnend be­stimmt.

Chapter 94. Nadims Ärger über Ken

Erst war Nadim in einem fort traurig gewesen, doch nun war sie einfach böse. Da stand er wieder, dieser Pfer­de­junge Ken, tat nichts, als mit seinem leeren Ärmel zu schlenkern und den Leuten bei der Arbeit im Weg zu stehen!
Er war an ihrem gan­zen Un­glück schuld. Sollte er doch Woi bloß ein wenig sticheln und machte daraus eine solch un­säg­liche Auffüh­rung, dass sie sich schämte, daran zu den­ken. Gab sich als einarmiger Sohn eines Reiter­fürsten aus und prahlte wie ein Kriegs­veteran. Alles war falsch an ihm, besonders die Sprache, die er sich ausgedacht hatte. 'Tochter hold von Kaiser tot' hatte er sie vor den Leuten ge­nannt.
Jeden Morgen suchte er sie auf und ließ sie nicht mehr aus den Au­gen. Überall, wo sie hinging, sah sie ihn wenig spä­ter herumstehen. Er stand unver­rückbar und überall im Weg, kniff die Augen zusammen wie ein alter Feldherr, der die Befestigungsanlage einer Burg studierte, die er mit gerin­gen Verlu­sten einzu­nehmen ge­dachte.
Ob er sie zu einer Bootsfahrt ausführen dürfe, hatte Ken gefragt. Ob das ritterlich werbende Art sei, ein Fräulein auf eine Bootspartie einzuladen?
Ja, das sei schicklich, hatte sie geantwortet. Er müsse aber ein Boot finden, das er mit einem Arm rudern kön­ne. Dann hatte sie sich lachend umgedreht und war fortge­gan­gen.
An diesem Tag hatte er ihr bei der Klei­der­pro­be aufge­lauert und den Näherinnen erzählt, wel­ches Kleid er an ihr schön fände. Es war das schwarze mit den furcht­baren roten und gelben Bommeln. Es erinnere ihn an die Mädchen von der Heimat, hatte er gesagt. Wenn sie auf den Pfer­den sä­ßen, dann bommelte es gar lustig. Das Heim­weh brach seine Stim­me und ebenso die Herzen der Nähe­rin­nen.
Wenn Ken in der Nähe war - und er war immer irgendwo - dann konnte sie nicht traurig sein, sondern musste sich ärgern. Es war ihr nicht möglich, auch nur ein wenig traurig zu sein und an Woi zu denken.
Nun stand Ken hinter einem Wagen und sah ihr in den Gar­ten nach. Nadim versuchte, eine Blume zu malen, wie Li es ihr gezeigt hatte. Sie beachtete ihn nicht, aber er hatte längst bemerkt, wie sehr sie sich dafür anstrengen musste.
Plötzlich stand er hinter ihr und sagte: "Ich sehe, sie malen schöne Blumen. Das macht mein Herz erfreut recht sehr. Ist es Blume von Kopf oder von Garten?"
"Diese da ist es", sagte Nadim und zeigte auf die Blume, die sie malte. "Wenn man mich in Ruhe läßt, würde ich gerne diese da ma­len."
"Oh", sagte Ken, "ich wollte nicht intradieren, wie man sagt in meiner Sprache."
"Und ich werde bald jedem in unserer Sprache sagen, dass er nur ein Pferde­bursche ist und sich alles ausdenkt", sagte Nadim böse.
Ken strich sich den Ärmel seiner verlorenen Armes glat­t. "Er wäre gerne bei seinen Pfer­den", sagte er mit falscher Stimme, "doch die Menschen hier sind Freun­de gewor­den des Man­nes vom fernen Reitervolk. Er ist ihr Gast fürder­hand, wie man sagt, und will sich nicht stehlen aus ihrem Bett und ver­schmähen das Brot, das sie auf den Teller des Ga­stes ge­legt ha­ben."
"Dann soll er mich in Ruhe lassen, der Mann von seinem Rei­tervolk. Ist mir egal, was er macht, wenn er mich nur in Ruhe lässt", sagte Nadim böse und verkleckste dabei ihre Blume. "Was will er denn von mir?"
"Er macht die Augen auf am Morgen und liegt in einem riesigen Bett un­ter einem Dach, von dem sich mehrere Dra­chen auf ihn harabstürzen. Er ist immer noch müde, aber die Men­schen sa­gen ihm, was er zu tun hat. Sie sagen: 'Geh zu der Prinzessin, sie ist da und da.' Sie sagen: 'Die Prin­zessin, sie war­tet dort und dort.' Sie sagen: 'Es ist der Prinzes­sin be­stimmt lang­wei­lig, al­lein die Blu­men zu ma­len.' Sie sagen: 'Der fremde Fürstensohn muss zu ihr gehen und ihr sagen, wel­ches Kleid schön an ihr ist.' Also geht der Pfer­de­jun­ge und macht, was sie ihm sa­gen. Ist ihm alles gleich, was er macht - mit den Pferden wie mit den Men­schen. Er ist bene ditas, wie man sagt, ein Men­schenjunge gewor­den."
"Dann sage ich ihm jetzt, dass ER mich in Ruhe lassen soll", fauchte Nadim. " Er soll auf jemand anders aufpas­sen. Hau ER einfach ab!" Ein zweiter Klecks traf die Blume auf dem Bild.
Ken verschwand stumm aus ihrem Sichtfeld. Dabei hinkte er, als habe er nun auch ein Holzbein. Nadim spürte, dass er irgend­wo in ihrer Nähe geblieben war.
Sie versuchte, aus den Klecksern eine Blume zu machen. Es war eher eine Distel als eine Blume. Furchtbar stache­lig und verzupft sah sie aus!
Sie be­fühlte den kleinen Finger. War er nicht schon ein we­nig steif? Nein, es war nichts als Ein­bil­dung! Das kam von diesem Ken, der erst seinen Arm nutz­los herumtrug und nun sein Bein nachzog, als sei es ihm steif geworden.
Sie hörte leise Schritte hinter sich. Wenn es Ken war, würde sie ihn mit Tinte bespritzen. Blitzschnell drehte sie sich um und und hatte den Pinsel zum Angriff gehoben. Aber Baldeina stand hinter ihr und kaute auf sei­ner Zun­ge. Er hatte sich in Na­dims böse Blicke ver­loren und be­achtete den zum Angriff erhobe­nen Pinsel nicht ein­mal.
"Ist etwas?", fragte sie und bedachte ihre Blume mit einem weiteren Stachelzweig. Das Klecksen tat ihr gut. Es war wie Heulen oder Schimpfen. Sie würde das Blatt mit Klecksen be­wer­fen, bis es voll war. Ein Kiste voller Di­stelköpfe wollte sie malen.
"Versteht ihr euch mit ihm ... mit ihm, dem Ken?", frag­te Baldeina leise.
Warum nur las niemand im Gesicht eine Prinzes­sin das Richtige? Sah niemand, wie Nadim wütend mit sich und al­lem war? Sah niemand, dass Nadim un­glück­lich war? Sah nie­mand, dass ihre Blume eine zornige Distel war?
"Ich weiß jetzt, dass er gut zu Menschen wie zu Pferden ist", antwortete Nadim. "Er tut alles, was man ihm sagt, damit sie es gut bei ihm haben."
"Dann könnt ihr euch also vorstellen, ihn zu ... heira­ten?", fragte Baldeina, innig sein Glück voraussehend.
"Natürlich kann ich mir das vorstellen", sagte Na­dim grimmig. "Wir sind uns so nah, dass ich manchmal denke, ich habe einen steifen Fin­ger. Seht diesen hier! Fühlt ihr, wie er schon steif ist? Stellt euch vor, es ist von ihm auf mich übergegangen!"
Baldeina suchte in Gedanken nach einem körperli­chen Merkmal, dass von ihm, zusammenwachsende Nähe beweisend, auf seine Dessa überge­hen könnte. Ihm wollte aber nur das Gelb seiner Schärpe einfallen.
"Er ist doch ein wenig steif, oder nicht?", knurrrte Na­dim.
"Doch - ja - ein wenig ist er steif - hier vielleicht", kam es von Bal­deina, der zum ersten Mal den Finger einer Prinzessin be­fühlte.
Nadim betrachtete wütend, wie er sein Haupt über ihren Finger gebeugt hielt. Wenn die Men­schen einen stei­fen Fin­ger nicht von einem gesunden unter­scheiden konn­ten, wie sollten sie dann ein glückliche von einem un­glücklichen Prinzes­sin unterscheiden können!
Baldeina betastete vorsichtig ihren Finger. Lange Zeit be­trachtete er ihn, als blättere er im aufge­schla­genen Bilderbuch seines Glücks.
"Ich glaube sogar, es ist schon im Handgelenk", bemerk­te Nadim und streckte den Unterarm aus.
Baldeina besah sich gleichermaßen in­teressiert den Arm, hielt nun aber die Hände auf dem Rücken ver­schränkt.
"Wenn der ganze Arm steif ist, werden wir heira­ten!", versprach Nadim dem sich am schwallartigen Glück ver­schluckenden Baldeina.

Chapter 95. Die Kaiserin in der Nachstadt

Lange hatte die Kaiserin dar­über nachgedacht, welche Veränderung eingetre­ten war. Irgend­etwas, das nur ihre Person betraf, hatte sich ver­ändert.
Erst am Nachmit­tag, als der hohe Baum vor dem Fen­ster das Son­nenlicht ver­stellte und die Dienerin die Stimme des Generals imitierte, hatte sie die Lösung ge­funden: Die Kaise­rin hatte diessel­be - in völlig gleicher Weise dies­selbe Stim­mung wie am gestrigen Tag! Sie unter­schied sich in nichts, hat­te das­selbe Ge­wicht und diessel­be Far­be, war gegenwär­tig und gestrig in einem. Das stell­te die Kaiserin fest und wun­derte sich.
Sie freute sich daran und fragte die Dienerin, wie es ihr heute ergehe. Die Jüngere sagte, dass eine Ängst­lichkeit sie heute bedrücke. Die Kaiserin aber schwieg über den Grund ihrer Frage und wand­te sich schnell der Älteren und ihren Anliegen zu. Eine Unruhe sei es, sagte die Jünge­re, dass sei das rich­tige Wort.
Für den heutigen Besuch in der Nachtstadt hatte sich die Kai­serin ein be­sonderes Kleid angezogen. Es war grau wie das Kleid, welches ihr der tote Kaiser für die Trauer­zeit aus­ge­sucht hatte. Aber es spielte nur mit dieser Ähn­lich­keit. Wenn sie sich ein wenig darin bewegte, dann er­schien sein fallendes Muster, und es war, als löse das Licht die feinen Maschen auf.
Der General hatte zwei Sol­daten als Eskorte für die Kai­serin und ihre Dienerinnen geschickt. Die jüngere Dienerin flüsterte, sie sei noch nicht fertig mit dem Saum des Kleides, aber weil die älte­re ihr einen solchen Blick zu­warf, war sie dann doch fer­tig.
Im Hof hatte der General ein leichtes Kutschgefährt an­schirren lassen, und weil er befohlen hatte, es zu schmücken, war es mit Blumen bedeckt, als sei es im Han­del unterwegs.
Die Kaiserin besah sich dieses Ge­fährt kühl und befahl ih­rer Eskorte, die Blu­men zu ent­fernen. Als dies gesche­hen war, ließ sie ein großes, weißes Tuch kommen und hieß, die Kut­sche von oben bis unten damit zu be­decken, bis diese ganz ver­schleiert war, und nur dort ei­nen Spalt hat­te, wo die Kai­serin hinaussah.
Der General meldete, dass man be­reit sei, die Nachtstadt anzusteuern. Der Abend sei sehr weit fortgeschritten und somit sei es die Zeit, da man sich dort, was er gehört habe, rüste und zu Werke gehe.
"Habt ihr genug Soldaten, dass sie alles tra­gen kön­nen?", fragte die Kaiserin. Sie war gutge­launt, und der General ließ es nicht an austönender Hei­terkeit feh­len.
Draußen gab er den Befehl zur Abfahrt und drin­nen saß die Kaiserin und winkte ihren Dienerinnen zu. Ihr kam es vor, als lasse sie den Tag und den Abend am Hof zurück.
Es war mit einem Mal so dunkel in ihrer Kutsche, dass sie wieder hin­aus­blicken musste, um sich ab­zulenken. So be­trachtete sie die glän­zenden Helme und Stiefel der Sol­daten, die vorbeitanzenden Fenster, die Ziegelmaschen der Dächer, die sie im strengen Lichtspiel an ihr Kleid er­innern wollten.
Als sie die Tagstadt hinter sich gelassen hatten, ver­stummte der General völlig. Es kam der Kai­serin vor, als sei sein Mut in der Tagstadt zu­rückge­blie­ben, als lasse er jeden Sol­da­ten für sich und für sein Schicksal reiten. Es wäre der Kai­serin beru­hi­gend ge­we­sen, wenn der Gene­ral sich nicht hät­te an­merken las­sen, wie wenig geheuer ihm dieser Aus­ritt war.
Die Kaiserin wusste ei­gentlich nichts von der Nacht­stadt. Ihr Mann hatte in ihrer Gegenwart jedes Gespräch darüber ver­boten. Selbst ihre Gedanken, wenn er sie sah, ver­scheuchte er, indem er aufstand und nicht wie­der zu­rückkam. Es war etwas mit die­ser Nachtstadt, das eine grö­ßere Macht hat­te.
Sie sah hin­aus in die Nacht, die ihr ange­streng­t Angst zu ma­chen versuch­te. Obwohl sie vom General kein Kommando gehört hatte, blieb die Kut­sche plötzlich stehen. Ein Soldat half der Kai­se­rin auf den Tritt und einen schmalen Steg, der vor ihr ins Wasser lief.
Wie sie dort stand, schob der Mond die Wolken beiseite und sah ihr über die Schulter. Mit einem Mal erkannte sie die Schwimmenden Häuser, die in ihrer Schwärze unsichtbar vor dem Ufer gelegen hatten.
Die Kaiserin dachte, dass es ein gu­tes Zeichen war, wenn der Mond ihr mit sei­nem Licht aushalf. Doch dieser ver­schwand gleich wieder, als wolle er ihrer Seite nicht zuge­rechnet werden.
"Sie wussten, dass ich komme und haben nichts vorberei­tet", stellte die Kaiserin fest.
"Warten sie", beschied sie der General. "Wir sind gerade erst angekommen. Ich stelle mir vor, es dauert ein wenig."
Mit seinen Worten wurde die Nacht so schwarz, dass die Kaiserin nicht einmal das Wasser vom Land unter­schei­den konnte. Und damit ging ein Licht an, ohne dass sie hätte sagen können, ob es der Luft oder dem Fluss zu­zu­rechnen war.
"Sehen sie", flüsterte der General und war überwältigt.
Ein zweites Licht folgte, diesmal in einer anderen Far­be, in einer runden Form, die silbrig zitterte, als schwämme sie auf den Wellen als Abbild des Mondes. Obwohl die Kaiserin hochsah, gab es am Himmel kei­nen Mond. Woher also kam sein Abbild? Denn dies war ohne Zweifel das Abbild desjenigen Mondes, der ihr vorher auf dem Steg mit seinem Licht ausgeholfen hatte. Es war seine Form und seine Helligkeit, daran bestand kein Zwei­fel.
Und wie­der ging ein Licht an und schwamm hinaus. Röt­lich war es und hatte ein weißen Rand wie ein schwimmender Stern.
"Was machen sie?", fragte die Kaiserin streng. Die Sol­daten warteten, ob ihr General eine Antwort wusste.
"Es ist ein Fest", sagte der General rauh und hob den Finger zur Lippe, dass sie alle still sein sollten.
"Aber kein Fest für mich", sagte die Kaiserin laut. "Sie feiern sich selbst."
"Sie können es nicht nicht unterscheiden", suchte der General sie zu beruhigen.
"Aber ICH kann es unterscheiden!", sagte die Kaiserin und wies auf ein Haus, dessen Dach eine bläulich schim­mernde Knos­pe darstellte.
"Ist es nicht schön?", fragte der General.
"Befehlt sie her!", sagte die Kaiserin.
"Sie hören uns nicht!"
"Dann sorgt dafür, dass sie uns hören!", befahl die Kai­serin.
"Wenn das Schauspiel zu Ende ist ... ", versuchte der Gene­ral kläg­lich eine anderen Einwand.
"Wir könnten die Häuser ranziehen", schlug ein Sol­dat, der sich nicht zeig­en wollte.
"Ranziehen?", fragte die Kaiserin erstaunt. "Sind die Schwimmenden Häuser an Leinen befestigt?"
"Ja", gestand der unglückliche General. "Es ist, wie der Soldat sagt." Er sah sich um, ob sich dieser Unglück­liche nicht ausmachen ließ.
"Zieht sie her! Alle! Sofort!", befahl die Kaiserin, und ohne dass der General etwas gesagt hätte, machten sich die Soldaten an die Arbeit, indem sie zu zweit die Leinen fassten und im Takt daran zogen.
An den Lichtern ruckte und zog es. Manche stießen zu­sammen, andere ver­lö­schten ganz. Dabei stand die Kaise­rin vor­n am Steg, um dem Schauspiel so nah wie möglich zu sein.
Schließlich hingen alle Häuser der Nachtstadt an der kurzen Leine der Soldaten und drängten sich dergestalt, dass sie schief und übereinan­der standen und sich allesamt knirschend anein­ander rie­ben.
Auf eine Weisung der Kaiserin zogen die Soldaten mit einem Ruck die Leinen kurz, bis es nicht mehr ging, und selbst das Ächzen der Planken verstummt war. Erst als eine Planke krachend brach, und das letzte Lichtlein erloschen war, lächelte die Kaiserin und ließ es genug sein.
"Das ist ein schönes Schauspiel", sagte die Kaiserin. "Wirklich und wunderbar. Doch ich will es nun genug sein lassen, weil es spät ist, und mir mein Geschenk abholen."
Leise, aufgeregte Stimmen, die aus den Häusern kamen, riefen nach Tesla. Auch der General rief klagend nach ihr.
"Hat die Fürstin der Nachtstadt kein Geschenk für mich?", fragte die Kaiserin. "Das wäre doch schade, denn ich müsste überle­gen, ob ich ihre Stadt nicht für im­mer an die kurze Leine nehmen sollte."
"Hier bin ich", sagte Tesla. "Ich finde mich noch nicht zu­recht." Sie stand schwankend erhoben auf ihrem Vorsteg, unter den sich ein anderer geschoben hatte und ihn schräg aufstehen ließ. Das Mädchen war bei ihr und stützte sie.
Hier und dort sah man ein Blumenmädchen herausschauen, das mit dem Klang ihrer Stimme den Mut geschöpft hatte, sich anzu­sehen, wie es um ihr Haus stand.
"Ich kam eigentlich nicht, um mir mein Geschenk an Land zu ziehen", sagte die Kaiserin.
"War unser Lichterfest nicht nach eurem Geschmack?", rief Tes­la herüber.
"Wie soll ich Lichter besitzen?", fragte die Kaiserin. "Ich mag nur Dinge, die ich bei mir habe!"
"Eine Kaiserin hat doch alles! Was wünscht ihr euch al­so?" rief Tesla.
"Habe ich alles?", fragte die Kaiserin ihre Soldaten. Einige nickten, andere verstanden nichts und schauten auf ihre Leinen.
"Es sei gestanden: Unser Geschenk an euch traf nicht rechtzeitig ein", so Tesla. Es klang, als sage sie dies widerstrebend.
"Dann werde ich mich gedulden müssen", sagte die Kaise­rin und wandte sich dann ihrem General zu: "Ihr könnt zum Ab­marsch befehlen!"
"Und was geschieht mit IHR?", fragte der General und zeigte auf die ineinander geschobene Nachtstadt, der ganz offensichtlich seine ganze Fürsorge galt.
"Sie bleibt für das Weitere so", entschied die Kaise­rin, "damit es sie an das Geschenk erinnert, welches sie mir schul­den."

Chapter 96. Baldeina und die Kaiserin

Die Kaiserin trug ein Kleid, das wohl ihr Schlaf­kleid war. Auf den ersten Blick fand Baldeina es wunder­schön, dann sah er zu Boden, damit die Kaiserin seinen Blick nicht falsch deutete.
"Ich hatte die Wahl mich anzukleiden oder euch warten zu lassen", sagte die Kaiserin. Sie besaß eine dunkle Stim­me, welche die Ränder ihrer Wor­te rauh erscheinen ließ. Wenn eine Farbe vorherrschte, dann war es das Pur­pur - das Rot, das sich im Blau verloren hatte.
Zum ersten Mal durch­fuhr Bal­deina die Er­kennt­nis, dass man eine Frau nach ihrer Stim­me lie­ben konnte. Er stell­te sich vor, wie es wäre, wenn sie singen würde. Natürlich gestattete er sich nichts als diese Vor­stellung, denn einer Kai­se­rin war es nicht erlaubt zu singen - besten­falls durfte sie eine sin­gende Stim­me haben.
"Ich entschied mich, wie ihr seht, gegen das Warten", sag­te die Kaise­rin. Jedem Wort folgte, als gehö­re sie da­zu, eine stumme Silbe, gerade solang, dass ihre Stimme zwischen den Worten eine Schwin­gung hatte, vielleicht nur ihm wahrnehm­bar.
"Es ehrt mich", sagte Baldeina. Auch er hatte eine tiefe Stimme. Ihr Hall schien ihm gerade das richtige Echo für zu besitzen.
"Ihr verzeiht also, dass ich euch so empfange?", fragte die Kaiserin bittend und führte Baldeinas Blick über ihre weißen Schultern zu den Schatten ihres Ausschnittes.
"Es ist mir eine Freude", sagte er gefasst und verbes­serte sich eilig: "... ich meine eine Ehre."
"Ich ziehe die Freude vor", lächelte die Kaiserin. "Die Ehre bedeutet mir nichts."
"Mir auch nicht ... ich meine, die Freude ziehe ich auch vor, selbstverständlich, wenn ihr sie vorzieht!"
"Die Freude hat eine Berührung, die Freude wagt einen Blick, dies meinte ich", sagte die Kaise­rin.
"Ich verstehe", sagte Baldeina und schluckte an dem Hall seiner Worte.
"Und nun?" Ihr Blick nahm den seinen fühlend in Empfang und sprach ihm geheimnisvoll in einer noch fremden Sprache zu.
"Ich verstehe nicht ...", flüsterte Baldeina.
"Wenn es ein Anliegen gibt, dann tragt es vor", sagte die Kaiserin sanft und hätte doch leicht über seine Unbe­holfenheit spotten können.
"Ja", sagte Baldeina, "es gibt ein Anliegen, das ich bei mir trug ... trage."
Die Kaiserin machte einen vorsichtigen Schritt auf den mutlosen Baldeina zu, fasste seinen Ärmel und und zog ihn tiefer in ihr Gemach. Dort stand er, irgendwo zwischen Bett und dem Ständer, der ihr das Kleid für den heutigen Tag trug.
Baldeina stotterte selbst ihm Unverständliches, weil sie gesehen hatte, wie sein Blick auf das Bett gefal­len war, in dem sie geschla­fen, vielleicht nur gelegen hatte.
"Ich und Dessa, also Dessa und ich, wir woll­ten natür­lich hei­raten, also eigentlich ich und sie auch, wir ..."
"Ich hörte davon", unterbrach die Kaiserin. Es war die Traurigkeit, die diese Worte ein wenig ausfärbte.
"Also wenn es euch nicht recht ist, ich meine, darüber zu sprechen, dann verschieben wir es", beeilte sich Bal­dei­na zu sa­gen.
"Doch, bitte, fahrt fort", bat sie ihn. "... ich will mich nur setzen. Nein, nicht auf das Bett. Ich bitte, holt mir diesen Stuhl dort."
Baldeina tat, wie ihm aufgetragen worden war. Als er mit dem Stuhl gekommen war und die Kaise­rin sich gesetzt hatte, führte sie ihn an seiner Hand um ihre Schulter herum, bis er unmittelbar vor ihr stand.
"Wir kennen uns noch nicht näher", sagte die Kaiserin.
"Nein", antwortet Baldeina mit keinem Blick.
"So ist es Zeit, nicht wahr?" Der Baum füllte mit seinem Lauschen das Fenster.
"Wenn ich etwas verlangen würde ...", sagte die Kaiserin leise.
Baldeina nickte stumm und war einzig unglücklich dar­über, dass es ihm nicht gegeben war, wie eine Schildkröte den Kopf im kühlen Pan­zer einzuziehen.
"... nicht weil ich die Kaise­rin bin. Nehmt das nicht als einen Grund!" Sie rückte ihren Stuhl so, dass er sie nicht ansehen konnte, son­dern nur ihre Stim­me hörte, welche die Worte langsam hinter sich her­zog, als schaue sie sich ihnen bisweilen nach.
"... sondern weil ich", sie drehte die Hände, als rühre sie langsam in einem Topf, "eben weil ich ..."
Baldeina versuchte zu sprechen, aber als er die Kraft fand, hatte er völligst vergessen, was sie gesagt hatte. Es war weg, so sehr er danach auch in seinem Erinnern forschte.
"Ihr versteht, ich habe keinen Wunsch, aber wie schnell entsteht ein Wunsch und lässt uns nicht mehr los."
Sie stand auf. Auch ihre Bewegungen waren lang­sa­mer, als schreite die Zeit im Takt ihrer Worte. Einmal ging sie um Bal­deina herum und betrachtete ihn von allen Seiten. Er gab sich Mühe, so aufrecht und dienstbar zu stehen wie die Kleider­puppe.
"Setzt euch her", sagte die Kaiserin. "Wo ich saß, sollt ihr sit­zen."
Der Stoff des Stuhles war noch ganz warm von ihrem Kör­per. Sie stand vor ihm, und Bal­deina sah zu ihr empor. Dass sein Mund offenstand, bemerkte er spät, zu spät.
"Als ihr kamt, was war euer Begehr?" Sie sah, dass alles Herz in sei­nen Augen schwamm und ihm nichts da­von im In­neren geblieben war. Sie bereitete sich vor, ihn dafür zu mö­gen.
"Eure Tochter ... also nicht eure", stammelte Baldeina, "... wir fragen, ob wir heiraten können ... also dürfen, meine ich na­türlich."
Die Unterlippe der Kaiserin lächelte und schob sich vor die nicht lächelnde Oberlippe. Ihre Augen nahmen Maß an Bal­deinas Augen, und ihre Nase sog langsam die Wit­terung sei­nes Schwitzens ein.
"Eurem Wunsch gebe ich selbstverständlich statt, wenn ihr mir eine kleine Probe gestattet."
"Gerne, gerne", sagte Baldeina und schwitzte fort. Wollte sie wirklich seine Zuneigung zu Dessa prüfen? Unsicher blickte er in sich hinein, ob nicht ein wenig Zorn auf ihre Zöger­lichkeit als Rest geblieben war.
Die Kaiserin hob ihre Hand nach innen und besah sich nach­denklich die darauf gezeichneten Li­nien. "Hier, strei­chen sie über die Linien mit ih­rem Fin­ger, ganz sacht. Ja ... so ist es recht. Ich will die Au­gen schließen und warten, was geschieht."
Baldeina gab sich Mühe, ganz vorsichtig und zum Äußer­sten sacht auf der Handfläche zu zeichnen und keine Linie zu vergessen.
"Es geschieht etwas", stellte die Kaiserin fest.
"Was geschieht?", fragte Baldeine und strich behutsamst die unterste Linie, dort wo die weiße Haut ihres Armes anlag.
"Die Linien zeichnen sich in meinem Herzen. Nicht eine von ihnen schmerzt, nicht eine von ihnen ist kalt."
Sie berührte ihm die Wangen, das Haar, dann seine Lip­pen, wie ihn leich­ter ein Wind nicht hätte berühren kön­nen.
Die Kaiserin nahm auch seine Hand auf und schloss bit­tend Baldeinas Augen. Bald spürte Baldeina, dass sich auf sei­nem Her­zen die von ihr gezeichneten Linien im Gegenbild ablesen ließen, erst ein wenig undeutlich, dann so heilend und warm, wie sie es beschrieben hatte.
"Was war noch der Wunsch ...?", fragte die Kaiserin, als habe sich ärgerlich ein letzter Rest von Pflichten zwi­schen sie gedrängt.
Baldeina öffnete die Augen, aber er schloss sie wieder, weil auch sie ihn nur mit der Hand ansah. "Es geht um eine Heirat", sagte er tonlos. Er wusste selbst nicht, ob es richtig war, immer wieder davon anzu­fangen.
"Ach ja", sagte die Kaiserin, "diese Heirat, ach ja ..."
Baldeina sagte, sich erinnernd, dass es eine Sache sei, die nicht not­wendig besprochen werden müsse, aber die Kaiserin war in Gedanken enteilt.
"Ich will ja gerne", sagte sie, "der kleinen Dessa ihren Wunsch erfüllen, aber ich selbst habe einen Wunsch. Über den will ich reden und ihn euch und ihr be­kannt ma­chen ..."
"... seht ihr, den Hof meines toten Mannes verwaltet mir der Hof­mar­schall, verwaltet ihn so, wie er es unter dem Ge­storbenen schon tat", die Hand der Kaiserin hob und senkte sich zum Zeichen mat­ten Dankes, "aber MEI­NEN Hof, den Hof, der nur mir entsteht, den ver­waltet bis jetzt nie­mand. Und es wäre mein Wunsch, dass ihr dieses Amt über­nehmt."
"Das wäre eine große Ehre!", rief Baldeina, so kam es ihm so aus vollstem Herzen!
Das war eine AUFGABE, die ihm zu­teil wurde! Dabei war er nur an den Hof gekom­men, um eine Prin­zessin zu hei­raten. Doch dies war ein TITEL, der ihm seinem Verdienste nach verlie­hen wur­de, ein hohes Amt, am Hofe vielleicht das höch­ste! Wie würde der Vater auf den Sohn stolz sein können!
Die Kaiserin hatte aufmerksam zugesehen, wie die Freude über ihr Angebot von Baldeina Besitz ergriffen hatte.
" ... und diese andere Sache", sie ge­stattete ihrer Un­ter­lippe ein Lä­cheln. "Gern will ich der klei­nen Dessa ihre Hei­rat ge­stat­ten. Und sie soll al­les bekommen, was ihr als Ehe­frau zu­steht - nur das Herz, euer Herz, das Herz ih­res Mannes, das will ich für mich und meinen Hof."

Chapter 97. Die Kaiserin und das Diadem

Die Kaiserin saß im feinsten Staat auf dem Thron. Neben den hohen Lehnen des breiten Stuhles knie­ten ihre beiden Dienerinnen, die treuesten von allen.
'Schlagt nicht die Augen nieder', hatte ihnen ihre Her­rin befohlen, 'sondern seht sie euch an, einen wie den anderen. Lasst sie nicht aus den Augen!' So waren nun zwei und vier Augen auf die Anwesenden gerichtet.
Der General stand in einem Rechteck von Solda­ten, der Hofmar­schall mit vier weißgekleideten Dienern, Baldeina neben Ken und dem Eunuchen.
Unbe­kannt waren zwei Anwesende: eine Dame, die einen roten Lampion hielt, und eine Per­son, die ihr zur Seite stand, und eine bis zum Boden reichende, graue Leinen­kut­te trug.
An der Seite der Kaiserin trat der Richter von einem Fuß auf den an­deren. Sein Gerichtsdiener Halfi trug auf einem schwarzen Kissen das Diadem des Blauen Dra­chen.
Die Kaiserin hatte sich die Haare, die sie sonst offen trug, streng zum Zopf nach hinten zusammenbinden lassen, um den Blick nicht von ihrer Stirn abzulenken, die heute den Kaiserlichen Schmuck tragen sollte.
Der wei­ße Kopf des Drachen war aus Bril­li­anten ge­macht und ei­gent­lich klein. Sein Leib dage­gen war dem großen Fluss nachge­stal­tet und floss in tiefem Sa­phirblau zweimal gekrümmt dahin. Er war mit Perlen zum Halt am Hin­terkopf ver­se­hen, um dem Träger auf­recht ste­hend die Stirn schmük­ken zu können.
"Kommen die Prinzessinnen nicht", fragte die Kai­serin streng.
"Ich habe sie unterrichtet", sagte der Eunuch und ver­schwand hinter dem Körper des Generals.
Baldeina und Ken senkten die Köpfe.
"Niemanden trifft ein Vorwurf", sagte die Kaiserin, weil ihren Baldei­na keine Sculd traf, "aber wir können nicht bis in alle Zeit auf sie war­ten."
Der Rich­ter nahm das Diadem vom Kissen, trat zur Kaise­rin vor, verbeugte sich und zeig­te es im Kreis.
Dabei sah ihm die Kaiserin sehr genau in die Au­gen, und ebenso ihre Die­ne­rinnen. Fin­ster war der Blick des Rich­ters, weil die Kai­serin seinen Rich­terspruch nicht abge­wartet hatte und den Blauen Dra­chen nun gleich, eigen­mächtig vor der Zeit tra­gen wollte.
"Er passt nicht", stellte der Richter fest. In der Tat war das Diadem locker und hatte zuviel Spiel an ihrem Hin­ter­kopf.
Der Richter sah sich um. Außer dem Gerichtsdiener lä­chelte ihm niemand Aufmunterung zu. Trotzdem verkündete er tapfer, immer noch über die Kaiserin gebeugt: "Ich kann erst meine Zu­stimmung zum Anpassen ge­ben, wenn der Letzte Wil­le des Kaisers -"
"- ihr riecht nach Sauerstaub", zischte die Kaiserin ihn an. "Nahmt ihr kein Bad von euren Büchern?" Mit einer Bewegung scheuchte sie ihn fort.
Die Dienerinnen hatten ihm das Diadem aus den Händen ge­nommen und mit wenigen Handgriffen das Haar der Kaiserin so ge­ordnet, dass der Schwanz des Blauen Drachen seine Spitze genau zwischen den Augen der Kaiserin hatte und der Drachenkopf träumend auf ihrem Haaransatz ruhte.
Dann verbeugten sie sich tief vor der Kaise­rin, und alle, außer dem Richter umd seinem Halfi, taten es ihnen nach.
Wenn es für die Schönheit ein Recht gab, wa­ren wohl die Gedan­ken der sich Verbeugenden, dann war dieses Wun­der­werk für nieman­den als diese Kai­se­rin ge­macht.
"Die Abordnung der Nachtstadt, vortreten!", rief der Hof­marschall, als die Kaiserin und ihre Dienerinnen ihm dafür angesehen hatten.
Nun kam die Gesandte der Nachtstadt im Trippelschritt nach vorne. Sie hielt ihren roten Lam­pion hoch und trug ein dünnes weisses Kleid. Hinter ihr schlürfte die Person in der langen Kutte heran, als wider­strebe ihr die­se Eilfer­tig­keit.
"Hat sich eure Fürstin zur Buße in diese Kutte geklei­det?", fragte die Kaiserin spöttisch.
"Unsere Fürstin Tesla ist schlecht zu Fuß", sagte die eine Gesandte, "und entschuldigt sich, wenn ihr erlaubt."
"Was habt ihr mir gebracht?", fragte die Kaise­rin ungnä­dig. Sie roch mit Abscheu den schwe­ren Duft der Nacht­städtischen, der keinen Abstand hielt.
"Wir von der Nachtstadt wissen, was einer Kaiserin ge­fallen wird", so lautete die gelernte Rede. "Diese Frau hier nehmt als Geschenk von uns. Sie ist das Teu­er­ste, das wir besitzen, und soll euch nun die­nen, solang ihr mögt."
"Ihr schenkt eurer Kaiserin eine Dienerin!? Wisst ihr nicht, dass sie genügend und die besten davon hat?" Der Körper des Drachen wechselte die Farbe in lichtloses Schwarz.
Die beiden Dienerinnen an ihrer Seite blickten voller Zorn. Doch die Nachtstädtische verbeugte sich tief, als sei sie vom Wert ihres Ge­schenkes überzeugt. Nur die Frau in der Kutte rührte sich nicht und blieb teilnahmslos un­scheinbar.
"Was soll ich mit ihr?", fragte die Kaiserin noch ein­mal.
Die Abgesandte trat einen Schritt zur Seite und zurück. Ihr Duft unternahm keine Anstalten, bei ihr zu bleiben.
"Ich gebiete über die Schönheit", sagte die Frau in der Kutte für die Schweigende. "Das ist mein Dienst an euch."
Vom Klang ihrer Stimme erschrak Baldeina. Es war die Stim­me einer alten Frau, aber ihre wenigen Worte umgab diessel­be nebelige Landschaft, die er auch an der Stimme der Kaiserin bemerkt hatte. Düsterer noch und kar­ger war ihre Stimme, aber sie füllte nachklingend den Raum zwi­schen den Worte.
"Ich gefalle mir, wie ich bin", sagte die Kaiserin und setzte sich spielerisch in Positur.
"JETZT gefallt ihr euch", sagte die Stimme nachlässig. "Mein Dienst ist, dass ihr euch für IMMER gefallt."
"Sie kann das wirklich", flüsterte die Nachtstädtische der Kaiserin zu, "aber versucht niemals - hört ihr? - nie­mals, ihr Gesicht zu sehen. Das einzig ist euch verbo­ten. Für euch muss sie eine Frau ohne Gesicht und ohne Namen bleiben."
"Ich will euer Geschenk annehmen", sagte die Kaiserin, als habe sie genug von diesem Auftritt. "Nun geht und sagt es den anderen."
Die Nachtstädtische verbeugte sich tief und war­f einen letzten Blick auf die Frau, die nun in Diensten der Kaise­rin stand. Ihr war anzumerken, welch großes Opfer die Nachtstadt ge­bracht hatte.
Der General räusperte sich und streckte den Bauch so­weit aus, dass er beinahe vornüber gefallen wäre. Mit zwei sei­ner Soldaten schritt er schwerbesohlt vor die Kai­serin. Die Soldaten sahen munter in die Au­gen der Dienerinnen, wurden aber mit strengem Blicken ab­ge­wie­sen.
"Höröch", sagte der General, "ich, öm, sehr geehrte Kai­se­rin, meine tiefe Ergebenheit an diesem Tag, öm, ich - be­sten Glückwunsch!"
Die Kaiserin hatte unwirsch seinem Gestammele zugehört und unterbrach ihn nun: "Du, General, gehst mit deinen Sol­daten zur Nachtstadt und löst dort die Taue!"
"Jawollabverstandn!", rief der General heiser.
"Be­feehl!", hu­stete er im Abdrehen seine Soldaten an. "Ab­marsch!"
"Jawoll, Herr Gennral! Wird gmacht, Herr Gennral! Ab­marsch, Männerrr!!", rie­fen sie mit voller Kraft zurück, dass es den Diene­rinnen die Haare hochwehte.

Chapter 98. Die Frau mit der Kutte

Die Kaiserin lag im Festkleid auf ihrem Bett und sah zur Decke empor. Auf dem Kissen neben ihrem Kopf lag das Dia­dem des Blauen Drachen. Sie wartete, dass es ru­hig in ih­rem Kopf wur­de und schloss die Augen.
"Ist sie gekommen?", fragte sie nach einer Weile.
"Das Geschenk?", fragte witzelnd die Dienerin. Und weil die Kaise­rin ihre Bemerkung nicht gnädig aufnahm, fügte sie schnell hinzu: "Ja, sie ist gekommen, steht euch zu Diensten."
Die Kai­serin befahl die Die­nerin­nen vor die Tür, um auf­zupassen, dass nie­mand hereinkam und störte. Sie warte­te schweigend, bis die beiden draußen zur Ruhe gekom­men wa­ren.
"Sie soll etwas sagen", verlangte die Kai­serin.
Die Gestalt bewegte sich nicht. Sie schwieg, und die Kaiserin konnte ihr nicht böse sein.
"Gehorcht ihr mir nicht?", fragte die Kaiserin in das Schweigen der anderen hinein. Dabei lag sie still und war­tete auf den Nebel in ihrem Kopf, der sie endlich müde machen wür­de.
"Dienerinnen, die euch gehorchen habt ihr genug". Die Frau besaß eine ruhige Stimme. Sie bot sich der Kaiserin zum Anlehnen an.
"Ich weiß nicht, was ich an euch habe", sagte die Kaise­rin. Sie hatte das Gefühl, dass die Frau übermächtig in sich sel­ber ruhte. Was gingen diese Frau die Fragen ihrer Umge­bung an? Eine Kaiserin war so wichtig, wie das Schauen der anderen es zuließ.
"Wie fühlt ihr euch?", fragte die Frau nach einer langen Weile.
"Gut!", antwortete die Kaiserin schnell.
"Ihr wisst, was ich meine", gab die Frau ungehalten zu­rück. "Ich spreche doch eine Sprache, die ihr versteht!?"
"Ich finde keine Ruhe in meinem Kopf", sagte die Kaise­rin eilig und schlug die Augen auf, weil es sinn­los war zu warten, dass der Tag sich zurückzog.
"Wir sprechen von der Zeit, seit ihr Kaiserin wur­det ..." Es war von der Frau keine Aussage und keine Frage - irgend­etwas, das sich nicht festgelegt hatte.
Die Kaiserin nickte. Als ihr Mann noch leb­te, hatte sie immer ihre Ruhe gefunden. Da kam der Schlaf zwar spät, spielte mit ihrer Ungeduld, widersetzte sich ihrem festen Willen - aber er kam. In den Tagen, seit sie Kaise­rin war, hat­te er sie über­sehen oder verges­sen.
"Der Schlaf traut euch nicht mehr. Er fürchtet eure Macht und neidet der Kaiserin den Tag", sagte die Frau, als sei das nicht völ­lig ver­rückt.
"Was wisst ihr darüber?", fragte die Liegende demütig.
"Findet es heraus!", antwortete ihr der Spott der Frau.
"Könnt ihr mir den Schlaf zurückholen?", bang die Fra­ge und Bitte.
"Das kann jeder Arzt! Dafür braucht ihr niemanden wie mich", ver­ächt­lich der Be­scheid.
"Wofür dann seid ihr da? Worüber gebietet ihr?"
"Wenn ich ihre Gesetze anerkenne, so gehorcht mir die Schön­heit!" Die Stimme träufelte einen brennenden Tropfen in jedes Auge der Kaiserin.
"Aber bin ich nicht schön?" Die Frage war kokett. Sie war nicht ehrlich, nahm die Antwort vorweg.
Die Frau begrub alles unter ihrem graufernen Schweigen.
"Die anderen sagen, ich bin es", fuhr die Kaiserin wi­derspenstig fort. "Sie sehen in mir nur dies eine. Nichts könnte ich ihnen im Austausch bieten!"
"Seid still!", herrschte die Frau sie an. "Ihr wisst, dass die Schönheit nur als Gast zu euch kam!"
Die Kaiserin nickte und schwieg sich in eine Angst. Nichts wollte sie ver­lieren - Kai­serin und schön wollte sie sein, und beides für immer. Der Nebel und der Schlaf konn­ten warten.
Aufrecht saß sie nun im Bett und betrachtete die Ge­stalt. Die Kapuzze verhüllte gänzlich das Gesicht, gab weder den Blick auf die Augen frei, noch ließ sie die Umrisse des Kop­fes erah­nen. Mit der Kapuzze war das Gewand vernäht und fiel immer so lang, dass es die Füsse und die Hände be­deckte.
"Wer seid ihr? Ich muss doch wissen, wessen Rat ich be­fol­ge!"
Die Frau hob den Arm und ließ ihn fallen. "Ihr bekommt keine Antwort darauf. Bei Verlust eurer Schönheit dürft ihr niemals unter meine Kapuzze sehen und bei Ver­lust eu­res Verstandes dürft ihr nie meine Kammer betre­ten."
Tupfend berührte die Kaiserin die Haut ihre Gesichtes, ob nicht schon etwas damit geschehen war. Das Verbot mach­te ihr Angst. Es war etwas Neues, das sie nicht kann­te.
"Es gibt Dinge, über die kann eine Kaiserin nicht gebie­ten", sagte die Frau und hatte mitfühlend die Gedanken belauscht.
"Ich will tun, was ihr sagt", versprach die Kaiserin. "Lasst euch sagen und glaubt, dass ich eure Kunst anneh­me. Wann - sagt - wann wird es soweit sein?"
"Ich werde am Hofe sein, um­hergehen oder in meiner Kam­mer sein. Lasst mich rufen, wenn es euch nach meiner Kunst verlangt."
"Ich muss verrückt sein, dass ich euch glaube", stellte die Kaiserin für sich fest. Sie nahm das Diadem und hielt es vor ihre Augen.
"Nie­mand kann mir die ewige Jugend bringen. Wer das ver­spricht, lügt! Wer das glaubt, ist ver­rückt!", setzte sie flü­sternd nach.
"Vom der ewigen JUGEND war keine Rede", so die Frau weg­werfend.
"Wie? Nicht? Was verspracht ihr mir dann?" Ein Spiel war es für die Kaiserin, nicht mehr! Was sollte sie ent­täuscht sein, wenn die Frau ein durchschaubar falsches Versprechen gemacht hat­te!
"Die Zeit wird eurem Gesicht nichts anhaben kön­nen - EWIGE SCHÖNHEIT verspreche ich euch."
"Aber das ist doch die EWIGE JUGEND, was denn sonst!?"
"Wenn ihr es so versteht, dann wird es wohl so sein", sagte die Frau gleichgültig und abweisend
Die Kaiserin belustigte sich, fand aber, dass sie ein Ge­spräch mit ei­nem Menschen ohne Gesicht anstrengte. Ihr war, als sei sie gezwungen, ein Selbstgespräch zu führen - so wenig kam von der anderen zurück.
"Und nun er­laubt, dass ich gehe", sagte die Frau ver­neigte und entfernte sich, ohne auf das Einver­ständnis der Kaiserin gewar­tet zu haben.
Die Kaiserin blieb allein zurück. Ängstlich sahen die Dienerinnen durch die Tür, wurden aber beide Male von ihr ver­scheucht.
Sie hatte sich zurückgelegt und wieder die Augen ge­schlos­sen. Das Herz pochte ihr, hüpfte in ihrem Inneren wie ein Ball, der keine Ruhe gab. Die Bilder scho­ben sich ohne Fassung inein­ander. Den Men­schen, die vor dem Thron standen, fehl­ten die Köp­fe. Nadim trug eine Maske mit dem Gesicht des Kai­sers. Die Fenster verlasen das Te­sta­ment in ei­ner Spra­che, die sie nicht verstand. Baldeina, der Fürstensohn, trug ein Nacht­kleid.
Ärgerlich griff sich die Kaiserin an den Kopf. Was woll­te sie auf die Müdig­keit warten?! Der Schlaf würde nicht kommen, jetzt weniger als vor den Worten der Frau. Für die Schönheit brauchte sie ihn nun nicht mehr. Es war nicht schade um ihn!

Chapter 99. Nadim und die Frau mit der Kutte

Nadim sah die Kuttenfrau aus dem Zimmer der Kaise­rin kommen. Von der Tür machten ihr die Dienerinnen Zei­chen, aber Nadim dachte nicht daran, sie zu beachten. Warum sollte sie der Gestalt nicht hin­terher­ge­hen?
Wie auf langer Wanderschaft ging die Frau den Gang her­unter. Sie blickte nicht auf, als ginge sie schon unendli­che lan­ge Zeit im Kaiserhof umher. Wenn Nadim recht hörte, dann zog sie die Füße schlürfend nach.
"Hallo", sagte Nadim freundlich in den Rücken der Kut­tenfrau.
Ohne sich umzudrehen, hielt die Frau an und war­tete. Also musste Nadim um sie herumgehen und stellte sich so dicht vor sie hin, dass ihr der Geruch des fremden Ge­wan­des in die Nase stieg. Es roch nach den großen Laubhau­fem, welche die Gärtner im Herbst zusammenkehrten.
"Zeigt ihr nicht euer Gesicht?", fragte Nadim über­rascht.
Die Frau sagte nichts als Antwort, schüttelte nicht ein­mal den Kopf.
"Dann habt ihr sicherlich auch keinen Namen?" Nadim dachte nicht daran, sich abschütteln zu lassen!
"Jeder kann mich unterscheiden - was brauche ich einen Namen?"
"Eure Stimme", sagte Nadim zögernd, "eure Stimme kommt mir bekannt vor ..."
"Das kann nicht sein", sagte die Frau. "Niemand kennt sie. Es ist eine Stimme, die ich aus einer ande­ren Zeit geliehen habe."
"Das habt ihr euch schön ausgedacht, wirklich!"
"Was willst du von mir? Was stehst du in meinem Weg?"
Nadim trat nicht aus dem Weg. Unfreundlichkeit machte ihr keine Angst. "Ich habe gehört, ihr habt Rezepte für die Schönheit. Da wüsste ich gerne mehr!"
"Ich vermag die Zeit von der Schönheit fernzuhalten - das ist es, mehr nicht!"
"Warum nur zeigt ihr nicht euer Gesicht?", sagte Na­dim nachdenklich. "... vielleicht, weil euer Gesicht Angst macht ... nein, ihr WOLLT ja, dass wir Angst bekommen! Viel­leicht, weil euer Gesicht hässlich ist ... nein, eitel seid ihr nicht ... hmm ... Ja, das ist es! Euer Gesicht ist bekannt und würde euch verraten, nicht wahr!?"
"Ihr seid ein junges Mädchen. Was grübelt ihr über die Dinge der Alten?", sagte die Frau und klang versöhn­lich.
"Wenn ihr mit der Kaiserin fertig seid, dann könnt ihr ja ein wenig für meine Schönheit tun. Ich heiße Na­dim und bin eine Prinzessin." Sie machten einen Knicks.
"Eine solchen Dienst brauchst du nicht. Solltest froh darum sein", tönte es unversöhnlich düster unter der Ka­puz­ze her­vor.
"Oh, Rätsel-Frau, weihe mich in dein Geheimnis ein!", bat Nadim. Sie hatte ihr Stimme ganz tief klingen lassen. Hin­ten im Gang kicherten die Dienerinnen.
"Ich bringe Heil und Unheil, das Leben und den Tod zu gleichem Teil", dunkelte die Gestalt.
"Uuh, was IHR euch alles ausdenkt!", sagte Nadim, weil ihr nichts Besseres einfiel. Was fand die Kaise­rin an ei­ner solchen Frau? Das war doch al­les Unsinn! Wenn Nadim sich eine Kapuzze über­ziehen und schlürfen wür­de, als sei sie vor hundert Jahren ge­stor­ben, dann würde es auch jedem unheimlich werden.
"Es ist das flüchtige Gefallen, das du suchst, nicht die Schön­heit", stellte die Frau fest, ohne Nadim zu ken­nen.
Ihr Tonfall war verächt­lich, so wie noch nie je­mand am Hof zu Nadim gesprochen hatte. Die Kaiserin sprach giftig oder böse, der Vater hatte laut gesprochen, aber diese Frau fühlte sich über­legen, da war sich Nadim ge­wiss.
"Ein Prinzessin braucht nicht zu gefallen", hielt Nadim ihr entgegen.
"Alle suchen die Schönheit oder das Gefallen", sagte die Frau, "den Marmor oder den Wachs, du ebenso wie die ande­ren."
"Dann behauptet ihr also, dass ich lüge?", fragte Nadim böse.
"Du lügst oder weisst es nicht besser", sagte die Alte. "Such es dir aus."
"Das muss mir jemand sagen, der sein Gesicht verbirgt!", entgegnete Nadim und spürte, wie sie zornig wurde. "Wisst ihr, dass ich die Diener rufen und ihnen befehlen kann, euch die Ka­puzze zu entfernen."
Als aber Nadim das gesagt hatte, verschwanden die Köpfe der neugierigsten Diener und Dienerinnen, und alle Türen schlossen sich so heim­lich wie fest.
Langsam ging die Frau weiter, als gebe es die Prinzessin nicht mehr. Nur weil Nadim auswich, stießen sie nicht zu­sam­men.
Unschlüs­sig stand Nadim und überlegte, was sie tun soll­te. Es war ein Nachteil, eine Prinzessin zu sein. Ein ganz ge­wöhn­liches Mäd­chen hatte schnell eine Freundin gefunden. Überall gab es sie. Ein Mädchen brauchte nur auf der Straße spa­zieren zu gehen, dann traf sie die Freundin­nen. Aber am Hof des Kaisers gab es keine einzige Freundin außer Li, die immer bei ihrem Dichter war. Es war so, als seien Freun­din­nen hier ver­boten.
Etwas hatte Nadim aufmerken lassen, als sie in Gedan­ken den Innenhof der Gärten betreten hatte. In eini­gen Fen­stern sah sie undeutlich Ge­sichter und war sicher, dass sie beob­achte­t wur­de. Die Luft war voller Bos­heit. Hinter einem Baum stand Ken und wartete, dass die Prin­zes­sin Na­dim ihn sah.
"Und er wagt es doch wieder", zischte Nadim voller Wut. Das war also der Grund gewesen, dass sie in den Fenstern standen! Sie wollten zusehen, wie es Ken mit der Prinzes­sin diesmal an­traf.Wenn jemand sie är­gerte, dann konnte sie nicht wie eine Prin­zessin gehen. Es machte ihr die Augen blind und die Schritte schwer, so sehr är­gerte sie sich. Sie wollten über Nadim lachen, weil sie so ko­misch an diesem Ken vor­beistapfte, als sei sie eine Magd und kei­ne Prinzessin.
Mit unsicherem Schritt trat Ken hinter dem Baum her­vor. Dabei stolperte er über eine Wurzel. Vor der Prin­zessin machte er eine lange und krum­me Ver­beugung und sah auf seinen Schuh, der eine Delle bekommen hatte.
"Sie haben es wieder angeordnet, dass ich komme", flü­sterte er fast fle­hentlich.
Verstand sie denn nicht, dass ein fremder Fürstensohn einem Hofmarschall zu gehorchen hat­te? Und wenn das für einen richtigen Fürstensohn galt, dann alle­mal für einen fal­schen, der eigentlich ein Pfer­dejun­ge war!
"Ich grüße die Prinzessin und erbitte ihre Gunst für ein Gespräch", sagte Ken laut, ganz so, wie es der Hofmar­schall ihm auf­ge­tragen hatte.
"Pah", sagte Nadim und warf den Kopf hoch. Es machte sie noch wütender, als sie war, dass ihr nichts ein­fiel, was sie Ken entgegnen konnte.
"Können wir nicht ein bisschen gehen", flüsterte Ken verschwörerisch. "Sie beobachten uns doch."
"Nur wenn du diese Possen sein lässt!"
"Das geht nicht."
"Warum nicht?"
"Weil ich Angst habe, geht es nicht!"
"Und wenn sie uns nicht mehr sehen, hörst du dann damit auf?"
"Gut, dann höre ich damit auf, aber nur dann!", flüster­te Ken und duckte sich unter den Blicken aus den Fenstern.
Nebeneinander gingen sie um die Bäume herum zum klei­nen Teich, wo die Weiden standen. Als sie einen Gärtner sahen, scheuchte Nadim ihn weg und setzte sich auf eine Bank. Ken - das war jedenfalls anständig von ihm - setzte sich nicht dazu, sondern stand vor ihr, wie es sich für einen Pferdejungen gehört hätte.
"Bitte", sagte Nadim, "das Gespräch!"
"Es ist - ich habe - folgendes ...", stammelte Ken und stierte auf seinen verbunden Arm.
"Erst den Arm herunter!", forderte Nadim.
Gehorsam zog Ken den Arm aus der Schlaufe und ver­suchte sich er­neut an dem Beginn seines Gespräches.
"Ich habe nichts verstanden", sagte Nadim, als keine Worte mehr kamen.
"Ich wollte sagen, ich habe Angst", gestand Ken.
"Vor mir?", fragte Nadim sehr erstaunt.
"Nein", sagte Ken, "vor den anderen."
"Und was soll ich nun tun?"
"Es rückgängig machen! Dass ich wieder ein Pferdejunge bin!"
"Das geht nicht!" Nadim schüttelte entschieden den Kopf.
"Ich habe aber eine große Angst!"
"Was für eine Angst?"
"Sehen sie, Prinzessin, am Anfang war ich wegen der Ei­fersucht da. Nun ist der ande­re fort. Also bin ich für das Heiraten da -"
"- was denkst du? Ich kann doch nicht einen Pferdejun­gen!", empörte sich Na­dim.
"Dachte ich mir, dass nicht geheiratet wird ... Wenn aber al­les weg­fällt, was muss ich dann machen? Alle ande­ren sehen mich so an, als würden sie sich etwas Schreck­liches aus­denken. Ich habe Angst, dass ich etwas machen muss, was ich nicht kann - was ge­fähr­lich ist."
"Und was kann ICH für dich tun?"
"Ich bin doch nur in IHRER Geschichte ein Fürstensohn, Prinzessin. In Wirklichkeit bin ich doch Ken, der Pferde­junge. Da dachte ich ..."
"Hast du dir einmal überlegt, dass auch ich nur in einer 'Geschichte', wie du sie nennst, eine Prinzessin bin. Weißt du, heute habe ich gedacht, dass ich am liebsten KEINE Prin­zessin wäre! Ich habe mir gewünscht, ein ganz normales Mädchen zu sein, das so­gar eine Freun­din hat. Aber du ver­stehst: Aus einer Geschichte ist nicht leicht ent­kommen, nicht als Fürstensohn und nicht als Prinzessin ..."
"Ich verstehe", sagte Ken und hätte beinahe den Arm wie­der in die Schlaufe gelegt, "ich meine nur, eine Geschich­te wäre mir schon recht, wenn ich nur keine Angst dabei bekäme."

Chapter 100. Die Hofmarschälle

'Was hat sie?', dachte die Kaiserin. 'Sie hält das Ich-Glas so, dass ich mich nicht sehen kann. Will sie nicht, dass ich mich sehe?'
"Nun halt es schon recht!", befahl sie der Dienerin.
Aber als sie es besser machte, war das Licht nicht gut. Sie zog die Dienerin vor das Fenster. Dort kannte das Licht keine Unwahrheit und gab ihr ein Ge­sicht ohne jegli­chen Makel. Sie würde die Augenbrau­en heu­te ein wenig höher im Bogen zeichnen.
Sie sah sich als Fremde und war ganz ruhig da­bei. Die Dinge der Welt rückten fort und wur­den ganz lei­se.
"Nimm das Glas weg", sagte sie und fügte hinzu: "Und sei vorsichtig, dass du es nicht zer­brichst." Die Dienerin war dumm und ängstlich wie ein kleiner Hund, den man sich er­zogen hat­te.
Die andere Dienerin war die kluge. Sie musste nicht erst abge­richtet werden, der Kaiserin aus den Gedan­ken zu lesen. Sie wuss­te, dass es ein Glück war, ihr nah die­nen zu dür­fen.
"Was sagt sie?", fragte die Kaiserin.
"Wer?", fragte die Dumme.
"Nichts sagt sie", antwortete die Kluge. "Sitzt in ihrer Kammer. Ich weiss nicht, was sie dort tut. Sagt kein Wort. Niemals sah ich sie ohne ihre Kutte. Was wir ihr vom Essen brin­gen, das rührt sie nicht an."
"Aber etwas muss sie doch essen!", kam es erstaunt von der Dum­men, die auch eine Dicke war.
"Was sie wohl will ...?", fragte die Kaiserin an den Diene­rinnen vorbei. "Ich habe ihr ge­sagt, ich brauche sie nicht. Wenn sie über die Schön­heit gebie­tet, wie sie sagt - was könnte sie mir ge­ben, dass ich nicht habe? ... Fragt sie, wie es mir geht?"
Die kluge Dienerin nickte. "Sie hat danach gefragt, und ich habe es ihr gesagt, dass es euch gut geht. Sie fragt oft danach, und ich sage ihr immer dasselbe. Was soll es schaden, wenn ich davon spreche?"
Nein, das schadete nicht ... es war nur, als warte die Frau auf etwas. Ausser ihr wusste keiner, was es war und zu bedeuten hatte.
Sie hätte fragen können: "Ist ES einge­tre­ten?", aber dann hätte sie verra­ten, dass sie auf etwas Bestimmtes warte­te. Das wollte sie nicht. Also war­tete sie und fragte weiter andere Dinge. Sie hatte Zeit, zu fragen und zu war­ten. Saß in ihrer Kammer im Verborge­nen und war­tete auf ein Ereig­nis, das sicher kam.
"Lass mir den Hofmarschall holen!", befahl die Kaiserin der Klu­gen.
Zu der Dummen sagte sie: "Du, war­te hier! Setz dich dorthin, aber sei still. Es kann sein, ich brau­che et­was. Ich will, dass du da bist."
Die Kaiserin ging im Raum umher. Als sie die eigenen Schritte hörte, trat sie leise wie eine Schleicherin auf. Sie muss­te über etwas nachdenken, aber sie hat­te verges­sen, was es war. Früher hatte sie nie etwas in ihrem Kopf suchen müs­sen, doch nun gingen Din­ge verlo­ren. Die Gedan­ken lie­ßen sich nicht fassen, machten sich einen Spaß mit ihr. Sie hatte das Ge­fühl, dass et­was anders war.
"Wer ist sie?", fragte die Kaiserin.
"Wer?", fragte die Dumme und fasste sich an den Mund.
Die Kaiserin antwortete nicht.
"Wenn sie ihr Gesicht nicht zeigt", sagte die Dumme ei­lig, "dann weil man sie erkennt." Sie hatte die Prinzessin belauscht und sich ihre Worte gemerkt.
"Aber wer sollte sie erkennen?!", rief in einem Flug von Ärger die Kai­serin. Dann war sie ruhig. "Nun gut, sag, was du denkst."
"Sie weiss, wer sie erkennt, aber der weiss es nicht", behauptete die Dumme und schwieg, weil es schwer war, sol­che Sachen zu denken.
"Ist sie eine Lügnerin?"
Die Dumme überlegte. Sie kannte eine Lügnerin, die hatte ein Gesicht wie ein Ehrliche. "Sie tut so heim­lich, dass jeder sich was denkt ... Nein, dann ist sie keine Lüg­ne­rin!"
"Also stimmt es, was sie sagt?"
"Sie glaubt, dass es stimmt." Die Dienerin nickte hef­tig. Ja, sie konnte sich vorstellen, dass jemand ganz fest an etwas glaubt.
"Dann ist sie verrückt?", fragte die Kaiserin leichthin.
Die Die­ne­rin schüt­telte den Kopf. Es gab ein Wort dafür, aber es war nicht dieses. Ihr fiel das Wort nicht ein. Sie hörte drau­ßen Schrit­te und war froh, als die Tür geöffnet wurde und die Kaise­rin sie nichts mehr fragen konnte.
"Baldeina, mein Hofmarschall, wie geht es euch?", rief die Kai­serin verzückt. Ihre Stimme war sehr hell. Als er knie­te, hätte sie ihm am liebsten das Haar gestrei­chelt. Er hielt lange ihre Hand.
Erst als die Kaiserin von Baldeina aufsah, blickte sie in das kalte Gesicht des Hofmarschalls, in dessen von Neid gelb­liche Au­gen, auf die pochenden Adern seiner Stirn.
"Was wollt ihr hier?", fragte sie.
"Ihr habt den HOFMARSCHALL rufen lassen", sagte der Mann. "Dieser steht vor euch."
"Ihr wart der Hofmarschall meines toten Mannes! Was maßt ihr euch an! Erklärt euch!"
"Wie ihr sagt, gibt es keinen Kaiser mehr, aber ich sehe niemanden, der dem Recht nach in seine Nachfolge getreten ist!"
Der Hofmarschall war sich seiner Sache sicher. Wie er es sagte, vernahm die Kaiserin, dass viele so dachten wie er.
"Hört ihr, Kaiserin, hört ihr!", rief Baldeina dazwi­schen, "das sagt er immer wieder und lässt mich nichts machen!"
Der Hofmarschall betrachtete ihm mitleidig. Nicht einmal in Gedanken bedachte er ihn mit einem Schimpfwort, so un­wert war dieser Gimpel.
"ICH bin die KAISERIN!", erregte sie sich. "Wer sonst soll es sein!" Hatte sie etwas übersehen?
"Sie sprechen von einem Testament und dass es nicht si­cher ist, wer kommt", rief Baldeina aufgeregt.
"Ein Testament ...?", dehnte die Kaiserin fragend.
"Jawohl, ein Testament", sagte ruhig der Hofmar­schall.
"Seht ihr, Kaiserin, seht ihr!"
"Ich will es sehen!", verlangte die Kaiserin.
Ruhig und endgültig stellte sich der Hofmarschall vor Baldeina, dem nur der Hintergrund blieb.
"Wenn es soweit ist", beschied sie der Hofmarschall knapp.
"Was bitte soll das heißen?"
"Der Kaiser hat für die Verlesung des Testamentes einen Tag bestimmt."
"Wann?"
"Bald", so der Hofmarschall sehr bestimmt. "Ich darf nicht darüber sprechen."
"Hinaus mit euch!", befahl die Kaiserin.
"Sehr wohl", sagte der Hofmarschall und stieß im Gehen absichtsvoll mit Baldeina zusammen, der sich sehr er­schrak.
Die Kaiserin wischte alles fort. Baldeina erhob sich und wurde rot, weil er nicht wusste, ob er hinausgehen sollte. Sie liebte es, ihn anzu­sehen. Baldeina stand da wie ein Nackter, dessen Höf­lich­keit das letzte Stück Tuch war, das ihm geblieben war. Die Kaiserin zeigte den Die­nerinnen, dass sie gehen sollten.
Sie sah ihn an. Er war jung, aber ihm schlug das Herz bei ihrem Anblick. Sie war älter als er, aber sie würde, wenn sie es nur wollte, für immer schön sein und Baldeinas Blut würde niemals stillstehen, wenn er sie sah.
"Was schlägt mein Hofmarschall vor?", fragte sie.
Baldeina sprang von seinem Herz in seinen Kopf. Es war ein Kleines für ihn, eigentlich nur ein Schritt, aber er hatte lange dafür üben müssen. Im Kopf war alles geordnet, und nie­mand ausser ihm hatte Zu­tritt. Die wichtigen Dinge la­gen zuoberst. Auf kleine Zettel hatte er die Antwor­ten ge­malt.
"Wie können nichts tun", sagte Baldeina. "Aber wenn das Te­stament erst verlesen worden ist und ihr Kaiserin seid, dann kön­nen wir etwas tun." Er suchte in seinem Kopf, ob es noch etwas zu sagen gab.
"Hofmarschall", weckte ihn die Kaiserin sanft, "ich ver­traue eurem Rat. Ihr seid mir der Nächste von allen. Klug ist es zu warten. Unklug wäre es, aufzubegehren. Sollen sie lesen, was mein Mann ihnen aufgeschrieben hat."
Baldeina fühlte, wie diese Frau ihm ähnlich war. Es war immer gleich zwischen ihnen. Dagegen mit Dessa ... Er beug­te sich über die Hand der Kaiserin, um Ab­schied zu nehmen.
"Wartet noch", sagte sie. "Seht mir in die Augen!"
Er war stolz auf sich und hatte Mut gefasst. Er sah, dass sie eine Frau war, die jemanden brauchte. Hätte sie deutli­cher sagen könne, auf wen ihre Wahl gefallen war?
"Habt ihr sie gesehen?", fragte sie, "die Frau, die ihr Gesicht nicht zeigt?" Dann schlug sie die Augen und wende­te sich ha­stig ab. Es war die falsche Fra­ge. Sie brachte al­les durcheinander. Baldeina hatte die Frau sicherlich nicht einmal be­merkt.
"Ich? - Wen? - Kein Gesicht?", stammelte Baldei­na im Rücken der Kaiserin. Was bedeutete das? Noch eben hat­te er ge­dacht, dass die Kaiserin und er im Ein­klang der Gedanken wa­ren!
"Es ist gut, geht jetzt bitte", sagte die Kaiserin. "Über das andere werde ich spre­chen, wenn ich kann."
Bal­deina war beruhigt. Er hatte sein Bestes gegeben. Bald würde ihr Ver­trauen gross genug sein, dass sie mit ihm auch über das andere sprechen konn­te.

Chapter 101. Die Befragung der Kaiserin

Die Kaiserin schickte sie fort. Die dumme Diene­rin hielt das Ich-Glas immer schief, weil sie nicht acht­gab. Wie konnte die Kaiserin sich betrach­ten, wenn sie den Hals verbiegen musste! Es sah aus, als hätte sie einen schiefen Hals und eine vom Zorn geteilte Stirn.
Sie rief die kluge Dienerin. "Geh, hol mir die Frau! Hol sie jetzt, es duldet keinen Aufschub. Sag ihr das."
"Sie tut doch nichts als warten, dass sie kommen kann", bemerkte die Die­nerin.
"Wer hat dich gefragt?!", fuhr die Kaiserin sie zornig an. Eilig entfernte sich die Dienerin.
Wenn diese Frau wahr sprach und über die Schönheit ge­bot, dann sollte sie es für die Krönung beweisen. Die Kai­serin wollte sich sicher sein, für diesen Tag, an dem alle Blicke auf ihr lagen.
War alles Lug und Trug, dann würde er der Alten schlecht ge­hen! Wenn es sich aber glücklich ergab, und ihr ein Zauber mit Macht gefügig war - an welchem konnte sie ihre Kunst besser zeigen als an dem Tag, an wel­chem die Kaise­rin zur Krönung schritt?
"Geh du auch", sagte sie zur der dummen Diene­rin. "Hol mir MEINEN Hofmarschall."
Wenn die Frau es verstand, die Schönheit sicher vor der Zeit zu bewahren - warum und worauf sollte die Kaiserin warten, sich ihres Dienstes zu vergewissern?
In der Tür erschien der Kopf der Dienerin. "Hier ist sie, die Frau. Kann sie kommen?"
Die Kaiserin schaute böse. Was dachte sich diese Zicki­ge? Konnte sie nichts allein entscheiden?
Als sie nichts zu hören bekam, schob die Dienerin die Frau in den Raum. Da stand sie nun in der Mitte, die Kutte in schweren Falten über den Kopf gezogen. Nichts an ihr war sichtbar. Wenn die Stimme nicht wäre, hätte sie eben­sogut ein Mann sein können.
"Allein will ich mit euch sein", verlangte die Frau und zeig­te mit handlosem Ärmel auf die Dienerin, die sich nicht bitten ließ und verschwand, als sei ihr nichts lie­ber.
Unheim­lich war ihr das Schauspiel geworden, schon als sie die Frau durch die Gänge führt und niemanden in ihnen antraf, die sonst voller Leben waren. Kein Wort sprach die Frau und ging, als sei sie viele Male die­sen Weg ge­gangen. Dass die Angst alle vertrieben hatte, war ihr selbstver­ständ­lich. Gewundert hätte sie, wenn ihr je­mand begegnet wäre.
"Nun sind wir allein", sagte die Kaiserin. Sie warte­te solange, bis sie sicher war, dass die Frau von sich aus nichts sagen würde.
"Zeigt mir eure Kunst!", verlangte die Kaiserin. "Am Tag der Krönung will ich entscheiden, ob ihr wahr geredet habt oder eine Betrügerin seid."
"Ihr habt nicht lange warten können", sagte die Frau spöttisch, "seid schneller als die Zeit."
"Ich dachte, 'kurz' und 'lang' heben sich auf in eurer Kunst?", gab die Kaiserin ihr lächelnd zurück.
Die Frau nickte gleichmütig: "Legt euch vor mich hin. Ja, hier auf den Teppich, auf den Rücken. Berührt mit eu­rer Hand den Saum meines Ge­wandes."
Die Kaiserin tat, wie ihr geheißen wurde. Sie setzte sich auf den Boden, strich ihr Kleid glatt, be­sorgte den Sitz ihres Haares und streckte sich aus. Am Ende streifte sie die Schuhe aus, lag ausgestreckt und sah zur Decke.
"Nun schließt die Augen", verlangte die Stimme.
Es war völlig still und roch streng nach ge­trock­ne­ten Kräu­tern. In sich hinein lächelte die Kaiserin, weil die Alte meinte, mit solchen Dingen Eindruck machen zu kön­nen.
"Ich möchte von euch wissen, ob ihr niemals etwas ent­beh­ren musstet."
Als die Kaiserin sich ihres ausdauernd müden Man­nes er­in­nerte und sich auf eine spaßige Antwort besinnen wollte, sagte die Frau: "Nicht, was ihr denkt! Seid etwas ver­ständi­ger. Es ist nö­tig, wenn ihr meine Hilfe wollt."
"Hunger litt ich nie. Armut kenne ich nicht. Mein Vater war ein Fürst und reich. Wie wäre ich sonst Kai­se­rin ge­worden?"
"Erzählt von der Familie!"
"Ich bin das einzige Kind. Wartet, einen Bruder hat­te ich, der älter war, aber früh schon starb."
"So wart ihr ein Engelkind?"
"Ja ... wenn ihr es als nichts Schlechtes seht."
"Nennt mir ein Kinderspiel."
"Alle müssen raten, was ich seh'."
"Sagt mit euren Kindertraum."
"Mein Bruder kommt an mein Bett und weint."
"Was habt ihr ihm gesagt?"
"Dass ich für seinen Tod nichts kann."
"Wovor habt ihr Angst?"
"Dass alles nur in meinem Kopf ist. Nur dort! Dass nur ich es seh'!"
"Was ist in zehn Jahren?"
"Dann bin ich schön wie jetzt!", entfuhr es der Kaise­rin.
"Wie wollt ihr sterben?"
"Dass mich niemand dabei sieht! Wie ein Tier grab ich mir eine Höhle."
Zart klopfte es an der Tür, als sei man sich dort der wunderlichen Lage der Kaiserin bewusst.
"Ihr könnt euch erheben", sagte die Frau. "Es ist gut."
"Darf er hereinkommen?"
"Ja, aber tut so, als gebe es mich nicht." Die Frau setzte sich hinter dem Wandschirm nieder.
"Kommt herein, Hofmarschall!", rief die Kaiserin. "Ich bin allein."
Baldeina trat vorsichtig ein, wobei er sich beim Umsehen ertappte. Von was hatte die Diene­rinnen bloß ein solches Geheimnis ge­macht?
"Gibt es Neuigkeiten?", fragte die Kaiserin. Blass moch­te sie ihm erscheinen. Sie fühlte sich nicht gut, war er­schöpft und nicht bei ihm.
"Das Testament wird verlesen", berichtete er voller Stolz. "Ich habe es mir vom Richter bestätigen lassen. Der Tag ist bald, aber sie machen ein Geheimnis daraus."
"Sein Inhalt, nichts von seinem Inhalt?"
"Wer anders als ihr könnte Kaiserin werden ... Nadim etwa oder gar Dessa?" Baldeina legte den Kopf schräg. Er mochte Dessa - mit ganzem Herzen war er ihr zugetan - aber ei­gent­lich fanden sich die Schwestern schon als Prin­zessin nicht zurecht.
"Ja", sagte die Kaiserin sinnend. "Ihr denkt richtig. Wer außer mir könnte es sein?"
Die Kaiserin gab ihm ihre Hand. In seinen Augen las sie, dass er sich um sie sorgte und gern geteilt hätte, was immer es war, dass sie bedrückte. Es tat gut, ihn zu se­hen, aber sie spürte, dass er gehen musste. Ein Schwindel hatte sie gepackt und wand ihre Hand aus der seinen.
"Geht", sagte sie. "Geht, es ist gut."
Als er fort war, fragte die Frau, die hinter dem Schirm saß: "Hat der junge Mann eine Frau?"
"Ja, das heisst, noch nicht." Die Kaiserin fühlte, wie das Herz ihr drängender und schmerzender schlug. "Es ist Des­sa, die Tochter des Kaisers mit seiner ersten Frau. Baldeina hielt bei mir um ihre Hand an, aber es nicht be­schlossen."
"Ist nicht beschlossen ...", sagte nachdenkend die Frau. "Das ist gut."
"Ich muss mich legen", sagte die Kaiserin. "Ich lege mich auf das Bett, wenn ihr erlaubt."
"Liebt ihn diese Dessa?"
Die Kaiserin atmete. Nun konnte der Schwindel sich dre­hen, wenn er darauf bestand. Bald würde er vorbei sein. Sie wollte sein Ende herbeidenken. Eine Frage hatte sie ge­hört. Die Frau hatte sie gestellt. Aber leer war die Frage angekom­men, hat­te die Worte auf dem Weg ver­schüttet. Sie dachte an die dumme Dienerin, die nichts verstand.
"Dann liebt sie ihn also", sagte die Frau und saß an ihrer Seite.
Der Geruch der herben Kräu­ter war nah. Die Frau leg­te eine kühle Hand auf ihre Stirn. Die Kai­serin war der Frau dank­bar, dass sie eine Hand hatte, die den Schwindel fort­nahm und die Enge aus dem Herzen.
"Legt euch auf den Bauch", sagt die Frau und half ihr. "Ich mache euch den Rücken frei. Nur ein wenig ... so ist es recht."
Es war so, weil es sein musste. Sie war ein klei­nes Mäd­chen, das aus den wortverlorenen Gedanken einer Kaiserin heraus- und hereintrat, aus Verstecken lugte oder sich Dinge traute. Etwas war gesche­hen, dem keine Worte vor­ausge­eilt waren. Vielleicht hatten die Worte sich in der Tür geirrt, saßen nun am glotzenden Tisch und versuchten, sich zu er­klären. Viel­leicht waren sie faul gewesen, zogen den Weg­rand der staubigen Eile vor. Vielleicht langsam und wür­den erst mit dem Abschied ein­treffen.
Die Hand wusste, dass es nichts Schlim­mes gab. Der Rük­ken und die Hand ge­hörten zusammen. Sie waren Freunde, die sich gut kannten. Son­derbare Dinge wa­ren ge­schehen. Die Träume hat­ten sie auf­gelesen.
"Bestellt diese Dessa her", sagte die Stimme der Hand, "und sagt ihr, die Kaiserin wol­le das Herz dieses jungen Mannes für sie prüfen, um zu se­hen, ob es für eine Heirat bereit sei. Still sol­l die Dessa sit­zen, neben mir, der al­ten Frau, hinter dem Schirm, und der Pro­be zuse­hen. Kein Wort darf fallen, kein Atem soll zu hören sein, bei Strafe von Dessas Verlobung."
Die Hand der Frau nahm den Gedanken fort. "Ihr macht den Rücken frei, so wie jetzt. Dann stellt ihr euch in Dessas Blick. Bleibt ruhig stehen, damit die Kraft sich auf eurer Haut sammeln kann. Nach vorne seid Kai­serin und holt mit eurer Schönheit das Herz aus Baldeinas Brust als etwas, das euch gehört!"
Der einzige Bruder schaute zu. 'Sei du tot!', befahl die Kaise­rin ihm. 'Was schert dich diese Frau?"

Chapter 102. Das Schönheitsrezept

"Ruft mir MEINEN Hofmarschall, den Baldeina", befahl die Kaiserin der Dienerin. Das Kleid war fertig, der Rücken frei. Ein wenig kühl fühlte er sich an.
"Kind", sagte die Kaiserin, "ist dir die Probe nicht recht?"
"Ich weiss nicht?", antwortete Dessa ehrlich.
"Sag ruhig, wenn es dir nicht recht ist."
"Eine Probe seiner Zuneigung ...?" Dessa wurde immer lei­ser. "Dann bin ich eine Spionin seines Herzens und muss mich schäme."
"Es wird alles gut", beruhigte sie die Kaiserin. "Wenn du dich seiner sicher weisst, dann kannst du ihn lieben, ohne einen jeden Zweifel lieben!"
"Aber das tue ich doch. Es gab keinen Zweifel!"
"Ach, Kind, lass dir von einer erfahrenen Frau sagen, dass das Worte sind ..."
"Wenn er mein Zusehen bemerkt und mich findet, denkt er, ich miss­traue ihm und meint das Falsche sicherlich!"
"Er sieht dich nicht, wenn du schön still bist. Kein Mann fühlt die Blicke einer Frau!"
"Nadim, sie sagt ..."
"Was sagt NADIM?"
"Sie sagt, ihr treibt ein Spiel, ein böses Spiel."
"Sprich nicht darüber, was geschieht, schon gar nicht mit Nadim. Sie ist die Ältere von euch und hat noch keinen Mann, weiss im Neide nicht, was sie redet ..."
"Nadim nicht, die ist nicht so!"
"Es ist schön, dass du nicht schlecht von deiner Schwe­ster sprichst."
"Wer ist die Frau, die neben mir sitzt, mich ansieht und schweigt?"
"Sie ist eine weise Frau. Sie wird mir sagen, was das Herz deines Baldeinas auf der Waage bringt. Ein Leben lang hat sie die Worte und Blicke der Männer umge­rechnet in Her­zensschwere. 'Nur selten', sagt sie, 'fand sie ein Män­ner­herz, dass voll den Ausschlag brachte.'"
"Ihr wollt messen? Baldeinas Herz auf die Waage brin­gen?"
"Kind, zu deinem Guten nur, und dass ich, die ich die Heirat ge­statte, sicher meines Urteils bin."
Dessa schüttelte den Kopf. Es war verkehrt, was geschah. Hätte sie nur auf Nadim gehört! Aber die hatte ihr ja nichts geraten, sich nur frei geredet! 'Wenn die Bosheit nichts mehr zu fressen findet, dann wird sie sich selber fressen!', hat­te Nadim gesagt. War das ein Rat, nach dem zu handeln war?
"Still jetzt, Dessa!", sagte die Kaiserin leise. "Es ist so weit. Ich höre ihn kommen."
Als die Kaiserin sich zur Tür umdrehte, sah Dessa mit ge­weitetem Augen, dass ihr der Rücken von den Schul­tern zu den Hüf­te nackt und bloß war. Es war schrecklich und wie ein Schlag anzuse­hen. Wenn sie sich Baldeina in solch schamloser Weise zeig­te, dann war das gemein, und Dessa würde es nie­mals ver­gessen kön­nen!
Er klopfte an der Tür. Mehrmals rief die Kaise­rin seinen Namen, ver­zückt, als sei sie betrunken.
Baldeina durchquerte den Raum, trat an sie heran, näher, als es gebo­ten war. Und verbeugte sich tief, nahm ihre Hand, um sie nicht mehr loszulassen. Er schwieg, als sei vieles zwischen ihnen schon gesagt worden.
"Die Kaiserin sieht besser aus", sagte Baldeina. "Ich sehe, dass es ihr gut geht und war für nichts in großer Sorge."
"Es war ein Nichts, wie ihr sagt. Ein Schat­ten lag auf meiner Seele. Ihr habt ihn bemerkt? Nur ein Schat­ten, flüchtig wie ein Wolkenbild."
"Wollt ihr nicht sagen, was es war?", fragte Baldeina sanft. Ging er zu weit? Doch hätte sie davon gespro­chen, wenn der Schatten nicht auch auf ihm, ihrem Hofmar­schall, lag!
"Ihr seid mir wert ... viel!", sagte sie. Es war eine große Ver­wirrung in ihren Augen. Mochte er selbst aus­legen, was sie fühlte. Eine Wärme maß die Fläche ihres Rücken aus.
Dem Baldeina wanderte die Röte Stirnfalte nach Stirnfal­te zu den Haaren empor. Er sagte nichts und hätte nur stam­meln können. Die Worte in seinem Kopf waren in der Hitze ge­schmolzen, hat­ten sich zu wei­chen Klumpen und langen Gra­ten geformt.
"Besitzt eine Kaiserin jemals das Herz einen Menschen ganz?", fragte sie. Und ohne Trost kauerte sich in ihrem Schweigen die Antwort.
"Vollverfügständig ihr mein Herz!" Er hoffte, dass sie das Wortge­stammel in seinen Augen über­setzt fand. Baldeina falte­te die Hände, doch nicht einmal in seinen Fingern fand er die rechte Ordnung.
Die Kaiserin streckte sich wohlig bei seinen Worten, als habe sie eine Wärme zärtlich berührt. "Ich weiss, dass ihr es gut meint, mein Baldeina, was sind Worte nicht oft für Lügner, die Staub wirbeln, in wilden Horden reiten."
Baldeina machte den Mund zu. Er war froh, dass sie ihm gestattete, stumm an dem Gespräch teilzunehmen.
"Es geht um ..." - Da war er der Schatten ihrer Seele, das kalte Wolkenbild! - "um eure Heirat mit Dessa."
Wie erleichtert war Baldeina, dass es nur das war! Am liebsten hätte er sich umgedreht und gelacht, doch sprach ihr Blick von tiefem Schmerz zu ihm.
"Aber das ist doch etwas anderes!", stieß er fröh­lich her­vor. "Wenn es nichts ist als das!"
Nun konnte die Kaiserin nichts sagen. Stumm nahm sie den Becher und führte den schmerzstillenden Trank zum Mund.
"Eine Kaiserin ist doch etwas ganz anderes", führte Bal­deina aus, "als eine Frau. Ich diene euch, mir dient die Frau, damit wieder euch, wenn ihr versteht."
Oh, gut verstand die Kaiserin das! Und hörte es gern, fast schnur­rend wie eine wohlige Katze, die sattgetrunken von der Milch auf der Kaminbank lag.
"Dann will ich froh sein, dass ihr Dessa nehmt, um mir im Dienen nah zu sein."
Baldeina nickte inbrünstig. "Eine Hochzeit braucht etwas Zeit, ihr versteht? Doch kann in Gedanken ich völlig bei euch sein und jeder Zeit mich frei machen."
"Und die Zeit danach?", flehte sie zu wissen. "Wollt ihr eure Frau nicht immer glücklich machen. Sie wird schmollen, wenn ihr früh geht, und schmollen, wenn ihr spät kommt. Sie wird unglücklich sein, wenn ihr da seid, und unglück­lich sein, wenn ihr fort seid. Wo sie jetzt schweigt, wird sie viele Worte finden. Wo sie jetzt die Blicke senkt, da wird das Wasser fließen."
"Ihr habt wohl recht", gab Baldeina zu und wusste seine Worte sicher verwahrt, "dass es bei Dessa manchmal ein wenig ... stickig ist. Aber seht mich für mich an! Ich bin gradheraus und lieb die Menschen und den Dienst. Glaubt ihr, dass ich jedem ihrer Herzschmerzchen nachlau­fen werde? Glaubt ihr, dass ich ein Tränentröster bin, ein Blic­ke-Gera­de-Bieger, ein Mäulchensammler?"
Nein, das glaubte die Kaiserin nicht! Er hatte ihr zu­rückgege­ben, was sie verlo­ren glaubte. Dankbar nahm sie seine Hand auf und führte sie an ihre See­len­lippen.
"Baldeina, geht nun. Ihr habt mir ein Geschenk gemacht. Ich spreche nicht davon. Wenn ich mein Schweigen bre­che, dann ... geht, ein anderes Mal."
Als die Tür sich hinter Baldeina geschlossen hatte, sagte die Frau: "Sie weint."
"Dann ist es wertlos?", fragte die Kaiserin enttäuscht.
"Nein, nein", beruhigte die Frau. "Das Mädchen hat sich gut ge­hal­ten. Erst später zerlief ihr der Blick."
"Dann geh nun, Dessa", sagte die Kaiserin. "So sind sie alle, die Männer, aber was hilft dir das?"
Dessa schlich sich an ihr vorbei. Sie hatte soviel Hass gegen die Kaiserin gehabt - ein ganzer Turm von Dolchen, sie zu töten, wie es Nadim sagte - aber dann war die Traurigkeit gekommen und hatte sie klein und schwach und blind gemacht. 'Vorbei soll es sein', hatte sie immer gedacht, 'vorbei soll es sein.'
Als die Tür sich hinter Dessa schloss, vermochte die Kai­serin nicht länger, aufrecht zu stehen. Nun war ihre Be­herrschung eine brüchige Schale, die zum Ausruhen ge­tra­gen werden wollte. Das Bett stand weit entfernt, sieben oder acht Schritte, die ihre Füsse nicht zu gehen vermoch­ten.
"Kommt", sagte die Frau, "langsam und vorsichtig ... ein wenig noch ... ihr habt es geschafft."
Die Haut des Rückens war eine andere ge­wor­den, empfind­lich und weich wie eine Zunge. Etwas zer­ging köstlich, das be­täubte und betör­end schmeckte.
"Nun seid ruhig. Es hat euch angestrengt, weil eure Haut sich verjüngt hat."
Unter der fremden Hand war es warm. Sie zeichnete und prüfte und befand das Werk für gut.
"Es hat gewirkt. Ich weiss nun das Geheimnis eurer Schönheit."
"Meiner Schönheit ...?"
"Keine Schönheit gleicht der anderen, müsst ihr wissen. Die Fragen, die ich euch stellte, führten mich zu ihr. Ich hatte einmal eine Frau, eine reiche Frau, die musste als schmutzigste Bettlerin auf der Strasse liegen, damit sie am Abend erstrahlte."
"Und bei mir ... was ist es?"
"Wisst ihr es nicht?"
"Ich weiß es nicht. Ihr müsst es mir sagen."
"Da ihr zusehen werdet, was ich mache, kann ich euch das Geheimnis veraten. Es ist der Schrecken der anderen Schönen über euer Bild, die Wut, die ihre Gesichter zu Frat­zen entstellt, die Miss­gunst mit fah­lem Gesicht, die unheilbare Eifer­sucht - da­nach ver­langt eure Schön­heit. Wir werden ihr dies Mittel verabrei­chen und sie wird blühen."
"Davon gibt es soviel", sagte die Kaiserin leise zu der Frau und zu sich, "dass es für immer reichen wird."
An jeden Schritt in ih­rem Leben hatten sich zehn Blicke geheftet. Die Blicke der Frauen, die ihr die Schönheit neideten. Sie kamen aus dem Land der Feindin­nen, aus den Herzen der Neidischen und blieben und wurden Freun­de. Was wäre die Schön­heit, ohne dass die anderen Schönen sich über ihr vergaßen? Die Blicke der Männer kamen lär­mend und gingen billig. Die Blicke der Frauen aber waren aus reich­stem Stoff gewirkt, wahr und wun­derbar. Nichts ver­schen­kten die Män­ner von sich, wenn sie vergess­lich be­wun­der­ten. Die Frauen aber, die nei­deten, verzeh­rten sich, gaben von sich fort, rühmten die fremde Schöne in der ihnen allen gültigen Wäh­rung.
"Doch seid nicht übermütig!", warnte die Frau. "Was wie ein Wunder wirkt, ist im­mer gif­tig und braucht die fremde Hand, die eine Waage hält."

Chapter 103. Das Testament wird verlesen

Es war ein großer und leerer Raum, der bei jedem klein­sten Flüstern das Gesicht verzog und bei jedem Stuhl­rüc­ken die Schultern steif machte. Das Licht wagte keinen Spass und lag ernst auf den ge­schlif­fe­n glänzen­den Holz­die­len.
Baldeina hatte den Kopf ge­senkt und blickte zu Bo­den, weil alle ihn als den Vertrauten der Kaiserin an­sahen. Dabei wusste er so wenig wie die anderen, was ge­schehen würde.
Der General wunderte sich, dass niemand etwas sagte. Er konnte sich nicht an ein solch ausdauernd langes Schweigen an diesem Hof erinnern. Selbst als der Kaiser gestorben war, hatten sie alle durcheinander geredet.
Der alte Hofmarschall wusste als einziger, worauf sie warte­ten. Er betrachtete die Kaiserin und wartete auf An­zeichen von Erregung in ihrer Mimik. Allein der von ihr eigenmächtig ernannte junge Hofmarschall zeigte die An­span­nung, die er im Ge­sicht der Kaiserin ver­geblich such­te.
Der Richter stand am Fenster und sah hinaus. Niemand wusste, warum er dies tat, aber alle hatte eine Ahnung, dass es etwas Wichtiges war. Er hatte den Vorhang beiseite geschoben. Dabei war eine Ladung Staub auf seinem weißen Kragen gelan­det. Unter dem Arm trug er eine versiegelte Schrift­rolle.
Ken stand neben ihm und hielt den Vorhang hoch, weil der Richter ihn herangewunken hatte. Der Vorhang wog schwer in seiner Hand. Immer wenn sein Arm zu zittern begann, bilde­te sich in der Höhe eine Staubwolke, die dem Richter auf dem weißen Kragen landete.
Zu seiner Ablenkung beobachtete er die Sol­daten an der grossen Tür. Er versuchte herauszufinden, ob sich etwas an ihnen bewegte. Das Licht, das durch die großen Fenster fiel, zitterte auf den Spitzen ihrer Speere. Es glitt den glatten Rand ihres Hel­mes herunter, um ihnen in den Augen zu stechen. Aber die Sol­daten bewegten sich so we­nig wie die große Tür.
"Huatschi!", machte Ken und senkte seine Nase in den Vorhang, um sie verschämt zu schnäuben.
"Jetzt!", rief der Richter und wandte sich um. "Es ist soweit."
"Huatschi!", machte Ken ein zweites Mal.
"Es ist der Tag, der Ort und nun - die genaue Zeit!", sagte der Richter laut und blickte zur Decke.
"Es ist be­stimmt, dass wir nun den Letzten Willen des Kai­sers verlesen. Ist die Kaiserin bereit?", fragte der Richter.
Die Kaiserin sagte nichts. Ihr Blick hatte keine Rich­tung und keine Entfer­nung. Sie war eine ge­schnitzte Figur. Der Ort mochte dem Richter recht sein, der Tag und die Zeit, aber wer hätte sagen können, dass die Kaiserin seine Worte vernahm?
"Fragen sie doch ihren Fürsprecher", sagte der Hofmar­schall dehnend und zeigte mit einer langen Hand auf Bal­deina.
"Ist die Kaiserin bereit?", fragte der Richter, diesmal ungeduldig.
Alle sahen die Kaiserin an, als habe der Kai­ser ihnen befohlen, ihr in das Herz zu sehen. Doch sie bemerkten nichts als eine Helligkeit auf ihrem Gesicht. Sie schien von demselben Licht herzurühren, dass durch die Vorhänge trat.
Der Richter sagte ärgerlich: "Ich stelle fest, dass die Kaiserin ANWESEND ist und werde im folgenden den Letzten Willen des Kaisers ver­lesen."
Die Kaiserin hatte die Lippen bewegt. Ganz fein, als sage sie et­was, das nur für ihren Mann be­stimmt war, weil er nun tot war und nur diesen einen Willen noch mit gelie­hener Stimme verkünden durfte.
"Dann lese ich also vor", sagte der Richter und brach das Siegel auf. "Ich, der Kaiser des Blauen Drachen, erkläre hiermit, dass dies mein letzter Kaiserli­cher Wil­le ist. Höret nun ihr Fürsten und höret ihr Mächti­gen des Kaiserli­chen Hofes! Und ebenso an dich wende ich, meine Ange­traute, dass du es hörst wie alle anderen, die es an­geht ..."
Der Richter machte eine Pause, um der Kaiserin Gelegen­heit zu geben, ein menschliches Gefühl zu zeigen. Stell­ver­tretend verschluck­te Baldeina einen Kloß in seinem Hals.
"Wenige nur wissen", fuhr der Richter mit immer lau­ter werdender, ja triumphierender Stimme fort, "dass ich einen Sohn habe, der sei­nem Rechte nach der Kai­ser der Tränen ist. Ich habe ihn mit meiner geliebten Tes­la, der Fürstin der Nachtstadt, gezeugt, und erlaubt, dass er fortgegeben wurde."
Der Richter nahm sich die Freiheit, in einer kleine Pause die Span­nung zu sammeln, ehe er weiterlas: "Vernehmt alle meinen letz­ten Wil­len, dass dieser, der mein Sohn ist, wie ich einst ein Sohn war, mir, seinem Vater, auf den Thron des Blau­en Drachen folgen soll."
Die Kaiserin entfuhr ein Wort, das niemand verstand. Noch einmal wiederholte sie dieses unbekannte Wort. Es war etwas wie 'Es­knah' oder 'Esch­kneh'.
"Diesem meinem letzten Willen setze ich als Bedingung voraus, dass er die Reife besitzt, die erforderlich ist, ein Kaiser zu sein. Höre also, Versamm­lung: Ich stelle diesen mei­nen Sohn als recht­mäßigen Nachfolger, damit als Kaiser der Tränen, unter die Obhut meiner zweiten Frau, die ich zur Verwahre­rin seines Rei­ches bestimme."
"Sieh mal an", sagte die Kaiserin zu sich. Erst glaubten alle, dass es wieder unverständliche, auszu­grübeln­de Worte waren, doch dann be­sannen sie sich einer nach dem an­deren und schauten verständig.
Der Richter betrachtete unglücklich die zu Ende gelesene Schrift­rolle in seiner Hand. "Was gedenkt die Kaiserin zu tun?", fragte er demutvoll.
"Mein lieber Richter, ich ge­denke selbstverständlich den Letzten Willen meines ver­storbenen Mannes zu erfüllen. Ich werde Veran­lassung tref­fen -"
"Sehr wohl!", rief der alte Hofmarschall ihr freudig zu.
Mit Verwunderung blickte die Kaiserin ihn an, suchte in ihren Gedanken nach Namen und Rang dieses vorlau­ten Man­nes.
"Ist bekannt, wohin dieser junge Mann, von dem die Rede ist, verbracht wurde?"
Ehe der General antworten konnte, schnitt sie ihm das Wort ab: "- ich sehe, es ist bekannt! So viel nur: Schickt einen Trupp Soldaten aus! Sie sollen am mor­gigen Tag in der Früh nach diesem jun­gen Manne aus­­reiten."
"Wollt ihr ihn von SOLDATEN HOLEN lassen?", ent­fuhr es dem Richter. "Er ist schließlich unser neuer Kaiser!"
"Bevor ICH seine Reife nicht geprüft habe, ist er nichts. Einen NIEMAND muss ich nicht BITTEN!" Die Augen der Kai­serin waren kalt und schwarz. Das Feuer darin ein hei­ßer Punkt, den nie­mand würde lö­schen können.

Chapter 104. Nach dem Wüstenritt

Die Drachenzähne ritten in Kette hintereinander. Woi ritt als letzter. Gelegent­lich sah sich Tatze um, ob sie ihn nicht schon verlo­ren hat­ten.
Während der Zeit des Reitens sagte niemand ein Wort, als sei es zwischen ihnen so verabredet. Tatzes bäriger Kör­per schwankte auf dem Sattel hin und her, während die an­deren Dra­chen­zähne fest aufsaßen, wie aufge­pflockt.
Es gab soviele Ster­ne am Himmel wie knirschenden Sand un­ter den Füssen der Pfer­de. Die Felsen hatten die schwar­zen Gestal­ten von Göt­tern, die sich hierher ins Vergesse­n, ins Grübeln oder ins Grämen zurückgezogen hatten.
Als die dritte Nacht zu einem Drittel herum war, hob der Narbige die Hand zum Anhalten. Noch vor ihren Reitern hat­ten die Pferde gemerkt, dass sie anhalten sollten.
"Wir sind da", sagte der Narbige.
Woi starrte vergeblich in die Ferne. Der Hori­zont war schwarz und glatt wie in allen Stun­den vor­her. Die Sterne mussten dem Narbigen die ungefäh­re Posi­tion einer Stadt verraten, die nicht zu se­hen war.
An den Pferden fiel auf, dass sie die Köpfe gehoben hat­ten, die sie sonst müde zum Wüstenboden gesenkt hiel­ten, der niemals enden wollte.
Sie rieben die Tiere ab und unter­nah­men anschließend eine eigene Körper­pflege, die ohne Wasser aus­kom­men muss­te.
Sie teilten alle von der gleichen Zufriedenheit, als sie ihr Lager aufschlugen. Diesmal stand der Nar­bi­ge etwas abseits und beobachtete die Umgebung, als könne sich hinter jedem Stein ein Trupp Solda­ten ver­steckt hal­ten. Die anderen ver­ließen sich auf das Gespür ihres Führer und rollten sich langsam in den stau­bigen Schlaf.
Als der Morgen kam, wieherten die Pferde. Sie waren un­geduldig, in die Stadt zu gelangen. Die fünf Staub­hügel, die nicht weit von ihnen am Boden lagen, bewegten sich nicht. Aber der Schlaf ver­ließ die Unkenntlichen einer nach dem anderen wie ein Bett, auf das er nur für eine Her­bergs­nacht ein Recht hatte.
Als Woi blinzelte, sah er die Garnison am Horizont wie einen fla­chen Stein liegen, der auf dem Rücken eine halbe Sonne trug. An ihren Rändern war die Garni­son ausge­franst, als habe die Wüste dort über Nacht ein paar Hüt­ten ange­weht.
Erst rä­kelte sich Woi, aber als er be­merkt hat­te, dass er der er­ste war, sprang er auf und tat ge­schäftig dies und das.
"Es ist der Fürst", grummte Tatze, den ein Bein gesto­ßen hatte.
"Ja", sagte der Zwerg matt, "es ist der Fürst. Kommt, Leute, steht auf! Es gehört sich nicht, dass er vor uns auf ist."
Wenig später saßen sie im Kreis und teilten sich lustlos den Rest vom Brot und vom Speck. Mit jedem zähen Bissen warfen sie einen Blick auf die Garnison und stellten sich vor, wie ein richtiges Essen schmecken würde. Konnte sie nicht bereits riechen, dass dort Leckeres gekocht wurde? Weit war es jeden­falls nicht mehr, wenn auch die Gerü­che wohl nur in der Einbildung waren.
Als sie nur noch kauten, ohne zu schlucken, klopfte der Zwerg mit einem Stock auf einen Stein.
"Wein", sagte Tatze trockenkehlig, "es werde Wein."
"Wir müssen etwas besprechen", sagte der Zwerg in die Runde.
"Worte", sagte Schädel, "es werde Worte."
"Den Fürsten soll keiner mit uns sehen", sagte der Zwerg mürrisch. "Also reitet er allein und direkt zur Gar­ni­son."
"Niemand bei ihm als die Einsamkeit der Wüste", witzelte Schädel. Doch sie waren alle nicht in der Stimmung zu lachen.
Langsam erklärte der Zwerg, wie Woi ihre Absteige finden konnte. Er solle am Abend kommen und es unbemerkt be­tre­ten. Es sei ein Haus der Art, wo junge Männer immer mal näch­tigen würden. Das sei als Vorkehrung gedacht wegen der Neu­gier­de.
"Dann gehe ich jetzt", sagte Woi und stand auf. Mit ihm erhob sich eine Staubwolke und ließ sich auf den Haaren und den unausgeschlafenen Gesichtern der Drachenzähnen nieder.
"Das geht nicht", sagte Schädel. "Seht ihn euch an! Es wird niemand glauben, dass er ein Fürst ist!"
"FürstenSOHN!", sagte Woi ohne rechten Glauben, dass Schädel seine Anrede ändern werde.
"Schädel hat recht", sagte Tatze. "Er sieht aus wie ein Wüstenräuber."
"WüstenräuberSOHN!", witzelte Schädel.
"Also säubern wir ihn", befahl der Zwerg.
Woi musste sich in die Mitte stellen und wurde abge­klopft. Weil der Staub sich umweglos wieder auf ihm nie­derließ, setzte sich Woi auf sein Pferd und reichte seine Sache her­unter.
Tatze nahm sich den Mantel und die Rei­terhosen und ging zu einem glatten Stein, wo er die Sachen kräftig aus­schlug und fortwährend in den Nebel hineinhustete.
Währen­dessen beugte Woi seinen Kopf herun­ter, damit ihm Schädel mit einem Wedel die Haare ausbürste­n konnte. Der Rest vom Trink­wasser wurde verwendet um das Ge­sicht bis zum Hals­ansatz zu säubern.
"In der Stadt ist kein Wind", gab der Zwerg zu Bedenken, "da wird er vielleicht riechen ..."
Also opferten sie auch noch den Rest vom Wein und schüt­teten Woi davon über den Rücken, vorne über die Brust und zum Spaß einen Schwapp in die Unterhose.
"Jetzt reicht es!", rief Woi. "Ich glaube nicht, dass es besser wird." Er nahm seine Sachen entgegen, schüttelte sich kräftig und ritt los.
"Hey, nicht so schnell", rief Schädel ihm hinterher, "sonst war die ganze Arbeit ganz umsonst."
"Es ist ja nicht nur außen", sagte Tatze, "es ist auch innen, dass er ein Fürst ist."

Chapter 105. Woi sucht den Zugang zur Garnison

Die Garni­son mit ih­ren hohen Mau­ern trat ent­schlos­sen den Eintritt ­begeh­renden Häusern ent­gegen. Also um­stellten diese in Ringen die Mauern und hatten so Schutz vor dem Wüsten­wind und der nächt­li­che Kälte.
Die Stadt war aus der Nähe besehen viel klei­ner, als Woi erwartet hatte. Dem Her­einkom­men­den boten die eng zusam­menstehenden Häu­ser auf den schmalen Wegen ununterbrochen Schatten.
Woi ging einmal im Kreis um die ganze Gar­nison herum und konn­te nichts anderes feststel­len, als dass die Häuser den Ein­gang zu ihr vollständig zugewachsen hatten.
Die Menschen auf seinem Weg gingen gleichgültig ihren Verrich­tungen nach. Sie waren neue Gesichter von den Han­delsleuten gewöhnt, die hierher mit ihren Waren kamen und bald weiter­zogen.
Niemand be­achtete Woi, und weil er nichts bei sich trug als seine Neugierde, konnte er ohne Aufsehen eine zweite Runde ma­chen, stand vor denselben Häusern und blickte lange in dies­selben Ge­sichter, ohne dass er jemandem auf­gefallen wäre.
Die Menschen hier in der Wüste besaßen eine schwärzliche Hautfarbe. Junge und Alte zu unterschei­den fiel schwer, weil allen die Augen wie bei Wüstentieren zu schmalen Schlitzen und die Gesichtshaut gegen den Wind hart gewor­den war und sich in wenige tiefe Falten ge­legt hatte.
So waren die Jungen daran zu erkennen, dass sie sich von ei­nem Gespräch zum nächsten bewegten, während die Al­ten unbeweglich ­und augenleer dasaßen.
Manchmal verlor sich eine Bewegung der Jungen zu den Alten, lief dort suchend vom einen zum anderen, bis sie wieder ihren Weg nach draußen zu den Jun­gen gefun­den hat­te. Dann waren die Alten erneut still, lä­chel­ten oder schliefen - wie hätte Woi das bei ihnen unter­scheiden kön­nen!?
Bei seinem ersten Rundgang hatte Woi noch nicht auf Sol­da­ten geachtet. Beim zweiten sah er sie überall. Sie gingen immer zu dritt, einer vorneweg und zwei dahin­ter. Die Menschen wichen vor ihnen in die Eingänge ihrer Häuser aus, als fürchteten sie, sich an ihnen zu stoßen.
Die Soldaten waren ihrem Aussehen nach nicht gewillt, Wois Frage nach einem Zugang zur Garnison zu be­antwor­ten. Schließlich fragte er einen jungen Mann, der eine Ziege führte. Obwohl dieser ihn nicht verstand, war er freund­lich und lachte, als Woi ihm mit den Händen ein Loch be­schrieb, durch das er mit Fingerfüßchen laufen konnte.
Der junge Mann zog seine Ziege zurück und zeigte auf zwei große Häuser, welche die ande­ren, die neben ihnen stan­den, um ein Geschoss überragten.
'Er hat mich immer noch nicht verstanden', dachte Woi und wollte es noch einmal versuchen, indem er seine Frage mit einem Stock in den sandigen Boden malte. Doch der jun­ge Mann schüttelte den Kopf und zeigte zum Himmel und auf die Sonne. Dort beschrieb er für Woi einen Bogen zum frü­hen Nachmittag. Als er sah, dass Woi verstanden hatte, lachte er und voll­führte mit den Finger die kleinen Schritt­chen, die Woi ihm gezeigt hatte.
Durch ein Kopfnicken bedankte sich Woi bei ihm und streichelte der geduldig gebliebenen Ziege den Kopf. Wenn er es also recht verstanden hatte, dann würde er auf den Zugang war­ten müs­sen. Er beschloss, die beiden hohen Häu­ser aus der Nähe anzusehen und dort zu warten.
Vor ihnen war ein kleiner Platz, der völlig ver­lassen war. Überall hatte die Händler ihre Zelte aufge­schlagen, nur nicht an dieser Stelle. Die beiden Häuser, auf die der junge Mann gezeigt hatte, waren seltsam an die Mauern ge­drückt. Es schien kaum möglich, dass jemand in ihnen woh­nen konnte.
Weil nie­mand in den Fenstern zu sehen war, ging Woi ganz nah her­an und besah sie sich aus nächster Nähe. Sie waren die einzi­gen, die nicht staubig waren. Irgend­etwas war sonder­bar. Wenn er hinaufsah, schienen ihm die oberen Fenster aufgemalt und auch die Fassade warf für den Stand der Sonne zu wenig Schatten. Er glitt mit den Händen dar­über und wusste mit einem Mal, dass sie aus Holz waren, nicht aus Stein gebaut. Wenn ihn nicht alles täuschte -
Da legte sich eine Hand von hinten auf seine Schulter und eine Stimme sagte rauh: "Nicht umdrehen! So stehen blei­ben, wie du stehst!" Zwei Hände suchten ihn von oben bis unten ab. Erst dann durfte er sich umdrehen und sah drei Soldaten vor sich stehen.
"Was machst du hier?", verlangte der Untere zu wissen.
"Ich will rein", sagte Woi, weil er nichts anderes zu sagen wusste.
"Was hast du hier zu suchen?", sagte einer der Einfa­chen, als sei das die letzte Frage, die Woi gestattet war zu beantworten.
"Ich will ... den General besuchen. Das will ich."
Die drei Soldaten traten einen gemeinsamen Schritt zu­rück. Das hatten sie nicht erwartet und besahen sich dar­auf den jungen Mann und seine Bekleidung genauer. Schließ­lich lockerte der Unte­re seine Haltung, die Einfachen sa­hen weg.
"Kennt er dich?"
"Ich glaube nicht, aber er sähe es gewiss nicht gern, wenn mich seine Soldaten abweisen würden."
"Dann sag, wer du bist."
"Ich bin Woi, der Sohn des Fürsten Alta und -"
"Warte hier bei den Einfachen! Ich geh und frag."
Woi blieb bei den Einfachen stehen. Zweimal versuchte er, ein Ge­spräch mit ihnen zu beginnen, doch sie sahen ihm nicht in die Augen, sondern nur auf seine Füsse, als er­warteten sie, dass er gleich davonlaufen würde.
Die Soldaten unterschieden sich von denen, die Woi ken­nengelernt hatte. Sie ließen ihn wie einen Gefan­genen her­umstehen, hatten staubige Schuhe und tru­gen die Waffen verborgen unter lan­gen, rauhfaserigen Män­teln. Zur Zierde, wie am Hof des Kaisers, taugten diese Soldaten wenig. Hat­ten wohl aber zu kämpfen gelernt, wa­ren wachsam und miss­trauisch, als könne jeder Neu­an­kömm­ling ein Spion sein und einen Über­fall von Feinden vorbereiten.
Während seiner Reise hatte sich Woi die Garnison als eine Art Kaiserhof in der Wü­ste vorge­stellt und einfach auch die Men­schen dort­hin ver­setzt: die Sol­daten, die zum Kämpfen nicht taugten, die vielen Bedien­steten, von denen einer nicht wusste, was der andere tat, die Händler, die alle durch­ein­ander liefen und frech jede Tür ausprobier­ten. Zusammen mit den Dra­chen­zähnen hät­ten er dieser Kaiser­hofgarnison gegenüber eine Über­macht an Kampfes­wil­len und Schläue gebildet. Wie ein­fach wäre es dort gewe­sen, je­man­den zu be­freien!
"Das dauert aber!", stellte Woi fest. Er erwartete kei­ne Antwort von ihnen und sie gaben auch keine.
Sie standen um ihn herum, bis die Sonne den Bogen be­schrieben hatte, den ihm der Junge mit der Ziege gezeigt hatte. Die ganze Zeit hatten sie in der vollen Hitze ge­standen, wobei die Soldaten unter ihren schattigen Hüten weniger zu leiden hatten als Woi.
Mit einem Mal war es Woi, als schwanke er. Er lehnte sich gegen die Hauswand, um den Soldaten unter einem Hitz­schlag nicht in die Arme zu fallen. In demselben Augen­blick, als er sich anlehnen wollte, begann sich die Haus­wand in seinem Rücken zu bewegen und erdtiefe Geräusche von sich zu geben.
Er­schreckt wollte Woi eine Be­we­gung ma­chen, aber ein Griff erinnerte ihn schmerzhaft an seine Situa­tion. Mit Erstau­nen sah er, dass die Häuser sich auf ihn zu be­weg­ten und dann mit Erleichterung, dass es sich um die Tore der Gar­nison handelte, die zu ihrer Tarnung wie die ande­ren Häuser gestaltet waren.
In der Torauslassung wartete bereits der Untere und wink­te seine Sol­daten heran. Die Einfa­chen packten Woi fest unter dem Arm und schoben ihn durch das Tor.
"Lasst ihn los", befahl der Untere unwirsch. "Ge­ne­ral Siegling sagt, er kennt den Fürsten Alta. Ich soll seinen Sohn zu ihm bringen. Er ist uns willkommen, sagt der Gene­ral Siegling."

Chapter 106. Woi beim General

An der Innermauer der Garnison waren die Pfer­de unterge­bracht. Dann folgten die Vorratsräume, die Dienst­stu­ben und die Schlafunterkünfte. Sie bildeten einen einzigen Gürtel, der ohne Unter­bre­chung den vollen Kreis der Garni­son durchlief.
Der Untere führte Woi zu einem seltsamen Gebäude, das in der Mitte des Hofes seinen Platz hatte. Es sah ganz wie ein gewöhnliches Wohnhaus aus, besaß ein Gie­beldach, das glänz­te, als habe es ei­nen Regen hin­ter sich. Ein wei­ßer Lat­tenzaun umsäunte ei­nen klei­nen Vor­gar­ten. Hin­ter nied­rigen Fen­stern standen Blumenköpfe und blickten hinaus. Der Rasen war eher bräunlich als grün, aber er war im­mer­hin echt, und das war er­staunlich. Als ver­brannte Spur waren Rosenranken auf dem gekälkten Weiß zu erkennen.
Der Untere blieb stehen und zeigte Woi, dass er auf die Steine treten sollte, nicht auf den Ra­sen. Da­bei be­obach­tete ihn Woi. Als der der Un­tere sich abwandte, glaub­te Woi, die Verach­tung erkannt zu ha­ben, die der Soldat für dieses Häus­chen in der Wüste hat­te, das einem Schoß­hünd­chen in einem Löwenkäfig glich.
Das Tör­chen knarrte zierlich, nicht anders als jedes an­dere es an sei­ner Stelle getan hätte. Während Woi vor­sich­tig Stein für Stein betrat, kam ihm der General be­reits mit ausgestreck­ter Hand ent­gegen. "Aber bitte, sehr geehr­ter Fürst Alta, mein Rasen ist der ihre!"
Woi trat trotzdem nicht darauf und musste dem General lan­ge die Hand schütteln. Dieser war einen Kopf kleiner als er und wirkte ebenso garni­sonsfremd wie sein Haus. Es war ein freund­licher alter Herr, der sich die leuchten­den Au­gen eines jungen Mannes im Träumeralter erhalten hatte. Er hätte ein Lehrer sein können und ebenso ein Ma­ler, aber niemals ein Soldat am Ende seiner Dienstzeit.
Seine Stimme war hell und ohne Fülle. Etwas zwitschernd Singendes lag darin. Der General besaß eine kleine wider­standslose Hand mit langen weißlichen Fingernägeln. Ein Duft ging von ihm aus, den die Wüste nicht kannte. Nach Blume­nes­sen­z roch der General, nach den gewundenen Wegen höfischer Gärten, nach den Taschentü­chern der Eu­nu­chen. Das alles erschien Woi lä­cherlich und gab ihm zur glei­chen Zeit einen Stich Heim­weh.
Während der General sprach, rieb er sich fortwährend die Hände zum leise klackenden Klang seiner langen Nägel.
"Ich habe eine Tochter", rief er und gab sich dem Be­sitz­stolz hin. "Allnun sind wir glück­lich, jeman­dem zu unserem Gast zu haben, leben wir doch sonst in der Ein­sam­keit von Men­schen!"
Woi dachte bei sich, dass der General wirklich ein Kauz war, wenn er die Soldaten zu erwähnen vergaß, die kaum zehn Meter entfernt ihre Unterkünfte hatten.
"Allein, völlig allein, die Wüste und wir!", rief der Ge­ne­ral.
"Aber, Papachen!", rief eine Stimme aus dem Haus.
"Meine Tochter", flüsterte der General, auf den Zehen­spit­zen stehend, in Wois Ohr.
Sie nannte ihn wirklich und vor all seinen Soldaten 'Pa­pa­chen'! Im Ent­set­zen darüber war Woi auf den Rasen ge­tre­ten.
"Macht nichts!", rief der General. "Es ist ja kaum ein Abdruck. Er wird sich erholen. Der Rasen und wir!"
Die Tochter war das Ebenbild ihres Vaters. Klein wie er, hochstimmig, das es etwas schmerzte, mit einem feinen Ge­sicht und funkelnd lebhaften Augen. Sie war wohl die ein­zige Person, die in dieser Wüste lebte und keine Furchen in ausge­gerbter Haut bekommen hatte.
"Ich bleibe im Zimmer", erklärte sie. "Die Luft drau­ßen und die Sonne ..." Sie führte seinen Blick erklä­rend über ihre Wangen und den Hals.
"Aber nichts hat die Wüste ihnen angetan, nicht die Spur, dass ich mich wundere", sagte Woi, dem die Wort­ge­winde seines alten Freundes Baldeina am geeignesten für die kleine Runde schienen.
"Er spricht wie ein richtiger Mensch", flüsterte der Va­ter. "Eine dritte Stimme! Der Sohn eines Fürsten! Gesel­lig­keit bringt er den Durstenden!"
Sie betraten das Haus und setzten sich auf drei zierli­chen Stühlen nieder, wie sie Woi vom Lese­zimmer seines Vaters her kannte. Da er das Gespräch weiter mit Bal­deinas Zierrat ausstattete, war der Bann bald gebro­chen, und Woi schwamm als treibendes Holz auf einem munte­ren kleinen Bach, der ihm mal von die­ser, dann von jener Seite einen Anstoß gab, sich aber nie laut oder wirbelig gebärde­te.
Die Rede kam auf seinen Vater, den Fürstenvater. Der General Siegling wusste, dass kleine Reich seines Vaters in seinen Grenzen besser zu beschreiben, als Woi es hätte tun können. As er auf die Eigenart der Menschen verwies, fand Woi sich erinnert.
"Bitte", sagte der General, "darf sie mit meiner Tochter Za bekannt machen."
Sofort erhob sich Woi wieder und führte eine ihm entge­gen­hängende Hand an die Lippen.
"Er nennt mich Zasi", sagte die Tochter. "Nennen auch sie mich Zasi."
"Bitte sehr", verbeugte sich Woi.
"Za Sieglinde hieß sie", flüsterte der Vater. "Daraus wurde in der verwehenden Wüstenzeit 'Zasi'. Können sie sich vorstellen, wir spielen hier mit den halbver­gessenen Lau­ten der Worte. Niemand ist da, sich zu er­innern, nie­mand als wir!"
"Darf ich mir erlauben", rief Baldeina-Woi aus, "sie um Grüße zu bitten für meinen Vater. Wird er mich doch danach fragen, wenn ich die Teile meiner Reise und diesen beson­ders vor ihm ausbreiten darf."
"Aber ...", dem General kam die Rührung so heftig, und er widerstand ihr so wenig, dass ihm die Augen brachen und die Worte fehlten.
"... sie dürfen", dazwischte die Tochter.
"... natürlich", schluchzte der General tonlos.
Die Tochter sah Woi an. Er hatte keine Wahl, als ihrem Blick zu begegnen. Wenn er es recht sah und alle Liebe bedachte, die sie ihrem Vater entgegenbrachte, und die Bin­dung, die sie verband - die Herzen, das Blut und die Wüste - wenn er auch die Feinheit bedachte und eine gewis­se Unleser­lich­keit der fremden Augen, dann blieb doch in ih­nen ein Rest, ähnlich dem, den er eben bei dem Unteren als einen Anflug von Verlächerlichung erkannt zu haben glaubte.
"Ja ... hompfichur", schneuzte der Papa General in ein fei­nes Tuch von ältlichem Sommerduft.
"Sie müssen sich vorstellen", sagte die Tochter und leg­te eine warme Decke auf die Knie ihres Vaters, "die Wüste ... nichts als diese Wüste, al­leinge­lassen, hoff­nungs­los und dann ... bricht aus dem Herzen ein lan­ger und ge­hegter Jammer hervor."
Woi nickte. Nicht einmal Baldeina hätte hier Worte ge­fun­den, also sah er vom Versuch eines Bei­spruches ab.
Die Rührung des Vaters verlor sich im tief nebeln­dem Herbst. Worte aus Schluchzen gebil­det und zu Schluchzen werdend, ein Weh, das diesen kleinen Mann zusammenfal­tete, waren dem fein empfindenden Besuch ein Signal. Die Tochter nahm ihn an der Hand und führte ihn zur Tür.
"Bitte", sagte sie und legte ihre Hand in Wois Hand wie ein feine Schale, "morgen ... es wird alles wieder gut ... wenn sie uns morgen wieder beeh­ren, diesselbe Zeit, am selben Ort, hier unter dem Dach der Wüste."
Es war ein Kichern in ihren letzten Worten, aber Woi tat, als habe er es nicht gehört.
"Ich finde mich ein, auch wenn ich nicht weiß, wie ich das Gute vergüten und meine Freude zu ihrer machen kann."
"Ich werde ihnen dann ... ein Geheimnis ver­raten, ein wirkliches, schreckliches Geheimnis!", sagte die Tochter und zeigte mit verschwöreri­scher Miene auf die Kellertür.
"Oh, ein Geheimnis", süßelte Woi, "wie wunderbar sich meine Reise stellt!"
"Sind sie wirklich ein Fürst?", fragte die Tochter Gene­ral leise, als sie Woi sittlich die Tür geöffnet hat­te.
"Natürlich!", sagte Woi und machte seine ehrlichsten Au­gen. "Merkt man das nicht, dass ich ein Fürst bin?"
Das feine wüstentrutzige Köpfchen wog den Zweifel gegen den Glauben. "Sie reden so, als würden sie bloß einen ken­nen" - sie legte noch ein Schälchen Hand dazu - "aber mir macht das nichts. Auch wenn sie keiner sind, ist es nicht wichtig."
Es war ihr gelungen, ihn zu überraschen. Tief im Zweifel mit seinem Erscheinungsbild verließ Woi das kleine Haus, setzte sorgend sau­ber seine Schrit­te auf die Steine, schwang das kleine Törchen, das ihn mit zwei zier­li­chen Seuf­zern ver­ab­schie­dete.

Chapter 107. Keschal und die Mädchen

Vor dem Haus, in dem Woi unbeobachtet zu den Dra­chen­zäh­nen stoßen sollte, konnte er sich nicht ent­schlie­ßen einzutreten. Alles war, wie der Zwerg es gesagt hat­te: Die Fenster waren leer, und der Anstrich hatte die Farbe der fahlen Haut. Aber in und neben dem Eingang stan­den eini­ge Mäd­chen - Woi zähl­te fünf - und wink­ten ihn la­chend her­an.
Also ging er an dem Eingang vorbei, als habe er mit ihnen nichts zu schaffen. Sie riefen und glucksten hinter ihm her. Was war bloß mit ihm, dass sie ihn für ihre Späße ausgesucht hatten? War es doch das falsche Haus?
Von einer Entfernung aus betrachtete er es und ging seinen Weg in Gedanken nach. Nein, es war das richtige Haus! Es gab keine an­dere Möglichkeit, als dass die Mäd­chen gleich weiterzie­hen wür­den.
Nach einer guten Weile des Wartens musste er feststel­len, dass die Mädchen nicht weiterzogen und immer wieder flüsternd auf ihn deuteten. Sie schienen ihn zu kennen und auf ihn gewartet zu haben. Da ein weite­res Herumstehen sei­nerseits bald auch die Aufmerksamkeit der Vorübergehen­den erregt hätte, ent­schloss sich Woi, das Haus ge­gen jede Vor­sicht durch das Spa­lier der Mädchen zu be­tre­ten.
Er hatte sich nicht geirrt: Die Mädchen hatten tat­säch­lich auf ihn gewartet. Eine nach der ande­ren betraten sie hinter ihm das Haus, als hätten sie sich ab­ge­spro­chen, ihm wie einem Anführer zu folgen. Wenigstens waren sie jetzt von der Straße weg und zogen die Blicke der Leu­te nicht mehr auf sich.
Eine kannte seinen Na­men und warf ihn wie einen Spiel­ball den anderen zu. Das schien sie sehr zu erheitern und je unwilliger er sie an­sah, desto mehr hatten sie ihren Spaß.
"Oh", rief Schädel von oben, "hast du auch eine für uns mitgebracht, oder sind sie alle für dich?"
Alle fünf Mädchen zeigten, als hätten sie sich ver­abre­det, auf Woi und vollführten mit der anderen Hand flat­ternde Bewegungen, die zeigen sollten, von welcher Art seine Person war. Schädel dort oben machte ein ern­stes Gesicht, als sorge er sich um Woi, angesichts dieser Übermacht.
Weil es zwecklos war, gab Woi auf, sich gegen die Al­bernheit der Mädchen und gegen Schädels vordergrün­digen Witz durchsetzen zu wollen. Er ging einfach die Treppe hinauf und war froh, dass die Mädchen ihm nicht allesamt folgten.
Die anderen Drachenzähne saßen in einem Zimmer zusammen. Als Woi sich umsah, ob sie alle da waren, ent­deckte er hinter Tatze eine weitere Person, die er nicht kannte. Es war eine Frau, die ein vor­nehmes Kleid trug und steif dreinsah.
"Das ist Keschal. Sie ist hier das, was Tesla bei uns ist", stellte der Zwerg die Frau vor.
"Ich bin gekommen, um euch jede Unterstützung zu gewäh­ren", sagte Keschal und verbeugte sich. Dann bat sie Woi um einen ersten Bericht.
Er berichtete von der unzugänglichen Garnison, von den hinter Fassaden versteckten Toren und den misstrauischen und tüchtigen Soldaten. Aber erst als er auf den General zu sprechen kam, hatte er Ke­schals volle Aufmerksam­keit.
"Der General", erklärte Woi, ohne eigentlich zu wissen, was sie hören wollte, "wohnt in einem kleinen Häuschen inmitten der Soldatenunterkünfte. Es ist ein Garten drum­herum mit einem Zaun, und man darf nur auf die Steine tre­ten."
Der Zwerg verdrehte die Augen und sagte: "Toll! Jetzt wis­sen wir ja alles und können morgen loslegen!"
"Wir dürfen aber nicht auf die Steine treten", kam es von Schädel.
Keschal überhörte die Zwischenrufe der Drachenzähne. "Wo könnte der Kerker sein?", fragte sie. "Gibt es einen An­halt?"
"Er hat eine Tochter. Sie hat mir etwas gezeigt", sagte Woi.
"Ein Fürst spricht vor und wird vertraut / da widersteht sie nicht und hebt den ... Blick!" Schädel bekam einen Puff von Tatze für seine Vorwitz.
"Weiter, sprich weiter!", sagte Ke­schal und ging nicht auf die eingeworfenen Bemerkungen ein.
"Sie sagt, es sei ein Geheimnis ..."
Schädel hielt sich die glucksend die Hand vor den Mund.
"- und zeigte dabei auf den KELLEREINGANG!", setzte Woi wütend in seine Richtung fort. "Ich könnte mir vorstel­len, dass sich unter dem Häuschen ein Keller und der Kerker befindet."
"Du könntest recht haben", sagte Keschal nachdenklich. "Der Bau des Hauses fiel in jene Zeit der Veränderung."
"Sie bleibt immer drin wegen ihrer Haut", wusste Woi zu berichten.
Schädel lachte, und der Zwerg stöhnte.
Da wurde es Keschal zu bunt. "Lasst ihn jetzt!", fuhr sie die beiden böse an. "Die Soldaten kennen wir, aber den General hat noch niemand von uns zu Gesicht bekommen. Das ist sehr interessant!"
"Sie waren sehr erfreut über meinen Besuch. Ihr Vater hat sogar geweint, und sie hat mich gebeten, unbedingt wie­der­zukommen."
"... dann hat sich auch schon mit dem Ge­fangenen un­ter­halten", sagte Keschal nachdenklich. "Sie hat sonst nie­man­den ... Ein junges Mädchen ist sie und würde sich selbst gegen ein Verbot ver­suchen lassen."
"Ihr Vater verbietet ihr nichts", wusste Woi zu sagen.
"Du bist auf dem richtigen Weg", sagte Keschal und warf ihm vor allen anderen einen sehr ermutigenden Blick zu.
Woi nickte und war ein wenig stolz. Die Drachenzähne konnten sich ja lustig über ihn machen, aber ohne ihn konnten sie bei die­ser Garni­sonsfestung nichts ausrichten! Sogar Schädel war still und lächelte nur ganz wenig.
"Ich habe nicht geglaubt, dass es gehen könnte, wenn ich ehrlich bin", erklärte Keschal bedächtig, "aber nun ... Es könnte klappen. Kann sein, es ist ganz leicht."
"Bei uns im Haus da unten sind ... Mädchen!", sagte Wo­i. Wenn Schä­del davon nichts sagte, dann musste er es tun!
"Sie sind als Tarnung für uns hier", erklärte Tatze freund­lich.
"Keschal hat sie uns mitgebracht", sagte der Narbige.
"Wir tun so", klärte Keschal den Neuankömmling auf, "als würdet ihr hier ein Haus für die Mädchen umbau­en. Ihr seid gewisser­maßen ihre Hand­wer­ker."
"Wenn wir jetzt Schluss machen, dann können wir ja ei­gent­lich nun damit anfangen", so Schädel und machte mit den Händen ein paar Handwerkergriffe, über die alle Dra­chen­zähne la­chen mussten.
Keschal erhob sich langsam in ihren steifen Kleidern. Als sie vor Woi stand, legte sie ihm die Hand auf den Kopf und sagte: "Die Tochter ... sie ist der Schlüssel für uns. Sie wird sich vor dir wich­tig ma­chen, und wenn du es ge­schickt anstellst, erzählt und zeigt sie dir alles."
Bevor sie zur Tür hinausging, sagt sie zu den Mädchen, dass sie von den Handwerkern nicht zuviel verlangen soll­ten. Diese wären für Wichtigeres hier als für das.
Die Mäd­chen versprachen, an ihre Worte zu denken. Woi war froh, dass Keschal einen mäßigenden Einfluß auf ihre fünf­köp­fige Al­bernheit und ihre zehn Trippelfüße hatte.
Kei­ner der Drachenzähne schien irgendwelche Sorgen zu ha­ben, dass er handwerklich dem Ausbau eines solchen Hau­ses nicht gewachsen sein könnte.
Überall im Haus hörte Woi sie rumoren. Auf dem Oberge­schoss half Tatze seinem Mädchen. Es klang so, als wälze er schwerkeuchend Säcke hin und her. Auch sie ging ihm wohl zur Hand und war sehr außer Atem, dass man ihre Be­fehle unten bei ihnen nicht verstehen konnte.
Schädel platschte im Bad herum. Er und sein Mädchen nah­men die Worte von Keschal wohl nicht sehr ernst, denn es kam Woi vor, als würden sie dort für einen Spaß das Wasser lau­fen lassen. Wenn es darauf ankam, war Schädel eben kei­ne große Hilfe. Dabei war er es gewesen, der so darauf ge­drun­gen hatte, mit der Handwerkerei anzufangen.
Der Zwerg hatte sich nach hinten durch den Gang verzogen und hatte sein Mädchen an der Hand genommen, was Woi etwas merkwürdig erschien, aber es war wohl eine Sitte so.
Der Narbige war mit seinem Mädchen in ein Zimmer gegan­gen, um dort nach dem Nötigen zu sehen. Woi saß mit der Kleinsten allein, die ihn mit Au­gen ansah, die, wenn sie Laute hätten abgeben können, unzweifelhaft ge­quieckt hät­ten.
Er fragte sie, ob sie nicht vorschlagen wolle, was zu tun sei. Sie antwortete, dass er nur einen Wunsch zu äußern brauche, und sogleich könne es losgehen. Aber Woi kannte sich nicht aus und wusste nicht, wie er eine Hilfe sein konnte.
Er erklärte dem Mädchen, dass er sein Schwert zie­hen könne, wenn es darauf ankomme. Als Hand­werker aber sei er nicht recht vor­stel­lbar.
Nach län­ge­rer Sprachlosigkeit von ihrer Sei­te erklärte er, sie brau­che sich keine Sorgen zu ma­chen. Es stehe gut um ihren Auf­trag. Die Dra­chenzähne würden ihren Mädchen tüchtig zur Hand gehen, wie unschwer zu hören sei.
Er durfte mitansehen, wie sich ihr lautlos quieckender Blick in ein stummgeformtes Winseln verwandelte, und war froh, als sie stumm gegangen war.

Chapter 108. Woi und Zasi

Am nächsten Morgen waren die Drachenzähne noch müde, jeden­falls wurde kein Wort gewechselt, als sie zu­sammen beim Mittagessen saßen. Die Mädchen waren alle in den frü­hesten Morgen­stunden verschwun­den.
Die ersten Stunden des Mittags verstrichen mürrisch. Tatze kratzte sich lange und überall das Fell. Schädel kaute ein ganzes Bündel roher Möhren herunter. Der Narbige holte sich das Essen und verschwand grußlos wieder in sei­nem Keller. Abwesend machte der Zwerg Übungen an den Fin­gern, die aber nicht knacken wollten. Die Arbeit hatte sie alle ge­schafft. Noch eine Nacht und sie würden den Tag vor Müdigkeit verschlafen.
Von allen der Frischeste war unbestritten Woi. Sein Geist war rege, und er hätte sie gern darüber ausgefragt, wie es mit ihrer Arbeit vorangehe. Da keiner sich an­sprechbar zeigte, vertat Woi die Stunden damit, seine Sachen zu pflegen. Als alles fertig war, wurde es Zeit, sich von den anderen zu verab­schieden.
Die Luft draußen tat ihm gut. Hier hatten die Men­schen ei­nen schönen Tag. Überall waren zufriede­ne Gesich­ter zu sehen. Von einem alten Mann bekam er eine ge­schnitzte Flö­te geschenkt. Woi erklärte ihm, dass er nicht spielen kön­ne, aber der Alte lachte nur und verstand kein einziges Wort.
Auf dem Markt zeigte die Leute auf seine Flöte und lä­chel­ten ihm freundlich an. Sie trugen wehende dunkle Um­hänge und hat­ten den Kopf mit zusammengedrehten Tüchern bedeckt und grüßten sich, indem sie kleine Steine, die sie in der Hand hielten, klackend schüttelten. Die Mädchen waren alle in den Häusern geblieben. Nur die alten Frauen grüßten die Händ­ler, indem sie ihre Nasen tief in die Wa­renauslage beug­ten.
Am Tor zur Garnison brauchte er nicht lange zu warten. Die Soldaten, die ihm öffneten, waren andere und verhiel­ten sich respektvoll. Aber ihr Benehmen konnte Woi nicht darüber täuschen, dass es wachsame und rauhe Bur­schen wa­ren, die einen anderen als einen freundlichen Umgang mit dem Ankömmling vorzie­hen wür­den.
Vor dem kleinen Häuschen des Generals wurde er von nie­mandem in Empfang genommen. Der Untere öffnete ihm das Törchen und sah zu Boden. Die Ein­fachen hatten sich be­reits abge­wandt und sahen an­ge­strengt in die Gegen­rich­tung. Keiner der Solda­ten schien den An­blick des Häus­chens längere Zeit ertragen zu können.
Als Woi über die Steine zum Haus gekommen war, stand die Tür bereits ein wenig geöffnet. Das verstand er als Zei­chen, willkommen zu sein.
Die Toch­ter saß in einem der Sessel und erhob sich nicht. Auch als Woi sich verbeugte, reichte sie ihm keine Hand, son­dern gab ihm mit tiefem Blick zu verstehen, dass er seine Förmlichkeit ablegen solle.
"Guten Tag", sagte Woi und schloss die Tür hinter sich. "Ich hoffe, ich komme nicht unge­legen."
"Aber bitte, nein", antwortete die Tochter. Sie bot ihm auf dem Sessel neben sich einen Platz an. "Wir freuen uns."
Woi blickte sich um, konnte den General aber nirgendwo entdecken. Es wollte ihm aber scheinen, als habe der General sich kürzlich in diesem Raum in seine blumenduf­tenden Tüchlein ausgeschneuzt.
"Er ist unpässlich", erklärte die Tochter. "Es fing da­mit an, dass er sich schämte, weil er vor ihnen geweint hat, und das machte ihn so krank, dass er im Bett liegen muss. Nun war­tet er, dass es ihm bald besser wird."
"Oh, ich hoffe doch sehr, dass dies der Fall sein wird", äu­ßerte Woi.
"Sind sie nicht gern mit mir allein?", wurde er unver­mit­telt gefragt.
"Oh doch, ich sagte das nur aus Höflichkeit ..."
"Sie sehen müde aus, Herr Fürst Alta", stellte seine junge Gastgeberin beobachtend fest, "als hätten sie die Nacht nicht allein verbracht?"
Woi erklärte ihr, dass er in dieser Nacht die lange Rei­se nicht habe abschütteln können und sprach achtungs­voll von ihrer Beobachtungsgabe.
"Sie sind ein Flunkerfürst", stellte die Dame fest. "Aber es macht mir nichts. Besser einer, der flunkert, als einer, der langweilig ist."
Woi drohte ihr scherzend mit dem Fin­ger, aber vermied es, ihr zu widersprechen.
"Liebe Zasi", sagte er und dach­te an die Worte von Ke­schal, die ihn zur Annäherung aufge­fordert hatte, "Höf­lichkeit schulde ich ihrem Vater, aber ihnen, wenn ich sagen darf, mehr als Sittsamkeit." Er wur­de rot und hörte Keschal flüstern, dass er es vorzüglicher nicht hät­te ma­chen können.
Zasi machte immer noch einen strengen Mund, aber sie hatte die Hände über dem Schoß gefaltet, die vorher - er wusste nicht, wo - gelegen hatten.
Als sie die Augen wieder auf Woi eingestellt hatte, be­gann sie ihn auszu­fragen. Er musste über den Hof sei­nes Va­ters berichten und kam sich vor, als schwindele er, ob­wohl er nichts Flasches sagte. Nachfragend woll­te sie die Größe des Hofes wis­sen, aber Woi konnte ihr nur sa­gen, dass er in etwa die Größe der Garnison hätte, dass aber keine Stadt drumherum sei. Es gebe, ergänzte er, drei Städte, die zum Für­stentum gehörten, jede ein wenig weiter weg. Dann wuss­te er nichts mehr zu sagen.
Darauf sagte sie ihm genau, wieviel Soldaten sie hätten. Sie wusste die Länge der Grenze, die Art der Überfälle, die Zahl der Verletzten und woran die Toten gestorben seien.
Woi nannte sie lebenszugewandt und welttüchtig.
Das machte sie stolz, und sie überlegte, ob sie ihm nun das Geheimnis verraten sollte. Doch dann erzählte sie weiter. Sie kannte jeden der Obe­ren bei seinem Namen und wusste immerhin alle Unteren ih­rer Schwäche nach zu unter­teilen. Die Einfachen unterteil­te sie in Verbannte, Flüch­tige und Gestörte.
Das wunderte Woi sehr, hatten sie doch den allerbesten Eindruck auf ihn gemacht.
Sie fragte, ob sein Vater auch ein alter Vater sei.
Leise und abblinzelnd bejahte Woi dies.
Ob der Sohn die Dinge wie sein Vater betrachte.
Wie sie denn sonst zu betrachten seien, wenn nicht aus der Sicht des Wegkundigen, fragte Woi und führte seinen Vater als immerwährend klug und als Spruchinstanz an.
Dass er ihr mit väterlichen Spruchweisheiten nicht kom­men durfte, merkte er sogleich an ihrem schief abge­stell­ten Mündchenwinkel.
Sie bewegte sich in ihrem Kleid und sagte ihm, er solle die Dinge nicht nur von au­ßen se­hen, nicht nur aus der Sicht des Reisenden, der um seine Si­cherheit bangte. Im Inneren der Dinge gebe es kei­ne Ge­fahr, für niemanden.
Sie sei als Tochter eines Generals aus Fami­lengründen der Gefahr näher als er, sagte Woi und verbeugte sich.
Sie rede nicht nur von der Gefahr, sondern lebe mit ihr, sagte sie und führte eine Hand zum Mund, um auf einem Fin­gernagel zu kauen.
'Das war nicht klug, sie zu foppen', flüsterte Keschal, und Woi musste ihr ehrlicherweise recht geben.
Was er denke, sei falsch, hielt Zasi dem Fürstlichen entgegen. Wenn er wolle, könne sie ihm eine Ahnung geben. Aber sie wisse nicht, ob er sich fürchte. Manchem verginge der Spott und das in die Backen ge­klemmte Lachen. Wie oft schon habe einer ein Geheimnis aus der Angst heraus ver­raten!
Sie befragte ihn, Tiefe und Ernst verströmend, ob er etwas für sich halten könne, ein in seiner Art an der Tie­fe rüt­telndes, unter ihren Füßen lie­gendes Geheimnis.
Seiner Verschwiegenheit zeigte sich Woi Flunker­fürst gewiss und bat sie augentief, einen Beweis erbringen zu dür­fen. Forderte ihr Ge­heim­nis gewis­sermaßen als Recht des adli­gen Gastes ein.
Wieder und nach be­dachte sie sich, aber das Geheimnis ver­langte nun, ohne Wägen und Wanken ge­nannt zu wer­den.
Damit stand Zasi vor ihm auf und presste die Mädchen­mundlip­pen. Woi machte das Klügste, was Keschal ihm raten konn­te: Er nahm ihre Hand. Sie, ohne Bedacht und er­schrocken, zog sie zurück. Die klugflü­sternde Keschal riet Woi, es mit dem Rei­seblick zu ver­suchen, dem Verabschie­dungsseuf­zer, dem Nur-noch-Erinnerung-sein.
"Wenn der Fürst wiederkommt", sagte Zasi hastig, "dann werde ich ihm das Geheimnis verraten, und wir werden se­hen, wie er damit umgeht ..."
"Warum nicht jetzt?", fragte Woi und meinte es ehrlich.
"Weil ich seinen Schlaf nicht stören will", sagte sie.
"Das Geheimnis? Es schläft?", fragte Woi und fand sich zu Recht von Keschal zur Klugheit ermahnt.
"Nichts sage ich mehr", erwiderte Zasi und weinte im rechten Augen eine Träne aus. "Verspricht er, dass er kommt?"
"Er gibt sein Wort", sagte Woi mit einer Stimme, die ihr Ver­trau­en fest in die Arme schloss.
Und Zasi sah nicht, weil ihr schwindelig und matt und im ganzen un­pässlich war, dass Keschal zwei Finger von Wois linker Hand genommen hatte und tän­zelnd ihn einen Klu­gen nann­te.

Chapter 109. Woi im Badezuber

Als Woi das Haus mit der abendlichen Dunkelheit wieder betrat, hörte er gleich, dass die Drachenzähne bei der Ar­beit waren. In den Zimmern herrschte eine so große Ge­schäftig­keit, dass sicher­lich auch wieder die Mäd­chen bei ihnen waren. Da er niemanden vorfand, ver­suchte er es an einer der Türen, fand diese aber verschlos­sen.
"Verschwinde", rief der Narbige von drinnen und klang sehr wütend, "ich bin noch beschäftigt."
'Was bildet sich dieser Handwerker eigentlich ein? Das hätte er auch freundlicher sagen können!', dachte Woi bei sich.
Auch die Tür vom nächsten Zimmer war verschlossen, aber Schädel, der darin arbeitete, schien ängstlich, dass ihm etwas nicht gelingen könnte. "Moment, Moment", rief er, "ich bin gleich soweit, nur nicht jetzt, gleich fertig, nur noch ein wenig braucht es, gleich, gleich!"
Woi gab es auf, an weiteren Türen zu klopfen, sondern nahm die Treppe, die zu einem Zimmer mit einem Verhang führte. Auf den gelben Grund war in Schwarz das Zeichen für 'Herrin' gestickt. Er dachte sich, dass es das Zimmer von Keschal war.
"Ist da jemand ... ich meine: Sind sie da?", rief er leise durch den Vorhang hindurch und setzte hinzu: "Der Sohn des Fürsten, ich bin es. Sind sie allein?"
"Kommen sie herein, Herr Woi. Ich bin allein."
Keschal trug einen seidigen schwar­zen Umhang, den sie schnell um ih­ren Kör­per schlug, als er herein­trat. Sie war dabei gewesen, ins Bad zu steigen.
Ihr Zim­mer war nicht groß, aber prächtig ausge­stat­tet. Selbst der große Badezu­ber, in dem das Wasser dampf­te, war golden verziert. Das Bett, auf dem sie saß, hatte ein Dach, wie Woi es von seinem Vater her kannte. Die Zuhänge waren zu den Sei­ten aufgeschlagen.
"Störe ich?", fragte Woi.
Er störe nicht, sagte sie und zeigte ein wenig von ihrem weißen Hals.
"Wird bei ihnen nicht gearbeitet?", fragte er. "Ich mei­ne von den Handwerkern ..."
Sie lächelte, als sie die Erklärung für seine Frage fand. In früheren Jahren sei bei ihr viel gearbeitet wor­den, aber nun nicht, und sie sei froh darum.
Aber sie wolle doch gerade ein Bad nehmen.
Ob er sich nicht setzen wolle, geradewegs neben sie.
Störe er wirklich nicht, fragte Woi und trat einen Schritt und dann zwei weitere zu ihr hin.
Wenn er nicht daran denke, einen Lärm zu machen - Ke­schal verscheuchte die Geräusche, die aus allen Zimmern zu ihr drangen - dann sei er willkommen.
Nein, er, Woi, habe es nicht so mit dem Handwerkern, wie sie vielleicht bereits wisse. Er sei ungeschickt, das habe er auch dem Mädchen gesagt. Sie sei nicht schuld, dass nichts zu Wege gebracht worden sei, so müsse er ausdrück­lich ge­stehen.
Ihr, Keschal, sei nicht wichtig, was die Mädchen berich­ten würden.
Es sei nicht die Schuld des Mädchens gewesen, sagte Woi nachdrücklich und tapfer.
Nein, die Schuld liege bei niemandem.
So beruhigt, setzte sich Woi neben sie, und weil das Bett zur Mitte nachgab, berührten sich ihre Schultern.
Ob er über etwas sprechen wolle, fragte sie sanft.
Nein, er wolle nur sitzen, sei aber bereit und willens, ihr zuzuhören.
Wenn er ein Bad nehmen wolle, sei er eingeladen. Keschal zeigte auf den dampfenden Zuber. Es sei zwar für sie be­reitet, aber sie gestehe, dass sie aus Zeitver­treib bade und heute nicht erpicht sei. Er dagegen sei ein Fürst und habe sicher­lich lange nicht mehr gebadet.
Ja, früher habe er oft gebadet.
Dann solle er denken, er sei zu Hause und sie, Keschal, sei nichts weiter als eine Badefrau.
Sein Vater sei ein armer Fürst und sie hätten nicht über eine Ba­defrau verfügen können. Er, Woi, höre zum ersten Mal, dass es eine solche Tätigkeit gebe.
Er wolle doch ein mächtiger Fürst werden, fragte Ke­schal. Das nehme sie jedenfalls an.
Ja, eigentlich, wenn er wählen könne, dann wolle er tat­sächlich ein mächtiger Fürst werden, jedenfalls kein rei­cher, weil die etwas verweichlicht seien.
In diesem Fall stehe ihm eine Badefrau zu. Er müsse nur danach verlangen.
Dann müsse er aber wissen, was eine Badefrau tue.
Er sei hier, um es herauszufinden. Es beginne, soviel sei verrraten, meist mit einer gründlichen Wäsche. Ob ihm das recht sei.
Das sei gut und das sei recht, sagte Woi und begann sich auszuziehen. Wenn sie zur Seite blicken wolle, bis er im Wasser lie­ge ...
Schnell zog er sich aus, hielt sich die Sachen vor den Körper und stieg vorsichtig in das Bad. Er spürte, dass sie ihren Blick nicht abgewendet hatte.
Wenn er so liege, wie er liege, dann könne er ja auch über den Tag reden, schlug sie vor. Mit einer Badefrau ließe sich eben­sogut reden wie baden, weil es kluge Frauen seien, die von vielerlei Dingen wüssten.
Sie sei doch keine Badefrau, jedenfalls keine rich­tige, bemerkte Woi.
Aber eine kluge Frau sei sie, klüger als manche Bade­frau.
... das Mädchen rede so sonderbare Dinge, sagte Woi mit­ten aus seinen Gedanken.
Die Tochter des Generals Siegling meine er?
Ja, die meine er.
Keschal ließ Woi an einem Schälchen riechen und schüt­tete die Essenz vorsichtig ins Wasser. Davon wurde es trü­be, und Woi war froh, dass sie nicht mehr bis auf die Tiefe hinuntersehen konnte.
Die Tochter des Generals, so Woi, sage, ­die äußeren Dinge hätten eine Ge­fahr, aber nicht die inne­ren.
Wie sie das meine?
Er wisse es nicht, aber sie erinnere ihn an jemanden, nicht von ihrem Äußeren her - das wolle er nicht sagen - aber umso mehr von ihrem Inneren her.
Keschal schäumt mit der Hand das Wasser auf, indem sie fächelnd darin rührt.
Das Mädchen habe ihn, Woi, in ihr Geheimnis einge­weiht.
Was habe sie von dem Gefangenen erzählt?
Ausgesprochen habe sie das Geheimnis nicht und ihn nicht erwähnt, aber es sei eindeutig gewesen.
Keschal lockert das Tuch über der Brust. Warm werde der, die bei dem sitze, der im Bade liege.
Die Tochter liebe ihren Vater nicht, sagte Woi.
Dann liebe das Mädchen einen anderen. Kein junges Mäd­chen lasse die Liebe ungerufen.
Von den Soldaten komme keiner in Frage. Auch verlasse sie nie das Haus, weil das Wüstenlicht ihrer Haut schade.
Dann liebe sie ihr Geheimnis und ihn, den es kleidet.
Sie wirke auf ihn, Woi, sehr unglücklich, jedenfalls von au­ßen.
Das mache es einfacher und schwieriger.
Ob sie, Keschal, etwas von Flüchen verstände?
Sie, Keschal, machte ein Loch in den Schaum und versenkt ein Lächeln in der Tiefe des Zubers.
Er, Woi, habe ein Mädchen gekannt und etwas getan, was nun nicht mehr zu än­dern.
... und dafür habe sie ihn verflucht.
Ja, das habe sie, und viele hätten es gesehen und ebenso gehört.
Dies Gesprochene habe keine Wirkung aus sich selbst, erklärte ihm Keschal. Auch Feen hätten nur die Macht, ei­nen Fluch wir­kend aus­zuspre­chen, wenn ihnen etwas wider­fahren sei.
Wenn einer von den Feen das gesamte Haar abge­schnitten worden sei, ob das eine zum Fluch widerfahrene Sache sei.
Ja, eine solche Tat gehöre sicherlich dazu, so Ke­schal schmunzelnd. Die Fee habe doch nicht etwa in einer Angele­genheit verflucht, die, dem Auge der Badefrau verborgen, unter der Wasser­oberfläche liege.
Die Fee habe gesagt, dass er niemals gewahr werde, wenn eine Frau ihn liebe. Es sei gewissermaßen ein innerer Fluch gewesen.
Er, Woi, könne von Glück sagen, dass es eine gute Fee gewesen sei.
Aber es sei doch nicht weniger ein Fluch.
Er müsse zugeben, dass ihm eigentlich nichts abhanden gekommen sei.
Aber 'Niemals', es sei dieses 'Niemals', es sei zumin­dest eine Verdammung, jedenfalls eine innere, versuchte Woi, seine Bedrängnis zu erklären.
Ob ihn die Badefrau nun waschen solle, fragte Keschal.
Ja, gern wolle er es ausprobieren.
Er könne jederzeit 'Halt!' rufen.
Wo sie beginnen werde?
Eine gute Badefrau, lehrte ihn Keschal, beginne immer mit dem, was über dem Wasser liege.

Chapter 110. Woi bei Az

"Ist der Vater General immer noch krank?", fragte Woi, aber sie erwiderte ihm nichts.
Mit keinem Zeichen lud sie Woi ein, sich auf einen der Stühle zu set­zen. So stand er frisch geba­det, aber ratlos in ihrem starren Blick.
"Haben sie es vergessen?", fragte sie streng.
"Nein, nein", suchte er sie zu beruhigen. "Ich weiß schon, sie wollten mir etwas zeigen."
"Aber sie glauben nicht, dass dieses ETWAS einen Für­sten interessieren wird."
"Doch, bestimmt wird es mich interessieren!", entgegnete Woi matt und ohne Hoff­nung, ihr Misstrauen besiegen zu können.
"Ich glaube ihren Worten nicht, nur dass sie es wissen." Als störe sie dies nicht weiter, bat sie Woi, sich umzu­drehen. Dann zog sie einen Schlüssel aus der Tiefe ihres Unter­kleides, so jedenfalls hörte sich das an, was Woi nicht sah.
"Machen sie selbst auf, ich kann nicht", sagte sie rauh und drückte Woi den hautwarmen Schlüssel in die Hand.
Die Tür zum Keller ließ sich leicht öffnen, und Woi trat vor ihr auf die Treppe, die fast so steil wie eine Lei­ter hinabging.
Von oben hörte Woi die leisen Rufe ihres Vaters Gene­ral, der erwacht war. Aber die Tochter stieß Woi mit den Knieen in den Nacken, dass er sich beeilen solle, und zog die Kel­lertür hinter sich zu.
Mit einem Mal war es völlig dun­kel. Woi musste sich Stufe für Stufe die Treppenleiter hinun­ter­fühlen. Der Lauf, der an der rechten Seite hin­un­terführte, war zu wackelig, um ihm zuverlässigen Halt zu geben.
"Wollen wir wirklich?", fragte er leise zu ihr hoch, wobei ihm der Saum ihres Kleides das Gesicht kitzelte.
"Es geht tief hinab", antwortete sie, "aber er hat uns gehört."
Etwa ein Dutzend Stu­fen traten sie hinun­ter, bis sie auf rutschigem Boden standen. Sie fass­te ihn an den Schultern und drehte ihn, damit er die Zelle sah.
Diese war noch zehn Schritte entfernt. In der Mitte stand der Gefan­gene und war­te­te in starrer Haltung, als sei ihm der Besuch ange­kün­digt wor­den. Da das Licht durch schmale Schlitze von oben herab­fiel, war sei­ne Ge­stalt in ihren Umrissen schwarz ausge­schnitten.
In Wois Rücken war die Tochter des Generals schwankend erstarrt. Vor ihm verriet der Mann in der Zelle durch kei­ne Be­we­gung, dass er ein le­bendiges We­sen war. Die Haa­re wa­ren ihm so lang gewachsen, dass man sei­n Gesich­t im Schatten nicht sehen konn­te.
Vom Dach zum Boden trennten die Stäbe die Hälf­te des Kel­lers als eine bewohnbare Zelle ab. Darin standen Stuhl und Tisch, dort in der Ecke ein flaches Bett. Jeder der Qua­derstein spielte allein für sich mit seinem Licht.
Erst jetzt bemerkte Woi, dass nur auf eine Hälfte der Zelle das Licht von oben fiel. ­Die andere Hälf­te lag im völligen Dunkel. Nur die Gitterstäbe davor waren schwarz vor schwarz zu erkennen, wenn man die Augen an­strengte.
"Du hast jemanden dabei", sagte die Gestalt.
Woi erschrak über den Klang dieser Stimme. Sie war hohl und fern, als käme sie wie das Licht aus dem Schacht von oben.
Die Tochter des Gene­rals blieb ebenso stumm wie starr. Sie hatte erkannt, dass durch ihre Schuld nichts mehr wie frü­her sein würde. Darüber war sie so erschroc­ken, dass es sie von hin­ten gepackt hielt und viel stär­ker war als sie.
"Sprich du", wandte sich der Gefangene an den anderen.
"Ich bin Woi, der Sohn des Fürsten Alta", kam zaghaft die Vorstellung des Gastes.
"Das Wer-Du-bist hat keinen Namen", antwortete der Ge­fan­gene und lachte aus dem Schacht, der über ihm war.
"Ich bin wirklich ein Fürstensohn", entgegnete Woi fest. Jeglicher menschliche Umgangsform war von diesem schreck­lichen Schicksal verschlungen worden!
"Hörst du nicht? Es ist nicht wichtig, wer du bist!", beschied ihn wieder und schroffer der Ge­fan­gene. "Bist du ein NICHTS oder ein JEMAND, sag' mir das?"
Woi war ratlos. Von der Tochter des Generals kam keine Hilfe. Und der Gefangene sprach auf eine Weise durch den Sinn seiner Worte hindurch, als seien es Gitterstäbe, die sei­ner Frei­heit im Wege waren.
"Ich weiß!", rief er. "Du bist ein Jemand! Wie wärst du sonst hierher gekommen! Du bist so­gar ein großer Jemand. Das Schicksal hat dich geschickt!"
Woi nickte. Das war bei aller Sonderlichkeit klug ge­dacht: Wer zu ihm in den Keller kam, der hatte ihn gesucht und besaß einen Grund.
"Können wir frei vor IHR sprechen?", fragte Woi leise.
"Sie ist ein Nichts und glücklich damit. Wir können ihr also vertrauen, mehr noch: Wir brauchen sie!"
Das war sehr direkt gesprochen, fand Woi. Um abzulen­ken, versuchte er ein neuen Anfang.
"Mit welchem Namen darf ich sie ansprechen? ... ohne dem eine Bedeutung beimessen zu wollen." Langsam hatte Woi sei­ne Fas­sung wiedergefunden. Als Befreier war er schließ­lich je­mand, dem auch der finsterste Gefangene eine gewis­se Be­achtung entgegenbringen musste.
Der Mann zeigte keine Regung, nicht einmal eine verächt­liche. Er schien bereits im Hören das ihm Sinnleere auszu­scheiden.
"Wie heißt er denn?", fragte Woi dann leise seine Gast­ge­berin. Er wollte sie ein wenig ablenken. Sie hatte etwas in Ohn­macht fallen Wollendes an sich.
"Ich habe ihm den Namen 'Az'gegeben", flüsterte sie, als dürfe der andere nichts davon erfahren. "Ich nenne ihn so, weil er sagt, dass er keinen Na­men besitzt. Er sagt, das Schick­sal kennt ihn ohne Namen."
"Warum ausgerechnet 'Az'?"
"Verstehst du nicht? ... A bis Z, alle Buchstaben!" Was sie wei­ter sagte, war taumelnd und unver­ständlich, bis sie den Weg an sein Ohr gefunden hatte: "... und weißt du, 'Az' ist der Spiegel von 'Za', meinem Namen natürlich."
"Aha", sagte Woi, "aha." Es war sicherlich nicht ein­fach für sie - die Wüste und das alles. Und dann diese Schroff­gestalt im Keller.
Ihre kleine Hand entschlang sich der seinen. Woi machte eine schnelle Bewegung, um ihren Körper aufzufan­gen. Doch statt zu fallen, ging sie geradewegs auf den Ge­fange­nen zu. Ganz nah an sein Git­ter kam sie, wo er sei­ne Hand auf ihre Stirn legte und leise auf sie ein­sprach. Immer wieder nickte sie und glitt mit den Händen am Gitter auf und ab, als sei sie die Gefangene und er der Besucher.
Auch Woi wurde herangewinkt und trat nun neben sie. Von der Seite sah er, dass das Mädchen die Augen geschlos­sen hielt und ihr Mund heftig zitterte, als weine sie ohne Tränen.
Der Gefangene war zufrieden mit dem Beweis seiner Macht. Er nahm die Hand von ihrer Stirn und glitt mit zwei Fin­gern kurz über ihre Lippen. Das Mädchen stöhnte und ließ das Gitter los. Sie stand und schien nicht zu wissen, was sie tat. Mal waren ihre Augen auf und blickten leer, dann wieder waren sie geschlossen und jagten unter den Lidern hin und her.
"Sie hört uns nicht", sagte der Gefangene. Weil Woi im­mer das Mädchen an­sah, wurde er ungeduldig: "Wie soll es gehen?"
"Ich weiß es selbst nicht. Aber ich bin hier, und es wird gehen." Dieser Mann und die Macht, die er aus seinem Käfig heraus besaß, wa­ren Woi un­heim­lich. Am liebsten wäre er mit dem Mädchen nach oben ge­gangen und hätte für sie ge­sorgt. Aber er war drin in die­sem dunklen Schicksal, zwar nicht so unter­ge­gangen wie das Mädchen, aber an eine Flucht war nicht mehr zu denken.
"Ich habe es dir gesagt", sprach der Gefangene mit sich in die Zelle hinein, "die Unfreiheit ist nichts als eine äußere Schale der Freiheit."
"Können Sie da­für sor­gen, dass das Mäd­chen uns den Schlüssel gibt?"
"Ja, natürlich!" - der Gefangene zeigte sich empört, dass ihm eine solch leichte Aufgabe gestellt wurde - "Sie sehen doch, wie sie mir gehorcht." Der Beweis für seine Worte stand in der Tat mit leeren Augen neben Woi.
"Gut", sagte er, "ich komme wie­der ... Morgen kom­me ich wieder und habe mir etwas über­legt."
Der Gefangene ging in seiner Zelle um­her und beachtete Woi nicht mehr. Hin und wieder beleuchtete das Licht durch die Deckenspalte sein Gesicht. Er blieb stehen und sah hinauf in das Licht.
Er wischte sich mit den Händen über das Ge­sicht, als sei das Licht Wasser, mit dem er sich wusch. Er pruste­te und schüttelte es von den langen Haa­ren. Genuss­voll langsam ließ er sich das Licht über das Ge­sicht laufen.
Das Mädchen hatte begonnen zu zittern, aber der Gefange­ne bedeutete Woi, dass dies nichts zu bedeuten habe. Er ließ sie zittern. Erst als Woi sie vor Mitleid anfassen woll­te, machte er ein Geräusch, als zerreis­se er das Tuch von einem Leinenkleid.
Wie ein Wild, das gestellt worden war, sah sie sich um. Ihr waren die Füße kalt, als wäre sie nackt auf dem stei­nigen Boden ge­stan­den. Sie sah an sich herun­ter und be­merkte doch Schuhe und Kleid. Ein Zittern hatte den dunk­len Raum und seine Gitter befal­len. Schrecklich war das Licht. Wie stark musste er sein, wenn er es auf seinem Ge­sicht er­trug!
"Kommt", sagte Woi zu ihr.
"Geh", sagte der Gefangene.
Es war ihr so leicht mit ei­nem Mal. Der junge Mann, den sie nicht kannte, hatte eine freundliche Hand. Und Az war nicht mehr böse mit ihr. Das Böse war fort, und alles war gut.

Chapter 111. Plan mit 'Schlingelkappe'

Als Woi die Garnison verließ, warteten die Sol­daten auf die Übergabe der Wa­che und beachteten ihn nicht wei­ter. Der eine von ihnen klopfte mit seiner Lanze auf den Boden, der andere gähnte.
Als Woi sich noch nach ihnen umsah, hatten sie ihn bereits ver­ges­sen. Er ging ein wenig die Straße entlang und setzte sich neben eine Gruppe al­ter Männer. Den Stuhl zog er ein wenig in den Schatten und tat so, als döse er wie seine Nachbarn vor sich hin.
Eine Befreiung war auf die einfachste Weise möglich! Ganz nah war die Idee! Wenn nur sein Inneres nicht so aufgewühlt wäre! Also beobachtete er die Män­ner, um sich von der Schläf­rig­keit, die sie untereinander aufteilten, etwas für sich zu nehmen. Wenn ei­ner et­was sag­te, dann war es kurz, und die anderen schwie­gen darüber lang. Ging ei­ner mit einer Ant­wort rund, dann fand er nur wider­stands­los baumelnd die Köp­fe.
Woi rührte sich nicht. Die Männer schlürften ihrer Zeit und ihren Tee. Da war sie, die Idee! Still hatte sie im Schat­ten hinter ihm gestanden und gewartet - EINS UND EINS GLEICH ZWEI! EINS UND EINS GLEICH EINS! ZWEI GLEICH EINS!
Woi sah von den alten Männern zu den Wachen und über­legte. Er und der Gefangene mussten gleich aussehen. Das war die Lösung! Das war der Weg! Wenn der Ge­fan­gene wie Woi aussah, dann würde er leicht heraus­kom­men können. Warum sollten die Wa­chen ihn beim Hinausgehen mehr als flüchtig betrachten.
Aber was war dann mit ihm? Wie er es drehte und dachte: Ei­ner der dop­pel­ten Wois blieb drin! Trotz­dem fühlte Woi, dass er der Lösung ganz nah war.
Murmelnd kauten die alten Männer an ihrem Tag. Wenn ei­ner eine Schale ausspuckte, dann nickten die ande­ren, weil sie nichts zu kauen hatten. Wenn einer den Tee zum Schlür­fen an­setzte, nicht lange und alle hatten sei­nen Ton gefunden.
Er hörte, wie die Wachen laut auf der Stelle traten und Kommandos riefen. Als die Speere zweimal laut aufge­stoßen worden waren, wurden sie an die nächste Wache übergeben, die das ganze Ze­remo­niell wie­derholte.
Für die Menschen, die hier saßen, war dies das Si­gnal, welches sie zum Aufbruch mahnte. Der Tee wurde ge­schlürft mit dem letzten Ton, den jeder in der Tasse fand. Ein Hu­sten be­freite von der Trägheit, die sich im Hals festge­setzt hat­te. Einer wischte sich das Auge. Einer kratzte sich den Kopf. Währendessen rollte der Wirt den Schatten ein und fegte die Schalen und die Ge­danken vom Geh­weg.
Auf Wois Frage hin, warum alle so plötzlich aufgebro­chen waren, erklärte ihm der Wirt, dass der Wachwechsel der Soldaten ihnen die Zeit angebe, die genauer sei, als jede, die er kenne.
Woi hatte die Lösung GEFUNDEN! Sie war so einfach, aber vor Stolz wurde ihm der Kopf ganz heiß. Die Menschen auf seinem Weg zurück beachteten ihn nicht. Langsam suchte er sich einen sicheren Weg zwischen ihnen, wich mal die­sem aus, ließ mal je­nem den Vor­tritt und führ­te sich ganz so auf, als trage er etwas Kostbares an sei­nen Ort.
Als er das Haus betrat, kam ihm Tatze entgegen.
"Bist du fertig?", fragte Woi.
"Ich glaube für heute kann ich nicht mehr", sagte Tatze und war zu er­schöpft, um Zufriedenheit zu zeigen.
"Dann hol' sie zusammen", befahl ihm Woi. "Sie sollen alle kommen, egal, was es ist, das sie abhält."
"Wenn du meinst", brummte Tatze, "dann geh ich zu ihnen rein ... und was soll ich sagen, wenn ich stör'?"
"Du sagst ihnen, dass ich die Lösung habe. Da werden sie schon kommen!"
Tatze war sich nicht sicher, ob das eine Störung aufwog, aber immerhin war es et­was, das er sagen konn­te. Also steckte er das Hemd in die Hose und schlürfte, sich die Worte wiederholend, los.
Es kam Woi unendlich lang vor, bis sie alle zusammen­gekom­men waren. Keiner von ihnen war auf seinen Plan sehr gespannt. Das konnte er unschwer in ihren Gesich­tern able­sen. Nur Tatze war zu­frie­den, dass er sie gebracht hat­te.
Woi nahm sich einen Stuhl und setzte sich in ihre Mit­te. Er erzählte ihnen, dass er den Gefangenen besucht hatte. Er machte ihnen ein Bild vom Keller und dem darin ab­ge­trennten Kerker. Er entwarf vor ihnen den Bauplan der Garnison, schilderte genau den Ein- und den Auslass durch die Wachen und deren Wechsel miteinander.
Die Drachenzähne sahen schwei­gend ein, dass es un­möglich war, je­manden aus dieser Lage zu befreien. Die Stimmung nahm ohne Umweg den Weg von der Matt­heit in die Niederge­schlagenheit.
"Es GIBT aber eine Möglichkeit!", verkündete Woi. Als alle ihn zweiflerisch fragend ansahen, erklärte er ihnen langsam, wie er sich die Befrei­ung vor­stellte. Wenn der Gefan­gene und er von gleichen Äußeren waren - das sei die Bedingung - dann sei es leicht, als EINER hinein und als ZWEI hinauszukommen.
"Seht ihr, hab' ich ja gesagt, dass er eine Plan hat!", warf Tatze ein, als habe jemand von den anderen Klage ge­gen ihn geführt.
Die Dra­chen­zähne erinnerten Woi an die alten Män­ner, die sich die Müdigkeit und den Schatten geteilt hatten. Aber die Dra­chenzähne waren die Drachenzähne! Der Stolz auf sie gab ihm einen Stoß, und er erklärte weiter: Hinaus gelänge der Gefan­gene als Woi kurz VOR der Wach­ablö­sung, und er, Woi selbst, kurz NACH der Wach­ablö­sung. So waren sie beide draußen, ob­wohl nur einer von ihnen hereinge­kommen war!
Eigent­lich erklär­te er ihnen das Ganze zwei­mal, aber das war nur, weil er so un­geheuer stolz dar­auf war und weil er sich nicht sicher war, ob die Drachenzähne alles ver­stan­den hatten. Dann schwieg er.
Alle Drachenzähne waren der Meinung, dass es ein guter Plan sei. Tatze sag­te so­gar, das sei der beste Plan, den er je gehört habe, und er sei ja wohl mindestens die Stö­rung wert gewesen. Schä­del sagte, es sei auf jeden Fall ein gu­ter Plan, da gebe es keinen Zwei­fel.
"Wenn ich morgen zu ihm gehe", sagte Woi, "dann trage ich ein Kostüm und nehme genau dieses Kostüm für ihn mit."
Der beste Plan, den er kenne, sagte Tatze noch einmal. Er kenne keine Sache, die wichtiger sein könne, als diesen Plan anzuhören.
"Es muss ein Kostüm sein, das auf­fällt.", erklärte Woi weiter. "Sie sollen darauf schauen und nicht auf das Gesicht."
Die Drachenzähne überlegten. Der Zwerg schlug ein ganz tolles Krummschwert vor. Aber das war schwer zu beschaf­fen und wenn man bedachte, dass man es zweimal be­schaf­fen musste, dann war es unmöglich.
Schädel sagte, er wolle etwas vorschlagen. Als alle still waren, hatte er nichts weiter vorzuschlagen, als dass Woi eine Feder tragen solle, eine lange von einem Pfau vielleicht. Eine solche Feder sei leicht zu beschaf­fen und auffäl­lig.
Das sei kein guter Vorschlag, entgegnete ihm Woi, eine Feder sei viel zu nah am Gesicht. Es müsse etwas sein, das den Blick vom Gesicht ablenke.
Er könne sich die Feder ja um die Beine binden, schlug Schädel vor, der ihm die Zurückweisung übelgenommen hatte.
Sie überlegten und rutschten auf ihren Stühlen. Als je­der etwas gesagt hatte, das von Woi abgelehnt worden war, wur­de die Stimmung mürrisch und nur Tatze sagte wieder, dass es aber ein guter Plan sei, jedenfalls soweit er es sagen könne.
"Wie ist er denn so, der Sohn von Tesla?", wollte Schä­del wissen.
"Nun ... soll ich ehrlich sein?", fragte Woi. Niemand er­hob einen Einspruch. "Mir kommt er unheimlich vor. Ich glaube, er hat etwas gelitten in seinem Kopf."
"Wenn man immer mit sich allein ist ...", sagte der Nar­bi­ge, weil er wusste, wie es ist.
"Stellt euch vor", so Woi weiter, "das Mädchen, die Tochter vom General, tut alles, was er will. Er legt nur seine Hand auf ihre Stirn."
"Das möchte ich auch können", sagte Schädel. "Wenn wir ihn befreit haben, werde ich ihn bitten, es mir beizubrin­gen."
"Er hat so etwas in den Augen, das man nicht ler­nen kann", sagte Woi. Schädel hatte auch etwas an den Augen, aber das war glupschig und nicht dasselbe. Da war Schädel be­lei­digt, als hätte er Wois Gedanken gelesen.
"Aber der Plan ist gut", gab Tatze zu bedenken. "Viel­leicht wissen die Mädchen ja, was man für Woi und den Ge­fan­genen nehmen kann." Er zeigte zur Tür, wo eine be­reits ihren Kopf hereinsteckte und von den anderen vor­ge­schoben wurde.
Seinem Mädchen, das sich zutraulich auf seinen Schoß setzte, erklärte er, um was es ging: "Er will etwas anzie­hen, da­mit ihm nicht alle ins Gesicht gucken."
Das Mädchen sah Woi ins Gesicht und meinte, dass es so schlecht mit seinem Aussehen doch nicht bestellt sei.
Woi dankte ihr mit einer Verbeugung.
"Es soll etwas sein, wo alle dar­auf sehen, wenn er es trägt", erklärte Tatze, weil sie nichts sagte.
Das Mäd­chen drohte ihm schel­misch eine Ohr­feige an. Die anderen Mäd­chen drehte die Köpfe zuein­ander, um sich gemeinsam etwas auszudenken.
"Ich weiß etwas, was richtig sein könnte", sagte Tatzes Mädchen und ­hob sich aus ihrem Sitz. "Es ist eine Kappe für den Schlin­gel. Sie wird AUF der Hose getragen. Als ich dieses Ding zum ersten Mal gese­hen ha­be, hielt ich es für einen verrutschten Geld­beutel. Aber mir wurde ge­sagt, dass er für den Schlingel ist - soll sogar vornehm in den Ländern sein, wo es Sit­te sei."
"Das ist es! Genau das Richtige!", rief der Zwerg.
"Genau! Genau!", rief Tatze. Sei­n Mädchen war die klüg­ste, das war entschieden!
"Ich trage das nicht!", rief Woi herein.
Doch die Entscheidung war bereits gegen ihn gefallen. Schnell hatte das Mädchen mit der Handspanne Wois Maß genommen. Eine von ihnen erklärte, eine Hose mit Schlin­gelkappe beim Lederma­cher besorgen zu wollen.
"Zwei!", rief Tatze. "Wir brau­chen zwei, alles in gleicher Grö­ße."
"Ich trage das nicht!", widersprach Woi ungehört.

Chapter 112. Zasi und die Messerprobe

So war es ge­sche­hen, WEIL sie es ge­wünscht hatte.
Der Vater hätte ihr verboten, den Fürstensohn zu dem Gefangenen zu führen. Darauf war der Vater krank ge­wor­den, lag mit fiebri­gen Gliedern in sei­nem Bett und war kein General. Schuld hatte sie an seiner Krankheit. Um Ver­zei­hung wollte sie ihn bitten und zu ihm gehen.
Er würde nicht verstehen wollen, dass seine eigene Toch­ter ihn krank gemacht hatte. 'Wie konnte sie es wollen?', würde er denken. 'Ich glau­be es nicht. Ich war gut zu ihr, war ihr ein Vater, der bes­ser nicht sein kann. Da wird sie nicht undankbar sein. Nein, ich will nicht glauben, dass sie Schuld an meinem Fieber hat.'
Er würde entscheiden, dass es eine ganz ge­wöhn­liche Krank­heit war - würde so ent­scheiden, um ruhig zu sein.
Von oben rief der Vater: "Bist du da, mein Kind? Kannst du kommen, Zasi?"
Und sie rief nach oben: "Ich komme, Vater! Gleich bin ich bei dir."
Warum konnte sie ihm nicht Gesundheit bringen? Es wa­ren die bösen Dinge, die ihr in Erfüllung gingen. Schuld lud sie auf sich, die sich in ihrem Herzen schwer machte. Wusste der Vater, wie fern ihr das Mäd­chen­leichte lag?
"Ich sehe, Za, den bleichen Blick der Mutter wieder in dei­nem Gesicht. Das macht mir tiefe Sorge." Der Ge­neral hatte sich im Bett aufge­setzt. Nun waren die Arme und der Hals ganz nackt. Sie konnte durch seine Haut sehen, so dünn war sie.
"Vater, es ist nichts, was dich sorgen muss", beru­hig­te sie. Deckte ihn zu, erlaubte nur, dass eine Hand auf sei­ner Decke lag.
"Die Tochter ist so schön wie ihre Mutter", sagte er leise zu sich, kaum so, dass sie es hören sollte, "und hat von ihr das bedrückte Herz."
"Trägt man Schuld an allem, Vater? Auch wenn die Kräfte stärker sind und fremd, auch dann?"
"Kind, was redest du? Du bist bald eine Frau, klug und verständig. Nur deine Träume wollen es nicht glauben, den­ke ich, und spielen dir noch Streiche." Der Vater zeigte in einem Lächeln, wie stolz er auf sie war.
"Vater", sagte die Tochter, "ich wünschte, es wäre so, wie deine Worte sind."
"Ich will dir erzählen, welchen Traum ich hatte. Der Thron des Kaisers, gewal­tig und aus dunkel­stem Holz, stand in der Wüste, und nie­mand saß dar­auf. Aber der Thron war es doch, den ich als junger Mann am Hof des Kaisers sah. So stand er da, als warte er auf uns, dass wir ihn auf der Stelle be­stei­gen und die Reise antreten mögen. Wäre das nicht schön!?"
"Ja, Vater, schön wäre das. Ich wünschte, es wäre so."
"Ganz gewiss, mein Kind, spüre ich, dass die Stunde näherrückt, in der man mich aus der Wüste abberufen wird und wir dorthin zu­rückkehren, wo der Regen ist und der Duft von Blumen. Stell dir nur vor, die Erde ist so fest wie Brot und der Tag hat soviele Gesichter wie ein leben­diger Mensch!"
"Wenn du nur recht hättest ..."
"Geh nun, mein Kind, und lass mich ruhen. Träumen will ich von dem Großen Thron, der in die Wüste kam, um nach uns zu sehen."
"Ja, Vater, freu dich an deinen Träumen. Ich wünsche, dass sie dir bald Gesundheit bringen und dass durch deine Hoff­nung ein Wunder geschieht."
"Wünsch mir das", sagte er und schloss die Augen.
Sie deckte den Vater ganz zu, schob die Hand, die sich zitternd ein wenig wehrte, unter die Decke und fuhr über die Augenlider, die so durchscheinend waren, dass sie glaubte, die schlafenden Augen zu sehen.
"Mutter", sagte Zasi leise für sich, "der Böse da unten hat mir das Herz genommen. Was soll ich tun? Er hat alles in sein Gefängnis hinabge­zogen und gibt nichts wie­der her."
Nichts konnte die Mutter erwidern, aber Zasi durfte ihr al­les sa­gen, wenn sie nur flüsterte und den Vater nicht aus dem Schlaf schreckte.
"Einen Fürstensohn, dass er mir beistehe, nahm ich mit hinunter", flüsterte Zasi. "Aber den hat er wie mich ver­hext. Was musste ich ihn auch gleich hinabziehen, dass nun mein Elend seinem Jammer gleicht? Wie schwer die Schuld auf meiner Seele liegt! Wie grausam quält mich, das ich wuss­te und ge­sche­hen ließ. Mutter, sprich von deinem Unglück, damit meines sich gegen deines wie­gen lässt. Mutter, ver­steh für mich, dass die Fragen im Rudel die Antwort zu Tode het­zen wollen."
Ihre Hand lag auf einer Schublade, in der ihr Vater sein Messer ver­barg. Dies Mes­ser wollte sie neh­men. Wenn nie­mand ihr beistand, dann wollte sie selbst entschlos­sen sein und Furcht nicht kennen.
Vorsichtig nahm sie das Messer heraus. Zog es aus der Scheide und legte diese zurück. Es war ge­macht für eine kleine Hand und fügte sich gut.
Warm lag des Messers Griff in ihrer Hand, als sie in die Kälte und die Dunkelheit hinabstieg. Sie trug es verdeckt vom Tuch vor der Brust und fasste mit der anderen Hand den kalten Lauf der Treppe.
"Was willst du?", fragte er. "Du bist zum zwei­ten Mal gekommen. Das machst du sonst nicht."
Hörte sie seine Angst oder seine Ahnung? Nein, er wusste nichts. Seine Stimme wartete wie immer, lauerte, sie anzu­springen.
"Sie fürchtet sich vor der Furcht", sagte er in die dunkle Hälfte seiner Zelle. "Meinst du, sie ist mutig ge­nug für den Mut?"
"Komm her zu mir, zu den Stäben", sagte Zasi. "Komm ganz nah. Ich will dir etwas sagen. Du sollst der erste sein, der es vernimmt! Wenn es später ist, darfst du darüber sprechen."
Er trat vor sie hin, bis das Gitter und ein Hand­breit Luft sie trennte. Sie erwartete, dass er die Hand hob, um sie ihr auf die Stirn zu legen, wie er es im­mer tat. Warum lächelte er und tat nichts wie sonst?
'Ich steche zu', dachte sie. 'Gleich ist es soweit, dass ich zusteche.'
Sie fasste das Gitter mit der freien Hand, um einen Halt zu haben für den Stoß. Und hob langsam die Hand und das Messer.
"Du hast alles gewollt. Es ist dies alles DEIN Werk", sagte er ruhig und betrachtete ohne Angst das über ihm erhobene Mes­ser. Ru­hig umfasste er ihre Hand, die für die Kraft des Stoßes das Git­ter umklammert hielt.
Sie stammelte etwas. Doch die Worte fielen ihr zu Bo­den und zerbrachen wie dünne Vasen. Sie sah zum Messer hoch, hielt es mit dem Blick fest in der Hand.
"In der Schublade Jahre vergaß das Messer den Stoß, grü­belt nun, wie es einmal war ...", sagte er und betrachtete grinsend die gekrümmte Schneide.
"Du wirst sehen, ich werde dich erstechen! Was stehst du noch? Ich kann dich erstechen, wenn ich will. Ein Fluch bist du, ein Teu­fel! Was du mir antust, es geht nicht mehr."
"Aber warst DU es nicht, die mich mit die­sen Git­tern umbaut hat? Er­inne­re dich: In DEINEM Wünschen war es! Ich soll­te immer bei dir bleiben. Keine Frau sollte mich je sehen und sprechen als du allein." Er betrach­tete voll Neugier, wielange das Messer den Arm noch würde in der Luft halten können. "IMMER FUER IMMER las ich von deinen Lippen auf, erinnere dich!"
"Das wagst zuviel!"
"Sie vergaß, dass du mein Zeuge bist", sagte er in das hälf­tige Zellendunkel hinein.
"Dieser da kann nicht sprechen", fauchte sie, "nicht für dich und nicht für sich! Also lass ihn aus dem Spiel. Sprich DU zu MIR!""
Der Gefangene drohte ihr. "Wünsch mich fort!", sagte er lachend. "Es ist so schnell gesche­hen. Mit ei­nem Messer machst du Flec­ken!"
"Ich ... Flecken ... wünschen ... wie?"
"Du willst dich von mir frei machen", stellte er ruhig fest. "Du hast nichts gefun­den als ein schreckliches Wis­sen, dass du nicht ertragen kannst."
"Ja - oder nein, ich weiß es nicht, ich ..."
"Du warst mir keine Herrin", stell­te er verächt­lich fest. "Wolltest besitzen und keine Herrin sein!"
"Es ist die Schuld", gestand sie leise. Sie kniete zu Bo­den, laut fiel das Messer. "Ich kann sie nicht tra­gen."
"Gut", sagte er weich, "weil ich mich an dich gewöhnt habe, werde ich dich zu meiner Dienerin machen und nehme alles von dir fort."
"Dann wird es sein wie früher!" Sie drückte die nass ge­schwitzte Stirn gegen das kühle Gitter.
"Nicht ganz - aber es wird ihm ähnlich sein."
"Ich tue alles, was ihr verlangt." Das Gitter war glatt, die Bodensteine schwitzten kühl.
"Alles?"
"Alles!"
"Auch eine Probe?"
Sie nickte und wusste, dass er grausam sein würde. Die Grausamkeit, die von außen kam, würde sie ertragen, wenn sie sich nur den Platz nicht in ihr suchte.
"Nimm das Messer auf!"
Sie kniete und suchte nach dem Messer, bis sie seinen Griff berührte.
"Fass es an!"
Sie sah fragend zu ihm auf.
"Nicht so, anders herum! Den Schaft fass an! Das Schar­fe, halt es fest, so!"
Sie tat, wie er ihr geheißen hatte. Das Messer war scharf, aber es schnitt nicht.
"Halt die Schneide fest, ganz fest! Jetzt reich mir den Griff."
Sie hielt ihm den Griff durch die Gitterstäbe hin. Lang­sam und ohne sich zu unterbrechen, zog er das Messer aus ihrer Hand, welche die Schnei­de fest umschlossen hielt. Sie spürte keinen Schmerz. Die Hand fühlte sich feucht an, als das Messer entglitten war. Der Schnitt war warm und hat­te nichts Schlimmes an sich.
Lange betrachtete er das blutige Messer. Hielt es hoch, als müsse er sich überzeugen. Wo sich Tropfen gebilde­t hatten, ver­strich er das Blut, bis alles darauf schwärz­lich ge­trocknet war.
Sie hielt sich die Hand vor die Brust. Gleich, wenn sie allein war, würde sie die Wunde waschen und pflegen, doch jetzt und vor seinem Ge­sicht war es kei­nen Gedanken wert. Dankbar stellte sie fest, dass die Schuld in ihrem Kopf in der Hitze seiner Augen zu schmel­zen begann.
"Sie wollte ihr Glück nicht teilen", sprach er in die dunkle Hälfte der Zelle hinein, "obwohl sie es allein nicht tragen konnte."
Sie hielt ihm ihre Hand hin, als sei ihm das Blut darauf geschenkt. Als könne er es nehmen und über die Er­inne­rung bestimmen.
"Sie will mein Geschenk zurückgeben", sagte er zu dem anderen.
"Nein, nein", beeilte sie sich zu sagen und zog ihre Hand zurück. "Es war nicht das!"
"Sie will mein Geschenk NICHT zurückgeben", sagte er zu dem anderen.
"Meinst du, er erträgt die Freiheit besser als ich?", fragte er sie und deutete auf das Dunkle neben ihm.
"Natürlich", setzte er seinen Gedanken fort, "gebe ich ihm seine Rede zu­rück. Jetzt nicht, aber draußen, wird er zur Sprache kom­men."
"Darf ich das Messer haben?", flüsterte sie.
"Für die andere Hand?", machte er sich lustig.
"Ich muss es zurücklegen", flüsterte sie, "weil ich sei­ne Tochter bin." Flehentlich sah sie zu ihm auf und war für immer lippentot.
"Geh jetzt", sagte er rauh und warf ihr das Messer zwi­schen den Stäben hindurch auf den Boden. "Du warst im zweiten Teil recht tapfer."

Chapter 113. Das Testament des Kaisers

Woi ging etwas breitbeinig an den Wachen vorbei. Unter seinen Sa­chen trug er eine zweite Garnitur Kleidung, die für Az bestimmt war. Unter dem Gürtel seiner Hose trug er die Schlin­gel­kap­pe, die ihm Tatzes Mädchen besorgt hatte. Ob­wohl er eine Entdeckung nicht zu fürchten brauch­te, sah er immer wieder hin, ob sie ihm im Gehen nicht verrutscht war.
Das Mädchen blinzelte gegen die Sonne und hielt den Tür­rahmen gefasst. Ernst und ungedul­dig warteten ihre Blicke, dass der Fürstensohn endlich zu ihr ins Haus kam. Vom Fie­ber ge­rötet waren ihre Augen. Eine innere Hitze hatte das Blut in ihre Wan­gen gedrückt.
"ER will dich sehen", sagt sie leise, als er vor ihr stand.
"Wer? Der oben oder der unten?"
"Es ist keine Zeit für Scherze", sagt sie streng und drehte ihr Gesicht mit einem Ruck aus der Sonne.
Ihre Stimme hatte sich verändert, fand Woi. Sie klang nun ein wenig hohl, wie die des Gefangenen. Nur mit großer Anstrengung schien sie sich aufrecht halten zu können. Langsam wie eine Sonnenverwirrte ging sie zu einem Stuhl und setzte sich.
'Das Mädchen kann froh sein', dachte Woi, 'wenn ich sie von ihrem Grottenmann befreie.'
Von oben rief der Vater General ihren Namen.
Ihr Blick hetzte zwischen Treppe und Kellertür hin und her. "Still, Vater, ich kann jetzt nicht. Es ist der Gast. Er ist gekommen, unser Gast!", rief sie hoch.
"Dann ist es gut", antwortete ihr der Vater. "Sei recht artig zu ihm, wie es sich schickt."
"Ja, Vater", rief sie zurück. "Alles so, wie du es sagst."
Als sie gehorcht hatte, ob er Ruhe gab, schlich sie zu einem Schrank, schob leise eine Schublade auf und griff einen Schlüssel heraus, der ihr aus der zittrigen Hand fiel. Voller Angst sah sie zur Treppe hinauf und wagte nicht, den Schlüssel aufzuheben.
"Was war das Geräusch?", rief der Vater fragend herun­ter.
"Es war ... ein Glas ist mir verrutscht. Ich stell es wie­der hin."
"Kind, sei vorsichtig mit den Dingen, spiel nicht da­mit!"
"Ja, Vater! Nein, Vater!"
Woi hob den Schlüssel geräuschlos auf und reichte ihn ihr. Als sie sah, dass er beim Bücken ihre ban­da­gierte Hand bemerkte, rötete sich das Weiß in ihren Augen.
Mit der zittrigen, unbandagierten Hand schloss sie den Keller auf, stellt sie sich dabei so ungeschickt an, dass Woi Angst hatte, sie würde den Schlüssel ein zweites Mal fal­len lassen.
Da sie schwankend auf die Treppe treten wollte, um in das Dunkle des Kellers einzutauchen, fasste Woi sie an der Schulter und führte sie zu einem der kleinen Stühle zu­rück. Er wies sie an, dort auf ihn zu warten und ihrem Vater immer auf sein Zu­rufen zu antworten.
Aber sie war wie ein Reh, das nichts verstand, nur wehr­los war. Mit dem Körper blieb sie sitzen, während die Au­gen im Zimmer um­herjagten, als suchten sie fliehend einen Ausweg.
Allein betrat Woi die Treppe. Lehnte die Tür hinter sich an, dass ein kleiner Spalt Licht von oben ihm nach­stieg.
"Ich warte schon", sagte ungeduldig der Gefangene, dem sie den Namen 'Az' gegeben hatte. Er hatte gesehen, wie Woi sich eine Macht über das Mäd­chen angemaßt hatte, aber er sagte nichts. Er nahm sich vor, dass seine Macht über das Mädchen so groß sein sollte, dass sie nichts tat, was von ei­nem anderen kam. Doch dazu brauchte es Zeit. Er war noch nicht so weit mit ihr.
"Folgendes ist mein Plan", sagte Woi, als er so dicht vor dem Gefangenen stand, dass er ihn riechen konnte. "Sie machen sich im Äußeren mir ähn­lich, so gut es geht, und ziehen die­se Sa­chen an, die ich trage. Außerdem gehen sie hinkend, damit die Wachen den Gang nicht unterscheiden können."
Woi machte ihm das Hinken einmal vor und begann, sich auszuziehen. Als er bis auf seine eigenen Kleider alles ausgezogen hatte, schob er den Stapel der Klei­der durch die Gitter.
Az nahm die Kleider entgegen und warf sie alle­samt in den dunklen Teil der Zelle.
"Damit die Blicke der Wachen vom Gesicht abgelenkt sind", erklärte Woi weiter, "tragen sie auch dieses - eh - Teil." Er gab Az die Schlingelkappe, welche dieser sich über den Daumen zog.
"Nicht darüber", belehrte ihn Woi, "über den gewissen Schlingel, der in der Hose ist, wird sie gezogen.
"Da muss er aber noch wachsen", sagte Az und warf die Schlingekappe über seinen Rücken.
"Wenn ich morgen komme, gehen sie vor dem Wachwechsel raus und ich danach", erklärte Woi. "Einer geht rein, zwei gehen raus. Die Wachsoldaten wer­den nur auf dieses Dingsda schau­en und ihre Spä­ße ma­chen. Da wird der Ge­sichtsunter­schied nicht auffal­len. Wie ge­fällt ihnen mein Plan?"
"Der Plan ist gut, nur eines ... nicht ich gehe, sondern ER!", warf Az ein.
"Wer?", fragte Woi verdutzt.
"Na, DIESER!", stieß Az ärgerlich aus und zeigte auf einen jungen Mann, welcher im Augenblick aus der abge­trennten Zel­lenhälfte getreten war. Er trug Wo­is Kleidungsstücke unter dem Arm und hielt die Schlingelkappe un­schlüs­sig in der Hand.
"Wer ist das?", fragte Woi. Er hatte sich an Az ge­wandt, als sei der junge Mann seine Erfindung und könne nicht für sich selbst sprechen.
"Das ist der, den ihr befreien sollt", erklärte Az spöt­tisch, "der Sohn, den Tesla mit dem Kaiser hat."
"Und wer sind dann SIE?"
"Ich weiß nicht, wer ich bin", sagte Az und hob die Ar­me. "Wenn ich es nicht weiß, dann weiß es niemand. Nicht wahr, das ist doch anzuneh­men!?"
Woi nickte, obwohl das wieder ein furchtbarer Unsinn war. Er überlegte und betrachtete den jungen Mann.
"Kann er sprechen?", fragte er.
"Ich gebe ihm alles mit auf die Reise, was er braucht", sagte Az gönnerisch. "Hier drinnen spricht er nicht, aber draußen, keine Sorge, wird er sprechen."
"Und sie wollen nicht mitgehen?", fragte Woi erstaunt.
"Warum sollte ich?", fragte Az. "Ich habe hier alle Frei­heit, die ich brauche, und ein wenig mehr Licht, als ich vertragen kann."
"Und das ist kein Trick?", fragte Woi und sah ihn durchdringend an. Der Teil des Gesichtes, den sein Bart nicht verdeckte, schien es ehrlich zu meinen. Außerdem war Az eher eine Verrücktheit zuzutrauen als ein naheliegen­der Gedanke!
"Aber mein Plan bleibt?", fragte Woi.
"Es ist ein guter Plan", lobte Az.
"Dann machen wir alles, wie ich gesagt habe?"
"Das ist versprochen, Ehrenwort!". Az zögerte nicht, sich von seiner ritterlichen Seite zu zeigen. Er winkte sogar, als Woi die Treppe hochstieg.
Dieser atmete kräftig durch, als er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Aus dem Zimmer des Ge­nerals hörte er in Paaren da­hinzie­hende Schnarchgeräu­sche. Die Tochter Zasi saß immer noch in ihrem Stuhl. Die banda­gierte Hand hatte sie auf dem Schoß liegen und warte­te, dass Woi zu ihr trat.
"Er hat mich einer Probe für würdig erachtet", sagte sie und zeigte mit einem tapferen Lächeln ihre verbun­dene Hand. "Da ich die Probe be­standen habe, darf ich mich sei­ne Die­nerin nennen."
"Das würde mich stolz machen", sagte Woi knapp.
"Hier sehen sie, was ich litt." In lockigen Wellen hatte sie begonnen, den Verband abzuwickeln.
Er versuchte, sie aufzuhalten: "Es ist eine Sache zwi­schen ihnen beiden, da will ich nicht zudringlich sein!"
"Hier sehen sie! Das dürfen sie berühren."
Durfte Woi ihr die Berührung verweigern? Wenn er nicht wollte, dass sie sich dem Weinen überließ und ihren Vater weckte, dann durfte er seine Hand nicht zurückziehen.
"Es tut gut, dass sich jemand liebend kümmert", sagte sie dankbar und schloß die Augen vor Behagen.
"Ich tu ein wenig geschmeidige Salbe drauf. Es wird dann nicht so schmerzen."
Woi sprach sanft auf sie ein, sah in ihre Augen, die ihn nicht scheuten. Es war, als wiege sie ihren Kopf zur Bewe­gung seiner Hände, die behutsam die Salbe verstrichen.
"Wussten sie, dass DER ANDERE mitgehen soll?", fragte Woi lei­se und ohne Vorwurf.
"Dachtet ihr, ich würde AZ gehen lassen? Das konn­tet ihr nicht denken! IHN lasse ich nicht fort! Ihr wisst es und fragt nur so im Spaß."
War die Bewegung ihres Kopfes ein Nicken oder das Werk seiner vorsichtigen Wundpflege? Er hätte es nicht sagen, und es war nicht wichtig.
"Denken sie an etwas", schlug er vor, "an etwas Schönes ... an ein Feld, das sie zum ersten Mal betreten. Es ist weich und schöner als jede Erinnerung. Die Blu­men­kel­che wippen unter der Last der Bienen, die sich kopfüber in den Honig gestürzt haben. Kenne sie das Wiegenlied des Windes? Es handelt von einem Baum, einem alten Hagestolz, dem der Wind ein Wol­kenkleid schenkt."
"Sie sind ein Heiler. Ich wusste das nicht. Und sie sprechen schön mit Worten", lobte ihn die Tochter und über­ließ ihm willenlos die Wunde.
Nach einer Zeit der Pflege sagte Woi: "Da ich die Zeit vergaß, muss ich nun eilig gehn. Ich sehe, dass gerade die Wache gewech­selt hat. Mit der will, ja, ­muss ich hin­aus." Die Hand schien aus­rei­chend versorgt zu sein, und Woi wollte nicht, dass Zasi ver­gaß, wer ihr die Wunde erstlich zuge­fügt hatte.
"Schade", flüsterte die Tochter. "Jetzt weiß ich nicht, ob die Wolken den Hagestolz kleiden."
"Die Wolken sind müde und halten einen kleinen Schlaf. Wollen wir sie stören, um ihnen Fragen zu stel­len?"
"Und der Wind?"
"Der ist schon fort."
"Aber die Wolken - er vergaß die Wolken!"
"Da kommt ein anderer Wind, der sie dann findet und wie­der auf die Hörner nimmt."

Chapter 114. Der Plan wird ausgeführt

Die beiden Wachen standen starrend stumm, als sie Woi kommen sahen. Es war ihnen nicht leicht zu glau­ben, was sie sahen. Eine lange Wache in der Hitze lag hinter ihnen. Da wagten sich die Trugbilder manches Mal weit vor.
Der eine von ihnen war etwas krumm. Ihm hing ihm die Unter­lippe herun­ter, wenn er nicht einen Fin­ger darauf legte. Der andere war stockgerade und besaß grüb­leri­sch dichte Augenbrauen. Obwohl ei­gent­lich äl­ter, war er der Nach­unte­re.
"Siehst du das, was ich meine, auch?", fragte der Krum­me.
"Ja", antwortete der Steife, "du meinst, was er trägt."
"Wollen wir ihn fragen, wofür es ist?"
"Meinst du, er spricht darüber?"
"Weiß ich nicht, aber ich frag' ihn."
Als Woi noch nicht vor ihnen stand, rief er: "Was trägst du für ein Ding auf der Hose?"
Woi strich mit der Hand über die Lederkappe, weil ihm recht sein sollte, wenn sie ihren Spaß darüber mach­ten. Sie war nur aufgenäht, das gab ihm ein sicheres Ge­fühl.
"Siehst du, er redet nicht über sein Ding."
"Ich weiß auch so, was es ist", sagte der Krumme, "es ist eine Glöcknerhose, haha, bim bam, bim bam!"
"Mit eingelegter Gurke, quetsch ziep, quetsch ziep."
"Es ist eine Sitte in meinem Land", erklärte Woi nach­sichtig.
Der Krumme bog sich, der Steife taumelte vor Lachen.
"Im Land der roten Nasen, da ist es Sitte!"
"Bei den Einaugen ist es Sitte, jaja!"
"Sie ziehen in die Schlacht gegeneinander."
"... mit Piken und Nägeln, hö!"
"... mit Fahne und Fanfare, hä!"
"Habt ihr euch jetzt beruhigt?", fragte Woi sie.
"Ein bisschen noch", bettelte der Krumme.
"Kann er denn auf und ab, wie ein Fingerfinger?"
"Oder ist er hart wie Tropfsteinstein?"
"Darf ich mal fühlen?", fragte der Steife.
"Nein", sagte Woi, "fühlen darf keiner!"
"Vielleicht ist die Schnecke nicht zu Hause?"
"Die Tropfsteinhöhle ist verlassen!"
"Ist sie nicht!", sagte Woi und hieb dem Krummen auf den frechen Finger.
Der jaulte auf. "Was hat er bloß, der stolze Ritterrit­ter?"
"Du, ich glaub', es ist nicht für uns. Wird sein für's Töchterchen, das wett' ich. Bringt ihr was Landessittli­ches mit, auf­recht und zum Stehfest - was sagte ich? - zum Richt­fest natürlich, tumdiddeldum!"
"Und sie nimmt einen Ring und zieht ihn mittendurch zur Treue, auwehjejuha!"
"Jetzt lasst es gut und macht mir das Tor auf", verlang­te Woi freundlich.
Da sie ihm eigentlich nicht übel gesonnen waren und dankbar für die Unterhaltung, gab ihm der Krumme einen freund­schaftlichen Schlag auf die Schulter, und der Steife schob das Tor für ihn auf.
Wie Woi es sich ausgedacht hatte, zog er das Bein ein wenig nach, damit es dem Gefangenen leichter war, seinen Gang nachzuahmen. Das wiederum ent­zückte die beiden Wachen aufs Neue.
"Was hat er denn, der Zipfelritter?"
"Kommt gradewegs, das sag ich dir, aus einer Schlacht mit 'ner Empörten, die sein Anspiel nicht zurückge­spielt hat und am zweiten für das dritte Bein ihm riss!"
"Der Ehemann hat ihn verfehlt, aber die Frau traf ihn mit dem Eisen gut!"
Woi brachte sie noch einmal zum Gröh­len, indem er seine Kappe verschob, als zwicke es ihn dort.
Vom oberen Fenster winkte ihm der General in einem Nachthemd zu. Ihn kümmerte nicht, dass die Soldaten ihn so sahen. Was war wichtiger, als dass seine Tochter schlief? Was war wichtiger, als dass niemand sie weckte? Das Soldatische lag auf der anderen Seite des Zaunes und hatte sein Recht verloren.
In einem Stuhl schlief die Tochter. Als Woi sich zu ihr herabbeugte, um sie vorsichtig zu wecken, schlang sie schnell ihre Arme um seinen Nacken und zog ihn zu ih­rem Flü­stern herab: "Geht schnell hin­auf! Lasst den Vater er­zählen, bis er müde wird. Ich öffne die Zelle und lass den anderen hinaus. Heute MUSS es sein, denn morgen ist der Vater ge­sund, und alles wird nicht möglich sein, was ihr plant!"
War es ein Kuss, den sie ihm gegeben hatte? Doch das Gesicht schlief wieder und ließ ihn antwortlos.
"Sie schläft", flüsterte der General von oben, wo er auf der Treppe stand und in einem weißen, fußlangen Kleid zit­terte.
"Ja", sagte Woi und trat vorsichtig über ihre Beine und berührte, ohne es zu wollen, ihre Hand. Oder war sie es, die IHN berührt hatte? Nichts in ihrem Gesicht gab eine Antwort. Alles gehörte dem Schlaf.
Leise schlich Woi sich die Treppe hinauf und knarrte gehörig. Oben im Zimmer des Generals angekommen, sah er den Gene­ral und sein Schlottern schon im Bett liegen.
"Ich sollte vielleicht nicht ...", sagte der kranke Mann.
"Nein", sagte Woi, "besser nicht ..."
"Ich wollte nicht, dass jemand ihren Schlaf stört."
Woi musste sich auf das Bett setzen und ihm zuhören. "Ich sehe, dass ihr denkt: Was kann denn dieser alte Mann mir jungen Mann schon sagen? So denkt ihr, das weiß ich, dafür bin ich alt ge­nug." Unter der Decke des Generals hob sich rechthabend und warnend ein Finger.
"Nein, so habe ich nicht gedacht", sagte Woi, weil er an seinen Plan gedacht hatte.
Der General dachte, dass der Fürstensohn gleich 'Wirk­lich nicht!' sagen würde.
"Wirklich nicht!", sagte Woi und wunderte sich über das Lächeln, welches vom Gesicht des Generals über seine Decke glitt.
"Eigent­lich", begann der General, "ist es ein Geheimnis, und ich müsste schweigen, aber morgen wird ein Oberst kom­men mit Sol­daten. Dann wird es kein Geheimnis mehr sein. Also kann ich auch heu­te dar­über sprechen."
Woi beob­achtete die Hand des alten Mannes, die nicht wuss­te, ob sie die Kälte spü­ren oder sich tot ­stellen soll­te. Sie lag auf der Decke, als habe sie dort jemand liegen­las­sen, der ohne diese Hand aufgestanden und fortge­gangen war. Vielleicht suchte er sie jetzt, wäh­rend sie auf der Decke lag und wartete, dass es Abend wur­de.
"Un­ten", setzte der General fort, "unter dem Boden, wo der Keller ist, verbirgt sich ein Ge­heimnis in der Ge­stalt eines jun­gen Mannes."
"Hmm", sagte Woi und hoffte, dass das Geheimnis die Wachs­oldaten be­reits passiert hatte und vom Zwerg und dem Nar­bigen in Empfang genommen worden war.
"Ich seh, sie denken, ein Kerker halt, nichts, was in einer Garnison unge­wöhnlich wäre."
Woi dachte, dass es langsam Zeit wur­de, an den Wach­wechsel zu denken, wenn er dem Oberst und seinen Sol­daten nicht in die Hände laufen woll­te.
"Dort in unserem Kerker befindet sich der einzige Sohn des Kai­sers - ja, sie hören richtig! Mit der ersten Kaise­rin hat er zwei Töchter, aber mit einer Frau, welche sich der Kai­ser für die Liebe ausge­sucht hat, hat er den ein­zigen Sohn."
Zitternd legte sich die zweite Hand des Mannes auf die Decke, wor­auf die erste, als müsse ihr alles alleine ge­hören, ver­schwand.
"Die Liebe durfte nicht sein und dieser Sohn viel weni­ger. Der Kaiser bat nur, als der Sohn geboren war, dass man ihn nicht töten mö­ge. Dies wurde ihm zuge­standen. Aber der Sohn, der nicht getötet werden durfte, wurde hierher in den Kerker dieser Garnison ver­bracht. Das ist lange her. Unter meinem Vor­gänger wuchs das Kind rich­tig wie ein Kna­be auf. Darum ließ man ihn ablösen, den guten, denn das war er, ein guter Mensch und lieber Gene­ral, der Treufuß."
"Er war ein Freund meines Vaters", warf Woi ein und fragte sogleich: "Hat der General Treufuß auch einen eige­nen Sohn?"
"Nein, aber das war es wohl, was der Alte in ihm sah, sei­nen eigenen Sohn."
Woi erinnerte sich an den Besuch des alten Treu­fuß, an den Jungen, der bei seinem Besuch so selt­same Fra­gen ge­stellt hatte. In der Dunkelheit des Kerkers hatte er ihn nicht wie­derer­kannt.
"Und er ist ganz alleine dort unten, das muss schreck­lich sein?", fragte er scheinheilig, damit das Gespräch etwas ab­warf, das er noch nicht wusste.
"Nicht allein", erwiderte der General, "nein, nicht al­lein."
"Wer ist denn bei ihm, ein zweite Gefange­ner?", fragte Woi.
"Schreck­lich rief der Junge in der ersten Zeit nach Treu­fuß, wein­te in einem fort und wurde schließlich so krank, dass ich das Allerschlimm­ste fürchten musste. Als der Arzt - es gibt nur einen hier - den Jungen aufgegeben hatte, holte ich die Hilfe ei­ner Frau, wohl einer bösen Frau. Ih­ren Na­men hatte ich von einem Solda­ten, der eine Schwe­ster hat­te, die wunder­lich geworden war und nun ver­ständ­lich sprach. Die Frau kam und besah sich den Kranken. Schick­te alle fort. Ich weiß noch, dass sie mir die See­le aus dem Kör­per sah, denn wie man­che Echsentiere brauch­te sie die Lider nicht zu be­wegen. Was der Preis für ein Men­schenleben sei, frag­te sie. Ich nann­te eine Summe Gold. Ein anderes Men­schen­le­ben sei der Preis, antwortete sie ver­ächt­lich. Sie nannnte mir einen Namen. Ich ließ den Mann töten. Er war ein recht­schaf­fener Bürger, und es war eine ge­mei­ne und feige Tat. Am nächsten Tag stand ein jun­ger Mann am Tor und verlang­te, mich zu spre­chen. Eilig ließ ich ihn ein. Ich wusste nicht, wer er war, und weiß es heute eben­sowenig wie da­mals. Von gleichem Alter war er wie der kran­ke Kai­ser, aber sei­ne Augen waren leer, als habe das Leben niemanden darin angetroffen und sei wieder gegan­gen. Ich war froh, als er im Ker­ker bei dem Kaiser­sohn ver­schwunden war, schick­te mein Mäd­chen zu ih­nen, weil mich die Angst hatte und immer noch hat, wegen dem, was ich tat, war es auch nur, um ein Leben zu retten, denn das Leben des Jungen wurde gerettet, wie die Frau es ver­spro­chen hatte ... aber darf ich jemanden töten lassen, den ich nicht kenne, für das Le­ben von einem, den ich kenne, darf ich das?"
"Ich glaube, man muss es abwägen", sagte Woi.
Der General atmete tief seufzend aus und ein. Dann schlug er die Augen zu und begann ruhig zu atmen. Schließ­lich wurde seine Gesichthaut glatt und sein Atem flach.
Als Woi sich bereits leise erhoben hatte, sagte der General: "Ich habe nicht gedacht, dass wirklich jemand dies Ding trägt."
"Ich trage es nur dies eine Mal", sagte Woi und sah an sich zu seiner Schlingelkappe herunter.
Der General nickte zufrieden und ­kreuzte die Hände über seinen Lenden.

Chapter 115. Aufbruch mit Asari

"Wir haben schon auf dich gewartet", sagte Tatze. "Sie sind alle sehr aufgeregt, weil dieser Tesla­sohn129 gekom­men ist."
Woi erwiderte nichts. Er war mit ei­nem Mal traurig um das Ende seines Aben­teuers. Die Dra­chenzäh­ne würden alle in die Kaiserstadt zu­rückkehren wol­len. Zur Befreiung hatten sie ihn gebraucht. Im weiteren brauchten sie keine Hilfe. Woi blieb nichts als die Rückkehr zu seinem Vater.
Im großen Raum saßen alle um einen leeren Tisch. Niemand sagte ein Wort, als hätte auch sie der Tren­nungsschmerz befallen. Wenn Woi sie recht kann­te, dann fehlte ihnen vielleicht nur der Wein und die Ge­selligkeit. Viel­leicht bedauer­ten sie, dass die Arbeit mit den Mädchen zu Ende ging.
"Wo ist der Gefangene?", fragte Woi. Tatze deutete mit dem Finger nach oben.
"Er ist allein?"
Tatze nickte.
"Wo sind die Mädchen?"
"Wir waren baden ... Keschal hat sie fortgeschickt, als er kam." Es musste schnell gegangen sein, denn Schädel hatte keine Schuhe an. Mür­risch schnitz­te der Narbige an ei­nem Stück Seife, wäh­rend der Zwerg sich mit dem Rocksaum die nassen Haare trocknete.
"Ich gehe hoch", sagte Woi.
Die Drachenzähne machten ernste Gesichter, als er das angekündigt hatte. Dann ließen sie wieder die Köpfe hän­gen. Die Trauer über den Verlust der Arbeit mit den Mäd­chen war darin, aber auch etwas Neues.
"Er sagt nichts", sagte der Zwerg.
"Kein Wort", ergänzte Schädel.
"Nee", sagte Tatze, "wirklich nicht ein einziges."
Aber Woi ließ sich nicht abhalten und stieg vorsich­tig die schwächelnde Lei­ter em­por zur Luke des Spei­chers. Dort saß der junge Mann mit dem Rücken zur Tür und schien nichts und niemanden bemerken zu wollen.
Eine Spin­ne hatte in seinem Haar ein Netz be­gon­nen und ließ sich auf die Schulter herabfallen. Auf den Ziegeln des Daches liefen un­entwegt die Ratten. Hinter Woi betra­ten die Drachenzähne einer nach dem an­deren und sehr leise den Speicherraum.
Ohne Zögern setzte sich Woi vor dem jungen Mann hin und achtete nicht darauf, wie schmutzig der Boden war. Er ver­suchte dem anderen in die Augen zu sehen, doch dieser sah nicht auf und schien sich an seiner neuen Frei­heit nicht freuen zu können.
"Seht ihr", flüsterte Schädel, "zu keinem spricht er."
"Schscht", zischte Tatze, "lass den Fürstensohn mal ma­chen."
Alle waren still, sehr still, nur die Ratten nicht. Der junge Mann hatte die Drachenzähne mit seiner Stimmung angesteckt. Es war unmöglich, seiner Bedrückung et­was ent­gegenzu­setzen. Selbst Tatze, dem nichts Trauriges einge­fallen war, fühlte sich, als sitze er in einem Nebel.
"Wir kennen uns", sagte Woi.
Der junge Mann sah auf. In seinen Augen war er nicht traurig, stellte Woi fest. Es waren große Augen mit viel Weiß, eigentlich offene Augen, die aber nicht fest­hielten, was sie sahen.
"Als Kinder waren wir im Wald", sagte Woi. "Medith, un­ser Oberer, und Treufuß, dein General, waren zusammen, und wir beide. Ich habe dir von meiner Bande erzählt. Du hast Fragen ge­stellt, auf die ich keine Antwort wusste."
"Ja ...", sagte der junge Mann zögernd.
Woi konnte das Erinnern auf seinem Gesicht able­sen, aber ebenso das Auseinanderfließen, das folgte.
"Er hat etwas gesagt", flüsterte Tatze.
Die anderen wussten nicht, ob sie das gelten lassen soll­ten. Wie sie es ver­standen, war es kein richtiges Sprechen ge­wesen.
"Wir müssen fort", sagte Woi, und immerhin horchten die Drachenzähne auf. "Es kommen Soldaten. Morgen sollen sie eintreffen."
"Gibt es ein Wohin?", fragte der junge Mann. Es war eine Frage, in der sich jede Richtung aufhob, sobald sie aus­ge­sprochen war. Die Drachenzähne zuck­ten zusammen. Selbst Schädel er­schrak ins Mark.
"In die Kaiserstadt! Wollen sie nicht mit?", fragte Wo­i, der sich nun erinnerte, wie wenig Interesse der junge Mann seinem Wald entgegengebracht hatte.
"ER hat ge­sagt, dass ich mit­ge­hen soll", murmelte der jun­ge Mann.
"Was hat wer gesagt?", fragte Tatze und begann sich an seinem Hinterkopf zu kratzen.
"Da war noch einer", erklärte Woi.
"Ach so", brummte Tatze und war froh, dass die anderen auch nichts verstanden hatten. Sonst, wenn er fragte, hatten sie so einen Spott unter den Augen. Aber heute ir­gend­wie nicht.
"Ich heiße Asari", sagte der junge Mann. "Jedenfalls sagte Treufuß, dass ich so heiße." Die Ratten rann­ten ohne Pause über seinem Kopf hin und her.
"Wir sind die 'Drachenzähne'!", sagte Tazte und schlug sich auf die Brust.
"Seid ihr Wois Bande?", fragte Asari und brachte alle außer Woi zum Lachen.
"Meine Bande war nur in der Einbildung", sagte Woi lei­se und wurde rot.
"Und wir sind ja WIRKLICH!", rief Tatze und sah die an­deren an.
"Wir Drachenzähne haben einen Vater vom Kaiserhof und eine Mutter aus der Nacht­stadt", erklärte Schä­del be­hut­sam.
"Ja ... so ... genau", pflichtete Tatze ihm bei.
"Ich habe keinen Vater und keine Mutter, eben nur Treu­fuß und später Az", sagte Asari traurig.
"Doch, doch", rief Tatze und hieb ihm zweimal auf den Rücken, "Tesla ist deine Mutter, und dein Vater ist der gestorbene Kaiser!"
"Wenn sie gesagt hat, dass sie meine Mutter ist, dann nur, weil sie mich nicht kennt", sagte Asari und schüttelte den Kopf.
Niemand sagte etwas, nicht einmal Schädel.
'Oh nein', dachte Woi und stöhnte innerlich auf, 'alles bei ihm wie früher!'
Die Drachenzähne grübelten. Schädel fand, das etwas lu­stig an dem jungen Mann war, nur kam er nicht drauf. Der Zwerg fragte sich, wie Tesla diesen Jungen auf­nehmen wür­de. Der Narbige glaubte auch nicht dar­an, dass er einen Vater und eine Mut­ter hatte, oder jeden­falls wollte er nicht wissen, wer sie waren.
"Er ist ja nun befreit", sagte Woi. "Also werde ich euch noch ein Stück begleiten und nehme dann den Weg zum Hof meines Va­ters."
Alle Drachenzähne waren traurig, selbst Schädel, weil es ohne den Fürstensohn langweilig werden würde. Außerdem konnte Woi diesen Asa­ri zum Sprechen bringen. Die Sa­chen, die er von sich gab, waren lustig und traurig zugleich, wie man es sich aussuchte.
"Nein", sagte Asari. "Ich bin nicht befreit!" Die Spin­ne zit­terte in ihrem Netz, als er den Kopf schüttelte.
"Wenn er es sagt ..." Tatze meinte jedenfalls , dass Woi dann mitkommen musste.
Der Narbige fand, dass es doch nicht besser wurde, wie er erst gedacht hatte. Der Junge war zu lange im Kerker gewesen. Sie würden wohl noch warten müssen.
"Ist er NICHT befreit?", fragte Woi ärgerlich in den Kreis.
"Er meint, wir sollen es sehen, wie er es sieht!", hielt ihm Tat­ze entgegen.
Zu seiner großen Überraschung nickte Asari nachdrück­lich. "IHR wolltet doch, dass ich Kaiser werde. Jetzt könnt ihr nicht einfach so tun, als hätte ICH es gewollt."
Woi schluckte. Der Junge hatte sich in nichts verändert! Auch wenn Woi nichts lieber getan hätte, als ihm aus dem Weg zu gehen, so konnte er die Dra­chenzäh­ne nicht schutz­los zurücklassen.
"Ich möchte zu Treufuß", sagte der junge Mann.
"Wie?", fragte Woi und starrte die Spinne an.
"Hmm", brummte der Narbige und fand, dass es doch besser wur­de. Die anderen verstanden nicht, wie es war, wenn ei­ner aus einem Kerker kam. Es ist, als sei nur die Hülle von einem draußen. Als wäre die ganze Kraft, selbst die Trau­rigkeit, dort zurückgeblieben. Das konnte niemand wis­sen, der es nicht erlebt hatte.
"Ich will zu Treufuß", wiederholte der junge Mann. "Wir besuchen ihn. Ihr werdet ihn mögen. Er ist ein guter Mensch!"
"Was spricht dagegen?", fragte Tatze herausfordernd. Schließlich hatten sie ihn befreit, da mussten sie auch zu ihm halten. Das war doch zu verstehen!?
"Der Oberst und seine Soldaten werden uns folgen", gab Woi zu bedenken. "Viel­leicht haben sie denselben Gedanken wie wir."
"Können wir doch machen", wischte der Zwerg Wois Ein­wand fort, "liegt doch auf dem Weg ..."
"Aber wir müssen unbedingt vorsichtig sein!", sagte Wo­i.
Die Dra­chenzähne nickten mit einem Kopf. Vorsichtig waren sie immer. Das war allemal besser, als traurig zu sein.

Chapter 116. Asari vom Verlieben

Als sie schweigend beieinander saßen und warte­ten, dass jemand etwas sagte, klopfte es laut an der Tür. Ehe einer aufstehen konnte, stand Keschal mitten in ihrem Kreis.
"Es sind Soldaten gekommen!", berichtete sie außer Atem. "Solche, wie wir sie hier nicht kennen. Sie haben ganz andere Unifor­men und Lanzen mit einem Wimpel. Die Leute sagen, es seien Kaisersoldaten."
"Das ist schnell gegangen", sagte Woi. "Der General hat von ihnen gesprochen, aber ich habe nicht gedacht, dass sie heute noch eintreffen."
"Es ist wegen ihm, nicht wahr!", sagte Keschal und zeigte auf Asa­ri, den sie nicht angesehen hatte, weil sie nicht wusste, wie sie ihn anreden sollte.
"Es wird eng", der Zwerg sah sich um. "Wir müssen heute noch aufbrechen."
"Aber nicht jetzt", wehrte Keschal ab. "Die Stadt ist noch voll von Menschen. Es würde zuviel Aufsehen machen."
"Wenn wir sowieso warten, dann können wir ja auch noch ein bisschen ba­den", schlug Schädel vor.
"Nein", sagte Keschal fest. "Ich habe den Mädchen ge­sagt, dass es nichts mehr zu tun gibt."
Keinem der Drachenzähne gelang es angemessen, seine Ent­täu­schung zu verbergen.
"Gut, ich schicke sie", sagte Keschal nachgebend, "aber nur für einen Abschied ..."
Sie rief die Mädchen, die draußen im Gang gestanden hat­ten, mit strenger Stimme herein. Jede von ihnen drückte ihrem Drachen­zahn einen Kuss auf die Lippen. Dabei vergaß keine von ih­nen, einen neugierigen Blick auf den seltsamen jungen Mann zu werfen.
"Sind sie verliebt?", fragte Asari den neben ihm sitzen­den Woi so leise, dass je­der es hören konnte.
Die Mädchen kicherten, und Schädel wurde über den ganzen Kopf rot. Es gelang ihm nicht, et­was zu sagen, obwohl er die Lippen bewegte.
"Nein, sie sind nicht verliebt", sagte Woi belustigt. "Sie sind sich gegen­sei­tig zur Hand gegangen. Das ist al­les."
Tatze setzte sich sein Mädchen richtig auf den Schoß, während der Narbige seinem Mäd­chen das Sei­fenstück über­reichte, an dem er geschnitzt hatte.
Weil Woi sah, dass Asari nichts verstand, erklärte er weiter: "Manche Dinge gehen zu zweit eben bes­ser geht. Kann du dir ja vorstellen: Die Mädchen haben ih­nen al­les ge­zeigt, und die Drachenzähnen haben angefasst -"
"... eh, wir wollen das nicht vertiefen", unterbrach ihn Keschal, weil die Drachenzähne Blicke mit ihren Mädchen aus­tauschten und sie tatenlos dem Treiben der Rückbe­sin­nung zusehen musste.
Währenddessen dach­te Asari bei sich: 'Ich werde mich ver­lie­ben.' Im­mer wieder sagte er sich die Worte in seinem Kopf vor: 'Ich werde mich verlieben. Ich darf nicht ver­gessen, dass ich mich verlieben werde. Es ist nicht schwer, sich zu verlie­ben. Ich schaffe es ganz bestimmt!'
"Bist du schon einmal verliebt gewesen?", fragte er Wo­i.
Alle anderen waren plötzlich ganz still und zählten drei schnelle Atemzüge von Woi. Als erster prustete Tatze los, dann alle anderen, helle Stimmen und dunkle durchein­ander. Nur Woi lachte nicht, weil er dunkelrot im Gesicht gewor­den war.
"Ich will doch nur wissen, wie es geht, damit ich es selber kann", entschuldigte sich Asari. Wenn er etwas Lu­stiges gesagt hatte, dann machte es ihm nichts aus, dass sie über ihn lachten. Irgendwie war ihm, als gehöre er ein wenig mehr dazu.
"Ja, ich schwör's dir", flüsterte Tatze seinem Mädchen in das Ohr. "Er ist wirklich ehrlich der Sohn des Kai­sers!"
"Wenn du etwas darüber wissen willst, dann frag' doch DIE", sagte Woi wütend und zeigte auf die Drachenzähne und ihre Mädchen. Warum hatte er sich nicht beherrschen können und war so blöd gewesen, sich etwas anmerken zu lassen?
"Den Mädchen ist es verboten, sich zu verlieben", sagte Ke­schal und sah zufrieden, dass sie Mädchen sich duckten.
"Und er ... hat er es euch auch verbo­ten", fragte Asari doe Drachenzähne und zeig­te auf Woi.
"Er hat nichts gemerkt", sagte Schädel frech.
"Was braucht man denn, um sich verlieben zu können?", fragte Asari.
"Also, wenn es der erste Versuch ist, wäre ein Mädchen schon von Nutzen", meinte Woi und war froh, dass sie nun über Asari lach­ten.
"Ah so, das ist es also", Asari sah sich in die leeren Hände, "erst brauche ich ein Mädchen ..."
Die Drachenzähne nickten ernst, während die Mädchen ängstlich zu Keschal sahen, die ihnen mit einem Zischen den Aufbruch befahl, damit nur ja keine von ihnen auf dumme Gedanken kam.
"Schade, jetzt gehen sie", sagte Asari ihnen hinterher. "Ich werde mich wohl ein anderes Mal verlieben müs­sen."
Als die Mädchen mit Keschal verschwunden waren, schauten die Drachenzähne auf den Boden vor ihrem Stuhl. Ihre Augen bil­deten einen Kreis, in dem Asaris Blick wie ein gefan­gener Fisch, der sich nicht zurechtfand, umherschwamm.
"Wie fühlt sich das Verliebt-Sein an? Ihr müsste es mir sagen, damit ich es erkennen kann!"
"Ist nicht toll", versicherte Tatze. "Tut ziemlich weh."
"Kannst du dir vorstellen wie ein ständi­ges Juc­ken über­all, nur eben tie­fer", versuchte Schädel zu erklä­ren.
"Ist wie ein Splitter im Fuß, wenn du ihn nicht raus­kriegt", sagte der Zwerg.
Der Narbige hatte sich auf seinem Stuhl vornübergebeugt und ­ließ sein Messer aus der Hand fallen, dass es im Boden zitternd stecken blieb. Immer und immer wieder versuchte er die Stelle zu treffen, wo es beim er­sten Mal auf­gekom­men war.
Asari musste feststellen, dass die Drachenzähne sehr verschieden von ihm waren. Sie wa­ren einfach tie­fer in den Din­gen drin. Während er drau­ßen stand und nicht wusste, wie er herein­kommen soll­te, bewohnten sie schon so lange ihr Leben, dass sie nicht ein­mal mehr er­klären konn­ten, wie einer hin­einkom­men konnte, der drau­ßen war.
Jeder hatte seine eigene Art, sich die Zeit des Wartens zu verkürzen. Schädel hatte sich eine Fletsche genommen und schoss klei­ne Steine auf das gegenüberliegende Dach. Dann und wann zet­terte eine Frauenstimme in den Abend hin­ein.
Der Narbige hatte sich oben auf die Treppe gesetzt und schnitzte an einem neuen Stück Seife. Der Zwerg machte Grimas­sen mit sei­nen Zähnen und knackte seine Fingerkno­chen. Tatze stellte Woi Fragen, bis er keine mehr wuss­te. Asari hatte sich so ge­setzt, dass er sie alle be­ob­ach­ten konnte.
Er beobachtete die­sen Abend in dem neuen Leben sehr genau, als komme es darauf an, dass ihm nichts ent­ging. Das Licht, wenn es weniger wurde, ließ die Fen­ster rund erscheinen. Die Laute, die von drau­ßen ka­men, begannen sich aus dem Weg zu gehen. Damit verlor das Innere des Raumes seine Ränder. Im Dun­keln gab es kei­ne Mau­ern, das war hier nicht anders als in sei­nem Ker­ker. Er dachte daran, wie sich Az ein­mal zum Spaß in den Abend ge­stellt hat­te, damit das Licht ganz lang­sam seine Gestalt in Schich­ten abtrug.
Als Woi ein­fiel, dass es nun eigent­lich er­laubt war, sich schlafen zu legen, hat­te die Müdig­keit sich mit der Nacht davonge­schlichen.
"Wie geht es?", fragte ihn der Zwerg.
"Ich wäre jetzt gerne müde", antwortete Woi. Aber er war nicht müde und die anderen wussten, was er meinte.
"Ich treffe das Dach nicht mehr", sagte Schädel, "ich glaube, es ist dunkel."
"Dann gehen wir", befahl der Zwerg. Alle rollten ihre Decke ein und nahmen ihre Bündel auf. Tatze gab Asari eine Decke, die niemandem gehörte, und zeigte ihm, wie man sie einrollte. Asari sah interessiert zu, aber er schaffte es nicht ein einziges Mal.

Chapter 117. Asari mit Diener

"Da ist er!", rief Woi und stieß Asari von der Seite an.
"Wer?", fragte Asari und schreckte aus irgendwelchen Gedanken hoch.
"Der Hof von Treufuß! Erkennst du ihn nicht wieder?"
Asari kniff die Augen zusammen, obwohl die Sonne in sei­nem Rücken stand. "Ich habe ihn zu lange in meinen Gedan­ken ge­sehen", sag­te er. "Deshalb erkenne ich nicht mehr wieder ..."
Woi wusste, dass das nur auf Asaris Weise stimmte, darum sag­te er nichts, sondern hielt sein Pferd an, um auf die Dra­chenzähne zu warten.
Als sie sich mit ihnen kurz besprochen hatten, ver­ließen die Drachenzähne den Pfad und ritten zwischen den Bäu­men hin­durch, um sich auf einer Anhöhe ein Beob­ach­tungs­lager aufzuschla­gen. Das war der Vorschlag des Narbi­gen gewesen, weil sie nicht wuss­ten, in welchem Tempo die Soldaten ih­nen nachgeritten ka­men. Von hier war ein recht­zeitiges Warnen möglich.
Woi ritt mit Asari weiter. Er dachte zu­rück, wie es früher gewesen war, und freute sich auf einen Abend mit Treufuß. Darüber nahm er sich vor, sich nicht in Asaris Gedanken verwickeln zu lassen.
Der Hof war von einer hohen Mauer umgeben wie ein Sol­daten­fort. Treufuss war lange Soldat gewesen. Als er in den Ruhestand kam, hatte er diesen Hof über­nommen und ihn für sich ausge­baut.
­Der Schutz eines Gra­bens hätte es auch ge­tan, aber Treufuß woll­te eine Mau­er, weil er sie eben schön fand, diese Mau­ern. Er wollte eine Mauer, die ganz um seinen Hof her­umging. Eine hohe sollte es sein, wie er sie sein gan­zes Leben in den verschiedenen Garniso­nen ge­habt hat­te. Sie war nicht gegen Feinde ge­macht - wer sollte ihn schon angrei­fen? - dienten keiner anderen Herrin als der Erinne­rung des Hofherren.
Den Eingang bildete eine prächtige Fallbrücke mit einem Kopfsaum von Schießscharten. Weil sie heruntergelassen war, ritten Woi und Asari langsam auf den Einlass zu. Wo zwei Häus­chen auf das Beste und Sauber­ste herge­richtet waren, stan­den keine Wachsolda­ten. Woi hielt ex­tra an, um hinein­zu­schau­en, aber es war kei­ner drin, nicht einmal einer, der schlief. Also ritten sie weiter.
Vor sich sahen sie ein zweigeschossiges Gebäude, das die Form eines Würfels besaß. Es war nicht sehr gross, hatte nicht mehr als drei Fenster oben und unten.
Links lehnten sich die offenen Stallungen an, in denen aber kein Platz für die Pferde war, weil sie bis oben hin vollgesta­pelt waren mit alten Sachen - von über­ein­ander ge­stapel­ten Ki­sten bis zu Wald­ge­rät. Sogar ein Fuhr­werk, dem ein Rad fehlte, stand in ei­ner der Pfer­debo­xen.
An der Rückseite des Gebäudes schloss sich der Küchen­trakt an, der sehr niedrig war und sicher­lich nur für das Nö­tig­ste in Ge­brauch war.
Langsam ritten sie im Kreis, aber niemand kam her­aus oder rief. Al­les war ge­pflastert, kein Garten oder Busch un­ter­brach den Blick auf die Mauer. Sie machten ordentlich Lärm, aber die Diener nahmen sich hier Zeit, die Gä­ste zu empfan­gen.
Sie stellten die Pferde nebeneinander vor die Stallun­gen. Die Tiere schienen nicht recht zu wissen, was sie dort sollten. Längst war der Pferdege­ruch der Stallungen ver­flogen.
"Dort ist einer", sagte Woi und zeigte auf ein Fen­ster, hinter dem sich ein Kopf gezeigt hatte, der verschwunden war, sobald er ihm zuwinkt hatte. Woi rief einen Gruß, aber der Kopf bleib ver­schwunden.
"Wir gehen rein, dann werden wir sehen", entgegnete er unwillig, ging über den Platz, die kurze Treppe hoch und schob die Tür auf, die nur ange­lehnt war. Hin­ter ihr stand ein junger Mann, der wohl ein Diener war. Er stand unbe­weglich und sah Woi mit großen, ängstli­che­n Augen.
Der Diener besaß eine genaue Ähn­lich­keit mit Asari. Viel­leicht, dass er ein wenig jün­ger war, aber er besaß Asaris dur­schei­nende Haut und die Zier­lich­keit seiner Glieder.
"Er hat Angst vor uns", stellte Woi fest und sah zu­frie­den an seiner staubigen Erscheinung herunter.
"Wir sind gute Menschen, die dir nichts antun wollen", sagte er beruhigend. Eigent­lich war er nun froh, dass die Drachenzähne nicht mitge­kommen waren. Er konnte sich vor­stellen, wie Schädel krat­zig gelacht hätte, als bitte er, diesem Woi, dem Täu­scher, kein Wort zu glauben.
Jetzt verbeugte sich der Diener so langsam vor ihnen, wie Woi es noch bei keinem gesehen hatte. Dann fiel ihm ein, dass auch Asari seine Bewe­gungen so langsam machte, als müsse er in den Blicken der anderen einen Widerstand überwinden.
"Wir wollen nur wis­sen, ob jemand da ist?" Weil er nicht hochkam, klopfte ihm Woi auf die Schulter.
Als er ihn berührt hatte, erschreckte sich der Diener. Ihm fuhr eine Blässe über das Ge­sicht. Er stand starrend wie ein todesängstliches Tier und rannte plötzlich los, riss die gros­se Tür auf und war ver­schwun­den.
"Fass ihn nicht an", sagte Asari. "Das mag er nicht von Fremden."
Es war also niemand da, der sie ankündigen konn­ten. So trat Woi durch die Tür, die ihnen offen­stand.
"Ist da jemand?", rief Woi. "He da! Hallo!"
Die Decke des Raumes hing tief und war durch zwei schwe­re Balken in Viertel geteilt. Unter dem Kreuz der Balken war ein großer, run­der Tisch mit schwe­ren Stühlen, die keine Leh­nen hatten. Darauf stand ein leeres Glas. Dane­ben lag ein Handschuh, von schwerer Machart, mit fei­nen, eisenbe­schlagenen Rippen, wie ihn ein Schwertführer trägt. Hinten waren zwei Fen­ster, deren Licht taub und blind im Raum lag.
"Kennst du es wieder?", fragte Woi, weil er sich nicht mehr sicher war, ob sie im richtigen Hof waren.
"Das Glas ist leer", stellte Asari fest. "Sonst ist es wie in meiner Er­innerung. Sie haben gewusst, dass ich kom­me."
Durch eine seitliche Tür war der Diener leise wieder ein­getreten und betrachtete Asari an­ge­strengt.
"Er sieht dir ähnlich", flüsterte Woi.
"Das ist seine Aufgabe", sagte Asari streng. "Ich befahl es ihm, als ich Treufuß verließ. Dazu taugt er, zu sonst nichts."
"Ich möchte nicht wissen, wie du über mich redest, wenn ich nicht dabei bin", flüsterte Woi von der Seite und hät­te es doch gerne gewusst.
"Es gibt nichts zu sagen", antwortete Asari nach einem Schweigen, das er mit Nachdenken über Woi gefüllt hatte.
"Immerhin habe ich dich befreit!", Woi zeigte sich unge­halten. "Das wäre doch, was du sagen könntest."
"Az hat mich befreit", beschied ihn Asari ernst. "Er hat gesagt, dass jemand kommen wird. Das war lange bevor ihr aufgebro­chen seid."
Woi versuchte zu lachen, aber er fand nicht, dass es wie ein richtes Lachen klang. Also tat er einfach so, als ge­höre es zu den vergessenen Gegen­ständen des Raumes.
"Es war jedenfalls meine IDEE", sagte Woi er schließ­lich trotzig.
"Damit du nichts falsches denkst, es war SEINE Idee", sagte Asari freundlich. Der Diener nickte zustimmend.
"Da kannst du reden wie du willst: Es bleibt MEINE Idee!", sagte Woi laut und sah die beiden und den Hand­schuh auf dem Tisch ärgerlich an.
"Siehst du den Diener und mich - wie ähnlich wir uns sind?"
Woi knurrte, dass er es auch mit ihnen aufnehmen würde, wenn sie noch einer mehr wären.
"Ich habe Az erzählt, dass ich meinem Diener befohlen habe, mein Äußeres anzunehmen. Alles bleibt MIR in Erinne­rung, wenn auch ICH in Erinnerung bleibe. Sieh mich und meinen Diener an. Wie soll einer uns auseinander halten. Die Idee für die Befreiung - sie stammt von uns!"
"Die Schlingelkappe - das wenigstens war meine Idee!", sagte Woi wütend.
Asari und sein Diener lächelten fein und rätselhaft.

Chapter 118. Asari entfernt sich

"Einen Moment noch, ich bin gleich soweit", rief eine Stimme, die aus einem breiten Schrank kam, von der Wand gegen­über den Fenstern.
"Das ist Treufuß, ich kenne seine Stimme wieder", rief auch Woi und war froh, dass er nicht mehr mit Asari und dessen Diener allein sein musste. Wenn er sich recht erin­ner­te, dann hatten sich Medith und Treufuß sehr gut ver­stan­den und waren Freunde geworden.
Aus dem Schrank trat Treufuss im vollen Brustpan­zer. Für be­son­dere Tapferkeit war auf diesen das Ge­sicht des Kai­sers geprägt worden. Es lief etwas in die Breite, als habe der Kaiser zu gut gegessen und ein wenig reich­lich getrun­ken.
Das Gesicht von Treufuß war wie das seines Kaisers auch in die Breite gegangen. Woi erinnerte sich, dass Medith über Treu­fuß gesagt hatte, dieser sei ein General im Kämpfen ebenso wie im Trinken. Das Letztgesagte hatte Woi damals nicht verstanden, aber wie früher wurde ihm warm, wenn er Treu­fuss ansah. Der General war etwas zittrig im Ste­hen, aber er besaß immer noch die Erscheinung, die ein Junge nicht ver­gessen konn­te.
Treufuß blin­zelte, als er Asari er­kannte.
"Ich möchte nicht, dass ihr mich anschaut", befahl ihm Asari, tief in die Freude des alten Mannes schnei­dend. "Schaut ihn an, nicht mich!" Er zeigte auf den Die­ner, der vor ihn trat.
"Ja, ich vergaß", murmelte Treufuß unter­würfig, "verzeiht mir, ich vergaß ... es ist so lange her."
"Wir haben einen Gast?", fragte Treufuß den Diener.
"Ich kenne euch", sagte Woi, trat freundlich auf Treufuß zu und nannte seinen Namen. "Vielleicht er­in­nert ihr euch. Ihr wart am Hof meines Vaters, des Für­sten Alta. Wisst ihr noch, da war ein Soldat, ein Oberer mit Namen Medith. Er war eine Art Vater für mich ..."
"Jaa, daran ...", sagte Treufuß und schüttelte erfreut mit beiden Händen den Arm von Woi aus, "daran er­inne­re ich mich, sehr genau erinnere ich mich."
"Und ich erkenne dich wieder", sagte Treufuß und blin­zelte erneut. "Auch erinnere ich mich an den Soldaten. Es war ein umgäng­licher Mensch, und wir haben das eine oder andere Glas ge­leert. Ja, daran erinnere ich mich und sehe er­staunt, was aus dir geworden ist."
Hatte er sich also nicht getäuscht in dem Jungen und schon damals zu diesem Medith, als sie unter sich waren, gesagt, dass der Junge des Für­sten ein Bur­sche sei, in dem ein guter Soldat stecke, ein rechter Kämpfer mit ei­nem guten und furchtlosen Herzen. Wie an­ders war ihm Asari neben diesem Jungen er­schienen! Dabei hatte Treufuß frü­her schon gesehen, wie wenig an seinem Asari mit den anderen gleich war.
Auch Woi erinnerte sich und dachte, dass Medith am näch­sten Morgen immer sehr blass aussah und ein­mal sagte hatte, dass er sich vorkomme wie nach einer richtigen schrecklichen Schlacht. Das wolle er nicht erklären, weil der Junge noch zu klein sei. Deshalb hatte Woi lange darüber nach­gedacht, weil er selbst darauf kommen woll­te, in wel­cher Schlacht Medith gewesen war.
"Ich freue mich", sagte Treufuß und streichelte das Ge­sicht des Kaisers auf seinem Brustpanzer. "Einen Be­such bekom­men wir sel­ten."
Asari stand auf und ging. Woi dachte, dass er wohl aus­treten musste und niemand ihn begleiten brauch­te. Wie in al­lem, bewegte sich Asari langsam, aber völlig geräusch­los.
Sie saßen und sie schwiegen. Es war still und schön, zu sitzen und nichts sagen zu müssen. Das Licht aus den Fenstern lag schwer auf dem Tisch und schlief fest. Woi dachte, dass er Treu­fuß mochte, weil dieser ihn an Medith erin­nerte. Wenn er sich einen Vater hätte aus­su­chen dür­fen, dann wäre Treu­fuß nach Medith der Mann gewesen, bei dem es ihm gefal­len hät­te.
"Soso ... ja ... jaja", sagte Treufuss. Dann schwiegen sie wie­der lange. Jeder dachte etwas anderes, aber es war, als würde sie beide dasselbe denken. So war es eben, wenn man bei Treufuß war.
Treufuß winkte dem Diener, der sich da­rauf Schritt für Schritt näherte. Wie ein klei­ner Hund, den man erschreckt hatte, der die Zutraulichkeit erst wie­der lernen musste.
"Nun komm schon", rief ihn Treufuss, "das ist ein Freund. Willst' dich nicht setzen ... Nein, du stehst halt lie­ber."
"Darf ich etwas bringen?", fragte der Diener mit leiser Stimme. Der kleine Hund hatte begonnen, an dem Fremden zu schnuppern. Sein Blick traute sich vorsichtig heran.
"Wenn du willst", sagte Treufuß, "bring den Wein und ein paar Gläser."
Dann dachten sie wieder nach. Sie dachten an viele Din­ge. Sie dachten an den Wein. Woi dachte an ihn, weil er von der langen Reise durstig war. Treufuß dachte an ihn, weil er eben alt war und weil er früher einmal jung ge­we­sen war.
"Ich war immer ein General, und der Junge hatte keine Mutter", er zeigte auf den Diener, der mit dem Wein her­einkam, "da ist er so ge­wor­den."
Der Diener brachte einen Humpen aus Holz, in dem sie den Wein schwappen hörten, und drei Feldbecher. Er lächelte wie­der und blieb ein wenig, um ihnen zuzusehen.
Als sie den Wein vor sich stehen hatten, zog Treufuß den Handschuh über die Hand, hob den Becher damit und prostete Woi zu. Den Wein von Asari stellte er an den leeren Platz. Sie hoben den Becher vor das Ge­sicht und schluckte die Müdig­keit und die Trau­rig­keit herun­ter.
"Wie geht es dem Kaiser?", fragte Treufuß und und freute sich, dass er über die alten Zeiten würde sprechen können. Woi war mit einem Mal verlegen. Er stellte erschreckt fest, dass Treufuß nichts wusste und Woi der er­ste war, der es ihm sagen musste!
"Trinken wir erst mal", sagte er.
Sie tranken ei­nen winzigen ersten Schluck, weil es ein guter Wein und eine schöne Stunde war, danach einen gro­ßen Schluck für den Durst.
"Der Kaiser, er ist gestorben ... noch nicht lange ist es her", sagte Woi und sah schuld­bewusst in seinen Be­cher. Wie an­ders hät­te er es sa­gen sollen? Es war so, wie er gesagt hatte, auch wenn der Tote ein Kaiser war. Es wurde nicht besser dadurch, dass er es anders sagte.
Für einen Augenblick mach­te Treufuß das Ge­sicht eines kleinen Jungen, dem ein größerer etwas sehr Wertvol­les abgenommen hatte. Dann war sein Ge­sicht wieder das alte. Er sah Woi fest und trau­rig in die Au­gen. Es wa­r ein har­ter Junge, dieser Fürstensohn, und ein General, und schon gar ein alter, durfte keine Schwä­che zeigen, wenn er sich be­obach­ten ließ.
"Der alte Kaiser ...", sagte Treufuß, "ja nun ... alt bin ich auch ... nun ist er tot."
Er nahm den Becher auf, ohne zu achten, dass er allein trank. Weit, weit weg war alles. Das Ferne lag begraben und kam im­mer näher. Er gab nicht mehr acht, dass er ein Gene­ral war. Die Hand, die nicht im Handschuh steckte, fasste lang­sam an die Au­gen. Auch ein General, und schon gar ein al­ter, hat­te ein Recht dar­auf, einen Freund zu beweinen.
Als es vorbei war, stand er langsam auf. "Komm, mein Jun­ge", sagte er zu seinem Diener. Dann umarmte er ihn und drückte ihn lange gegen das Gesicht des Kai­sers auf seinem Brust­pan­zer. Der Diener ertrug den Schmerz tapfer. Woi wäre nicht gerne an seiner Stelle gewe­sen.
Sie machten ihre Gläser wieder voll und tranken sie leer. Treufuß erzählte vom Kaiser, und Woi war froh, dass der General es so gut aufgenommen hatte. Sie tranken etwas mehr als ihnen gut war, weil die Trauer des Gene­rals um seinen Kai­ser ihnen immer kräftig die Gläser nach­füll­te.
Auch der Kaiser war ein großer Zecher gewesen, davon wuss­te Treufuß zu sagen. Oft waren sie an diesem selben Tisch zusammengesessen, der damals noch am Hofe stand. Für ihre Verdienste seien der General und der Tisch ge­wis­sermaßen gleichzeitig auf ihr Altenteil verabschiedet worden.
Nicht lang, und ein anderer, stiller Gast, die Mü­dig­keit, saß zwi­schen dem Alten und Woi. Sie legte die Arme auf den Tisch und darauf den Kopf. Woi sah ihr zu und hät­ten es ihr gern gleichge­tan. Sie ließ sich in ei­nen sanft schnau­benden Foh­len­schlaf fallen, und mach­te ihm die Augen schwer und schwerer.

Chapter 119. Asari spricht zum Mond

Mit einem Mal schreckte Woi hoch. Ein Gepolter und Kampf­getöse, das nicht aus den Geschichten stammte, die Treufuß überall auf dem Tisch ausgebreitet hatte, bahnte sich den Weg und sprang ihm in den Nacken.
"Seid ihr noch hier?", schrie Tatze und schüt­telte ihn. "Die Soldaten kommen! Los, macht schon auf!"
Treufuß sprang hoch und schubste Woi mit Taze vorwärts, stieß ihn durch die Tür, tauchten ihn mit dem Kopf in die kalte Nacht, bis er wieder nüch­tern war.
"Wo ist er?", schrie Tatze ihm in das eine Ohr.
"Wer ist wer?", brüllte Treufuß in das andere.
"Ich weiß es nicht", antwortete Woi benommen. "Er ist aufgestanden und nicht wiedergekommen."
"Wir müssen ihn finden!", rief Tatze. "Ist er im Haus?"
"Nein", antwortete der Diener leise, "da ist er nicht."
"Achdumeingott, die Soldaten kommen ihn holen", rief Treufuß, "und keiner weiß, wo er ist!"
Einer nach dem anderen kamen die Drachenzähne angeritten und sprangen von den Pferden.
"Sie wissen nicht, wo er ist!", schrie Tatze ihnen zu. "Sie wissen es nicht!"
"Er kann doch nicht verschwunden sein", sagte der Zwerg, der in Wois Atem den Wein gerochen hatte. "Das gibt es doch nicht."
"Wenn WIR ihn nicht finden, dann finden SIE ihn!" Weil Schä­del die Pferde hielt, war nur seine Stimme zu hören.
"Er ist dort", sagte der Diener und zeigte auf das Dach.
Alle blickten hinauf. Erst sahen sie nichts als einen vollen Mond, der auf dem First balancierte. Dann entdeck­ten sie Asari, der sich an den Kamin lehnte, und leise mit dem weißen Ball sprach. So wie er saß, schien er den Ball auf der Fußspitze zu balancieren.
"Hallo", rief Woi. "Komm herunter, Asari! Es ist etwas passiert."
"Wenn er mit dem Mond spricht, kann er nichts hören", sagte der Diener leise.
"Was machen wir?", flüsterte Tatze.
"Was ist denn los?", fragte Schädel, der wegen der Pfer­deköpfe nichts gesehen hatte.
"Wir warten", meldete sich Treufuß. "Er hat das auch früher gemacht. Wenn der Mond weiterwandert, kommt er wie­der runtergeklettert."
"Wir können nicht warten", sagte der Zwerg und schüttel­te den Kopf über soviel Dummheit.
"Wegen der Soldaten", erklärte Tatze, weil er den Gene­ral nett fand.
"Was ist denn mit dem Fürstensohn?", fragte die Stimme von Schädel. "Der ist doch sonst so schlau."
"Der Fürstensohn hat getrunken", antwortete ihm der Zwerg.
"Und wenn - was geht das einen an?", sagte Woi mit tau­ber Zunge.
"Deinen Asari da geht das an, wenn uns nichts ein­fällt", entgeg­nete ihm der Zwerg streng. "Wenn WIR ihn sehen, dann se­hen ihn die Soldaten auch!"
"Wir haben ihn aber nicht gesehen", so Woi. "ER, der Diener, hat ihn uns gezeigt, weil er gewusst hat, dass er solche Dinge macht."
"Ja, ja, der Wein", sagten die Pferde und machten ein Geräusch, als würden sie aus einem Trog schlürfen.
"Wenn sie ihn suchen, dann finden sie ihn auch!" Der Zwerg sah keine Hoffnung.
"Sie wissen nicht, wie er aussieht." Wois Zunge sprach immer noch im Akzent des Weines. "Sie suchen einen, von dem sie nicht wissen, wie er aussieht."
"Ja", sagte Tatze, "das ist eine gute Idee!"
"Dann nehmen wir den Diener! Sie sehen sich zum Verwech­seln ähnlich!", schlug Treufuß vor, der nichts verstanden hatte.
"Ich möchte nicht fort", sagte der Diener sehr leise.
"Sie wissen NICHT - hört doch zu! - wie er aussieht. Dann nehmen wir also irgen­dei­nen anderen!", ließ sich schwan­kend Woi verneh­men.
"Das könnte gehen", sagte Tatze, bevor er darüber nach­ge­dacht hatte, ob es wirklich gehen könnte. Er glaubte ein­fach, dass Woi IMMER etwas Kluges sagte.
"Ich finde, der Diener sieht ihm am ähnlichsten", sagte Treufuß und verschränkte die Arme über den Augen seines Brustpanzerkaisers.
Woi fasste sich an den Kopf und stöhnte.
"Es ist eine gute Idee", sagte Tatze wieder.
"Aber wer?", fragte Woi.
"ER!", sagte der Zwerg und zeig­te auf den Narbigen.
"Nun ja, er sieht nicht gerade wie ein Kaiser aus". Eigentlich meinte Treufuß, dass er eher wie ein Verbrecher aus­sah.
"Ist egal", sagte der Zwerg. "Hauptsache, er kann sich befreien!"
"Ich befreie mich IMMER!", sagte der Narbige.
"Ja, gut", sagte Treufuß, "das ist natürlich ein Vor­teil. Wenn er schon nicht so aussieht wie Asari, dann muss er sich wenigstens befreien können, hmm."
Die Pferde lachten spöttisch über den Drehschwenk des alten Mannes.
"Und was wird aus IHM?", fragte der Diener leise und zeigte auf Asari und den Mond.
"Wir verstecken uns solange, bis er runterkommt", schlu­gen die Pferde vor.
"Nein", sagte Woi, "wir verkleiden uns als Wachsoldaten und las­sen sie erst mal nicht rein, damit sie Verdacht schöpfen."
"Ich habe Sachen", Treufuß zeigte sich begeistert, dass er helfen konnte. "Es waren hier nämlich mal Wachsoldaten. Das ist aber lange her!"
"Hätten wir nicht gedacht!", verwunderten sich die Pfer­de.
"Ja, ööh, und auch Sachen für ihn", sagte Treufuß und zeigte auf den Narbigen, obwohl er im Stillen fand, dass es sehr dumme Sol­daten sein mussten, wenn sie IHN für den Sohn des Kai­sers hiel­ten. Aber konnte man Dumm­heit oder etwas anderes bei den Soldaten ausschlie­ßen?
"Dann los", sagte der Zwerg, "wir haben überhaupt keine Zeit mehr.
"Ja, schnell muss es gehen!" Treufuß klopfte seinem Kai­ser zum Zeichen des Abmarsches blechern auf die Stirn.

Chapter 120. Oberster und Treufuß

Der Oberste kannte seine Männer. Keiner von ihnen glaub­te daran, dass sie erfolgreich sein würden. Er ritt vor­neweg und wusste doch, dass die Soldaten mutlos gewor­den waren.
Dies war der Grund, warum er sie in der Nacht reiten ließ. Es strengte sie an und machte sie müde. Da blieb jeder für sich. Sie tauschten nur Blicke und führten ohne Worte ihre Ge­spräche, als seien sie Pferde, die ihre Witte­rung teilten. Ein Nachtritt war einem Tages­ritt vor­zuzie­hen.
Außerdem ritt auch er lieber in der Nacht, beson­ders in einer sol­chen. Wie ein schwarzer Teppich rollte sich der Weg vor ihnen aus. Ein voller Mond machte dem Inne­ren eine gute Stim­mung. So konnte er lange Gesprä­che mit sich selbst führen konn­te.
"Was hat der General gesagt?", fragte sich der Oberste laut. "Es könne sein, dass der Kaisersohn zu Treufuß ge­ritten sei, weil er den von früher kenne. Das hat er ge­sagt, und schließ­lich ist er ein General."
Dabei musste er zugeben, dass der General Siegling auf den ge­meinen Sol­daten eine gewis­se Wirkung hatte, die ih­nen im Äußeren einen stumpfen Blick und im Inneren eine kitze­lige Heiter­keit verursachte.
"Hätte ich den General verhaf­ten müssen?", fragte sich der Oberste. "Schließlich ist ihm der Gefangene abhan­den gekom­men. Wie kann ein Gefan­gener aus einem Kerker ab­handen kommen?" Das konnte sich der General nicht er­klä­ren.
Die Kai­serin aber hatte dem Obersten nur aufgetra­gen, den ge­fange­nen Sohn des Kaisers zu bringen. Sie hatte nicht ge­sagt, was bei seiner vorherigen Befreiung zu tun sei. Hätte er den General verhaf­ten und mitnehmen sollen? Der Oberste wusste es nicht, und des­halb war es besser, dass er ihn nicht ver­haf­tet hatte. Aber wenn die Kaiserin nun gera­de daran An­stoß nehmen würde ...?
"Sie ist selber Schuld, wenn sie nichts sagt", rief der Oberste laut und war froh, dass seine Männer ihn nicht verstanden hatten. Sie hörten seinen Ge­sprächen nicht zu, hatten sich daran gewöhnt, dass er vorausritt und alle Dinge mit sich selbst be­sprach. Vertrauten eben, dass sein Denken so gründ­li­cher war. Und gehorchten seinen Befehlen, weil sie wuss­ten, dass er lange dar­über mit sich beraten hatte. So mochten sie denken: Wenn ei­ner für zehn dachte, dann reichte es denen, die zehn waren ... je­den­falls denje­nigen, die nicht zu völlige Stumpf­heit ver­fal­len wa­ren.
Er hielt an und wartete, bis der Hauptmann zu ihm aufge­schlossen hatten.
"Meine, dass es zu sehen ist", sagte er.
"Jawoll", brüllte der Hauptmann, als sei das ein Befehl ge­we­sen.
"Wollte ihre Meinung hören", sagte der Ober­ste freund­lich.
'Dieser Hauptmann ist ein Dummkopf und völlig ohne Emp­finden für die Stille der Nacht', dachte er.
"Jawoll, SIR!", rief der Hauptmann mit kräftiger Stim­me.
Dieses laute Gebrülle schien dem Obersten nicht recht passend zu der Mondnacht. Das, was im Garnisonshof gut war, hörte sich unter dem Dach der schwarzen Zweige miss­lich an. Schließlich war der Mond kein Soldat, und die Bäume standen nur still, weil sie eben Bäume waren und nicht, weil der Hauptmann brüllte.
Ihm gefiel der Gedanke. Deshalb lächelte er. Weil das Licht auf seinem Gesicht lag, sahen die Soldaten sein Emp­finden. Kurz und vergeblich suchte er in ihren schwarzen Gesich­tern nach dem Wider­hall sei­ner Stimmung.
Der Hof von Treu­fuß war von ei­ner hohen Mauer umge­ben. Es war also nicht nötig, ihn zu umzin­geln, das lei­stete vor­züglich die Mauer. Wer herauskommen woll­te, muss­te durch das Fallgitter kommen. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Wenn der Kaisersohn hier war, würde er gewiss in ihre Hände fallen.
So einen Hof stellte sich der Obere als sei­nen Alters­sitz vor. Treufuß hatte ihn recht nach dem Ge­schmack eines alten Soldaten gestaltet. Die Wachhäus­chen am Tor waren auf das beste gepflegt. Sie glänzten und streckten sich. Treufuß hatte sich wohl die schönsten aus­gesucht und auf seinen Altersitz ent­führt. Konnte er es dem Alten ver­denken? Er würde ihn fragen, ob es gestattet war, nach ihrer Herkunft zu fra­gen. Nur die Farbe konnte sich der Oberste anders vor­stellen, auch die Streifen wa­ren nicht seine Sache. Schließlich war es ein Alterssitz, und ein schlichtes, aber freundliches Grau hätte ihnen gut zu Gesicht gestanden.
"Ist da jemand?", rief der Oberste vor dem Tor. Er räus­perte sich, weil seine Stimme nach dem Anlass zu dünn ge­klungen hatte. Schließlich war er nicht hier, die Tor­häuschen zu bewun­dern, sondern hatte einen Auftrag von höchster Dring­lich­keit zu erledigen.
"Auf Befehl der Kaiserin", rief er kräftiger. "Ist dort jemand?"
"Da ist jemand", sagte es von oben herab.
"Wir begehren - äh - wir fordern Einlass", so der Ober­ste.
Ei­ner der Unteren kam und stieß mit dem stumpfen Ende sei­ner Lanze donnernd gegen das Tor.
Wieder zuckte der Oberste zusammen, aber er bedachte sich. Es war schon recht so, dass sie ein wenig Angst verbreiteten durch den Lärm. Schließlich sollte es ja nicht zu einem Kampf kom­men.
"Wir sollen keinen reinlassen", sagte der von oben. "Auf Befehl von Treufuß."
"Auch Treufuß untersteht der Kaiserin", gab der Oberste zu bedenken.
"Ich komm' dir gleich hoch, du Bürschchen", mischte sich einer der Soldaten im Rücken des Obersten ein.
Oben flüsterten sie. Dann stiegen sie die Treppe her­unter und schoben den Riegel beiseite. Einer der Wachs­oldaten war ein Zwerg, der andere hat­te eine gewalti­ge Stirn und ein eingedrück­tes Gesicht.
"Soldaten, hintereinander", rief der Oberste.
Einer lachte, weil sie nebeneinander wohl nicht durch das Tor gekommen wären. Der Oberste kümmerte sich nicht um den Frechling, sondern betrach­tete im Vor­beireiten wohl­gefäl­lig die Häus­chen. So wie sie waren, gefielen sie ihm doch besser, als wenn sie in einem schlichten, aber freundli­chen Grau gewesen wären.
Treufuß trat ihnen auf der Treppe entgegen. Er trug einen wun­der­schönen, goldenen Brustpanzer, der mit dem geschmiedeten Ant­litz des Kaisers als hoher Aus­zeichnung versehen war. In Ge­stalt von Treu­fuß stand die Treue zum Kaiser ohne Al­ter vor den Sol­daten des Obersten. Je­dem von ihnen musste es in die Glieder fah­ren.
"Da sitzt einer auf dem Dach", hörte er hinter sich sa­gen.
"Ruhe!", rief er.
"Schnauze da hinten!", brüllte der Hauptmann.
"Die Häuschen ...", begann der Oberste, unter­brach sich aber sogleich: "Den Sohn des Kaisers, den for­dern wir von ihnen heraus. Es ist der Befehl der Kaise­rin." Er senkte den Kopf und gestand zufügend: "Ich kann nicht an­ders."
"Es soll sein, aber", sagte Treufuß und hob die Hand, "hören sie meine Bedingung."
"Was redet der Messingsoldat daher?", so einer der Sol­daten.
"Schnauze!", brüllte der Hauptmann.
"Führen sie ihn nicht in Ketten ab!", bat Treufuß. "Tun sie, was sie wollen, aber nicht in Ketten! Er ist wie ein Sohn ..."
"Aber nicht doch, ich versichere ihnen, nichts derglei­chen ... was denken sie?", darauf der Oberste. "Ich ver­bür­ge mich."
"Sie sind ein Mann der Ehre, Oberster. Ihnen will ich meinen Asari anvertrauen. Sie müs­sen wissen, weil er wie ein Sohn ist, dreut mich sein Schicksal", sagte Treu­fuß wür­de­voll. Der Kaiser auf sei­ner Brust bemühte ein Lä­cheln,
"Es dreut ihn", erklärte ein Soldat dem anderen, "das iss' was mit der Blase, kommt vom Alter und vom Saufen."
"Schnauze! Ruhe! Zum letzten Mal!", brüllte der Haupt­mann seine Soldaten zusammen.
"Schscht", kam es von dem Jungen, der auf dem Dach saß. "Sie stören meinen Mond. Ich verbiete es ihnen."
Die Soldaten glotzten mit blanken Froschaugen zu ihm hoch. Der Oberste hielt seinem Hauptmannn den mit Geschrei gefüllten Mund zu und sprach den Mann auf dem Dach freund­lich an: "Ich bin ganz ihrer Meinung. Auch ich vertrage seinen Lärm nicht. Kann ihn entschuldigen, dass das Rum­brüllen sei­ne Natur ist?"
Aber der Junge auf dem Dach gab keine Antwort. Er hatte sich im Gespräch wieder dem dem Mond zugewandt, der sich auf seinen Knien niedergelassen hatte, als mache er eine Rast bei ihm.
"Eeh ... können wir dann?", fragte der Wachsoldat, der ein Zwerg war.
"Ja, natürlich", fuhr es schreckend aus Treufuß auf. "Wir wollen sie nicht länger warten lassen!"
Kurze Zeit später führten sie den Kaisersohn die Treppe hinunter. Sein Gewand war prächtig, glänzte und schimmerte im Mondlicht. Er war von sehniger Gestalt und stand furchtlos in der Tür, sein Gesicht im Schatten.
"Keine Ketten", befahl der Oberste. "Wir gaben unser Wort!"
Der Kaiser der Tränen ging langsam die Treppe hinunter, gefolgt vom besorgten Treufuß und demutvoll von einem Die­ner.
"Hat der aber Narben!", stellte einer der Soldaten er­staunt fest.
"Halt die Klappe", fuhr ihn der Hauptmann an, "sonst mach ich dir auch welche!"
Der Kaiser ging, als sei er nicht gut bei Fuße. Irgend­etwas an ihm stimmte nicht. Krank sah er eigentlich nicht aus, aber er bewegte sich, als bereite ihm das Gehen Schwierig­keit.
"Kann er denn reiten?", wollte der Hauptmann wissen.
Der Kaiser der Tränen wackelte stierblickend mit dem Kopf.
"Reiten kann er", sagte Treufuß für ihn, "aber nicht schnell. Jeder muss wegbleiben, damit er es mag."
Die Soldaten machten ein paar Schritte zurück. Dann kam der Kaiser der Tränen ihnen weiter auf der Treppe entge­gen.
"Es ist sehr freundlich von der Kaiserin, dass sie ihn wie­der zu sich nimmt", sagte Treufuss.
Der Oberste nickte vage.
Als einer der Sol­daten ihm helfen wollte, rief ihn sein Unterer zurück: "Lass sie nur ma­chen. Die wis­sen besser als wir mit so einem umzugehen!"
Schritt für Schritt, sich quälend langsam, kam der Kai­sersohn die Treppe hin­unter, bis sein Gesicht vom Mond­licht wächsern beschienen war.
"Der sieht aus wie ein Streuselkuchen", flüsterte es im Rücken des Obersten. Er wandte sich zornig um und suchte den Mund, der so gesprochen hatte. Aber wahr blieb es trotz­dem, das musste auch der Oberste unausge­sprochen zugeben. Das Gesicht des Kaiser­sohnes war von Narben in Gänze ver­kratert.
"Denken sie an sein Schicksal!", rief Treufuß. "Die Schrecken, die ich nicht beschreiben will. Die Leiden, die ihn zu dem diesem ... werden ließen. Könnten sie nur seine INNE­REN Nar­ben sehen könnten!"
"Gebt ihm ein Pferd!", rief der Oberste, als könne er damit an dem Kaisersohn alles wiedergutmachen.
"Er hat ein Pferd", sagte Treufuß gütig. "Dort hinten steht es. Es ist seine treue - eeh - Fulminante. Wenn ihr es ihm ge­statten wollt ..."
"Natürlich", sagte der Oberst, "geleitet ihn zu seiner Fulnantine."
Zwei Soldaten nahmen den Kaisersohn in die Mitte und führten ihn zu dem Pferd, das ihn wiehernd begrüßte. Es war ein Gaul ebenso sehnig wie sein Besitzer, wie man sie sonst bei hohen Herren nicht sah. Aber ehe sie sich dem Misstrauen übergeben hatten, fiel den Soldaten das schreck­liche Schicksal dieses Mannes vor jeder weiteren Frage ein.
"Ist es gestattet zu fragen, wo sie die Wachhäuschen herha­ben?", sprach der Oberste den alten Treufuß an.
"Es ist eine längere Geschichte, wir wollen für den Weg aufbewahren", schlug Treu­fuß vor.
"Für dem Weg?" Der Oberste glotzte wie ein Sol­daten­frosch.
"Ich werden ihn selbstverständlich be­gleiten", sagte Treufuß, als müsse er sich empören über die Vorstellung, dass es anders sein könne.
"Ja, wenn sie meinen ...", wunderte sich der Oberste dünn­stimmig.
"Tun sie ihre Pflicht", forderte Treufuß ihn teilnehmend auf, "wie wir alle unsere Pflicht tun. Seien die Schul­tern auch alt und gebeugt, so sitzt der Wille doch wie ein Jun­ger zu Pferde."
"Ja, die Pflicht ... sie will getan sein", sagte der Ober­ste zu ihm und zu sich. "Vor allen Din­gen kommt dem Soldaten seine Pflicht."
Er sah sich Rat su­chend nach seinem Hauptmann um, doch dieser hatte nicht ver­gessen kön­nen, dass der Oberste ihm den Mund zugehalten hatte, und war zu kei­nem Wort zu bewe­gen.
"Gut, ja, also gut ...", murmelte der Oberst und schloss sich mit seinen Soldaten dem bereits vorausreitenden Treufuß an.

Chapter 121. Asari und der Fischer

Als der Mond die Rast auf seinem Schoß beendet und sich weiter auf seinen Weg gemacht hatte, war Asari vom Dach ge­stie­gen und hatte sich bereit erklärt, sein Pferd wieder zu bestei­gen und den Ritt fortzusetzen.
"Mir tut es vom Reiten da hinten weh", sagte Asari und legte den Kopf schief.
"Es ist eben eine richtige Flucht", sagte Schädel und grinste.
"Dann gehört es wohl dazu", meinte Asari halbherzig zu sich und nahm es als Beleg dafür, dass Wo­i, die Drachen­zähne und ihre Flucht nicht nur in seiner Ein­bil­dung wa­ren.
Sie ritten langsam, um Asari zu schonen. Der Nachmittag war­tete bereits, als sie beim Treffpunkt ankamen, den der Zwerg mit dem Narbi­gen für seine Rückkehr verein­bart hatte. Es war ein Wie­senstück, über dem die Baum­kronen eine plötzli­che Lücke gelassen hatte.
"Das hier meint er", sagte der Zwerg. "Ist eine Art Marktplatz am Fluss. Wird manchmal von Schmugglern be­nutzt."
Damit lag der Rest des Tages faul vor ihnen. Von dem Platz aus sahen sie den fadig sich um­hertreibenden Rauch eines klei­nen Dor­fes, das un­sichtbar blieb. Die schräg ste­hende Sonne verfing sich irgendwo im hohen Baumwerk und machte ab und zu einen Angriff mit Lichtpfeilen, die wir­kungslos an dickwandigen Schatten abprallten.
Tatze nahm den Schlaf, wie er kam. Heute stand er in einem großen Topf vor ihm. Auf was sollte er noch war­ten? Wer konnte wissen, was die Rei­se für ihn bereithielt. Mal bekam er nicht mehr als ein paar kalte Löffel, dann wie­der galt es, sich die dampfenden Teller zu füllen.
Der Mantel, den sich Woi über den Kopf gelegt hatte, kit­zelte seine Nase. Er legte ihn unter seinen Kopf, aber der Nasenkitzel blieb. Also legte er ihn wieder über das Gesicht. Der Schlaf nahm sich Zeit.
Der Zwerg schlief im Sitzen und sackte langsam zur Seite um, während Schädel sich nicht zwischen Ingrimm und Müdig­keit entscheiden konnte.
Asari versuchte erst gar nicht zu schla­fen. Er wusste, dass er es nicht fertigbringen würde und wartete, dass er sich ungehört entfernen konnte.
Ein Schmetterling hatte sich auf dem Mantel von Woi nie­derge­lassen. Erst flog er einige Male auf, dann blieb er sitzen und klappte die Flü­gel stolz auf und zu, sehr zu­frieden damit, dass er einen Bewunde­rer in Asari gefunden hat­te.
Nachdem Woi sich einige Male gewälzt hat­te, lag auch er ruhig und at­mete densel­ben Rythmus wie der Nar­bige. Ob sie denselben Traum hatten?
Die Sonne ver­schwen­dete nun keine Pfeile mehr, son­dern gönnte dem Schlaf sei­nen klei­nen Sieg.
"Es kann sein, dass ich zum einzigen Mal hier bin', dachte Asari, 'da will ich mir alles ansehen und nicht schlafen wie die anderen.' Als sein Bewunderer sich erhob, flog auch der Schmetterling eilig auf.
Hinter den Büschen hatte Asari zwei große Bäume gesehen, die einen kleinen Uferstreifen des Flusses einrahmten. Sie waren wie die Pfeiler eines verlassenen Thrones. Dort wollte er sich hinsetzen und mit dem Fluss ein Ge­spräch führen.
Leise schlich er sich zwischen den Schlafenden hindurch. Nur die Pferde schnaubten, als er auf einen zerknackenden Zweig trat. Sobald er den Lagerplatz verlassen hatte, war der Boden sandig. Er zog sich die Stiefel aus, stell­te sie für ein Wegzeichen ab und ging auf nackten Füssen zu sei­nem Thron.
Der Fluss war erhaben und selbstvergessen. Die Zeit der Men­schen trieb an sei­nem Ufer und war nicht mehr als eine gelegentliche Be­rührung wert.
"Weißt du, wer ich bin?", fragte er den Fluss. Weil er von einem Fluss keine Antwort erwarten durfte, gab er sie selbst: "Ich bin der Kaiser der Tränen. So jedenfalls nennt mich Treufuß."
Auf der Mitte des Flusses trieb ein kleines Boot. Obwohl niemand darin war, machte es im Vorbeifahren eine Kehrt­wendung, als schaue es zum Ufer, wo Asari saß.
"Was ist der Name von einem wirklichen Kai­ser?", fragte er den Fluss und tat so, als wisse er das nicht.
"Du hast recht", fuhr er für den anderen fort, "sie nennen ihn nach dir, den Kaiser des Blauen Dra­chen. Auch das hat mir Treufuß gesagt. Er ist Soldat und denkt sich keine Namen aus."
Aus dem Schilf wehte ein Flüstern zu ihm herüber, und wach­same Vogelstimmen meldeten einen Neuankömmling. Es klang, als werfe jemand Steine gegen einen Baum.
"Sie sagen, ich sei auf der Flucht. Nicht wahr, darüber müssen wir lachen! Können wir fliehen? Nein, wer fließt, der kann nicht fliehen. Also sind sie dumm, und ich höre nicht, was sie sagen."
Nicht weit von Asari bewegte sich das Schilf, als würde dort ein großer Vogel im Wasser umhergehen und versuchen, sich plat­schend aus der Enge zu befreien.
"Hee", rief eine Stimme aus dem Schilf, "was redest du da und mit wem?"
"Ich rede mit dem Blauen Drachen", sagte Asari und sah zu der Stelle, wo sich nun statt des hilflosen Vogels ein Boot zeigte, mit einem Fischer darin und zwei Rudern, die gegen das Schilf schlugen.
"Was? Du redest mit dem Wasser? Was redest du denn?"
"Wir haben viel Gemeinsames. Da werden wir doch ein paar Wor­te wechseln dürfen", erklärte Asari.
"Bist du von hier? Ich kenne dich gar nicht", sagte der alte Mann.
"Dort hinten, wo der alte Treufuß wohnt, da war ich zu Hause, aber das ist lange her."
Der Alte schüttelte den Kopf. "Ein junger Bursche bist du und hast beim Treufuß gewohnt. Dachte immer, der hätte kei­ne Frau und keine Kinder."
"Er hat auf mich aufgepasst, aber mein Vater ist ein ande­rer."
"Etwa der Fluss da? ... Mit dem du sprichst?" Der Fi­scher zeigte hinaus auf den Fluss. Er musste seinen Spott nicht zeigen, machte sein Gesicht immer ernst, wenn es lustig wurde, und war stolz darauf.
"Du hast nicht unrecht damit. Jedenfalls hat mein Vater von ihm seinen Namen."
Der Fischer fand Spaß an den wir­ren Reden. Das war immer noch besser, als vergeblich auf Fische zu warten. Es gab halt solche Tage.
"Ich kenne nur einen, der vom Fluss seinen Namen hat", sagte er mit einem traurigen Gesicht, "und das ist der Kaiser. Da weiß ich nun gleich, wer euer Vater ist."
'Wenn ich nur lange genug mit dem bunten Köder vor sei­ner Nase spiele, dann wird er danach schnappen', dachte der Alte bei sich.
"Ihr glaubt mir nicht", stellte Asari fest. "Wer will euch das verdenken ..."
Der Alte verscheuchte diesen Gedanke wie eine Stechmük­ke: "Was ich hör', dass glaub' ich. Ich wüsst' nur zu gerne, wie die Sache mit eurem Vater ist ... ihr versteht wohl recht, ein armer Fi­scher, wie ich es bin, hat sonder­lich ein Auge auf die großen Din­ge."
"Mein Vater ist tot, habe ich gehört. Ich komm' also, um zu suchen, was für mich übrig ist", erklärte Asari bereit­willig.
Der Alte rollte seine Angel ein. Da hat doch dieser selt­same Uferfisch wirklich angebissen!
"Habt ihr denn gelernt, ein Kaiser zu sein?", fragte er, als sorge er sich. Sollte der junge Mann nur erzählen! Er, der Fischer, hatte genug Fische in sei­nem Leben gefangen. Da war nun Zeit für einen rechten Spaß.
"Hat der Fluss gelernt, ein Fluss zu sein, frage ich euch."
"Hört, alles kann man lernen. Ich bin ein Fi­scher. Das lernte ich von meinem Vater, und wenn es einen Sohn von mir gäb', dann säß' er hier im Boot."
"Fischer kann man lernen, da habt ihr recht, aber Fisch zu sein an einer Angel - kann man das lernen?"
Jetzt kicherte es in dem Alten, dass sein Boot kleine Wellen schlug. "Ihr seid mir einer ... ein wirklich Lusti­ger! Das ist ein Gehopse in eurem Knaben­kopf!" Sein Boot zitterte vor Lachen, während der Alte sich den Ernst wie eine Maske vor das Gesicht hielt.
"Sei ihr wegen der Sitte gekommen?", fragte er mit einer verdunkelten ­Stim­me, die er wie einen Riegel vor das Ki­chern schob.
"Ich kenne keine Sitte, wegen der ich gekom­men sein könnte", gestand Asari.
"Aber die Sitte kennt euch", versicherte der Alte. "Be­stimmt kennt sie euch. Deshalb hat sie hier auf euch ge­wartet!"
"Wenn sie gewartet hat, dann berichtet ihr von meinem Kommen."
"Davon hörte sie bereits!" Eifrig war der Fischer aus seinem Boot gesprungen. "Ihr seid doch der Sohn des Kai­sers!? Und der alte Kaiser ist tot!? Dann seid der Kaiser nun ihr!"
"Alles wie ihr sagt", gab ihm Asari mit Würde recht.
"Dann sagt die Sitte", so der Alte und nahm die Maske vom nunmehr ernsten Gesicht, "dass wir auf einem Floss ein Feuer an­zünden und es in die Mitte des Flusses fahren sol­len, damit es forttreiben kann."
Der Alte erin­nerte sich mit einem Mal, dass er ein klei­ner Junge gewe­sen war. "So groß war ich", berich­tete er, "es war das erste Mal, dass ich bis spät in die Nacht auf­bleiben durf­te. Ich sehe es genau vor mir."
"Es ist eine schöne Sitte", sagte Asari und sah nach­denk­lich auf seine Füße. "Aber das Feuer wird an das näch­ste Ufer treiben und verlöschen."
Der Alte nickte. "So war das auch, weit dort hinten. Aber schön war es doch, wie es über das Wasser trieb. Stellt euch vor: Es war al­les so schwarz, dass ich die Mutter fragen musste, ob ich die Augen auf oder zu habe. Und dann mit einem Mal war das Feuer entzündet, und die Mutter hat mich gedrückt. Es war wirklich schön."
"Wenn es eine Sitte ist, dann habt ihr sicherlich noch ein Floß?", fragte Asari.
"Wir haben ein Floß und alles, was man braucht", er­klärte der Fischer und fand, dass der junge Mann vom Leben in einem Fischerdorf sehr wenig wusste.
"Da habt ihr also alles für eure Sitte zusammen: den neuen Kaiser und euer Floss."
Der Alte wischte sich über die Stirn. Zum Lachen war ihm nicht mehr zu Mute, seit er an seine Mutter hatte denken müssen. Trau­rig war ihm, denn die Familie hatten sie fortgeben müssen, weil kein Platz für sie im Haus gewesen war. Da war sie gestor­ben.
"Könnt ihr das Floß so mit Brennholz beladen, dass es ein Feuer gibt, wie noch nie eines war?", fragte Asari.
Der Alte zeigte, dass man ihm eine solche Frage nicht zu stellen brauchte. Er sah das Feuer vor sich und dachte, wenn der junge Mann auch kein Kaiser war, so war ein Feuer in der Mitte des Flusses für sich genommen auch schön. Und wenn es nur ein Feuer für seine Mutter war, dann war es genug.
"Am Abend, nachdem ich fort bin, sollt ihr als erste von allen den neuen Kaiser feiern!"
Der Alte nickte. Das war eine schöne Sache. Fische hatte er genug gefangen. Es würde so ein Feuer sein, wie er es als kleiner Junge gesehen hatte. Er würde all die kleinen Jungen sehen, die an der Hand ihrer Mut­ter in das Schwar­ze schauten, um auf das Feuer zu warten.
"Was stehst du und denkst? Willst du einen Lohn für deinen Dienst?"
"Nein, nein, Ich will keinen Lohn. Nur ... ihr müsst zu meinen Leu­ten sprechen. Wenn SIE glauben, dass ihr ein Kaiser seid, dann will auch ICH es glauben und euch das Floß beladen und zu Wasser lassen, so wie ihr es verlangt habt."
"In der Nacht werde ich auf dich und deine Leute dort oben warten." Asari zeigte auf die Stelle, wo er und die Dra­chenzähne ihr Lager aufgeschlagen hatten. "Ich gebe dir mein Wort darauf."
Darauf stieß der Alte sein Boot vom Ufer ab und ruderte lang­sam fort.
Nun fand die Sonne keine Freunde mehr, außer ein paar Wol­ken, die den großen Zug verschlafen hatten. Der Nebel kam aus dem Schilf hervor und trieb sich am Ufer um­her. Dort­hin, wo die nackten Zehen waren, wanderte die Kühle. Nun erst er­hob sich Asari, um zurück­zu­gehen.

Chapter 122. Die Soldaten kehren zurück

In der Nacht hatten sie dem Kaisersohn leichte Fes­seln angelegt. Am Morgen waren sie ihm abge­nom­men worden, damit er seine Übungen machen konnte.
Dafür hatte er sich etwas abseits hingestellt und selt­sa­me zittrige und schlackernde Bewe­gungen gemacht. Erst hatten sie hingese­hen, weil sie so etwas noch nie gesehen hatten. Dann hatten sie aus Mit­leid weggesehen. Als sie wieder hinsahen, war er fort.
Zuerst dachten sie, er sei gegangen, um ein Ge­schäft zu machen, wie es auch ein Kaiser machen muss. Nichts da, er war fort! Das konnte nicht sein - es war aber so! Aus­serdem fehlte sein Pferd. Das hatte er mitgenommen.
Der Oberste, als sie ihm berichteten, schrie vor Schreck laut auf. Dann hu­stete er. Als er seine Stimme wiederfand, brachte er kein Wort heraus, aber sie wussten schon, was er woll­te.
Laut rufend teil­ten sie sich die Rich­tungen und rannten zu ihren Pferden, um aufzuspringen. Zuerst begrif­fen die Soldaten nicht, was mit ihnen ge­schah. Es ver­blüffte sie wie ein Schlag, der sie alle gleicherweise traf. Die Pferde rühr­ten sich weni­ger, als es Schau­kel­pferde an ihrer Stelle getan hätten. So sehr sie ihnen die Sporen gaben, die Pferde stan­den mit ge­senk­ten Köpfen und waren fest­ge­wach­sen.
Die eine Gruppe der Soldaten hiel­t es für ein Wun­der. Einen Beweis dafür, dass der Kaisersohn über die Tiere eine Macht habe, jeden­falls über Soldatenpferde. In seinem Dorf sei einer, hatte der lange Somna gesagt, der könne auch solche Sachen mit Tie­ren. Der würde von den Leuten nicht für verrückt angese­hen, obwohl er die Fische rufe, statt eine Angel auszuwer­fen.
Nein, sagten die anderen, dass sei ein Trick. Der Kai­sersohn habe etwas mit den Gäulen gemacht, so wie Pferde­diebe es täten. Aber sie konnten den Trick nicht erklären und konnten ebensowenig erklären, woher ein Kai­ser­sohn aus­ge­rechnet von einem Pferdedieb einen Trick kannte.
Der Oberste sagte nichts. Er ließ den Kopf hän­gen und rührte sich nicht von der Stelle. Sein Blick baumelte lose wie seine Arme auf den Boden.
Der lan­ge Somna sagte, der Kaisersohn habe die Pferde und den Obe­rsten gleich mitverzaubert.
Der alte Lipp sagte, der Oberste habe vielmehr ei­nen Schreck be­kommen als wie einen Hieb auf den Kopf. Das könne einen glatt um­werfen.
Der lange Somna sagte, dass der Oberste einen löch­rigen Blick habe, sei nicht von einem Schreck. Oder sehe jemand, dass dem Obersten der Mund offen stehe. Sehe jemand, dass er am Leibe zittere. Es sei also kein Schreck. Der Oberste sei in einen Zauber versetzt und finde sich allein nicht her­aus.
Egal, sagte Lipp. Man müs­se etwas ent­scheiden. Es gehe ja nicht, dass man nichts tue, als dar­über zu streiten, ob es ein Zauber sei oder ein Trick. Das gehe nicht.
Die Soldaten meinten aber, dass der Oberste etwas ent­schei­den müsse. Auch der Hauptmann sagte, der Oberste habe immer noch das Kommando.
Aber der Oberste könne nichts entscheiden, dass sehe man doch, entgegnete ihnen Lipp.
Das wäre schon richtig, sagte der lange Somna, aber es sei eine andere Sache damit. Da der Obere nicht tot oder verwundet sei, habe er den Befehl noch. Und abgeben könne er ihn nicht, weil er in einem solchen Zustand sei.
Der Hauptmann nickte nachdrücklich und legte dem Ober­sten den Arm auf die Schulter.
Aber jeder könne doch sehen, dass er verwundet sei, eben von in­nen, hielt Lipp ihnen entgegen.
Nein, von innen könne keiner den Obersten ansehen. Deswegen müsse man wissen, ob es ein Zauber sei oder ein Schreck, sagte der Hauptmann. Einen Schreck könne er als Verwundung gelten lassen, aber nicht einen Zauber.
Ein Schreck sei es nicht, da sei er sicher, so der lange Som­na.
Er solle aufhören, sie mit seinem Zaubergerede verrückt zu machen, sagte Lipp.
Wenn ihm einer verbiete etwas zu sagen, so Somna, dann habe er damit noch lange nichts gegen den Zauber getan.
Es sei kein Zauber.
Es sei aber auch kein Schreck.
Ein Zauberschreck?, schlug ein dritter vor.
Das fanden weder Somna noch Lipp witzig.
Was denn nun wäre, fragte der alte Treufuß. Als keiner etwas zu antworten wusste, sagte er, zu seiner Zeit hätten die Soldaten nicht soviel geredet. Wenn sie soviel geredet hätten, dann hätten sie nur halb so viele Schlach­ten ge­schlagen und alle verloren. Manch­mal habe ein Pferd ge­lahmt oder ein Soldat sei betrunken heruntergefal­len, aber ein Rumreden habe es nicht gegeben.
Wenn der Obere etwas sagen würde, hielt der Hauptmann dem Treufuß entgegen, dann wären sie ja froh. Bitte, das sei ja das Schwieri­ge. Ein Problem wäre es, das müsse er einsehen.
Was Treufuß denn denke, ob es ein Zauber oder ein Schreck sei, fragte der lange Somna den alten Treufuß.
Dass sei ihm egal, entgegnete Treufuß. Er sei Soldat gewe­sen.
Weil er es eben auch nicht wisse, behauptete Somna. Da solle er ruhig ehrlich sein.
Lipp zeigte auf die Pferde. Die hatten die Köpfe wieder hochgenommen und sahen zu ihnen herüber.
Der Schreck sei vorüber, sagte er.
Der ZAUBER sei vorüber, sagte Somna.
Dann würden sie ja nicht mehr debattieren müssen, sagte Treu­fuß.
Über die Pferde hätten sie ja auch nicht debattiert, sagte der Hauptmann und zeigte auf den Obersten, der den Kopf nicht hoch­genom­men hatte.
Ausserdem habe Treufuß gesagt, es sei ihm egal, bemerkte Somna. Er dürfe es nicht einmal so und dann wieder anders­herum sagen.
Treufuß hielt sich daraufhin die Ohren zu.
Langsam bewegte sich der Oberste auf die Pferde zu. Dabei wackelte er mit dem Kopf und schlackerte die Arme, wie es der Kaisersohn für seine Übung getan hatte.
Das sei der Beweis, sagte Somna. Der Zauber sei auf ihn übergetreten. Man solle dem Obersten nicht zu nah kom­men.
Er werde dem Obersten alles von Somna berichten, wenn er aus seinem Schreck erwacht sei, sagte Lipp. Aber er hielt einen Abstand.
Der Oberste stieg langsam auf sein Pferd. Es war das fal­sche, und er bemerkte es erst, als ihm das richtige ei­nen Stubs in den Rücken gab. Also stieg er vom falschen ab und auf das richtige Pferd auf. Dann ritt er langsam da­von.
Wir reiten ihm hinterher, entschied Lipp.
Mit Abstand, sagte Somna.
Der Oberste ritt ihnen gute zehn Meter voraus und hörte nicht, was sie redeten. Er saß recht lose auf seinem Pferd. Seine Körper­haltung war 'ohne Willen' zu nennen. Es hielt den Obersten nur oben, weil das Pferd ihn behut­sam auf dem Rüc­ken ba­lan­cierte.
Ob sie es glaubten oder nicht, sagte Treufuß, früher sei alles anders gewesen.
Dann solle er doch froh sein, entgegnete ihm der Haupt­mann. Es wäre ihnen auch lieber, wenn alles nicht so schwierig wäre.

Chapter 123. Die Dorfleute

Als Woi erwachte, fand er die Drachenzähne und Asari noch schlafend. Also nahm er sich vor, die Umgebung zu erfor­schen.
Der Weg, den er wählte, war schon lange nicht mehr in Gebrauch. Das Gras war kniehoch und dicht, ver­wisch­te die Ränder und führte das Licht durch den Wald wie vor langer Zeit einmal die Menschen.
Ein klei­ner Bach begleitete Woi. War er anfangs noch still ge­we­sen, hatte er nun Zu­trauen ge­wonnen und plau­derte munter vokalig drau­flos. Unter den dicken Wurzel­zehen eines Baumes ver­schwand er, ohne Ab­schied genommen zu ha­ben.
Der Weg führ­te Woi zu einer Stel­le, wo ein Felsen auf­ragte, der die Ge­stalt eines im Wind lie­gen­den Bootes hatte. Als er den Felsen betrat, sah er direkt vor sich den Fluss und den Abzweig, wo der redseli­ge Bach, sein flüchti­ger Be­kannte, sich mit dem schweig­samen Bruder ver­einigt hatte.
Woi sah zu, wie sich Tag und Nacht auf dem Fluss die Wache übergaben. Erst bündelte die Sonne alle ihre Kraft, dann legte sie ihr verwobenes Licht als einen dicken Tep­pich auf dem Strom. So schwer und dicht war er geknüpft, dass die Wel­len dar­unter ver­schwan­den und der Wind eine Glätte vor­fand, an der es nichts zu rüh­ren gab. Lang­sam dickflüssig floss der Strom als ein Likör dahin.
Irgendetwas tat sich. Woi hatte Geräusche gehört. Schnell ging er zu dem Stein, der wie ein Boot war, und nahm Deckung auf. Kurz sah er ein Flackern und dachte noch, es sei der Fluss, auf dem die letzten Re­ste vom Likör dahin­trie­ben.
Dann er sah das Flackern wie­der. Er war sich sicher, dass es von einem Feuerschein kam, irgendein fremdes La­ger. Über der Bugspitze des Steines sah er, dass der Feu­erschein sich beweg­te.
Das Licht war unruhig und hel­l. Es waren Fac­keln, die in einer Schrittfolge getragen wur­den. Sie blieben hin­ter­ein­ander und brannten sich den Weg durch den Wald. Ihre Trä­ger gingen genau den Weg, den Woi vom ande­ren Ende her be­schrit­ten hatte.
Es war ein Marsch von dunklen Ge­stalten, kein Reise­marsch. Dazu war die Rei­he zu eng ge­schlossen. Auch waren es keine Sol­da­ten. Die Marschie­renden hat­ten keine Waf­fen bei sich, je­den­falls keine glän­zenden.
Die Gruppe kam immer näher und steuerte auf ihr Ziel zu, als gäbe es kein Rechts und Links für sie. Sie schie­nen nie­manden zu fürchten. Vorneweg gingen die Män­ner, da­hinter viele Frauen und Kin­der. Nicht jeder trug eine Fak­kel. Aber niemand hatte etwas dabei, kein Provi­ant, keine Rucksäche, nichts.
'Das Dorf', dachte Woi. 'Sie kommen aus dem Dorf, des­sen Rauch wir gesehen haben.' Es waren Fischer, und sie trugen ihren Staat. Die Frauen hatte Tücher umgebunden, die Schuhe der Männer glänzten geputzt, und die Kinder hatten Kappen auf, die zu groß oder zu klein waren.
'Wenn sie diesen Weg weitergehen, dann kommen sie direkt zu unserem Lager', dachte Woi, als sie an ihm vorbeimar­schierten.
Jemand legte ihm eine Hand auf die Schulter und hielt ihm mit der anderen den Mund zu, als er herum­schreck­te. Es war der Narbige, der sich ange­schlichen hat­te. Nun kauerten sie beide ne­benein­ander und sahen den Zug vorbei­ziehen.
"Was machen sie?", flüstere der Narbige.
Woi zuckte die Achsel. Er wusste es nicht, so wenig wie der Narbige. Aber jedenfalls hatte er einen Verdacht. Ir­gendwie hatte es mit diesem Asari zu tun. Wenn etwas Ver­rücktes in letzter Zeit ge­schehen war, dann hatte es bis­her IMMER mit Asari zu tun gehabt.
"Ich wette ...", sagte er leise und tippte sich an den Kopf.
Der Narbige nickte. Im Wald war sonst nichts, was diesen Aufmarsch erklären konnte, nichts außer diesem Asari. Wie er es geschafft hatte, sie erneut in eine ge­fähr­liche Situation zu bringen, blieb vorerst sein Geheimnis.
"Wir gehen ihnen hinterher und warten ab", schlug Woi vor. "Wenn es das ist, was wir denken, dann werden sie arglos sein."
Der Narbige nickte. Sie folgten den Leute vom Dorf in einem gehörigen Abstand.
"Hast du dich gut befreit?", fragte Woi.
"Die Soldaten am Kaiserhof sind die dümmsten", sagte der Narbige.
Als die Gruppe am Lager angekommen war, schlugen sich Woi und der Narbige in die Büsche und beobachteten, was ge­schehen würde.
Sie sahen, wie der Zwerg sich blitzschnell ins Gebüsch rollen ließ, um sich zu verstecken, während Tatze hoch­schreckte und wild um sich blickte, weil er sein Schwert nicht fand. Das hat­te Asari sich auf die Knie ge­legt und erwartete, auf einem ge­dachten Thron sit­zend, die Leute vom Dorf.
"Halt!", rief Tatze, aber niemand beachtete ihn.
"Das ist er", sagte der Anführer der Fischer und leuch­tete mit seiner Fackel das Gesicht von Asari ab.
Neugierig betrachteten die Leute den Sitzenden. Sie gin­gen sehr nah heran, weil es dunkel war und Asari sie an eine Steinfigur erinnerte.
"Was ist, wenn er ein Betrüger ist?", begann ei­ner, der ihm am nächsten mit dem Gesicht gewesen war.
"Er sieht nicht wie ein Betrüger aus", sagte einer, der größer als alle anderen war.
"Betrüger sehen nie wie Betrüger aus", behauptete eine Frau­, die nichts sehen konnte.
"Ich kannte mal jemand -", so ihre Nachbarin.
"Ich kannte auch mal jemand -", unterbrach eine andere.
"Niemand spricht durcheinander", befahl der Alte vorne, der zwei Fackeln hielt.
"Wenn er der neue Kaiser ist, warum sitzt er dann hier in unserem Wald?"
"Was sagt das schon ...?", mahnte der Alte.
"Wenn er ein Betrüger ist, warum redet er dann nicht, dass wir ihn hören können. Wie kann er uns betrügen, wenn er nicht redet?"
"Hat er uns schon betrogen?", fragte einer, der klein war und ganz hinten stand.
"Er ist entweder ein Kaiser oder keiner", antwortete ihm jemand.
"Ich sagte gleich, dass etwas an ihm ist", so der Alte wieder.
"Ich sage, entweder ist er ein Betrüger oder keiner!"
"Genau!"
"Ist er doch kein Kaiser oder was?", fragte der Kleine von hinten.
"Hör auf, an deinem Vater zu zupfen", sagte eine Frauen­stimme.
"Er ist ein Betrüger, der sagt, dass er ein Kai­ser ist! Das haben wir doch gehört."
"Ein Betrüger, der nicht unser Geld will, ist kein Be­trü­ger!"
"Es ist mein Schwert", hörten sie Tatze sagen. "Er kann es haben, aber es gehört mir."
"Er hat mir gesagt, dass er der neue Kaiser ist", sagte der Alte vorne. "Das reicht doch wohl!"
"Aber warum sollte er sagen, dass er der Kaiser ist, wenn er es nicht ist? Was hat er davon?"
"Damit wir ihn für einen Betrüger halten."
"Aber das will er doch nicht. Er will doch, dass wir ihn für einen Kaiser halte!"
"Eben, sag' ich doch!"
"Ich geb' ihm KEIN Geld!", rief der Kleine von hinten.
"Will er doch auch nicht!"
"Ich will mein Schwert natürlich zurück", sagte Tatze.
"Aber was will er dann?"
"Mama, du hast gesagt, dass es nicht lange dauert, hast du gesagt!"
"Unser Floß will er, nichts anderes!"
"Aber was hat er den von unserem Floß. Er ist doch ein Betrüger!"
"Unser Floß will er, weil er ein Kaiser ist, Dummkopf!"
"Ja, stimmt", sagten zwei.
"Hat er gesagt, warum er nichts sagt?", fragte der Klei­ne von hinten, der auch nichts hörte.
"Er kann nur ein Betrü­ger sein, wenn er ETWAS sagt!"
"Aber nur weil er nichts sagt, ist er noch kein Kaiser. Sonst ist Karpfen auch ein Kaiser." Die Fischer zeig­ten lachend auf einen, der ein Fischgesicht hatte.
"Jedenfalls ist Karpfen kein Betrüger."
"Karpfen ist aber auch kein Kaiser!"
"Karpfen hat noch nie jemanden betrogen!"
"Mutter, was MACHEN wir denn hier?"
"Es ist doch nur ein Floß und steht im Weg!", gab der Alte zu bedenken.
"Da hat er recht", sagten drei.
"Ich will nach Hause, Mama", sagte ein Kind. "Kann er nicht mitkommen, wenn er das Floß will."
"Er hat doch Wichtigeres zu tun. Du hörst doch, dass er ein Kaiser ist!"
"Aber warum streiten sie dann?"
"Weil sie eben streiten MÜSSEN ..."
"Bekomme ich jetzt mein Schwert zurück?", fragte Tatze.
"Wir machen es also, wie er es gesagt hat", stellte der Alte fest. "Wenn er kein Kaiser ist, dann ist es ein Floß auf einem Fluss und die Kinder haben eine Freude daran. Ist er ein Kaiser, dann ist es eine alte Sit­te und die Kinder haben ebenso eine Freude."
"Ja, so machen wir es", riefe alle und klatschten in die Hände.
"Gehen wir jetzt, Mama?"
"Ja, Kind, du hörst doch, dass es jetzt vorbei ist."

Chapter 124. Die Reifeprüfung

Die Kaiserin liebte Tage wie diesen. Er schien ihr sagen zu wollen: 'Was geht mich die Herbstszeit an? Und was geht sie eine Kaiserin an?'
Der Tag trat mit einem Licht ein, das die Reste der rotstaubi­gen Stunden aus den Augen wusch. Er hieß die dunklen Stimmen der Schatten schweigen. Hängte die Pflicht zu den alten Klei­dern in den Schrank, setzte sich neben die Kaiserin, streichelte ihre Wangen, zärtlich und im Vertrauen ver­gesslich. So ein Tag war es, dass er wartete, zu hören, wie er ihr zu Diensten sein konnte.
Die Erinnerungen waren zutraulich, ohne Arg und Eile. Sie dräng­ten sich nicht und wür­den gehen, wenn sie keinen Platz fanden. An solchen Tagen machten sie keine Unter­schiede zwischen sich und den anderen. Die einen hatten die Rechte wie die ande­ren, und kei­ner wollte dem anderen die Geburt neiden.
Das kleine Mädchen, von dem der Tag sich erzählte, saß an einem hohen Tisch. Das war, als ihr der Bruder noch leb­te. Alles war mit ei­ner weißen Decke be­deckt war, die bis zum Boden ging. Die Menschen saßen zum Essen an ei­nem Wol­kentisch, als Stühle dienten ihnen die Bäume. Weil es 'Hui' mach­te, ki­cherte das kleine Mäd­chen, und alle sahen zu ihr hin und dann wie­der weg, weil sie albern war.
Das kleine Mädchen wurde von allen ge­grüßt. Je­der brach­te ihr Dinge. Zwei Diener sammelten alles ein. Für jedes Ding hatten sie einen Korb und ein weißes Tuch. Manchmal waren es nur Worte, welche die Gäste brachten. Mit denen waren die Diener achtlos und stopften sie in die Taschen. Einmal war es ein wunder­schö­ner Schuh, in dem ein Wachsfuß war. Dann die Federn von einem Ra­ben, zu­sammen­gebunden zu einem Zopf. Das Mäd­chen streckte die Hand aus und streute Kru­men, die der Wind ihr vor die Füße geweht hat­te. Jemand kam, sie auf­zukeh­ren und fort­zu­tra­gen.
Die Kaiserin dachte an die Frau, die ihr die Schönheit versprochen hatte. Vielleicht vermochte sie eine Tür hinaus zu öff­nen, so wie man­che Tage es verstehen, sich aus der Zeit zu stehlen. Vergan­genheit und Ge­gen­wart wür­den sich begegnen. Sie wür­den wie ernste Kin­der vor­ein­ander ste­hen und Din­ge tau­schen. Den großen Korb gegen den Vorhang mit seinem Licht, den Raben­zopf für das Trau­er­kleid. Und die Worte, welche die Diener sich in die Ta­schen gestopft hatten, ge­gen die gelben Augen des alten Hofmarschalls.
'Klopf' machte es an der Tür. 'Klopf', 'Klopf'.
'Ah', dachte die Kaiserin, 'die Zeit hat gemerkt, dass ich ihr entwischt bin. Neugierig ist sie, was ich anstel­le. Wird mich aus­schimpfen wollen und scharf die Fragen stel­len. Sieht nach, ob alles an seinem Platz ist. Mag nicht Kinder, die Sachen tau­schen.'
Die Zeit hatte den Günstling Baldeina für das Klopfen aus­gesucht. Sie hatte ihn an seinem feinen Westenzipfeln fasst und hergebracht. Beide waren sie nun in Sorge um die arme Kaise­rin.
"Bitte", rief Baldeina, "es duldet keinen Ver­zug!"
Das hatte die Zeit ihm vorgeflüstert. Das waren ihre Wor­te, die er gebraucht hatte für seine eigenen.
"Bitte, Kaiserin, wir haben eine Entscheidung zu fäl­len. Unten warten sie alle. Es ist etwas passiert."
'Wem willst du dienen,Baldeina?', dachte sie sich aus, 'deiner Kaiserin oder der Zeit, mir oder ihr? - Ach, was streiten wir? Soll er uns beiden dienen!'
Da sagte sie: "Ja, ich öffne euch und eurem An­lie­gen. Ich gehe be­reits zur Tür, die letzten Schritte noch, da habt ihr, was ihr wollt ..."
Baldeina warf es in den Raum hinein. In der Mitte vor ei­nem zu Tode erschreckten Tischlein kam er zu ste­hen, schwankte wie ein Pendel aus. Dann warf er die Arme hoch, als müsse er sich von etwas befreien und stellte seine Augen stie­rend auf die Kaiserin ein.
"Sie sind zurückgekommen, gerade eben zurückgekommen" - neue Worte forderten neue Luft - "allesamt zurückgekom­men, nur er nicht ... ist nicht dabei" - um Verstehen bat der Blick der Kaiserin - "der Kaiser der Tränen ist nicht da­bei. Die Soldaten hatten ihn, und plötzlich ist er fort, uner­klärlich ver­schwunden, wie durch einen ge­heimen Gang oder einen Zauber entwischt!"
Die Zeit hatte die Dinge in ihrer Kraft gesammelt und warf sie nun, nein, schleuderte sie heraus. Doch die Wilde traf keine Ängstliche. Was musste fürchten von ihr, wer sich unsichtbar vor ihr machen konnte?
"Versteht ihr nicht, was das heißt?", rief Baldeina.
"Erklärt es mir, ich bin noch etwas verträumt."
"Wenn der Kaiser der Tränen fort ist, und das ist er! Wie soll dann eine Prüfung seiner Reife stattfinden?"
Die Kaiserin verstand nicht, warum das wichtig war. Für ihren Günstling hätte sie es gerne verstanden, aber ihr Blick drückte Bedauern aus.
"Wenn sie nicht stattfindet, diese Prüfung", rief Bal­dei­na, "wie kann dann eure Krönung stattfinde?"
Die Kaiserin lächelte über den Gedanken, dass sie auf ihre Krönung verzichten sollte. "Der Richter wird es wis­sen. Er las es vor und muss es deuten."
"Der Richter ist fort", haspelte Baldeina, "gestern ge­flohen, grad erfahr ich es!"
"Wenn wir keine Richter haben, dann ernennen wir ei­nen", sagte sie sanft und sah auf ihre Hände.
"Ich wüsste einen", sagte Baldeina, indem er vorsichtig den glatten Boden der Zuversicht betrat. "... er ver­steht unsere Sprache, aber ..."
"Sagt seinen Namen!"
"Ken, der Fürstensohn, der neu um die Prinzessin freit."
"Er sei der Richter, das ist entschieden!"
"Haben wir also einen Richter für die Prüfung, brauchen wir immer noch einen Prüfling!", sprach er seine Ratlosig­keit aus.
Sie schwieg über die Ränder seiner Worte hinaus.
"Der Richter nützt uns nichts!", rief er schließlich und stützte sich mit ganzer Seele auf den kleinen Tisch: "Nicht soviel!" Er wollte auf etwas zei­gen, aber fand nichts, das verdeut­licht hät­te, wie we­nig Ken ih­nen nützen konnte.
Die Kaiserin hörte nicht zu. Von einem unterdrückten Gähnen zitterte ihr Mund. Es umgab sie ein geradezu kör­perlicher Duft des Träumens.
"Die Prüfung der Reife", erklärte Baldeina, um Fassung bemüht, "legen wir in die unvor­eingenommenen Hände von Ken gelegt. Weil aber für ihn nichts zu prüfen da ist, liegt alles still. Nichts passiert, keine Prüfung, keine Krö­nung! Wir müssen warten, bis der Kaiser der Tränen wieder auftaucht, aber das wird er nicht. Er weiß doch jetzt, was ihn erwartet. Da wird er abwarten. Und wir dre­hen uns im Kreis und kön­nen nichts machen."
"Keine Krönung?", fragte die Kaiserin leise. "Bit­te, bitte, sagt es nicht, ihr seid mein Günst­ling ... dürft es nicht sagen." Das Licht suchte sich ei­nen Platz, konnte sich nicht entscheiden, ob es sich in ihrem Haar oder in den ge­raff­ten Schleiern ihres Bettes nieder­lassen sollte.
"Ich gehe jetzt zur Be­fragung holen", sagte Baldeina und nahm das Tischchen in die Hand, als wolle er ihm ein Bein aus­reissen. "Mit dem Obe­rsten ist nichts anzu­fan­gen, spricht nicht, isst nicht, trinkt nicht. Den Hau­ptmannn wer­den wir fragen müs­sen."
Selt­sam un­beteiligt schien ihm die Kai­serin, als er sie verließ. Im lee­ren Ausdruck ihres Blickes glich sie dem Obersten. Fast könnte man glauben, der Kai­ser der Tränen habe auch in ihr die Kopfleere verbreitet.
Wieder saß die Kaiserin allein. Mit ihr ein einzi­ger schrecklicher Gedanke, den sie nicht aus­pre­chen durf­te. Es konnte nicht sein! Eine einfache Erklärung für al­les würde sich finden lassen. Al­lein musste sie die Antwort fin­den, durfte als Kaiserin keine Hilfe von der anderen anneh­men. Musste sich stark zeigen und durfte trium­phie­ren, wenn sie gekrönt war.
'Niemand ist da, der zu prüfen ist!' Sie wie­derholte die Worte. Erst langsam, dann schneller. Viel­leicht zehn Mal sprach sie sich die Worte vor.
Dann kam ein Gedanke. Schreck­haft schickte er seinen Schatten vor und war gleich wieder fort, als sie nach ihm griff. Es war ein kluger Ge­dan­ke gewesen, den sie gleich wie­der ver­loren hat­te. Wie dumm das war!
Da war er wieder! Sie tat, als sei er nicht wichtig, als gebe es andere. Sie dachte an Bal­dei­na, an das Diadem des Blauen Drachen, an Nadim und Des­sa - halt, das schien ihn fortzu­schrecken! - dach­te an Ken und die beiden Die­nerin­nen, an den alten Kaiser und den dicken Ge­ne­ral.
Er war nun ganz nah und fragte, ob einer noch vor ihm in der Reihe sei. Nein, eigentlich nicht, wenn er wolle, so die Kaiserin, kön­ne er jetzt vor­treten und sich deut­lich aus­spre­chen.
Voller Ungeduld legte er los: Es werde doch bloß das Vorhandensein einer Reife geprüft. So habe er es ver­stan­den.
Die Kaiserin nickte und machte sich aufmerksam.
Er setzte fort: Dieser Kaiser sei geflo­hen, gut, aber ebensogut könne er ver­blichen sein, krank am Körper oder an seiner Seele sein. Be­deu­tungslos und nicht ver­langt sei die Prüfung des Grundes, der ihn ab­halte, seine Reife vor­zuwei­sen!
Wie klug er war, dieser Gedanke? Warum bloss hatte er sich gleich auf zwei Fluchtbeine gestellt und eine Gefahr ge­wittert. Hatte wohl Angst, dass er gleich auf dem Feuer lag und munterem Gespräch als leichte Speise dien­te.

Chapter 125. Das Gelage

"Bin ich so alt, dass mich keiner mehr be­wacht?", hatte Treufuß gefragt.
Der General hatte gelacht und ihm mit dem Finger ge­droht, aber keinen zur Bewachung ge­schickt. Zu seiner Zeit war Treu­fuß der General gewesen, er selbst ein Haupt­mann, bald ein Oberster, erst mit dem Abtritt von Treufuß ein Gene­ral.
Das hatte er nicht ver­gessen und ihm wollte er­schei­nen, dass sich nichts ge­ändert hatte. Was Treufuß sag­te, kam einem Be­fehl gleich, und er, der General des Kaisers, hätte nie daran ge­dacht, einen sol­chen Mann bewachen zu lassen.
So war Treufuß in den letzten Tagen als freier Mann im Kai­ser­hof umhergegangen. Es hatte sich nicht viel geändert seit früher, aber kein Gesicht wollte ihm bekannt vorkom­men.
Der Oberste hatte sich langsam wieder erholt. An einem Mor­gen war er aufgewacht und hatte gewusst, dass er ein Oberster war, und alle Soldaten bei ihren Namen gekannt. Da ihn nie­mand fragte, ob er noch etwas wisse, merkte er nicht, dass er dies Etwas völlig vergessen hatte. Den langen Somna musste er zurechtweisen, weil dieser ein Gesicht mach­te. Aber da der lange Somna schon früher Gesichter gemacht hatte und er ihn zurechtgewiesen hat­te, war alles wie immer.
Als Treufuß nicht mehr über den Kaisersohn ausgefragt wurde, lud der General ihn in den Weinkeller ein.
Er kenne den Ort, sagte Treufuß. Früher hät­ten sie dort zu­sammen getrunken, und manches Mal sei der Kaiser dazu gekom­men.
Ja, davon habe er ge­hört, sagte der General. Auch die Wa­chen hätten getrun­ken.
Alle hät­ten sie getrunken. Mensch­lich sei es unter ihnen zuge­gan­gen.
Nicht an­ders als menschlich werde es auch jetzt zugehen, versprach der General. Er ließ zwei Wa­chen kommen, da­mit alles so wie früher war.
Nur der Kai­ser werde fehlen, sagte Treufuß.
Aber jeden­falls würden sie an ihn denken, sagte der Ge­ne­ral.
Treufuß ließ dem General zum Weinkeller den Vortritt und nötig­te ihn, sich auf den Platz zu set­zen, welchen vormals der Kai­ser eingenommen hatte.
Hier im Weinkeller, sagte er und bestand darauf, dass der General es glaube, sei die Politik des Kaiser­rei­ches gemacht worden. Der Kaiser habe auf der Waage gesessen, die ihm als Schaukel gedient habe. So sei er gele­gen, habe mit den Füssen gewippt, zum Zeiger hoch­gese­hen und aus dem Fenster hinaus. Vor dem Trinken habe er das Glas in das Licht geho­ben und lan­ge sei­ne Far­be be­trachtet.
Ob Treu­fuß sich nicht doch auf die Waage legen wolle.
Nein, da solle der General liegen, sich wiegen lassen und die lichttie­fen Farben des Weins studieren.
Treufuß nahm Platz auf einem Schemel, dem zwei Wein­fäs­ser eine mächtige Rüc­kenlehne waren. Langsam und in Gedan­ken bei dem Toten setzte er sich nieder und dachte nicht dar­an, vor­her den Staub abzuwi­schen.
So schwiegen die beiden alten Männer und hatten jeder miteinander die eigenen Gedanken. Treufuss ähnel­te in Ge­stalt und Bewegun­gen dem Kaiser. Das Licht des Kel­lers nahm es nicht genau. Wenn Treufuß so saß und schwer­atmend schwieg, dann war dem Ge­ne­ral, als sit­ze der Kaiser an seiner Stel­le.
Treufuß auf seinem Sitz dachte an gewichtige Dinge und überlegte sich, wie er davon anfan­gen konnte. Der General war dem Kaiser fraglos sehr ver­bunden gewesen. Wie aber stand er zu der Kai­serin?
"Er hat ja noch spät geheiratet", fing er bedächtig das Ge­spräch an.
Der General war kein dummer Mann und wusste gleich, dass nichts dahingesagt war. Treufuß - das stand fest - war nicht auf Seiten der Kaiserin. Ge­wis­sermaßen war er ja ihr Gefangener. Der General trank sein Glas leer und machte sich auf, einen anderen Wein zu probieren.
"Sie ist eine Frau, wie man sie selten trifft", machte Treufuß eine zweiten Anfang.
Der General suchte bei den vielen Flaschen schweigend nach dem zum Gespräch passenden Wein. Es war eben so, dass beim Aus­suchen des Weines oft eine Zeit ver­ging, bis er zwei, drei her­ausgesucht hatte, die er öff­nete, um mal diesen, mal jenen zu probieren. Er war ei­gentlich kein Trinker, son­dern - so sagte man von ihm - ein Probierer. Kein Wein konnte ihn überzeugen, der einzig richti­ge zu sein. So gab sich der Gene­ral dem Ko­sten hin und nicht der Trunkenheit. Gab es denn überhaupt den richti­gen Wein?
"Sie ist eine ungewöhnliche Frau für eine Kaiserin", war der dritte Anfang von Treufuß.
Um nicht unhöflich zu wirken, nickte der General und gab der Waage im Niedersitzen einen freundlichen Ausschlag. Treufuß öffnete die Flasche, die der General ausgesucht hatte und goss ihm ein. Dann stellte er die Flasche, ohne sich bedient zu haben, neben sein Glas.
"Heute hat sie den alten Richter, der geflohen ist, durch einen neuen er­setzt", sagte der General lang­sam. Das hatte sie getan, also war nichts dabei, es zu sagen. Der Wein war geöffnet und woll­te gekostet werden.
"Sie legt das Testament auf ungewöhnliche Weise aus. Sie ist eine ungewöhnliche Frau und wird eine ebenso un­gewöhn­liche Kaiserin." Treufuß machte eine Pause, in der er den General so eindringlich ansah, wie es ihm das Halb­dun­kel gestattete. Seine Stimmlage dem faden Licht an­pas­send, fuhr er fort: "Ich glaube, sie wartet ab, bis sie Kaiserin ist. Sie wird war­ten, weil es klug ist."
"Den Hofmarschall hat sie nicht ersetzt", bemerkte der Ge­neral, "aber der Günstling ist neu. Auf den hört sie jetzt." Immer noch hatte er nichts gesagt, was falsch ge­deu­tet wer­den konnte. Sie tranken einen kräftigen Schluck. Es war ein passabler Wein. Den würden sie jetzt trinken, bis die Flasche leer war. Er wippte mit den Füßen und die Waage nippte über seinem Kopf mit ihrer Zunge.
"Wenn der Kaiser der Tränen auftaucht und sie als Kaise­rin bereits gekrönt ist, was ist dann, fra­ge ich mich ..." Treufuß hatte den Tonfall des Generals angenommen. Stellte die Frage so, dass sie ohne Antwort stehen konnte.
"Ja, das frage ich mich auch, was pas­siert, wenn sie sich krönen lässt ..." Der General dachte an den alten Kaiser, der auch nichts rich­tig ausgesprochen hatte. Der Kaiser hatte nur gewollt, dass jemand dabei war, der das Echo der Worte zu­rück­warf.
"Was bedeutet ein Testament? Was bedeuten die Worte darin über das Leben hinaus? Wie leise wird das Flüstern ei­nes im Tode liegenden ...?", sag­te Treufuß.
Sein Gegenüber betrachtete abschätzend kostend den Wein in sei­nem Glas.
"Der Kaiser der Tränen ist geflohen. Kann er nicht auch wieder in Erscheinung treten?", gab Treu­fuß zu beden­ken.
Das wollte bedacht werden und leuchtete dem Mann auf der Waage ein. Er wippte zwei­mal langsam mit dem Fuss, als sage er: "Jaa ... jaa."
Bedächtig erhob sich Treufuß und fragte zum erneuten Ein­gießen: "Und was geschieht dann?"
Die Waagenzunge blieb still. Das Licht umtänzelte das halbge­leerte Glas. "Wir müssen an alles denken ...", sagte der General.
"Was hätte ER gewollt, wenn er noch leben würde?", frag­te Treufuß und zeigte auf den Wiegeplatz, den nun ein Treuer innehatte.
Die Flasche war leer. Sie würden zusammen eine nächste trin­ken. Der General hatte sich schon erhoben und traf eine erneute Wahl. Er zog den Korken ohne Hast. Mit dem Eingie­ßen sah er Lagerung und Schwe­re des Weines. Morgen würden sie ih­ren Kopf spü­ren, aber heute war das Licht trübe und der Wein so schwer wie die Gedanken der Män­ner.
Nichts konnte ein Tod in ihrem Alter der Freundschaft und der Treue anha­ben. Bald würde der Kaiser kom­men und oh­ne Gruß ein­tre­ten wie einer, der nicht fort gewe­sen war. Sei­nen Platz auf der Waage würde er einneh­men, wip­pend den Plä­nen der beiden lau­schen, brummend in das Glas schauen, wie er es immer tat, wenn er zu­frie­den war mit dem Werk seiner Treu­en.

Chapter 126. Reifeprüfung in absentia

Ein Soldat pochte mit einem eisenbe­schla­genen Hand­schuh an der Tür der Prinzessinnen. Als ihm geöffnet wurde, hob er die Hand zum kurzen Gruß und sagte: "Die Kai­serin bittet sie beide zu sich. Ich bin gekommen, sie zu holen."
"Was denn nun?", fragte Nadim keck, "werden wir gebeten oder geholt?"
Der Soldat sah sie verständnislos an. Stellte seinen Fuß in die Tür, statt eine Antwort zu geben.
"Bleib du hier, Dessa", sagte Nadim. "Es reicht, wenn eine von uns geht. Sicherlich wird Baldeina da sein, und den wirst du nicht sehen wollen."
"Beide Prinzessinen", sagte der Soldat, "hat sie ge­sagt."
"Herr Soldat, sie sehen doch, dass sie unpässlich ist", hielt ihm Nadim sanft entgegen.
"Ah, das tut mir leid", sagte der Soldat und über­leg­te. "Also gut, dann eben nur ei­ne."
Nadim folgte ihm willig zu dem großen Kaisergemach, in dem der Vater gelegen hatte, wenn alle um ihn herum waren. Das Bett war nun fortgeräumt. An seiner Stelle lag nun ein Teppich, der verdecken sollte, dass etwas fehlte.
Der Hofmarschall und der General standen neben­ein­ander, obwohl sie sich nicht mochten, wie der Vater immer gesagt hat­te. Zwischen zwei Soldaten, die ihre Lan­zen in seinem Rücken gekreuzt hielten, stand der Eunuch und hielt die Schatulle mit dem Diadem des Blauen Drachen. Zu Nadims Überra­schung war auch Ken anwesend. Er flüsterte mit Bal­deina und sah nicht einmal zu ihr hin, als sie ein­trat.
Heimlich be­obachtete Nadim die beiden. Be­sonders Ken war heute anders als sonst. Verschreckt schien er, und Bal­dei­na flü­sterte ihm immer weitere Schrecken zu. Alles Freche war von Ken abgefallen. So wie er war, hätte sie ihn mögen können.
"Aber ich kenne ihn nicht einmal", flüsterte Ken so laut, dass sie es hörte, "das geht doch dann nicht!"
"Sie werden sehen", entgegnete Baldeina, ohne sich Mühe zu geben, leise zu sprechen, "dass sie sich zu viele Beden­ken machen."
Die Hof­dame der Kaiserin, die ei­gentlich de­ren Die­ne­rin war, stolzierte herein. Der alte Die­ner des Vaters kam, sah sich um, als suche er etwas, was es für ihn zu tun gab. Als sein Blick auf die Hof­dame fiel, machte diese ei­nen spottzierlichen Knicks.
Der alte Mann geriet ins Stolpern und kam schließlich am Rand des Großen Teppichs zu stehen, als traue er sich nicht, darüber hinwegzutreten. Na­dim tat so, als gehe sie umher, und stelle sich wie zufällig ne­ben ihn.
­"Warum sind wir hier?", fragte sie ihn leise, damit er nicht so traurig schaute. Die Sol­daten rückten näher heran, damit sie mit­hören konn­ten.
"Heute ist der Tag, wo die Reifeprüfung stattfinden soll, wie es euer Vater in seinem Testament verfügt hat", er­klärte der alte Mann.
"Ah, dann haben sie ihn also gebracht, der sozu­sagen ein Bruder ist?" Nadim hatte so laut gesprochen, dass alle zu ihr hinsahen. Nur Ken hatte seinen Blick nicht von Baldei­na lösen können. Einige der Soldaten lächelten. Da kam sich Nadim sehr dumm vor.
Mit einem gebieterischem Räuspern und drei großen Schritte trat Baldei­na in die Mitte des Teppichs, bat alle zurückzutreten und gab den Solda­ten Befehl, die große Tür zum Thronzimmer zu öffnen.
In der Mitte des sich öffnenden, hohen, aber kleinen Raumes, der nichts anderem Platz bot als dem Thron und einem ihn säumenden tiefblauen Läufer, saß die Kaiserin, als sei sie schon lange vor allen anderen dort gesessen. In ihrem Rücken bäumte sich der Drache gegen seine neue Herrin auf. Die wei­ße Hand der Kaise­rin lag unbekümmert auf sei­nen brei­ten Tat­zen und glänzenden Kral­len, als sei der Kampf mit ihm bereits be­standen.
Die Stühle an der Wand des Großen Zimmers wurden nun von den Soldaten auseinan­dergerückt. Zwi­schen die Stühlen stellten sich die Sol­daten auf als Wehr gegen Blicke und Geflüster­tes. Als alle Platz genommen hatten, war jede Unter­haltung unmöglich gemacht. Nie­mand der Anwe­sen­den, wohin er sich auch umblickte, hätte etwas anderes sehen können, als zwei Sol­daten neben sich und die­se Kai­se­rin vor sich.
Für einen kurzen Augenblick, bevor Baldeina zu spre­chen an­fing, be­merkte Nadim, dass die Ängstlichkeit von innen gegen seine Schläfen pochte.
"Wir sind zusammenge­kom­men um den letzten Willen des Kaisers zu erfüllen", sagte er mit seiner üblichen, gutge­füllten Stimme. "Ich bitte einzutreten, Asa­ri, den Sohn des Kaisers aus der - eh - Occa­sion mit der Für­stin der Nacht­stadt."
Neugierig sah Nadim zur Tür. Eigentlich war alles sehr spannend, und sie bedauerte insgeheim, Dessa nicht zum Mit­kommen überredet zu haben. Das Wort 'Bruder' war so unge­wohnt wie das Wort 'Gemahl', aber es besaß einen si­cheren und warmen Klang.
Als sich die Tür öffnete, blickte Nadim dorthin, wo alle ihren Bruder erwarteten. Niemand als ein Die­ner war zu sehen, der erschreckt seinen Kopf einzog. Trotzdem trat Baldeina vor, als erwarte er jemanden. Vor der Tür drehte er sich und reichte einer unsichtbaren Gestalt zum Geleit sei­nen Arm und führte sie in die Mitte des Saales vor den strengen Blick der Kaiserin. Diese nickte dem un­sicht­baren Gast zu, als habe sie dessen un­tertä­nig­ste Be­grüßung gera­de ent­ge­genge­nommen.
Baldeina winkte Ken heran. Weil dieser sich nicht von sei­nem Platz erheben wollte, rief er ihn böse an: "Ich ver­lange, dass der Richter Ken - das kann er doch hören oder!? - nach vorne tritt, um die Prü­fung der Reife kraft seines Amtes vorzunehmen."
Ken erhob sich auf das Äußerste verwirrt. Er blickte sich nach der Prinzesin um, erkannte sich aber in ihrem fast freundlichen Blick nicht wieder. Außerdem sah er nie­manden, wirk­lich niemanden dort in der Mitte ste­hen. Das war wohl ein Spaß, den Baldeina und die anderen mit ihm spielten!
Ein Soldat fasste ihn unter dem Arm, drückte schmerzhaft unter der Achsel zu und zog ihn in die Mitte des Saales zu Baldeina, der ihn der unsichtbaren Gestalt als den neuen, wiewohl rechtzeitig ernannten und damit geltenden Obersten Rich­ter vor­stellte.
"Nach dem Buchstaben des Kaiserlichen Testamentes prüfen wir nun, ob der dem Kaiser entstandene Sohn, der im Testa­ment benannte Kaiser der Tränen, zur Reife ge­langt ist oder nicht."
Weil Ken sich nicht rühren wollte und weiter darauf war­tete, dass sie über diesen Streich alle zu lachen began­nen, fuhr ihn Bal­deina böse an: "Bitte, Richter Ken, prü­fen sie! Stel­len sie eine Frage oder sagen sie etwas! Das ist ihre Auf­gabe! Das verlange ich von ih­nen!"
"Aber ich sehe niemanden, wirklich nicht, nieman­den!", stammelte Ken und sah furchtsam zu dem Drachen hoch, der über dem Kopf der Kaiserin fresslustig zu ihm her­unter­sah. "Richter Ken, sie sollen nicht jemanden sehen oder jemanden für anwesend erklären. Sie sollen nur prü­fen, Richter Ken, ob eine Reife gegeben ist, dieses jungen Man­nes hier, der hier an meinem Arm vor ihnen steht."
"Hofgünstling Baldeina", sagte Ken nun ohne Furcht, "ich kann nicht eine Reife von jemand prüfen, den ich nicht sehe!"
"Stellen Sie eine Reife fest oder nicht!?", brüllte Bal­deina ihn an.
"Nein, ich kann keine Reife feststellen, wenn -"
"- Also stellen sie KEINE Reife fest!", brüllte Baldeina so laut, dass sogar der Drache den Kopf einzog.
"Ich stelle keine Reife fest, weil -"
"Ruhe!!", schrie Baldeina. "Sie stellen keine Reife fest! Ausrufezeichen! Mehr wollen wir nicht wis­sen, treten sie weg, sie ... Richter!"
Der Soldat packte Ken erneut und schmerzhafter am Arm unter der Achsel und zog ihn wie einen Gefangenen zu sei­nem Stuhl.
In die Stille des Saales hinein, sagte Baldeina mit wie­der beherrschter Stimme: "Ich stelle fest, dass KEINE Rei­fe vorhanden ist und verkünde hiermit, dass in drei Tagen die Krönung der Kai­se­rin vor­zunehmen ist."
"Sie waren sehr mutig", flüsterte die Prinzessin Ken zu. "Ich weiss nicht, ob ich so mu­tig gewesen wä­re."
Aber weil der Soldat ihn noch fest gepackt hielt, konnte Ken ihr nichts erwidern.

Chapter 127. Krönungsmaler

"Als hätte ich nicht genug zu tun", sagte Bal­deina. "Müssen sie denn ausgerechnet zu mir?"
Der Diener verbeugte sich: "Sie haben darauf bestanden, zum engsten Berater der Kaiserin gebracht zu werden. Da dachte ich an euch, nicht an den Hofmarschall. Wenn ihr es aber sagt, dann schicke ich sie wieder fort."
"Nein, erst will ich wissen, was ihr Anliegen ist."
Die beiden Handwerker hatten in der Tür gestanden und dem Gespräch gelauscht. Der Meister überragte sogar Bal­deina um einen halben Kopf. Dabei war er dünn und ausge­zehrt. Sein Schüler hielt sich hinter sei­nem Rücken ver­steckt. Man sah nur die kurzen Arme aus den Rockschößen seines Meisters ragen.
"Werter Herr Hofgünstling", sagte der Meister und neigte den Kopf."Wir kommen, um der Kaiserin unsere Kunst anzu­bieten."
"Das ist sehr freundlich", sagte Baldeina und setzte fort, seine Hände zu betrachten. "Was ist denn eure Kunst?"
"Ich bin ein Maler", sagte der Meister. "Mein Gebiet ist der Mensch, das Antlitz des Menschen, dem ich Ewigkeit ver­leihen über seine Zeit hinaus, dass er nie vergessen wer­de in seinem Bild."
"Wir verfügen selbst über solche", sagte Baldeina.
"Ich weiß", sagte der Mann höflich, "sie beherrschen die Kunst des Schreibens."
"Ja, sie sind Schreiber."
"Ich gestehe gern, dass ich nicht schreiben kann, keine ein­zigen Buchstaben!", sagte der Meister und lächelte stolz.
Baldeina überlegte. Der Mann schien sich seiner Kunst si­cher zu sein. In seinem Alter bot sich niemand mehr an, der nichts taugte.
"Ihr habt Glück", sagte er. "Unsere Kaiserin ist jung und schön. Es mag ihr wohl gefallen, dass man sie meister­lich male für alle Zeit, wie ihr sagt. Kommt also mit."
Sie gingen hinüber zum Zimmer der Kaiserin, die sie in bester Laune antrafen. Baldeina hieß den Meister und seinen Jun­gen zu­rückstehen und erklärte der Kaiserin leise deren Anliegen. Neugierig sah sie zu dem beiden hin.
"Ihr könnt mich malen, dass ich mich erkenne? Ganz ge­nau, wie ich bin?", fragte die Kaiserin, erhob sich aus ihrem schattigen Stuhl und trat ins Licht.
"Das und viel mehr ist meine Kunst!"
"Was gibt es mehr, als dass ich mich erkenne?"
Der Meister verneigte sich höflich. "Das, was ihr Erken­nen nennt, ist nichts als ein Augenblick. Ein Gesicht der Zeit, nichts, das euch gehört?"
"Hört ihr, Baldeina? Ich gehöre mir nicht. Das ist, was sie sagen!"
"Ihr seid die Kaiserin", sagte Baldeina, "es gibt also nichts, was euch nicht gehört."
"Da seht ihr es", sagte die Kaiserin freundlich. "Er sagt, wie er es meint."
"Euer Bild gehört euch nicht. Es ist im Besitz der Zeit. Ihr vermögt nicht, es ihr fortzunehmen. Aber wir ver­mögen ihr zu nehmen, was sie nicht festhalten kann."
"Wisst ihr, dass eine Frau mit euren Worten spricht?" Die Kaiserin spürte, wie der Maler sie durchdringend an­sah. Ihr war nicht wohl bei diesem Blick.
"Ist es eine Frau, die ihr Gesicht nicht zeigt?"
"Kennt ihr sie?" Erschreckt hatte die Kaiserin nach der Halskette gegriffen, dass die Schnur zerrissen war und alle Perlen springend und klackend den Boden bedeckten.
"Sie ist bekannt. Ich sah sie schon ... nicht immer in bester Gesellschaft."
Als Baldeina die Perlen aufheben wollte, verbat die Kai­serin es ihm.
"Was wisst ihr von dieser Frau?", fragte sie.
"Sie hat ein Geheimnis, und wir haben ein Geheim­nis. Bei­de wissen wir übereinander und haben einen guten Grund zu schweigen."
"Malt die Kette! Diese da, die ich gerade zerriss. Malt sie, wie sie war!" Die Augen der Kaiserin sprangen in den Perlen umher.
"Malen wir die Kette, Junge", sagte der Meister ruhig. "Lege mir die Sachen zurecht. Und ihr, Kaiserin, macht euren Hals frei."
"Wie, was, meinen Hals? Ich will, dass ihr die KETTE malt!"
"Wenn ich die Kette male, dann male ich euch. Die Kette gehört doch euch und nicht ihr der Kette? Wenn ich recht verstehe, dann seid IHR die Kaiserin?"
"Was redet ihr?" Hastig bedeckte die Kaiserin mit den Händen ihren Hals.
"Die Kette ist nur eine Dienerin eurer Schönheit", er­klärte der Meister geduldig und sah mehr auf das Tun sei­nes Jun­gen als auf seine Worte. "Was für ein Frevel wäre es an meiner Kunst, die Diene­rin für eine Herrin zu neh­men. Wohl könnte ich ohne die Kette euren Hals malen, aber umge­kehrt vermag ich es nicht." Er hatte begonnen, dem Jungen bei der Ordnung der Pinsel zu helfen.
"Was haltet ihr von ihm?", wandte sich die Kaiserin un­vermit­telt ihrem Günstling zu.
Baldeina hatte kein Wort von dem Gespräch verstanden. Von vornherein hatte er gespürt, dass er es nicht verste­hen würde und darum nicht zugehört.
"Ihr seid mein Günstling und könnt mir nicht raten?"
"Ich würde raten ... dass ihr es ausprobiert. Ja, das würde ich raten!" Baldeina war froh, dass ihm das einge­fallen war. Auch der Meister nickte beifällig.
"Alles probiere ich aus", sagte leise die Kaiserin zu sich, "bis nichts mehr, wie ich war, übrig ist ..."
Der Maler hatte schon begonnen, die Leinwand auszubrei­ten, als die Kaiserin an seine Seite trat und an seine Schulter tippte. Er schien sie nicht zu bemerken, sondern war weiter bedacht, seine Leinwand zu glätten.
"Die Kaiserin will euch etwas sagen", sagte Bal­deina streng und laut.
"Was soll euer Lohn sein? Darüber sprecht nun!" Die Kai­serin wehrte mit den Händen die Strenge ihres Günst­lings ab.
"Wenn ich scherzen wollte, würde ich sagen, ihr seid mein Lohn", antwortete der Meister. "Aber im Ernst, das über­lasse ich euch."
"Ich - euer Lohn?" Die Kaiserin sah auf die Perlen am Bo­den und wünschte, dass Baldeina sie doch aufgeho­ben hätte.
"Ein Spaß nur, Kaiserin", rief der Meister, als er den ernsten Schrecken der Kaiserin auf ihrem Gesicht bemerkt hatte. "Nicht wahr, Bursche, ein Spaß, wie wir ihn immer ma­chen!?" Er blickte sie an, als denke er nicht mehr an das Gesagte.
"Wenn ihr mit­kommen wollt", bat sie, "zu den anderen, den Kaisern in unserem Keller. Ich will sie euch zeigen."
"Ich kenne sie", sagte der Meister. "Es ist ein altes Gewerbe, was ich betreibe. Also weiß ich, wie sie ausse­hen." Er fasste die Kaiserin vorsichtig an der Schul­ter und lenk­te sie zum einem hochlehnigen Stuhl.
"Ich will stehen", sagte die Kaiserin und kippte den Stuhl solange, bis er nach hintenüber zu Boden fiel. "Auf dem Bild will ich wie die anderen Kaiser stehen."
"Ihr seid eine Frau", gab der Meister zu bedenken.
Die Kaiserin warf seinen Einwand lächelnd bei­seite. "Und schön will ich sein, nicht wie die anderen, grimmig und tot."
Der Meister schaute grimmig und tot. Sein Lehrjunge glotzte, als er seinen Herrn so sah und hätte sich beinahe mit sei­ner schmutzigen Hand auf die Leinwand abge­stützt.
"- als könnte ich sprechen und füh­len und alles, was ein Mensch ist!", setzte die Kaiserin mit festem Willen nach.
"Bedenkt, ihr seid im Reich des Todes. Was wollt ihr da mit diesen Dingen? Wie werden sie euch dort dafür an­se­hen?"
"Was gehen mich die anderen an? Solange ich selbst Ge­fallen an mir haben, brauche ich keine Geselligkeit, nicht einmal im Tod." Die Kaiserin sah Baldeina an, als warte sie von ihm erneut einen Zuspruch.
"Sie ist die Kaiserin. Man darf es ihr nicht verwehren", sagte Bal­deina und hoffte, dass es wieder das Rich­tige war.
"Der Günstling versteht nichts davon", sagte die Kaise­rin zum Mei­ster gewandt, "Aber ihr - ich sehe, dass ihr mich ver­steht."
"Bedenkt, wenn es gelingt, steht ihr vor euch, Le­bendige vor einer Lebendigen. Die Kaiser, als sie lebten, zogen es vor, sich grim­mig und tot im Bilde sehen."
"Dann bin ich zweimal lebendig, umso besser! Ich verlan­ge es - sehe keinen Grund, der mich abbringen könnte."
"Der Anblick dieser Frau, die euch gleicht und doch für alle Zeit sie selber ist, wird euch schmerzen."
"Messt euren Lohn nach meinem Schmerz!"
"Wie ... was sagt ihr?"
"Schön will ich sein, lebendig ewig schön. Wenn mich ihr An­blick schmerzt, dann sei der Lohn für eure Arbeit nach diesem Schmerz bemessen."
"Schöner wird sie sein und fremd ein Teil von euch", er­klärte der Mei­ster, weil sie nicht verstand. "Wenn es ge­lingt, dann bereite ich euch einen Schmerz, der in euch die See­le zer­reissen kann."
"Seid ihr ein Arzt oder ein Maler?", fragte die Kaiserin barsch.
"Dann ist es abgemacht", sagte der Meister ärgerlich, "An eurem Schmerz misst sich mein Lohn."

Chapter 128. Asari vor Tesla Haus

"Ich spüre, dass mein Sohn gekommen ist. Kind, zünde ein Licht an und sieh nach, was draußen ist." Tesla fasste suchend eine Kerze und hielt sie Dahima hin.
Diese legte das Kleid beiseite, an dem sie geschnitten hatte und stellte die Kerze in das Fen­ster.
Zwi­schen den wur­zellosen Bäu­men trieb ein Boot ohne Richtung. Ein Fährmann stand darin und stützte sich auf seinen schwarzen Schatten. Dahima fand es seltsam, dass er niemanden hatte, den fuhr.
Langsam ging sie um das Haus herum, begegnte in jedem Fenster demselben Mond, hörte Vogelrufe, die über das Wasser flo­hen. Sah zwei Lichter von tanzenden Würmchen und glaub­te den schrecklichen Schnitt ihre Kleides in den Sternen wie­derzuerkennen.
"Ich warte schon sehr lange", sagte Tesla, als Dahima zu ihr zurückgehkehrt war.
"Es ist niemand da", so Dahima.
"Es macht nichts, dass du ihn nicht gesehen hast", dazu Tesla.
Dahima betrachtete das Kleid, an dem sie nicht mehr schneiden konnte, weil sie für Tesla das Licht gelöscht hatte. 'Warum schneide ich ein Kleid?', dachte sie. 'Ich kann nicht schneiden. Dieses hier wird niemand für ein Kleid halten.'
"Stell dich nach draußen, Kind", sagte Tesla. "Er soll sehen, dass ich ihn erwarte."
Dahima ließ die Tür einen Spalt auf und stellte sich so auf den Steg in das Licht des Mondes, dass ein Neu­ankömm­ling sie würde sehen können. Ein Vogel rief etwas. War es ein Name, den er rief, der Name von Teslas Sohn?
"Da ist jemand auf dem Steg", sagte Asari leise.
"Das ist Dahima", antwortete Woi. "Sie wartet, dass end­lich jemand kommt."
Die beiden im Boot hatten sich hinter dem breiten Rüc­ken des Fährmannes versteckt gehalten. Sie kauerten, weil sie dem schwanken­den, schma­len Kahn nicht trauten.
Woi wusste nicht, auf was Asari noch wartete. Als er ihm Teslas Haus gezeigt hatte, hatte Asari den Fährmann ange­sprochen, dass er sich einen Platz zwischen den Bäumen suchen sollte.
Nun saßen sie und betrachteten die Umgebung. Obwohl Woi seine Ungeduld zeigte, lächelte Asari nur und sagte nichts. Irgendwie sah er aus, als freue er sich in die Beklommen­heit hinein. Das bleiche Gesicht hatte Farbe be­kommen an den Rändern und für kurze Zeit kerbte ein zu­friedenes Lachen seine Wange.
"Ich weiß nicht, wie ich sie ansprechen soll?", flüster­te Asari, als freue er sich an der Beschäftigung mit die­ser Frage.
"Sie heißt 'Tesla', ganz einfach 'Tesla'!" Woi stellte sich vor, wie schön es wäre, als Angler hier zu sitzen, auf die Langeweile zu warten und einen großen Fisch.
"Ihren Namen, meine ich nicht!" Asari wunderte, dass Woi so wenig verstand. In manchen Dingen war er verstän­dig, aber immer war es eine Klugheit, die in die Breite reglos auslief, nicht kreisend in die Tiefe sank. Seine Gedanken be­nutzten die Dingen, wie man Steine benutzt, um über ein fließendes Wasser zu ge­langen, das ein Hindernis war.
"Was ist mit 'Mutter', wenn dir 'Tesla' nicht passt", schlug Woi vor.
"Was sage ich, wenn ich sie sehe - das meine ich!", sagte Asari ärger­lich.
"Musst du selber wissen!", knurrte Woi.
Die Bäume sahen ihnen im Unguten zu und verständigten sich über die nächtliche Fahrt, die im Nichts ein Ende genommen hatte, mit ei­genartigen Vogel­stimmen, die einen Hall hatten, als würde sie von Gewölben zurück­geworfen.
"Denkst du, dass jemand die Menschen erfindet?", fragte Asari und spielte mit seiner Hand in dem Wasser.
"Noch nicht drüber nachgedacht", antwortete Woi knapp. Ihm wollte es scheinen, als denke sich Asari wieder etwas aus.
"Ein Traum hat mich geboren", sagte Asari. "Der ist meine Mutter. Das hat mir der Mond verra­ten."
"Ah", sagte Woi, "der Mond also ... redet viel in letz­ter Zeit, über Mütter und dererlei."
"Heute redet er nicht", so Asari, "sonst wüsste ich, wie ich sie ansprechen soll."
Der Fährmann sagte nichts, sondern stakte mit seiner Stange im Grund des schwarzen Wassers, wo seine Ge­danken ertrunken wa­ren.
"Hat der ERFINDER nicht das größte Recht an uns - was denkst du?", fragte Asari und hob den Blick plötz­lich zu Woi.
Dieser hatte an nichts gedacht. Es war so kläglich wenig gewesen, dass er lieber nicht darüber sprechen wollte.
"Du solltest aber darüber nachdenken!", verlangte Asa­ri, der nicht verstehen wollte, dass die Nacht nicht auch seinen breitklugen Nachbarn in den Bann zog.
"Warum sollte ich?"
"Du könntest dem Menschenerfinder begegnen", fuhr Asari in aller Ruhe fort und störte sich nicht an dem Blick des Fährmannes.
Woi fiel nichts ein, was er auf solchen Unsinn hätte antworten können. Was gab es für einen Unterschied zwi­schen einem verrückten Kaisersohn und einem Menschenerfin­der?
"Er könnte dich, den Fürstensohn, neu erfinden."
"Warum sollte er?", entgegnete unwirsch Woi.
"Das ist eine gute Antwort", gestand Asari lachend. "Du ge­fällst dir, wie du bist. Warum sollte du IHM nicht ge­nauso gefallen."
"Ungefähr so", knurrte Woi.
"Nimm einmal an, ich wäre dieser Menschenerfinder. Wür­dest du mir gefallen?"
"Nein, in deine Welt passe ich als Mensch nicht rein", sagte Woi und zeigte mit einer Handbewegung auf die Umge­bung. "Alles muss bei dir aus­sehen wie das, ab­gebrannt und verlassen, Geister und Schatten ... aus­gedachte Men­schen im sprechenden Mondschein."
"Lustig heute, Fürstensohn?"
"Wusstest, dass die Bäume tagsüber grün sind, dass der Him­mel blau ist, nicht schwarz, und dass die meisten Men­schen mit einem Traum im Kopf auf ihrem Kissen liegen und sich für den Tag AUSSCHLAFEN?"
"- aber WIR doch nicht", hielt ihm Asari entgegen, "wir Menschenerfinder." In den Augen von Asari glommen vor Ge­sprächslust zwei Glüh­würmchen.
"Ich bin keiner", sagte Woi knapp, "und kann gut ohne einen auskommen."
Er grimmte vor sich hin. Eigentlich war ihm das alles nicht mehr wichtig. Dieser Asari war einfach verrückt, und Woi würde ihn als Letztes zu seiner Mutter bringen, dann fortgehen und irgendwo durchschlafen, um wieder er selbst zu werden.
"Warum fahren wir nicht einfach hin?", fragte er. "Was sitzen wir hier und warten auf nichts."
"Weil ich nicht weiß, wie ich sie ansprechen soll", ant­worte­te Asari geduldig.
"Sag Bescheid, wenn es dir eingefallen ist", sagte Woi und legte das Grinsen des Fährmannes vor­sichtig auf den Bootsrand.
"Was tut das Mädchen?", fragte Asari und zeigte auf Da­hima, die so unbeweglich stand, dass sie an eine weiße Kerze erinnerte.
"Sie wartet und friert, das siehst du doch!"
"Wenn sie nicht wartet und friert, meine ich!"
"Sie ist Teslas Pflege­tochter", erklärte Woi. "Hilft ihr. Eine Blinde braucht jemanden."
"BLIND ist Tesla?", fragte Asari erstaunt.
"Natürlich - ich meine, ja. Blind, immer schon." Auch der Fährmann und das Boot nickten.
"Dann können wir los!", sagte Asari. "Jetzt weiß ich, wie ich sie ansprechen werde."

Chapter 129. Der schweigende Sohn

Das Mädchen hatte das Boot nun entdeckt. Sie stand auf dem Steg und sah zu ihnen hin. Mit einem Mal nahm sie den Um­hang von ihren Schultern, als brauche sie ihn nicht mehr. Dabei zitterte sie in ihrem dünnen Kleid, das ihr der Wind gegen den Körper blies.
Zuerst erkannte sie Woi. Hinter ihm, in seinem Schat­ten, saß der, den sie er­warteten. Er zeigte sein Ge­sicht nicht, und doch spürte sie, dass er sie beobachte­te, nicht wie ein Junge ein Mädchen ansieht, son­dern auf eine andere Wei­se.
Woi kletterte als erster auf den Steg. Sie reichte ihm die Hand, aber er brauchte ihre Hilfe nicht. Dafür nahm der andere ihre Hand. Für einen Augenblick glaubte sie, er wolle sie herunterziehen, aber dann war er sehr leicht und kam ihr entgegen.
Sie schaute in sein Gesicht. Er war anders als die jun­gen Männer, indem er ihren Blick nicht erwiderte, sondern ertrug. Etwas Undurchdringliches umgab ihn, als sei er von großer Schönheit, aber das war er nicht. Er sah gewöhnlich aus. Nichts hat­te er von sei­ner Mutter im Äußeren, also musste er seinem Vater wohl ähn­lich sein, wenn ihm über­haupt jemand von seinem Äu­ßeren abgegeben hatte.
Der junge Mann sagte nichts, schaute Dahima nur achtlo­s an. Dies tat er auf eine schamlose Wei­se, die nicht ihrem Körper galt. Ihr war, als sehe er ihre Schön­heit nicht. Er hatte keinen Sinn dafür. Es galt nicht ihr, und sie konnte ihm nicht böse sein.
"Ich höre jemanden", rief Tesla von drinnen. "Führ ihn herein, Kind. Und schließ die Tür, die Kälte will mit euch herein."
Sie saß auf ihrem Stuhl, hoch aufgerichtet, als halte sie sich für einen erbitterten Kampf bereit.
"Du bist es, Woi", sagte Tesla. "Hast ihn mitgebracht, wie du es versprochen hast?"
"Ja", sagte Woi und war zum ersten Mal stolz auf das, was er zu Wege gebracht hatte.
"Bitte ihn näher heran", sagte Tesla. "Sag ihm, er braucht vor seiner Mut­ter keine Angst zu haben."
"Tritt näher heran, Menschenerfinder", flüsterte Woi ihm zu. "Es ist nur dei­ne Mutter!"
So unhörbar trat Asari auf, dass Tesla ihn nicht ausma­chen konnte. Sie wusste, wo Woi stand und wo Dahima, aber ihre leeren Augen irrten auf der Suche nach ihrem Sohn im Raum umher. Nichts ging von ihm aus, was sie spü­ren konn­te. Kein einziges Mal spürte sie eine Anziehung. Es war, als sei im Raum niemand sonst als die beiden, die sie kannte. Trieb man ein Spiel mit ihr oder war es schlimmer.
"Ist er da?", fragte sie zögernd, als schäme sie sich zugeben zu müssen, dass sie seiner nicht gewahr wurde.
"Ja", antwortete ihr Woi, "er steht neben mir." Aber mitleidig bemerkte er, dass sie zur falschen Seite sah.
Endlich beschloss sie, sich ihren Sohn zu denken. Es gab keinen Grund, sie zu täu­schen. Also war er da, machte sich nur unsichtbar! Mutterliebe suchte sich auf Teslas Gesicht einen Platz, der ihr zum Bleiben gefiel.
"Ich will allein sein ... mit ihm", sagte Tesla. "Geht, war­tet draußen, bis ich rufe."
Die Unerwünschten stellten sich auf dem Steg nebenein­ander und sa­hen in die Nacht hinaus, jeder in eine ande­re Rich­tung. Da­hima schaute zum schmalen Mond hinauf, der nicht weni­ger fror als sie. Woi such­te die ins schwarze Was­ser hän­genden Vor­hänge der Wei­den nach einer Bewegung ab. Er wäre froh ge­wesen, wenn er dort den war­tenden Fähr­mann gesehen hät­te.
"Sie will allein mit ihm sein", sagte er, doch eher hät­te der Mond zu ihm gesprochen als diese Stumme. Da­hima nick­te und hatte einen seltsamen Blick. Mit seinem Schwei­gen hatte Asari sie ange­steckt, wenn er sie nicht ganz neu erfunden hatte. Dahima war so ein Mensch, der sich erfin­den ließ.
Drinnen hörten sie Tesla sprechen. Erst leise, dann laut und aufgeregt, dann wieder still und fortfahrend, als halte sie eine lange, erschöpfte Selbstrede.
Dahima hatte wohl bessere Ohren als Woi, denn sie schien zu lau­schen und schüttelte immer wieder den Kopf. Er hätte nicht sagen können, ob aus Verwunde­rung oder Ver­zweiflung. "Sie ruft nach uns", sagte Dahima. Aber Woi wollte sel­ber den Ruf vernehmen ud drückte sein Ohr gegen die hölze­nere Wand.
"Wenn ich es weiß!", sagte Dahima und zog ihn am Arm zur Tür. "Schnell, sie ist traurig! Wir müssen ihr zu Hil­fe kommen!"
Tesla saß in ihrem Stuhl und hatte den Kampf verloren. Ir­gendwie erinnerte auch Tesla ihn nun an einen er­fun­de­nen Menschen erinnerte. Asari hatte ihr sei­nen to­ten Wil­len aufgezwungen.
'Jetzt glaubst du, dass ich es kann!', schienen seine Blic­ke sagen zu wollen.
"Er sagt nichts", beklagte sich Tesla bei Woi. "Ist es der Richtige? Ich weiß es nicht. Er ist stumm. Ich kann nicht sagen, ob es ihn überhaupt gibt."
"Es ist der Richtige", beruhigte sie Woi. "Ich weiß auch nicht, warum er nichts sagt. Sonst spricht er flüs­sig ... eher zuviel als zu wenig." Asari zog die Augenbrauen hoch und ärgerte sich über Woi.
"Bist du sicher, es ist der Richtige? Der aus dem Ge­fäng­nis des Generals? Treibt er ein Spiel mit mir? Warum sagt er nichts?" Aber es waren Fragen, die keinen Platz für eine Antwort ließen.
"Was sagt er über seine Mutter?", fragte Tesla, die vor sich hingestarrt hatte. "Du sagst doch, dass er zu anderen spricht."
"Er ist ihr dankbar für alles, was sie für ihn getan hat", antwortete Woi, indem er sich an die Tage in sei­nem Le­ben erinnerte, in denen Mitgefühl etwas galt.
Solche Worte hatte sie hören wol­len. Es war nun nicht wichtig, wer sie aus­sprach. Sie erkannte die Worte aus ihren Vorstellungen wieder, die sie sich einsam gemacht hatte­. Tes­las Gesichts­züge wurden weich. Ihr Sehnen rie­f nach den Träu­men, die sie sich von ihm gemacht hatte. Wie wollte er diese zerstören, dieser Sohn, der dem Nichts näher war als seiner Mutter!?
"Ich werde noch viel mehr für ihn tun", sagte Tesla, nun voller Stärke und Hoheit, "viel mehr, als er denken und hoffen kann!"
"Er ist dankbar für das, was seine Mutter tat", teilte Woi ihr mit.
"Aber stumm ist er nicht, nur zu mir?"
"Ich habe ihn zu anderen reden gehört."
"Er wird alles von mir zu­rück­bekommen", sagte Tesla in eine unbestimmte Richtung. "Alles und viel mehr! Es ist soviel möglich, wenn eine Mutter es will. Das weiß er doch?"
"Er vertraut seiner Mutter völlig", sagte Woi und ob­wohl es ihm zuwi­der war, fügte er hinzu: "Es wird al­les wer­den, wie es früher war."
Asari hatte sich erhoben, war zur Tür gegangen und sah nun von draußen durch das Fenster hinein.
"Nichts wird so sein wie früher. Nun wird die Mutter wird an seiner Seite ste­hen!"
Woi schluckte an einer vorgekauten Höflichkeit.
"Dabei weiß ich nicht ein­mal sei­nen Namen", rief Tesla, "Schnell, sag mir seinen Namen, ehe er wieder fort ist!"
"Sein Name ist Asari. So sagt er jedenfalls."
Sie schien Gefallen an diesem Namen zu haben. Es stimmte sie traurig, dass er den Namen nicht von seiner Mutter bekom­men hatte.
"Es ist ein schöner Name, Woi" - Tesla fasste nach sei­ner Hand - "seine Mutter hätte ihm keinen schöneren finden können."
Woi war einfach müde. Er hatte genug von diesen wirren Reden und seinem Abenteuer. Draußen stand Asari und wenn der Fährmann kam, würde er ohne Woi davonfahren.
"Geh nun, stummer Sohn", sagte Tesla und suchte mit ih­rer Hand, bis ihr Woi seine aus Mitleid reichte. "Ist das deine Hand?"
"Es ist meine", sagte Woi, "aber seine ist nicht viel anders. Wir haben ähnliche Hände."
"Du kennst ihn", sagte Tesla. "Wie ist er denn? Erzähl' mir von ihm, wenn er selbst nichts sagt."
"Er ist ...", begann Woi, aber ihm fiel nichts ein.
"Schnell, beeil dich, ich muss es wissen, bevor er geht", drängte Tesla.
"Er ist manchmal ein wenig seltsam", gestand Woi, weil er ihr von der Wahrheit wenigstens die Hälfte zumuten wollten.
"Nickt er jetzt? Zeigt er sein Einverständnis?"
"Nein, eigentlich nicht ...", erwiderte Woi und sah, dass Asaris Kopf aus dem Fenster verschwunden war. Das konnte nur bedeuten, dass er draußen nach dem Fähr­mann winkte!
"Ich glaube, er ist gern allein", sagte Woi.
"Einsam ist sein Schicksal und einsam meine Schuld. Wer führt sie zusammen, dass sie sich trösten, wer?"
"Er tut Dinge, die man nicht erwartet", sagte Woi, ob­wohl er draußen die Gestalt des Fährmannes sah und Asari damit genau das tat, was Woi vorausge­sehen und befürchtet hatte.
"Sprich von ihm", forderte Tesla ihn auf. "Er muss es sich als Schweiger gefallen lassen, dass wir über ihn re­det."
"Ihn kümmert nicht, was mit anderen passiert", sagte Woi und meinte es ehrlich.
"Er wird ein Kaiser sein, da muss ihn das Schicksal der Gemeinen nicht kümmern!"
"Einen Freund stelle ich mir jedenfalls anders vor!", entgegnete Woi ihr trotzig, als er das Boot abstoßen hör­te.
"Was ist draußen?", rief Tesla. "Ich höre Geräusche. Ist er verraten worden?" Wild sah sie sich um, als suche sie eine Waffe, die sie gegen die Soldaten führen konnte.
"Nein", sagte Woi, "euer Sohn rief den Fährmann und fährt ohne mich zurück!"

Chapter 130. Die Schönheit der Kaiserin

Dem Bild der Kaiserin fehlte außer Hals und Ket­ten­be­satz alles, was ein Bild ausmachte. Während die Kaiserin es miss­mutig betrachtete, rannte der Maler zwi­schen ihren Händen und sei­nem Bild hin und her und stieß immer wieder mit seinem Jungen zu­sammen.
Die Kutten­frau stand am Fenster und sah hinaus, als habe sie jedes Inter­esse an der Kaise­rin ver­lo­ren. Auch die Dienerin bewegte sich nicht, obwohl das gan­ze Zimmer in einer einzigen Unordnung war. Weder ihr Günst­ling Baldeina noch sonst jemand vom Hof hatte sich bei ihr sehen las­sen, obwohl es spät am Mor­gen war.
"Fertig!", rief der Maler triumphierend und stellte die Leinwand so, dass niemand außer sei­nem Jungen und ihm et­was sehen konnte. "Die Hände - das Schwierigste - fertig - vollendet!"
"Was kommt jetzt?", fragte die Kaiserin und war immer noch, wenn auch weniger missmutig. Als der Maler ihr das Blatt hinlegte, schob sie es weg, ohne darauf gesehen zu haben.
"Wollen sie das Werk nicht sehen?", fragte er und lud sie ein, neben ihn zu treten.
"Ich kenne meine Hände", beschied ihn die Kaiserin so ungnädig, dass die Kuttenfrau sich umblickte.
Mit Genugtuung betrachtete er sein Werk und drehte es schließlich so, dass die Kaiserin es von ihrem Sitz aus hätte sehen können, wenn sie nicht in eine andere Richtung geblickt hätte.
"Die Frage ist zu klären, welches Kleid wir wählen", rief der Maler in Hochstimmung. "Der Hals, die Hände, das Kleid und der Kopf - in dieser Reihenfolge!"
"Welches Kleid nehmen wir?", fragte die Dienerin und bekam von der Kaiserin statt einer An­twort den stummen Fin­gerzeig, sich an den Kunstmaler zu wenden für Dinge, die das Bild angingen.
Also stellte sich die Dinerin in den Raum und hielt dem Maler meh­rere hin. Doch er übersah sie, weil er da­mit be­schäftigt war, das Licht des Tages zu prüfen. Vor jedem der Fenster nahm er ein Bündel davon zwischen die Finger und rieb, als prüfe er seine Beschaffenheit.
"Ein wenig noch, dann ist es richtig", sagte er zu sei­nem Jungen und tauchte dessen Hand in ein durchsichtiges Rinnsal, das vom Fensterbrett zu Boden floß.
Die Dienerin hielt eines der Kleider vor das Fenster und ein anderes vor das empörte Gesicht des Malers.
"Er ist ein guter Mann", wies die Kaiserin aus dem Halb­dunkel ihre Dienerin zurecht. Heimlich hatte sie das Bild ihrer Hän­de betrach­tet und großen Gefallen an deren Ausge­stal­tung ge­funden.
"Ich wollte nur, dass es vorangeht", sagte die Dienerin und tat beleidigt.
"Bitte", sagte der Maler, der Mut geschöpft hatte aus dem freundlichen Blick der Kaiserin. "Die Frage des Klei­des ist zu unterscheiden von der Wahl des Klei­des." Die Die­nerin und der Junge sahen sich ver­ständ­nislos an.
"Ich verstehe", sagte die Kaiserin und prüfte das Licht zwischen den Fingern, gerade wie der Maler es getan hatte.
"Welches ist das Gesicht der Kaiserin?", rief der Maler. Damit sah auch die Kaiserin ihn ohne Ver­stehen an.
"Ich muss ausholen!", rief der Maler und malte Unsicht­bares von kehligen Lauten begleitet. "Das Kleid kann ich wählen, aber nicht das Gesicht. Das kann nur die Kaiserin selbst wählen."
"Erklärt mir das", bat die Kaiserin. "Aber eilt euch, es strengt mich an, das steife Sitzen."
"Wenn die Kaiserin mir ein Gesicht aufgibt, welches ei­nen Glanz besitzt, wie es der Tag in dieser Stunde hat, dann wer­de ich Au­gen und Mund und das Wei­che des Haares hervortreten lasse - kurz das Antlitz nicht das Kleid. Im ande­ren Fall betone ich die glat­ten Flächen des Ge­sichtes, die Stirn, die Wan­gen, den Hals - lasse dafür im Kleid die Schönheit hervortreten."
"Fehlt etwas an meiner Schön­heit?", fragte die Kaiserin unwillig.
"Schön seid ihr Kaiserin", bestätigte ihr der Kunstma­ler zögernd. "Eine, die so schön ist, habe ich noch nie malen dür­fen, und dennoch ..."
Die Kaiserin schreckte aus ihren Gedanken hoch. "Sagt, was es ist, seid ehrlich zu mir."
Der Mann krümmte sich, wollte kein Wort sagen, aber die Kai­serin sah ihn stumm und eine Antwort fordernd an.
"Es ist ... eure Schönheit ist kalt ... ich meine matt. Sie hat keinen Glanz, schluckt das Licht, wie ich eben sag­te."
"Hört ihr, was er sagt", wandte sich die Kaiserin vor­wurfsvoll an die Kuttenfrau.
Wenn diese zugehört hatte, dann zeigte sie es nicht. Weiter sah sie aus dem Fenster, das kein Licht hatte.
"Wird es etwas mit meiner Schönheit?", sprach die Kaise­rin sie herausfordernd an. "Ihr habt sie mir ver­spro­chen. Dann hört nur, was dieser verständige Mann dar­über sagt!"
"... jeden Glanz, den ihr euch wünscht", sag­te die Ange­sprochene, "wie es mein Versprechen war."
"Ihr hört es, Meister Maler", so die Kai­se­rin milder ge­stimmt. "Was sie sagt, hat meinen Glauben und euer Ver­trauen. Wir wählen das einfa­chste Kleid. Für den Glanz, der strahlt, wird gesorgt sein."
Der Kunstmaler war völlig einverstanden. In seinem Ge­sicht drückte sich tiefes Bedauern darüber aus, dass er gewagt hatte, die Din­ge im Zweifel zu betrachten.
"Ich sehe euch in einem Kleid, welches völlig schwarz ist, die Schuhe bedeckt, zum Hals geschlossen, darüber das Band der Per­len", sagte er, "die Arme bloß bis zur Schul­ter und wie eine Krone das -"
"- haben wir nicht", unterbrach ihn die Dienerin.
"Was ist?", fragten Maler und Kaiserin.
"Ein solches Kleid gibt es nicht."
"In meiner Vorstellung", sagte der Maler streng, "in meiner Vorstellung gibt es jedes Kleid, jedes!"
"Ah so", sagte die Dienerin, "ah so!" Dann stülpte sich ihr Mund im Beleidigtsein sein auf, und ihre Augen hinter­ließen kleine Brandzeichen auf dem Kleid, das sie in den Händen hielt.
Doch der Maler hatte sie nicht weiter beachtet, sondern sofort mit seinem Werk begonnen. Schnell hatte er die Flä­chen gefüllt, hier und dort sorgfältig einen Punkt gemes­sen und eingezeichnet und immer wieder die Farben, die der Junge ihm reichte, auf einem Blatt ausprobiert.
Die Kaiserin sah ihm dabei zu, wie er die feinen Linien über­ein­ander legte, bis das Kleid in seiner Strenge umris­sen war. Daraus traten ihre Arme aus feinsten ver­schatteten Linien hervor und verbanden die vorhandenen Hände mit dem Kleid. Es waren Arme, die sie in solcher Nacktheit nie­mals hätte tragen dür­fen!
Es trat ihr nun klar vor Augen, wie recht der Maler hat­te! Wenn sie nicht wollte, dass die anderen sie heimlich ansahen wie die Wit­we eines toten Kaisers, die schöne, aber er­kaltet lie­gen gebliebene Hül­le einer kin­der­losen Ehe, dann musste etwas ge­schehen! Was immer der Ma­ler ver­langt hatte, die Kuttenfrau hatte es ver­spro­chen!
Sie betrachtete dieses Bild. War es nicht traurig, dass ihm der Kopf fehlte? Und doch war ihr die­se Gestalt so nah! Dies war die Frau, die sich an einen alten und kalt­herzi­gen Mann weggegeben hatte, dem nicht aufgefal­len wäre, wenn sie ihm so - ohne Gesicht - begegne­te wäre.
'Meine Lie­be', hätte er ge­sagt und an etwas ande­res ge­dacht, 'wie wohl die Kai­serin heute wie­der aus­sieht.'
Sie dachten an die anderen Kaiser unten im Keller. Sah deren Kleider vor sich. In der Tiefe leuchtende Farben und präch­tige, von Ge­heimnissen kündende Ornamente. Jedes anders in sei­ner Pracht. Jedes blieb auf eine wunderbare Weise für sich und sagte nichts über den Träger. Es gehör­te dem Mann nicht, ge­hörte der Frau nicht. Schwieg über sie, hielt nichts von ihnen im Leben zurück. Was blieb von all diesen Kai­ser und ihre Ge­mah­lin­nen als gelie­he­ne Klei­der?
Was für ein sonderliches Kleid der Maler aus seinem Kopf gemalt hat­te! Sie stellte sich vor, wie sie in diesem Kleid den ande­ren im Keller er­scheinen würde. Es war von so tiefem Schwarz, als sei es aus der Leinwand herausge­schnitten worden. Als gebe es dieses Kleid nicht. Ja, als sei es ein Nichts. Und nur das ande­re, das Antlitz, ein Etwas an seiner Stelle. Die Hände, die schma­len, die feinen Hände, das waren ihre, die Arme ... waren nicht alle Dinge ohne Makel nackt zu nennen?
"Es ist soweit", verkündete der Maler. "Alles ist fer­tig, bis auf den Kopf."

Chapter 131. Ken im Stall

Das Licht fiel auf die gewohnte Weise ein. Es hatte ei­nen dicken Stamm und feine Zweige. Deshalb dachte Ken zu­erst, er läge unter einem Baum. Aber es war das Sonnen­licht im Stall. Das Fenster hatte ihm Äste und Zweige ge­macht.
Etwas anderes hatte ihn geweckt. Nicht wie gewöhnlich geweckt, dass er gleich wieder einschlafen konnte. Nicht so, wie das Stroh mit seinen Stechhalmen weckte, die ihm in der Nacht gewach­sen waren. Nicht das Schnauben der Pfer­de, wie ein Dampf aus warmen Kesseln, oder das Schnar­chen des Meisters, das über die Dielen knarrte.
Etwas war mit seinem Arm. Er nahm ihn hoch und hielt ihn gegen das Licht. Etwas fehlte ... die Bandage war fort! Es war ein rundherum gesunder Arm geworden, und er war wieder Ken, der Pfer­de­jun­ge von diesem Arm!
Das war es also, was ihn ge­weckt hat­te! Um si­cher zu gehen, dass es so war, riss er den Halm los und kaute ihn solange für die Ohren, bis er deut­lich das Schnar­chen des Mei­sters hörte. Nun war er sich sicher, dass es vorbei war - das andere, das Höfi­sche, das Gefähr­liche.
Als er die Schritte des Meisters hörte, der über die knarrenden Die­len schlürf­te, stellte Ken sich schlafend. So konnte er nicht sehen, was der Meister für ein Gesicht machen würde, aber Ken kannte alle seine Gesichter, auch das überrasch­te, wenn der Bart einen Ruck nach unten machte und die Augen wie Betrunken umhertor­kelten.
Der Mei­ster stand vor seiner Schlafplatz und überlegte, ob er seinen Jungen wirklich sah. Dann überlegte er ebenso lange, ob er ihn in die Seite treten durfte, wenn es sein Junge war. Natür­lich nur leicht, eben wie er es früher gemacht hatte. Viel­leicht nur an­tippen ...?
Von Ken aus hätte er es ge­durft, aber er tat es nicht. Und das wieder­um war Ken auch recht.
"Bist wieder zurück?", fragte der Meister und tippte ihn an der Schulter.
Da schlug Ken die Augen auf und nickte. Sprechen würde er erst einmal nicht. Er hatte das Gefühl, dass ihm der Meister nichts anhaben konnte, irgendwie war ihm, als möge der Meister ihn jetzt.
"Bist wieder zurück", stellte der Meister für sich fest. In seinem Bauch knurrte der Hunger. Erst wie ein Ruf, dann stotternd, weil er sich verlegen fühlte.
Weil der Meister sich niedersetzte, setzte Ken sich auf. So saßen sie beiden nebeneinander. Das Sonnen­licht malte dicke Äste auf den Bart des Meisters und wip­pende Zweige auf die Stirn von Ken.
"Wie war es, Junge, bei denen ...?", fragte der Meister.
"Man denkt es sich anders" sagte Ken. "Zuerst ist es leicht, dann später schwer."
"Ja, das war mir gleich ...", sagte der Meister und nickte.
"Die Pferde sind besser zu verstehen", sagte Ken, "ob­wohl sie nicht sprechen."
"Mit dem Verstehen ist es eine Sache", sag­te der Meister und kratzte an einem dicken Ast.
"Wie wenn ein Stein in das Wasser fällt", erklärte Ken und zeichne­te es mit seinem Halm auf dem Boden. "Erst sind da Kreise. Dann sind die Kreise fort und der Stein auch. So ist das mit dem Verste­hen."
"Ja, mit dem Verstehen ...", sagte der Alte nachdenkend.
"Keiner weiß, wo er hingehört. Nichts bleibt an seinem Platz", erklärte Ken und zeigte mit dem Halm, wie er es meinte.
"Haben sie denn nichts gemerkt. Ich meine, du weißt schon ..." Selbst betrunken würde er merken, wenn ihm Ken etwas vorflunkerte.
"Ich glaube, es war ihnen nicht wichtig, etwas zu mer­ken. Wenn sie es gewollt hätten, vielleicht ..."
Der Meister nickte stumm. Das konnte er sich vorstellen. Er fand, dass Ken es gut erklärt hatte. "Warum bist du gegangen, Junge? Ist was passiert?"
"Sie haben mich zum Richter gemacht", sagte Ken.
"Hmm", brummte der Bart.
"Der richtige Richter war geflohen, weil er Angst hat­te." Ken fror ein wenig, als er daran dachte, dass er ein wirklicher Richter gewesen war. "Ich musste jemanden se­hen, der aber unsichtbar war - das haben sie verlangt!"
Der Meister legte ihm die Decke um die Schulter. Wenn Ken schon zurück gekommen war, dann sollte er es wenig­stens besser haben.
"Ich hab mir gedacht, wenn ein richtiger Richter geflo­hen ist, was kann erst einem falschen Richter passie­ren."
Der Alte nickte stumpf und fasste seine Nase.
"Ich sollte ja die Prinzessin heiraten", begann Ken zu erzählen.
"Ich hab dich mit dem Heldenarm gesehen", sagte der Alte und versteckte ein Lächeln im Bart.
"Das mit dem Arm war schon gut, aber der, den ich eifer­süch­tig machen sollte, ist abgereist, da war ich mit der Prin­zessin alleine."
"Aber eine Prinzessin? Ist die was für dich?"
"Sie war schon nett, aber eben irgendwie an­ders. Ist auch schwer für eine, wenn sie eine Prinzessin ist. Alle kamen sie mit Din­gen, aber es war nichts für sie dabei. Ich glaube, sie mochte mich, weil ich nichts von ihr woll­te ... eben wie eine Prinzessin jemanden mag."
"Die von den Gänsen hat auch nach dir gefragt."
Der Halm in Kens Mund mummte.
"Hab ihr gesagt, ich weiß nicht. Da ist sie weg."
"Ich geh mal zu ihr", sagte Ken. "Ich meine, wo sie ge­fragt hat ..."
"Erst bleib du mal im Stall!", sagte der Meister. "Ich hör da was. Nicht, dass sie dich suchen tun ..."
"Ach", sagte Ken furchtlos, aber er sah nur aus dem Spundloch, nicht aus dem Fenster, wie der Meister.
In der Mitte des Hofes stand der Hofgünstling Baldeina. Er hatte die Kü­chenmägde antreten lassen. Zwei seiner Soldaten trie­ben sie wie die Gänse im Kreis umher. Ken versuchte zu hören, was sie aufgeregt riefen.
"Die da", sagte Baldeina und zeigte auf eine, die schöne Haare hatte. Gleich wurde sie von einem der Soldaten ge­packt und von den anderen fortgezogen.
"Du auch", sagte Baldeina, weil die Magd schöne Lippen, so recht zum Küssen, hatte.
"Die auch", sagte Baldeina und zeigte auf einen hüpfen­den Busen.
"Und diese", entschied Baldeina und zeigte eine, die von hinten einen strammen Lauf hatte.
"Die anderen fort!", sagte er dann. "Wenn die Kaiserin mehr will, holen wir uns noch welche."
Die Soldaten schauten die vier Mägde, die Baldeina her­aus­gesucht hatte, so begehr­lich an, dass sie sich halb und halb zu fürch­ten be­gannen.
"Mädge, hört zu", sagte Baldeina, "weil ihr die Hübsche­sten seid, habe ich euch ausgesucht."
Die Mädchen kicher­ten und steckten die Köpfe zusammen. Der Günstling sprach so laut, dass all die Fortgeschickten es hören würden, wenn sie nur mit den Köpfen nah genug an den Wänden lauschten.
"Heute am Abend gibt es einen Tanz mit der Kaiserin", fuhr er fort. "Die Hübschesten und die Jüngsten von den Mägden lädt sie."
Verschoben sich die lauschenden Wände nicht von dem Neid, der dar­in ohne Entkommen gefangen war, oder meinten die vier es nur?
"In den nächsten Stunden werdet ihr zurechtgemacht, da­mit alles so ist, wie die Kaiserin es verlangt hat. Ihr seid doch einverstanden?"
Der Busen machte einen tiefen Knicks, die Lippen leckten sich feucht, ein Lächeln nahm sich zwei Grübchen auf die Backen. Die vierte Magd bewegte sich nicht, damit das Licht nicht von ihren Haaren herun­terglitt.
"Nehmt sie mit", sagte er seinen Soldaten, "und zeigt ihnen ihre Räume."

Chapter 132. Worthässlichkeit

Am Ende des Ganges standen zwei Soldaten, die zu ihm herüberschauten. Baldeina hätte sie rufen können, aber er tat es nicht. Wie hätte es ausgese­hen, wenn er am Zimmer der Prinzessin­nen im Beisein von Soldaten geklopft hätte? Nein, das war unmöglich, ge­radezu unritterlich!
Er klopfte vorsichtig und beugte sein Ohr zur Tür, weil er nicht erwartete, dass ihm geöffnet wurde. Nie­mand antwortete, und er hörte nichts, als dass die Sol­daten mit ruhigen Schritten auf- und abgingen.
"Ich bin es, Baldeina", rief er durch die Tür. "Ich kom­me mit einer wichtigen Botschaft."
Er hatte das Gefühl, dass jemand auf der anderen Seite war. Eigentlich hätte er sich sicher sein können, aber dieses Gefühl hatte ihn schon einmal getrogen. Da war es eine Katze gewesen oder etwas ähnliches.
"Es ist eine Botschaft der Kaiserin, die keinen Aufschub duldet. Bitte, ist jemand da? Hört mich jemand?"
Baldeina pochte in einer ritterlich fordernden Art. "Die Kaiserin bittet die Prinzessinnen zum Tanz. Sie sollen sich ein wenig zurechtmachen."
"Die eine Prinzessin ist unpässlich", hörte er Nadim sagen. "Die andere weiß nicht, ob sie kommen soll."
"Welche ist unpässlich?", fragte Baldeina.
"Eine spricht, die andere nicht. Da weiß er doch, welche unpässlich ist?"
"Gut, dann eben nur die eine", sagte Baldeina. "Ich glaube, ich könnte es erklären, wenn nur eine Prinzessin kommt."
"Nadim weiß nicht, ob sie kommen soll."
"Sie MUSS kommen. Die Kaiserin hat es befohlen", be­drängte Baldeina die Tür.
"Dann ist sie eben auch die zweite Prinzessin unpäss­lich!"
"Nein!", rief Baldeina. "Es duldet keinen Aufschub. Die Kaiserin sitzt dem Maler Modell und lädt zum Tanz. Die Mädchen und die Prinzessinnen sollen in verkleideter Häss­lichkeit um sie sein. Es ist nur ein Spiel, aber die Kai­serin nimmt es ernst."
"Wie denkt er, soll sich die Prinzessin kleiden?"
Wenn Nadim keine Widerworte gab, dann war sie umge­stimmt, oder zum mindesten neugierig geworden. Es gab Grund, zuversichtlich zu sein.
"Sie soll sich hässlich machen", sagte Baldeina und wusste bereits, dass diese Ant­wort Nadim nicht genügen würde.
"ER soll sagen, wie er sich das Prinzessinnen-Hässliche vorstellt!"
"Eben so - in schlechten Kleidern, derben Schuhen, die Haare zerzaust ..."
"Sie ist eine Prinzessin, keine Magd!"
"Es ist doch nur für ein paar Stunden!", rief Baldeina erklärend und sah, dass die Soldaten unver­rückbar neu­gie­rig dem dargebotenen Schauspiel zuschauten.
"Prinzessin ist ein Mädchen für IMMER!", sagte Nadim streng. "Ich frage mich, wie es mit seiner Liebe steht? Gedenkt er auch, sich von ihr freizunehmen für ein paar Stun­den?"
Die Soldaten kontrollierten die vom Gang auf den Hof blickenden Fenster, um besser hören zu können.
"Es eilt!", rief Baldeina. "Die Kaiserin wird beide Prin­zessinnen von Soldaten holen lassen, auch die unpäss­li­che!"
"Die Hässlichkeit der Prinzessinnen, was macht sie für IHN aus?", fragte Nadim, als sei ihre Tür ein Boll­werk.
"Ich sehe nur die Schönheit!", wehrte Baldeina ihr An­sinnen ab.
"Macht sich nicht verdächtig, wer einer ungesehenen Prinzessin Schön­heit zuspricht?" Ihre Stimme verriet Bal­deina, dass Nadim ein Gesicht über ihn schnitt.
Baldeina fand, dass ihm Unrecht geschah. "Ich habe doch gar keine andere Möglichkeit, als Dessas Schönheit ah­nungs­weise zu sehen! Was will ich denn ma­chen, wenn ich sie nie zu Gesicht bekomme!"
Der eine von den Sol­daten hatte seinen Stiefel ausgezo­gen. Sein Ka­merad stützte ihn dabei. Wäh­renddes­sen stand er auf ei­nem Bein, schüttelte den Stiefel und horch­te in ihn hin­ein, schüt­telte den Stiefel und horch­te.
"Er sprach von der Hässlichkeit, mit welcher sich die Prin­zessin zum Tanze kleiden soll", erinnerte Nadim. "Wenn nicht in schlechtem Kleiderzeug - wie geht sie dann?"
"Dann eben anders - gebeugt vom Alter, faltig die Stirn, zittrig die Hände, unverständlich brabbelt die Zunge", beeilte sich Baldeina zu sagen.
"Da siehst du, Dessa-Schwester, was für ein Mensch er ist!", hörte Baldeina Nadim drinnen sprechen. "Unse­re Ju­gend und unser Alter hat er sich fein ge­teilt in das Schö­ne und Hässli­che. Sie sind ihm wie zwei Seiten einer Mün­ze, die er nach seiner Laune werfen wird."
"Das war nicht so gemeint", flehte Baldeina. "Es ist in der Eile gesprochen - die Kaiserin drängt!"
Die Soldaten kontrollierten nun das Fenster in unmittel­barer Nähe Baldeinas. Wie sie gewohnt waren, das Gähnen flächig im Unterkiefer zu verteilen, saß ihnen nun das Grin­sen schaukelnd auf den Ohren.
"Dann weiß ich nichts!", rief Baldeina. "Die Frage ist zu schwierig. Ich weiß und sehe bei den Prinzessinnen kei­ne Hässlichkeit."
Einer der Soldaten zeigte auf seinen Mund und sah Bal­deina bedeutungsvoll an, als kaue er eine Ant­wort.
"Dann gehe ich zum Tanz, wie ich bin", entschied Nadim. "Nicht schön, nicht hässlich, nur eben ich."
"Das geht nicht!", rief Baldeina. "Wir müssen uns etwas ausdenken. Etwas Hässliches, damit die Kaiserin den Malern schön erscheint."
"Denkt ihr, ich diene dem Bild der Kaiserin?"
Wieder zeigte der Soldat auf seinen Mund. Da endlich wusste Baldeina, was er meinte. Kurz überlegte er und sag­te dann: "Ich wüsste etwas ..."
"Dann rede er!", ermunterte ihn Nadim.
"Ich will nicht falsch verstanden werden ..."
"Der Günstling ist so unbedeutend, dass er froh sein kann, wenn ihm eine Prinzessin zuhört. Was redet er von Verstehen?"
"Wenn die Prinzessin mit hässlichen Worten auftreten wür­de", Baldeina schenkte dem Soldaten einen dankbaren Blick, "wäre dann nicht auch der Kaiserin ge­dient?"
Nadim sagte nichts. Zu überrascht war sie, dass Baldei­na, dessen Kopf sie sich in seinem Inneren wie die auf­springenden Schu­blädchen einer Scha­tulle vorstellte, ei­nen Vorschlag machte, den sie nicht vor­ausgewusst hatte.
"Ihr müsst natürlich reden", Baldeina fürchtete ernst­lich nun Na­dims endgültiges Verstummen, "da­mit je­der weiß, welche Hässlichkeit ihr vor­stellt. Schließlich ist diese nicht zu sehen!"
Nadim stellte sich vor, wie sie der Kaiserin entgegen­treten würde, um mit Worten, nur mit ihren Worten, das Schöne und das ihm dienende Häßliche zu zerschneiden. Das war eine wunderbare Vorstellung, von der sie nicht mehr lassen konnte. Sie sah das Bild der Kaiserin vor sich, welches erst ängstlich dreinschaute - sehr um seine Fein­heit besorgt - und schließlich seine Beschaf­fenheit verges­send, fließende Tuschetränen weinte, mit jedem von Nadims wunderbar hässlichen Worten eine neue.
"Redet, wie es euch im Herzen geschrieben steht", rief Bal­deina, "nur schweigen dürft ihr nicht! Hallo, Prinzes­sin, seid ihr noch da?" Er zeigte sich ehrlich besorgt um sei­ne Mis­sion. Auch die Soldaten lauschten angestrengt.
"Sie sagt nichts", hörten sie eine Dienerin von drinnen leise sagen.
"Warum nicht?", flüsterte Baldeina.
"Weil wir ihr den Mund schwarz malen", so die Dienerin.
"Und wenn sie nun nichts mehr sagt", sprach sich sorgen­d Baldeina, "nie mehr etwas sagt ..."
"Dass es mit dem Reden aus ist", sagte der Soldat, der nicht grin­ste, "geht schneller vorbei, als wie es einem lieb ist!"

Chapter 133. Nadim und die Kaiserin

Alle Mägde waren in ihrer Verkleidung gekommen. Die eine den Bu­sen mit Pocken übersät, in unförmigem Rock die zwei­te, mit schwar­zen Zähnen verunziert der schöne Mund der dritten und der vierten gegen ihr Wehren die schönen Haare mit Mehl und Küchenfett ver­schmiert.
Dahinter vier Sol­daten, die sich stritten. Denn wer die Schönheit ein­mal gese­hen hat, der ver­gisst sie nicht. Im­mer wieder musste Baldeina sie ermahnen. Aber sie schub­sten, drängten und wech­sel­ten in einem fort ihre Plätze. Den Mägden ge­fiel das, wenn sie auch jede für sich bedau­erte, dass ihnen soviel von der Rangelei in ihrem Rücken ent­ging.
Die Prinzessin ging vorneweg und war in Gedanken. In ihrem weißen Kleid schritt sie langsam daher und war in ih­rem Anse­hen über all die Hässlichkeit und das Stoßen der Soldaten er­haben. Einmal nur warf sie Baldeina von der Seite einen spöttischen Blick zu, denn er schwitzte sehr, weil ihm die Hässlichkeit der Prin­zessin nun, da sie auf dem Weg war, nicht geheuer war.
"Was wollt ihr sagen?", flüsterte er, "Ich meine, die Worte, wie werden sie sein?"
"Was sorgt ihr euch", etngegnete ihm Nadim. "Glaubt ihr, sie lassen mich im Stich, und ich kann mein Versprechen nicht halten?"
"Nein eigentlich nicht - eher etwas anderes", aber dann schwieg er, weil er nichts abwenden konnte.
Er musste auf die Soldaten achten, die sich nicht eini­gen konnten, die sich stießen und auf die Füße tra­ten. Baldeina hatte einen Oberen vergessen, da war es immer schlimm mit ihnen.
Als einer von den Soldaten stolperte und hinschlug, war es mit sei­ner Ge­duld am Ende, und er schickte sie fort. Da waren die Mägde sehr enttäuscht. Aber als sie sahen, dass ande­re Sol­da­ten, nicht minder augenfleißig, das Gemach der Kaise­rin bewach­ten, nahmen sie den Verlust der ersten tapfer hin. Drei Solda­ten waren es, und nun rangel­ten die vier Mägde, bis Baldeina auch sie zur Ord­nung gerufen hat­te.
"Ihr seid die Dienerinnen der Prinzessin, benehmt euch", ermahnte er sie. "Die Kaiserin kennt keinen Spaß. Sie will euch hässlich sehen, nicht laut, nicht frech."
Alsdann öff­nete er ihnen die Tür, und sie traten hinter der Prinzes­sin in das Ge­mach der Kaiserin und waren still vor soviel Pracht. Keine von ihnen dachte im Staunen an ir­gend­einen Soldaten. Es war so still, dass den Dienerin­nen zum Fürchten war.
Die Kaiserin stand auf einem Podest und damit in glei­cher Höhe wie ihr Bild auf der Leinwand. Ein Junge saß auf der Stufe, hielt ein Bündel Pinsel und hatte einen neugie­ri­gen Blick.
Der Maler stand zur Leinwand und zeichne­te mit feinen Stri­chen an den Linien des Ge­sichtes.
Die Kaiserin stand ohne Bewegung und machte die Mägde mit ihrer Schön­heit ganz klein. Keine von ihnen hät­te einen Schritt wei­terge­tan. Sie hielten sich an den Händen ge­fasst und blickten ängstlich der Prin­zessin nach, die vor­trat. Aber die Kaise­rin bewegte sich nicht. Kein Sehen, kein Erkennen ging von ihr aus.
Neben ihr sahen die Mägde eine alte Frau, die für die Kai­serin sprach. Un­ter einer Kutte verbarg sie ihren Kopf, einge­wickelt darin die Hände und verborgen unter dem lan­gen Fall die Schuhe. In seiner Art war der Stoff roh und ge­wöhn­lich. Der Stoff war einfach, kostbar aber war der Schnitt.
Die Kaiserin war so schön, dass Baldeina die Augen sen­ken musste. Die Frau an ihrer Seite war grimmig und ein­sam, wie der Abend von einem Wintertag.
"Die Prinzessin, warum ist sie nicht hässlich?", fragte die Frau den Hofgünstling.
"Die Prinzessin, sie spricht für sich selbst", sagte Na­dim. Neben ihr schluckte Baldeina an einem ersten Schrek­ken.
Nun wandte sich die Frau der Prinzessin zu. Langsam wa­ren ihre Bewegun­gen, als sei sie alt oder krank.
"Meine Hässlichkeit ist nicht zu sehen", erklärte Nadim, ohne gefragt zu sein, "aber wohl zu hören. Mei­ne Worte haben Warzen und gekrümmte Glieder, viel schlimmer als ihr es bei den Mägden sehen könnt."
"Hört nicht auf sie", sagte die Frau, der K­aiserin zuge­wandt. "Es scha­det, was sie sagt. Ich werde sie fort­schicken."
"Ihr habt mir nicht anzuordnen", sagte Nadim fest.
"Ihr wisst, Prinzessin, dass die Kaiserin nicht sprechen darf. Ich spreche ihren Willen aus."
"So weit ist es schon", fragte Nadim, "dass die Kaise­rin ihr Antlitz dem Maler und ihren Willen euch überließ? Was ist dann übrig von ihr, darf ich fragen."
"Bitte, ich -", sagte Baldeina, um zu vermitteln.
"- den Hof überließ sie ihrem Günstling, euch ihren Willen und dem Maler ihr Bild! Ich stelle fest, dies Land ist ohne Kaiserin!"
"Ihr seht doch, dass sie dort steht und nichts sagen darf."
"Ich sehe keine Kaiserin", so Nadim. "Wohl sehe ich ein Podest und darauf eine Frau. Und es will mir scheinen, als sei sie aus dem Leben ge­schie­den. Seid wann ruhen die Toten im Stehen?"
"Sprecht zu mir", sagte die Frau, "wenn es unbe­dingt sein muss. Lasst sie in Frieden! Sagt mir, was ihr sagen wollt. Ich werde sehen, was davon zu gebrauchen ist für unsere Sache."
"Habt ihr sie nicht angesehen?", fragte Nadim als Be­sorgte. "Fiel euch als Wundertäterin nicht auf, dass die Lider und die Augen der Kaiserin starr sind? Saht ihr nicht, dass es Kiesel sind? Lasst euch sagen, ich war dabei, als mein Vater diese Augen aus­suchte. Am Strand fanden wir sie. 'So wünsche ich die Augen meiner Frau!', sagte er. Nach den Augen fand sich leicht der Rest, das war nicht schwer!"
"Nadim, bitte", versuchte Baldeina ihren Wortstrom zu bremsen, wusste aber, dass es vergeblich war, denn nichts anderes als solche Redeweise hatte sie beabsichtigt und versprochen.
"Die Haare, ich vergaß die Haare!", unterbrach sich Na­dim. "Eine Dienerin am Hofe trug sie. Wiederum blickte mein Vater wehmütig, als er diese Haare sah. 'Denk an die Kiesel, die wir fan­den, jetzt ha­ben wir beides!' sagte ich. Und er sagte: 'Ja, die Haa­re und die Kie­sel ... Nadim, mein Kind, wie du mich ver­stehst.' Die Lippen dann suchte ICH für ihn aus, denn ich woll­te ihn über­raschen. So wurde SIE seine zweite Frau, mit am Strand gefunde­nen Au­gen, Haaren, geliehen von einer anderen, und Lippen, die ich mir als fette Würmer von den Gärtnern geben ließ."
"Ich kann so nicht", klagte der Maler. "Es geht nicht - meine Hände - das Gesicht der Kaiserin - dies Gerede macht meine Hände taub!"
"Seht ihr!", so vorwurfsvoll die Frau. "Ich sagte es doch. Ihr werdet alles verderben!"
"Meister Maler", rief Nadim, "das Kleid, die Arme, die Hände, alles wunderbar! Was sorgt ihr euch?"
Stolz blickte der Junge zu seinem Meister hoch und er­schrak über dessen verdrehten Blick. So wie er ihn ein­mal gesehen hatte, als er in einem Brot auf etwas gebissen hatte, was sich als sein eigener Zahn her­ausstellte, die Hälfte von seinem Zahn. So ein Blick war es.
"Was sorgt ihr euch?", so Nadim weiter. "Die Haare, die Augen, was sind das für Dinge? Ich kann sie euch fin­den. Kommt mit mir an den Strand, ich find euch wel­che! Die Wangen, die Lippen, braucht sie nur aufzusam­meln. Bedenkt, ihr seid am Kaiser­hof!"
"Bringt sie zum Schweigen!", rief der Meister. "Ich kann nicht mehr, heute nicht, morgen nicht, ich weiß nicht -"
"Nun habt ihr es verdorben", sagte die Kaiserin und stieg von ihrem Podest.
"Diese Ähnlichkeit zu einer Lebenden!", rief Nadim.
"Die Prinzessin", sagte die Kaiserin, eine tiefe Fur­che unüberbrückbar zwischen den Augen, "hat uns genug ge­scha­det. Den Richter vertrieb sie mit ihren Lau­nen und nun verdirbt sie mir mein - dieses Bild!"
"Ich vertrieb den Richter?", gab Nadim empört zurück.
"Sieh dich nur an! Wer hielte es lange mit dir aus? Ist nicht der erste, welcher floh."
"Vor eurer Willkür floh er. Ihr habt ihm das Te­sta­ment mei­nes Vaters in den Mund gelegt, als sei es ein lee­res Blatt? Da floh er aus Angst für seine Freveltat. Und zum ersten kann ich sagen, dass dieser nicht floh, er -"
"Lasst sie abführen, Günst­ling", sagte die Kaise­rin zu Baldeina. "Veran­lasst, dass diese Prinzessin, die nie einen Mann bekommen wird, als alte Frau, als Jung­fer gegangen kommt, wie das Schicksal es ihr zuge­dacht hat. Klappt das Ende ihres Lebens auf den Anfang! Jeder soll gleich sehen, was es sein wird!"
"Ha, wie wollt ihr selbst -", rief Nadim, aber Baldeina hielt ihr von hin­ten den Mund zu. Nicht zu stark, ritter­lich eigent­lich, aber dennoch dicht hielt er den Mund, sodass Nadim nichts spre­chen konnte, je­denfalls nicht so, dass sie durch die Hand von Bal­deina hin­durch zu ver­stehen gewesen wäre.

Chapter 134. Der Steckbrief

"Findet mir ... ihn", sprach die Kaiserin.
"Wen meint sie?", flüsterte der Hofmarschall.
"Wie spricht sie?", gab ihm der General leise zu­rück.
Baldeina spürte die Last der Fragen in seinem Rücken. Das steife Lächeln zur Kaiserin gewandt, kroch ihm ein hautiges Unbehagen unter den feuchten Kragen.
"Er ist in den Augen, all den Gedan­ken", sag­te die Kai­se­rin rauh, "schaut und denkt sich Angst für mich aus."
"Kaiserin, seid gewiss ...", sprach Baldeina sich ver­beugend aus. Als er sein Lächeln wieder aufnehmen wollte, traf ihn von hinten schmerzvoll ein feiger Tritt in der Ferse.
"Dieser da? Wer ist dieser da?" Die Kaiserin blickte stierend auf den schwergebauten Alten, der in losen Fes­seln vor ihr stand.
"Es ist Treufuß." Baldeina war an die Seite des Mannes getreten, dass er nicht mehr Hofmarschall und General in seinem Rücken hatte. "Ihr habt verlangt, ihn zu sehen."
Die Kaiserin hob wehrend die Hand. "Er soll nicht lä­cheln. Versagt ihm dieses Lächeln."
"Bitte, ihr hört den Wunsch der Kaiserin." Baldeina trat freundlich auf Treufuß zu. Er wartete, geduldig schauend, bis dessen Lächeln ver­schwunden war.
"Nun soll er sprechen!", befahl die Kaiserin.
"Ihr habt mich rufen lassen, damit ich euch von Asa­ri, dem Kaiser der Tränen, berichte", sagte Treufuß unter Bal­deinas forschenden Blicken.
"Kaiser der Tränen!", zischte die Kaiserin erbost. "Der Name von einem toten Vater, was nützt ihm der!?"
"Ein Kaiser immerhin war Asaris toter Vater", erwiderte Treufuß gelassen.
Schnell trat Baldeina in Gestalt vor ihn und trieb das Lä­cheln mit düstersten Blicken aus.
"Ich will ihn fragen, was seine Absicht ist. Was gibt ihm das Recht, mich zu ängstigen?", so die Kaiserin mit auffahrender Geste.
Vorsichtig hob Treufuß seine lose gefesselten Hände.
"Heißt das, ihr könnt nichts für mich tun?"
"Ich weiß nicht, wo er ist", antwortete Treufuß. "Ei­gentlich hat er - wie ihr sagt - kei­nen sehr fe­sten Ort."
Die Kaiserin nickte. "Er treibt sich in den Augen umher, die mir, der Kaiserin, gehören. Das ist ihm nicht er­laubt."
"Er würde nicht auf mich hören", stellte Treufuß bedau­ernd fest, misstrauisch beäugt von Baldeina, dem die sich von den Schläfen her glättende Stirn verdächtig war.
"Wie schaut er selber drein? Seine Augen - wie sind sie?" Die Kaiserin sprach Treufuß wie einen Verschwörer an.
"Sind unbestimmt in ihrem Ausdruck", erwiderte Treufuß kurz. "Wenn ich sagen darf, ein wenig schwimmend."
"Sind sie leer, sagt, sind sie leer?"
Treufuß nickte. Wenn die Kaiserin meinte, dass nichts zum Wieder­erkennen sich darin fand, so hatte sie den rech­ten Aus­druck wohl gefunden.
"Aah", sagte die Kaiserin, "sieh dir ..." Es klang er­schöpft und einen Gedanken klammernd.
"Wie meint sie?", fragte Treufuß zur Seite.
Langsam sagte die Kaiserin: "Wenn nun ich seine Augen mit mir ... meinem Bild füllen würde. Was, anders als mich, sähe ich in den Augen der anderen dann?"
"Befehlt nur, befehlt!", rief Baldeina frohlaut.
"Irgendetwas", flüsterte bissig der Hofmar­schall, "das sich fassen ließe."
"Fassen ...", sagte die Kaiserin, ebenso hellhörend wie tief­sinnend.
"Wir fassen ihn!", rief Baldeina krächzend. "Die Kaise­rin be­fiehlt, dass wir ihn fassen. Jeder hat es gehört."
Unsicher griff die Kaiserin nach ihren Lippen. War es das, was sie gedacht hatte? Waren dies die Worte des Ge­dan­ken, der sich mit ei­ner Finte da­vongeschli­chen hatte?
"Soldaten werden ihn greifen!", rief Baldeina, ein Nik­ken des Generals einfordernd.
"Ja, es ist ein Befehl der Kaiserin", sagte der Hofmar­schall matt.
"Sehen sie", warf Treufuß ein, "ich will nicht Schlech­tes von Asari sagen - schließlich, mehr als ein Ziehsohn, viel mehr ist er mir! - nicht Schlechtes, aber dies: Zu Fas­sen ist Asari nicht!"
"Meine Soldaten - sie sind nicht schlechter als die ih­ren wa­ren!", empörte sich der General.
"Das ist es nicht", beruhigte ihn Treufuß. "Sie sind, wie ich sah, nicht minder gut." Die Fesseln fielen ihm zu Boden vor die Füße, wo sie der Kaiserin Blicke ban­den.
"Was ist es dann? Sprecht frei heraus!", forderte ihn Baldeina heraus.
"Sehen sie", fuhr Treufuß bedächtig fort, "ich stehe ich doch ge­wissermaßen selbst gefesselt vor ihnen. Wie könnte ich behaupten, dass Menschen nicht zu fangen sind! Sagen muss ich aber, dass Asari mehr einer Er­scheinung gleicht als einem Menschen mit Blut und Treu und allem."
Erschreckt fuhr die Kaiserin auf und sank, sich umblik­kend, in gefes­seltes Grübeln zurück.
So fügte Treufuß hinzu. "Da hat sie, die Kai­se­rin, schon recht, dass er sich restlos frech in frem­de Au­gen stiehlt, wo wir noch glauben, in sein Angesicht zu sprechen."
"Das ist doch alles Unvernunft!", rief Baldeina dagegen.
"Die Worte der Kaiser, bedenkt ...", hämte der Hof­mar­schall.
"Ich habe die Lösung!", warf Bal­deina ein. "Dieser da, der sich Treufuß nennt und sein Ziehvater ist, soll ein Bild von ihm zeichnen."
"Ich kann nichts malen", sagte Treufuß. "Nicht einmal ein Pferd könnte ich malen ... nicht einmal den Sattel von einem Pferd."
"Er ist Soldat wie ich, hat nichts als das Kämpfen ge­lernt", pflichtete der General ihm bei.
"Wir haben genug, die malen können. Sie sol­len nach sei­nen Wor­ten ein Gesicht malen!" Kein Einwand, der an Bal­deinas breiter Brust nicht zerprallt wäre!
"Also ein Gesicht, wie ihr es euch vorstellen mögt, be­sitzt Asari nicht", gab Treufuß zu Bedenken.
"Wir werden ihn zwingen, ihn foltern!" Bal­deina hob die lose liegenden Fesseln auf und schwenkte sie vor dem alten Soldaten. "Es wird schon et­was heraus­kom­men."
"Er hat ein Muttermal auf der Wange, das fiele mir ein." Das preisgegeben, nahm Treufuß Baldeina die Fesseln aus der Hand.
"Seht ihr, seht ihr!", rief Baldeina triumphierend der Kaiserin zu.
"Es scheint sehr einfach zu sein", sagte der Hofmar­schall.
"Kann ein Bild mir einen solchen Menschen fangen?", fragte die Kai­serin aus tiefstem Schweigen.
"Hoho, wenn das Bild mit Soldaten kommt einher, hoho!", gröhl­te der General.
"Wenn er in vielen Augen ist, wie wollen wir ihn mit einem Bild fangen?", fragte die Kaiserin fort.
"Wie, was?" Baldeina suchte, den Oberlauf seines Halses kratzend, ein Verstehen.
"Wir malen viele Bilder", entschied der Hofmarschall. "Wir setzen alle Schreiber daran. Soviele Bilder, wie in der Stadt Menschen sind, werden wir malen."
"Ist er von großer Schönheit?", fragte die Kaise­rin.
"Nee, eigentlich nicht", dazu Treufuß mürrisch. "Aber ich bin Soldat und von diesen Dingen -"
"- dann wird es gehen", unterbrach ihn die Kaiserin. "Nicht mög­lich ist es, das Schöne in mehr als einem Bilde festzu­halten."
"Wer schreiben kann, der kann auch malen", zeigte sich Baldeina beteiligt. "Die Li ... das ist die Chro­ni­stin von Woi ... also eigentlich ein Mädchen, das nur mitgekommen ist -"
"- die vielen Bilder fangen mir den Hässli­chen!" Die Kai­se­rin hatte sich erhoben und stand wie durch alle Mau­ern blickend.
"Bleibt es dabei?", fragte Baldeina die anderen. "Es ist schließlich meine Idee."
"General, kommen sie mit ihrem Treufuß", überhörte der Hof­marschall ihn und führte die zwei stapfenden Genossen fort. "Wir wis­sen den Befehl der Kaiserin zu deuten."
"Wenn ich erst in seinen Augen bin, wird er mir teilhaft unter­tänig sein." Richtungslos die Worte der Kai­serin, von feinsten Rissen durchzogen ihr Klang.
Fremder als nie sah Baldeina die Augen seiner Kaiserin glänzen. Für einen Augenblick der Verwir­rung war ihm, als habe sich der Kaiser der Tränen ihrer bereits bemäch­tigen können.

Chapter 135. Die Jugend verkleidet sich

Frau Biebald stritt sich mit ihrem Jungen. Was denn die­ser erreichen wolle? Niemand könne ein anderer sein, von außen nicht und um wieviel weniger von innen! Wisse er denn überhaupt, was ein Kaiser der Tränen sei? Sie sei sicher, dass er es ebensowenig wisse wie seine Mutter. Ob er nicht denke, dass er sich in große Gefahr bringe, wenn er gera­dezu aussehen wolle wie einer, den die Solda­ten über­all in der Stadt nach seinem Bild suchten? Ob er nicht denken, dass sie in großer Sorge über solchen Unsinn sei. Ob er niemanden ande­ren habe als seine Mut­ter, der ihm vernünf­tig zurede.
Nein, hatte ihr der Sohn geantwortet, nein.
Was das heiße, fragte sie ihn. Höre er nicht ober habe er niemanden, der vernünftig rede.
Als sei er nun auch taub, versuchte ihr Sohn dem Jungen auf dem Bild die einge­falte­ten Lip­pen zu steh­len.
Als sie dachte, dass es vorbei war und gerade zu weinen begonnen hatte, da war der Junge ins Bad gegangen, hatte sich gegen alles Flehen und Drängen eingeschlossen, und als er herauskam, hatte er sich die Haare ab und kurz ge­schnit­ten und sie allesamt schwarz gefärbt.
Ihre Haare, rief sie entsetzt und zeterisch, er habe ihre blonden Haare schwarz gefärbt. Die habe er nämlich von ihr, von niemandem anderen als von seiner Mutter.
Dabei waren ihre Haa­re allesamt braun gewesen, bevor sie grau wurden, und sie wusste es. Nur seine waren richtig hell. Wenn es nur nicht schon geschehen wäre, sie hätte gekämpft und gesiegt. Doch es war gesche­hen und vorbei, und da hatte sie nicht einmal die Kraft zu streiten.
Des weiteren trug er eine War­ze im Ge­sicht, wie der Jun­ge, den sie mit dem Bild suchten. Weiß der Him­mel, wie er die zu Wege gebracht hat­te? Er ließ es nicht zu, dass sie sein Gesicht berührte. Beru­higt war sie jedenfalls, dass die­ses Ding zu entfernen war.
Wenn er nur nicht aus dem Haus gehe, sagte sie, wolle sie diesen Unsinn vergessen und vergeben, und er könne es halten, wie er wolle, und jeden Tag ein anderer sein, wenn ihm das Gesicht, in dem er geboren sei, nicht gefalle.
Er habe dieses, was sie Unsinn nenne, für nichts anderes gemacht, als dass es sich zeige, entgegnete er ihr.
Er habe dieses gemacht, um seine Mutter in Sorgen und Ängste und Verzweiflungen zu stürzen, rief sie.
Jeder Sohn in dieser Stadt stürze seine Mutter in diesem Augen­blick des Spre­chens in solche Dinge. Das solle sie sich vorstellen und ihr Schicksal mit den anderen Müttern teilen.
Nolo Weisch hatte drei Brüder, die sich allesamt mit seiner Tinktur die Haare färben wollten. Sie kniffen ihn, aber er wehrte sich. Sie sagten, sie würde alles der Mut­ter sagen. Aber das war ihm ebenso nicht wichtig. Sie sag­ten, wenn er nur aus dem Haus gehe, würden sie von seiner Schoko­la­de essen. Da aß er die Schkoloade ganz auf, und sie schau­ten dumm.
Die Brüder sagten, sie würden der Janine von der Frau Nilie sagen, dass der Nolo in sie verliebt sei. Eigent­lich dürften sie nicht darüber sprechen, würden sie ihr sagen, weil es geheim sei und der Nolo sich schäme.
Da gab Nolo ihnen von der Tinktur, und sie reichte wirk­lich für die Köpfe von allen seinen drei Brüdern. Nur beim Kleinsten reichte sie hinten nicht mehr, aber sie taten alle so, als sähe er so aus wie sie.
Dem Nolo war schlecht, weil er die Schokolade ganz gegessen hatte und weil er dachte, dass die Mutter nicht wusste, was er und die anderen Brüder angestellt hatte. Die Brüder sagten, dass sie der Janine schon alles ge­sagt hätten. Worauf Nolo so schwitzte, dass die Farbe auf seine Stirn lief. Der Kleinste schrie: 'Ti', 'Ti'! und zeigte auf ihn. Die anderen lach­ten, weil er so aussah wie der weiße Stofftiger mit den schwarzen Strei­fen.
Tho war Soldat. Weil er ein einfacher Soldat war, der jüngste und eigentlich der einfachste Soldat von al­len, nannten ihn alle nur 'Soldat', wenn sie ihm über­haupt ei­nen Namen gaben. Er färbte sich die Haare schwarz. Sie waren ein wenig kurz, aber sein Ge­sicht war zum Verwech­seln dem Gesicht auf dem Bild ähnlich. Vor lauter Übermut kleb­te er sich eine kleine Warze dort­hin, wohin sie gehör­te. Es war die fal­sche Seite, weil sie beim Gesicht an­dersher­um war, aber es war eine schwarze Warze.
Eigent­lich war die Ähnlich­keit zwischen ihm und dem anderen Kai­ser so groß, dass er es zumindest zum Oberen bringen konnte, wenn der andere einmal Kaiser war. Dann würde seine Mutter stolz sein. Sie hatte ihm immer gesagt: 'Sieh zu, mein Junge, dass du du etwas aus dir machst!' Sie nann­te ihn 'mein Jun­ge', aber das war et­was anderes, als wenn die an­deren ihn nur 'Sol­dat' nann­ten. Und der Vater hat­te immer ge­sagt: 'Der Tho, der macht was aus sich!'
Der Vater war ein Bauer und hatte nichts aus sich ge­macht. Das sagte er auch, und die Mutter sah dann trau­rig drein. Das ein­zige, sagte er, was er ge­macht habe, sei Thos Mut­ter zur Frau genommen zu haben. Da sah sie wieder glück­lich drein. Sie sei eine gute Frau, sagte der Vater. Er sei eine ebenso guter Mann, sagte die Mut­ter. Und Tho hatte nicht ge­wusst, wohin er blicken sollte, wenn sie sich so ansahen.
Das Lächeln von Treufuß ging durch die ganze Stadt. Es besuchte die Plätze, sah in die Winkel, streifte durch die Gassen, nahm Platz, wo es einen fand. Versteckte sich nicht, machte sich nicht gemein. Mal ging es Treufuß vor­aus, dann wieder spiegelte es sich wartend in den nied­ri­gen Fen­stern .
Überall in der Stadt sahen ihn die vielen Ge­sichtern mit einem Blick an, der ihm vertraut war. Nicht anders schaute Asarai aus seinem eigenen Ge­sicht, als sei es ein fremdes, als wolle er sagen: 'Hier ist jemand, der euch an­schaut, aus einem Gesicht, das ihm nicht gehört.' Wie ähn­lich waren sie dar­in Asa­ri, ohne es wis­sen zu kön­nen!
Asa­ri besaß nur diese fremde Ge­sicht, wäh­rend jeder von seinen Gesichtsbrüdern ein eigenes besaß, das er für heute gegen ein fremdes getauscht hatte. Aber war das von Wich­tig­keit? War es nicht kleinlich, ein Leben gegen einen Tag zu wie­gen. Wer würde darüber sprechen wollen?

Chapter 136. Der General im Wirtshaus

"Die Kaiserin hat angeordnet, ihn suchen zu las­sen", sagte der General, "so suchen wir ihn."
"Was sie sich davon verspricht ...?" Langsam schob Treu­fuß sein Glas kreisend über den Tisch, bis der Wein im Rund schwingend den oberen Rand benetzte. Dann schob er das Glas in die Mitte des Tisches und ließ den Wein in langen Schwenkern seine Ruhe finden.
"Mit Hilfe des Bildes ist es leicht, ihn zu finden", sagte der General und vermied es, Treufuß anzusehen. Dieser musste selbst wissen, ob er klug beraten gewesen war, den Schreibern am Hof beim Anfertigen des Suchbildes zur Hand zu gehen.
Treufuß drehte das Bild ein und legte es nachlässig ne­ben sich. Er machte nicht den Eindruck, als erwarte er, dass die Suche Erfolg haben würde.
"Ist das Bild von seinem Gesicht nicht genau genug?", fragte der General weiter. Sorgsam beobachtete er, wie Treufuß auf seine direkte Fra­ge drein­schaute.
"Er ist nicht jemand, den man nach seinem Gesicht fin­den kann", sagte Treufuß und fügte, um einer Frage zuvor­zukom­men, hinzu: "Ich kann es nicht erklären. Es ist eben so."
Der General schüttelte den Kopf. Das verstand er nicht. Aber er hoffte, dass Treufuß es richtig wusste.
"Wenn er nicht in der Stadt ist, dann könnten die Sol­daten ihn natürlich nicht finden ..." Zufrieden blickte der General drein, als er an diese Möglichkeit dachte.
"Asari ist in der Stadt. Er kennt die gewöhnliche Furcht nicht", sagte Treufuß nachdenklich. "Was nicht heißen soll, dass er mu­tig ist. Es ist etwas anderes ..." Treufuß such­te grübelnd ein Wort in seinem Glas, fand aber keines.
Der Wirt kam an ihren Tisch und warte­te. "Sie haben ihn", sagte er. "Draußen sind Soldaten, die sagen, dass sie ihn haben."
"Wir müssen nachsehen", sagte der General.
"Ich bringe den Wein nach draußen an den Tisch", sagte der Wirt.
Treufuß trank sein Glas leer und drückte es dem Wirt in die Hand. Der General ließ sich nicht bitten und trank ebenso aus.
Sie schwankten durch die Tische, die sich mit anderen Gästen gefüllt hat­ten, und schoben sich langsam zur Tür. Draußen standen zwei Soldaten. Einer hielt ein Bild hoch, wäh­rend der an­dere einen jungen Mann nach vorne schob.
"Ist er nicht", sagte Treufuß.
"Aber das Bild?" Der Soldat hielt es hoch, ganz dicht neben das Gesicht des jungen Mannes. "Er sieht doch genau­so aus!"
"Lasst ihn laufen! Das Bild ver­wirrt nur", sagte der General.
Treufuß setzte sich an den Tisch. Statt einer Erklärung streckte er sich und sagte: "Ah, schön draußen, die fri­sche Luft und das alles."
Dann saßen sie bei ihrem Wein. Irgendwann zeichnete Treufuß mit dem Finger eine Wein­linie und er­klärte dem General, an welcher Stelle sie für die Schlacht am Berg Schekan eine Aufstellung genommen hatten. Damals sei er der General gewesen, lange her das. Aber der Gene­ral er­innerte sich, weil er ein Oberst gewe­sen war, und zeich­ne­te die Hügel ein und die Krümmung des Flusses.
Wieder stand ein Soldat an ihrem Tisch, hielt mit der Hand einen jungen Mann am Arm fest und beugte sich vor, weil er nicht laut sprechen wollte: "Er sagt, er sei es - sieht ihm aber nicht gleich, oder nur ganz wenig."
"Wie kann das sein!", protestierte der junge Mann. "Wenn ich so aussehen würde wie der auf dem Bild, dann würde die Soldaten mich ja gleich entdecken."
Einige der Gäste sahen aus dem Fenster und lachten. Das Flüstern bildete auf dem Boden verlaufende Kreise. Dann wieder Gelächter. Schließ­lich rief jemand einen Namen und ein Wort.
"Ich bin wirklich dieser Kaiser der Tränen! Was wissen denn diese Betrunkenen!" Er nahm die herunterfallene Hand des Soldaten wieder auf und versuchte sie an seinem Arm fest­zumachen.
"Ist er nicht", sagte Treufuß und hatte sich nicht ein­mal umgeblickt.
"Ab mit ihm!", sagte der General. "Nur stören, wenn es wirklich der Sohn des Kaisers ist."
Der Wirt stellte zwei neue Gläser mitten auf die Linie, wo die Straße verlaufen war. Schnell bildete sich anstelle des Berges ein kleiner See, der mit einem dünnen Ausläufer zum Rand des Tisches strebte.
"Woran sollen wir ihn erkennen?", fragte der General und sah traurig, dass an eine Fortsetzung der Schlacht nicht zu denken war.
"Das Erkennen ist es nicht, das Finden ist es", sagte Treufuß. Die Gespräche an den Tischen waren ver­stummt. Der Wirt brachte schlürfend Nüsse. Dann war es wieder still, als habe Treufuß für sich um Ruhe gebeten. Aber er hatte nur das Glas erho­ben und es in den kleinen See ab­tropfen las­sen.
"Woran ist jemand zu finden, der von allem etwas hat?", fragte er in die Runde. "... als Junge spielte er gerne Dinge. Da war er ein Die­ner, manchmal eine Soldat, oder er stand wie ein Schä­fer mit einem Stab und starrte auf die Felder. Und ernst war es ihm! Da durfte ich nicht lachen."
Als Treufuß sein Glas zum Mund hob, taten es ihm die anderen Gä­ste nach. Doch Treufuß trank erst, als die anderen schon wieder abgesetzt hatten. Dafür war er zu lange Ge­neral gewe­sen und hatte immer vor oder hinter den Reihen gestan­den.
"Ich meine, wenn ER sich in jemanden verwandeln kann, dann kann auch jeder Bau­er oder Schä­fer, sogar ein Sol­dat sich in ihn ver­wan­deln. Dann ist es unmög­lich, ihn zu finden."
Einen Soldaten, der sich in der Tür zeigte und mit Blicken um Rat nachsuchte, winkte der General ärger­lich weg.
"War bestimmt nicht leicht für sie", sagte der General und sprach aus, was alle dachten.
"Er hätte ein Sohn sein können, wenn es in ihm gewesen wäre", sagte Treufuß grüblerisch. "Erst dachte ich, er wäre ein Sohn, aber das ist eben, dass man sich täu­schen lässt."
"Wir haben wieder zwei neue", rief ein Soldat, der sein Gesicht nicht zeigen wollte. "Sie sagen beide, dass sie dieser eine sind."
"Lasst sie frei", befahl der General barsch, "und sagt allen, dass wir die Suche abbrechen."
"Sie verstehen nicht, dass die Richtigen IMMER die Fal­schen sind", sagte Treufuß und hob sein Glas zum gemein­samen Trinken.
"Seht ihr diesen Mann?", fragte der General, als sie den Wein wieder ab­gesetzt hatten.
Der Mann stand auf der anderen Straßenseite und sah zu ih­nen hinüber. Sein Blick hielt sich an ihrem Tisch fest und tauchte tief in den Wein, der die Karaffe füllte. Auf seinem kahlen Kopf glänzte der Schweiß, in seinen Augen glänzte der Durst.
"Diesen?", fragte Treufuß.
Der General nickte und sagte nachdenklich: "Das ist so eine Sache mit der Ähnlichkeit ..."
Bei dem Mann hatte sich eine Dame ein­ge­hakt, die ihn fortdrehte und auf dem Gehweg weiterzog. Eng und rundge­formt trug sie das schwarze Kleid und ging auf vor­neh­men, lau­ten Schuhen, sprach mit dem Mann leise ver­traut.
Der General sah mit zusamengekniffenen Augen zur anderen Straßenseite. "Ich könnte sicher sagen, dass dieser Mann dort unser Hofdichter LoBe ist. Mein Wort, ich würde schwören ... aber wie kann er es sein? Er ist kein Tages­mann für sitten­schwere Da­men. Sein Umgang sind die leich­ten Mädchen, die alles tun, was er vorab bezahlt."
Treufuß betrachtete derweil lächelnd das Bild von Asari und sag­te zu sich. "Das Alter mit der Klugheit, die ihm blieb - sieh nur an, was es zustande bringt!"
"Ihr meint, er ist doch unser LoBe?" Der General schüt­telte ent­schieden den Kopf. "Wie kann er es sein? Er würde kommen und sich zu uns setzen und trinken, was nicht getrunken ist, und reden, wo ein Wort hineinpasst!"
"Es gibt kein besseres Versteck als die Ähnlichkeit", sagte Treufuß und dachte, wie über sein Erwarten gut sein Plan aufgegangen war.

Chapter 137. Das Heiratsverbot

Die Kaiserin war nicht zufrieden. Etwas fehlte. Sie wusste, dass der Maler das Fehlen be­merken hatte. Alles war recht, nur die­ses nicht. Sie wollte ihn nicht zwingen. Das andere war so wunder­bar geworden, wie sie es nie gedacht hätte. Von allen Kleidern, die sie besaß, war dieses, das sie auf dem Bild trug, das schönste. Ihre Hände waren ein Traum! Wie sehr hatte er sich in vielen Skizzen um die richtige Hal­tung be­müht. War dabei mürrisch gewor­den, so­gar ihr gegen­über.
Er war ein Meister, und sie musste es ihm über­lassen, den rich­tigen Moment zu wäh­len. Ganz allein ihm und seinem Empfin­den für den Teil der Schönheit, der sie vor die Kai­serinnen aller Zeiten stel­len würde. Sollte er ruhig ihr Gesicht umschleichen und sich auf die Lauer legen. Sie würde ihm eine Schönheit als Vorlage liefern für seine unsterbliche Kunst. Warum nur zögerte er weiter ...?
Ihre Haut hatte sich gestrafft. Die Blicke, in denen sich ihre Schönheit spiegelte, waren wie ein Bad, dass duftig in ihre Haut einzog. Es war eine seltsame Mix­tur, aus Hass und Neid bei den Frauen, aus Bluthitze, aus Empö­rung und etwas anderem bei den Männern.
Manchmal kam es ihr vor, als würden ihr auch die Blumen neidvolle und giftige Blicke zuwerfen. Die Bäume flüster­ten über die Kaiserin, was sie getan hatte und und wofür. Es war ein falscher Ton im Gesang der Vögel. Die Luft war erfüllt vom Duft ihrer Haut, hatte den eige­nen Geruch vergessen.
Und doch fehlte etwas. Sie konnte es nicht beschreiben. Es war ein Gefühl, dass der Kopf nicht richtig unter der Haut saß. Als müsse sich das Gesicht erst gewöhnen und zurechtfinden. Manchmal brannten ihr die Augen, als seien sie geschliffen worden und emp­find­lich für die Unterschie­de des Lichtes.
Die Frau musste wieder her! Sie war über alle Ärz­te und Ratgeber gehoben worden. Hatte gleichgültig die kostbar­sten Geschenke angenommen. War unlustig über Leckereien und süßen Weinen gesessen. Hatte ihre Dienerin fort­ge­schickt. ­Nun aber sollte sie ihren ganzen Zau­ber ein­set­zen! Viel­leicht war es das, was sie wollte - dass die Kai­serin, der Hof, die Stadt sich völlig in ihren Dienst stellten! Dennoch musste die Kaiserin ihr zu Willen sein und sich und je­den zum Op­fer bringen!
"Die Frau muss kommen", rief die Kaiserin und nahm ein Fläschen mit Rosenöl in die gestreckte Hand.
"Holt die Frau!", fast schrie sie, "ich halte das Fläschchen, bis ich nicht mehr kann, dann - wirklich! - lasse ich es fal­len!"
Es hatte weniger als einen Moment ge­dau­ert, da stand die Frau im Zimmer, unhörbar gekommen und er­schienen in dem Geruch von verwelkten To­tenblumen, der ihrer Kutte an­haftete.
"Kaiserin", die Dienerin kniete vor der ausgestreckt an­ge­strengt zitternden Hand. Ein wenig Öl traf ihren Schei­tel, "Kaiserin, sie ist gekommen. Alles ist gut. Ich bitte euch!"
Die Kaiserin nickte stumm und gab ihr das Schälchen in die Hände, geformt wie ein klei­nes Nest für Vogelkinder.
Vorsichtig trug die Dienerin das Rosenöl hinaus. Sie mochte die Kuttenfrau nicht und hatte mit der Zeit mehr Angst vor ihr als vor der Kaiserin. Bes­ser war es, keinen Fuß in das öde Land zu setzen, in dem sie herrschte. Dort wür­de sie nie­der­stoßen wie ein Raubvogel, der jede Bewe­gung in den Köp­fen er­späh­te und die Gedanken der Furcht­samen riss.
"Ach, da seid ihr ja", sagte die Kaiserin, stolperig die Überraschung ablegend.
"Was soll ich?", fragte die Frau und schwieg ver­welkten Duft.
"Ihr sollt mir euer Gesicht zeigen", sagte die Kaiserin im Spaß.
"Nicht einmal meine Hände dürft ihr sehen, ohne verdammt zu sein."
"Und was würde geschehen", verlangte der Übermut der Kaiserin zu wissen.
"Dann hättet ihr euer Gesicht an mich verloren. Für alle Zeit verloren."
"Noch ist die Zeit für dies kleine Geschenk nicht gekom­men", sprach die Kaiserin. Aber ihr wäre lieb gewesen, sie hätte dieses Gespräch anders angefangen. Die Frau zeigte keine Angst, als wisse sie um ihre größere Macht.
"Helft mir!", forderte, flehte die Kaiserin.
"Was ist es?"
"In meinem Kopf ... es stimmt nicht. Außen ist es gut. Aber innen passt es nicht zusammen. Es wird mir fremd und schwer zu denken. Ich greife, und die Leere höhnt. Ich tra­ge, was mir nicht ge­hört. Etwas fehlt! Ver­steht ihr? Etwas verbirgt sich und weiß Verstecke. Ich verstehe nicht, ich kann nur spüren ..."
"Der Maler fertigt noch keine Studien?"
"Nein", sagte die Kaiserin, "nichts, keine einzige Skiz­ze. Dabei ist das andere wie ein Traum ge­wor­den!" Ihr fasste das Weinen an den Hals.
" Ihr wollt, dass ich meine ganze Kunst ein­set­ze?"
"Habt ihr das nicht schon getan?", fragte die Kaiserin und trug zum schweren Herzen die Zunge wieder neckisch auf.
"Nichts mehr als ein paar Kunststück­chen habe ich euch gezeigt, das wisst ihr!"
"Ich traue euch aber nicht. Ihr seid Teslas Ge­schenk. Sie ist die Fürstin der Nacht­stadt, wie alle dort meine Fein­din. Manchmal den­ke ich, ihr seid ein Fluch!"
"Dann schickt mich doch zurück, wenn ihr wollt."
"Nein, nein", sagte die Kaiserin verhastet, "das war nur so gesagt, weil ich überlegt habe. Ich bitte euch darum - zeigt an mir eure ganze Kunst! Was verlangt ihr?"
"Mich lasst aus dem Spiel. Eure Schönheit will es. Die ver­langt es."
"Meine Schönheit will es", wiederholte die Kaiserin.
"Nichts ist euch wichtiger?", sagte die Frau ihr vor.
"Nichts!"
"Alles hat sich unterzuordnen?"
"Alles!"
"Dann sei es", sagte die Frau langsam und wenn sie ein Gesicht gezeigt hätte, dann auch ein Lächeln.
"Was muss ich tun?" Die Kaiserin war ohne eigenen Wil­len.
"Sagt mir den Tag der Krönung."
"Ich weiß keinen", die Kaiserin war erschöpft. "Bestimmt ihr den Tag. Ich kann nichts sagen."
"Euer Geburtstag soll es sein", sagte die Frau ru­hig.
"Zur gleichen Zeit? Das ist bald!" Etwas war nicht rich­tig daran, aber wichtiger war das andere.
"Niemand, hört ihr, darf bis dahin heiraten. Am Hof und in der Stadt nicht! Habt ihr verstan­den!?"
"Ja, ich werde jede Heirat ab sofort untersagen."
"Nichts, kein Liebesgebaren ist den Mädchen erlaubt."
"So werde ich befehlen."
"Kein Werben um Blicke und seien die Mädchen noch so jung!"
"Nichts ist erlaubt."
"Kein Rot soll die Wangen der Mädchen schmücken, kein Schwarz ihre Augen zeichnen. Die Sachen des All­tags sollen sie tragen, bei schwerer Strafe der Zuwiderhand­lung. Nichts als EURE Schönheit darf zu sehen sein, ver­steht ihr!?"
"Ich werde es befehlen."
"Am besten ist, die Mädchen bleiben drin. Keine Frau, die jünger ist als ihr, darf hinaus an diesem Tag!"
"Das ist am besten."
"Jede Heirat, zu der bereits geladen wurde, wird unter­sagt, bei Strafe des Besitzverlustes."
"So soll es sein."
"An diesem Tag werdet ihr gekrönt und durch die Straßen ziehen -"
"Ja, ich werde."
"- und dem Maler wird euer Antlitz in der größten Schön­heit gelingen, mein Ehren­wort!"
"In der größten Schönheit ..."
"So ordnet das an!", befahl die Frau. "An diesem Tag, an keinem anderen, wird er eure Schönheit sehen und ma­len!"
Dann war die Frau fort. Die Kaiserin bemerkte es, weil der Duft, der bekannt und fremd war, sich nicht mehr im Raum befand. Keine Spur davon war zurückgeblie­ben.
Lange sah die Kaiserin aus dem Fenster. Sie betrachtete die Bäume, die älter waren als die ältesten der Kaiser. Sie dachte: 'Ich bin eine Frevle­rin. Das, was ich tue, darf ich nicht tun. Ich darf nicht die Bäume fällen las­sen. Selbst eine Kaise­rin darf solches nicht befehlen. Sie ist Kaiserin, weil die Bäume es ihr gestatten.'
Aber nein, das waren alles Hirngespinste! Das Bild musste fertig werden! Sie konnte nicht als Kai­se­rin ohne Gesicht dastehen. Das würde ihnen so gefallen, den an­deren Kaisern! Mit ihren Frauen, die wie die Rückseite derselben Häßlich­keit wa­ren. Wie wür­den sie sich um­se­hen, wenn sie, die Kaise­rin ohne Kaiser, sich einreih­te! Und würden wissen, dass es für immer war. Was dieses Wort IMMER be­deute­te, konn­ten nur die er­messen, die tote Kaiser waren.
Nein, das Gesicht musste fertig werden! War sie Kaise­rin geworden, um nun kleinmütig zu sein? Was die Men­schen dachten, war ihr nicht wichtig. Wenn sie das Bild ihrer Kai­serin erst sahen, dann war alles vergessen!

Chapter 138. Woi in der Stadt

Die Drachenzähne schliefen noch. Tatze lag in tief­sten Träumen. Er hatte sich aus seiner Decke ­gewickelt und im Schlaf Wois Decke zu sich herübergezo­gen. Hinter Tatze lag der Zwerg. Jeden seiner Atemstöße beendete ein schar­rendes Krächzen. Während Schädel im Schlaf grim­mige Rede führte, lag der Narbi­ge still wie ein Toter.
Wo war Asari? Er saß im Schatten und hatte Woi die gan­ze Zeit beobachtet. Er konnte sich durchsichtig machen, wenn er es darauf anlegte.
'Brauchen Schlaf­wand­ler keinen Schlaf?', fragte sich Woi.
"Du willst uns verlassen?", fragte Asari. Irgendwo in seinem Rücken hielt sich der Mond ver­steckt.
"Ja, ich gehe", sagte Woi zu ihm und zog an seiner Dek­ke, die Tatze im Schlaf nicht loslassen wollte.
"Willst du nicht wissen, wie es ausgeht?", fragte Asari.
"Ich will meine Decke", sagte Woi und zog vergeb­lich. Als er Tatze Finger gelöst hatte, packte die andere Hand die Decke und ballte sich zur Faust.
"Wenn eine Person etwas bekommen hat, was mir ge­hört, kann ich es dann zurückfordern?"
"Denke doch", antwortete Woi. "Wenn du meine Decke meinst, die hätte ich schon gern zurück!"
"Eine Decke meine ich nicht. Nimm an, sie hat Liebe be­kommen, die ei­gentlich mir gehört. Kann ich sie zu­rück­for­dern?"
"Ich wäre schon froh, wenn ich meine Decke bekommen würde!" Tatze hatte nun seinen ganzen Körper auf die Faust ge­wälzt, welche die Decke festhielt.
"Wenn diese Person MICH lieben würde, dann wäre es doch so, als bekäme ich meine Liebe ZURÜCK!"
"Du meinst, ich sollte Tatzes Decke statt meiner nehmen? Keine schlechte Idee, aber da liegt er auch drauf!"
"Du meinst also, dass ich die Liebe, die mir ge­hört, zurückbekommen kann wie du deine Dec­ke?"
"Tatze liegt drauf. Das ist der Unterschied!"
"Weißt du, ich denke an diese Dahima. Sie hat die Liebe bekommen, die eigentlich mir gehört. Es wäre nur gerecht, wenn sie mich solange liebt, bis ich alle Liebe von ihr zurückbe­kommen habe."
"Ich glaube, sie würde dich eher verstehen als eine andere", zeigte sich Woi überzeugt.
"Meinst du wirklich?"
Woi runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. In der ganzen Zeit hat­te Asa­ri nicht einmal etwas Vernünftiges gesagt! Woi hat­te von dem ganzen Unsinn genug. Den Hof würde er noch ein­mal be­su­chen, um Nadim zu sehen. Dann würde er zu­rück nach Hau­se reisen, wo es langweilig, aber vernünf­tig zuging.
"Ich schenke Tatze die Decke", sagte Woi. "Er ist mein Freund, da kann ich sie ihm auch schen­ken!"
"Nein", sagte Asari zu sich, "er hat mir nicht nicht zuge­hört, oder es interessiert ihn nicht."
Woi zog statt einer Antwort seinen Beutel zu.
"Hast du keinen Wunsch", fragte Asari. "Du hast mich befreit, da kannst du dir etwas wünschen."
Woi schwieg. Es war ihm alles zu dumm. Er packte seine Sachen. Und betrachtete angewidert die Essensreste auf dem Tisch.
"Wenn ich erst Kaiser bin, kann ich dir jeden Wunsch er­füllen. Lass mir nur ein wenig Zeit."
Woi traute diesem Asari alles zu, weil er sich maßlos über­schätzte und nur darauf wartete, dass er je­manden, der wirk­lich mächtig war, herausfordern konnte. Dazu kam noch sei­ne Mutter, die ihm alles versprach.
"Es ist schade, dass du nicht an Menscherfinder glaubst", sagte Asari.
Ein Knurren kam von Woi statt einer Antwort. Ein letz­ter Blick auf Tatze, der ein guter Freund gewesen war, auf seine Decke, dann hatte er die Leiter vom Baum geworfen und war heruntergestiegen.
Sein Pferd Prinz begrüßte ihn und warf den Kopf nickend hoch, als freue es sich, dass Woi nun endlich und für im­mer ver­nünftig geworden war.
Als er auf dem Weg war, dachte er an Nadim. Es war falsch, dass ausgerechnet er ausgesucht worden war, eine Prinzessin zu heiraten. Er dachte an Bal­deina. So einer war der Richtige für Prin­zes­sin­nen! Er konnte sich ver­lieben, ohne seine Prinzessin einmal gesehen zu haben, nur weil sie eine Prin­zessin war. Woi fand, dass Na­dim schon als Mäd­chen, ohne dass sie Prinzessin war, zu schwie­rig für ihn war.
Er zweifelte nun, ob es überhaupt vernünftig war, sie zu besuchen. Vielleicht war sie in Ge­danken weit fort und hat­te ihn bereits vergessen. O­der sie war be­reits ver­hei­ra­tet. Oder sie war ihm immer noch böse. Ei­gent­lich wollte er nur sehen, für welche von den Möglichkeiten sie sich entschieden hatte. Es gab keinen Grund, von ihr Ab­schied zu nehmen, und schon gar keinen vernünf­tigen.
Weil er tief in Gedanken war und in seinem Entschluss schwankend war, bemerkte er nicht, dass in der Stadt, überall auf den Straßen Sol­daten zu Fuß unter­wegs waren.
Nicht weit an einer Häuser­wand stand ein junges Mädchen. Die Sol­daten hatten über ihrem Kopf ei­nen vollen Holzeimer Wasser aus­gegos­sen. Sie zitterte, weil sie fror und weil sie weinte. So musste sie ste­hen und sich anhö­ren, was die Sol­daten ihr vorwarfen.
Von der Seite hörte Woi, dass nie­mandem als der Kai­se­rin er­laubt war, schön zu sein. An­griffslustig sahen sich die Sol­daten nach dem Rei­ter um, der ihnen zu langsa­m ritt, als sei er Freund mit diesem Mädchen. Aber Woi grüßte freundlich und übersah das an der Hauswand zittern­de Elend des Mädchens.
In der nächsten Straße sah Woi Soldaten in ein ge­schmücktes Haus gehen und die Girlan­den vom Dach ab­schneiden. Einen alten Mann, der die Blumen einsammeln und her­eintragen wollten, lachten sie aus. Ließen ihre Pferde mit den Hufen darüber laufen und drohten ihm, wor­auf er mit krummem Rücken im Haus ver­schwand.
Jede Hochzeit und jedes Schöntun sei von der Kaiserin per­sön­lich untersagt, hörte Woi sie ausrufen. Besser die Mäd­chen blieben im Haus, wenn sie ein Wasserbad scheuten, fügte einer von ihnen als seine Mei­nung hinzu.
War ein Mädchen nicht bereit, auf ein Haus zu zeigen, in dem die Soldaten auf ihrer Suche fün­dig werden wür­den, dann wurde sie zweites Mal über­gossen. Aber die mei­sten zeigten gedemütigt und zitternd auf das Haus einer Nach­barin oder Freun­din.
Von ihren geschlossenen Fenstern aus sahen die Menschen auf die Straße, wo berittene Soldaten in schweren Waffen patroul­lierten, um Angst zu verbreiten. Überall schleppten Diener vom Kaiserhof Wassereimer herbei und reichten sie den Berittenen an.
Woi ritt langsam weiter, indem er sich in der Mitte der Straße hielt und nur aus den Augenwinkeln das Geschehen beobachtete. In einem Haus wollte ein Mann den Soldaten den Zutritt verwehren. Sie lachten nur und fragten den Mann, ob ihm Feuer lieber sei als Wasser.
Dann gingen sie hinein und trieben ein junges Mädchen, das wie eine Braut ge­schmückt war, auf die Straße und übergos­sen sie wie die anderen. Die Männer, die dabeistan­den, waren fas­sungslos über das, was geschah, starr vor Wut und Hilflosigkeit.
Woi ritt nun schneller, weil er die Blicke der Männer in seinem Rücken spürte. Sie machten in ihrer unterdrück­ten Wut keinen Unterschied zwischen ihm und den Soldaten. Eine alte Frau zeigte auf Woi und rief etwas, was er nicht ver­stand. Im­mer wieder rief sie diesselben Worte, und niemand wollte sie beruhigen.
Die Straßen rings um die Mauern des Kaiserhofes waren von Menschen verlassen. Aber überall auf dem Pflaster sah er Was­serla­chen, die davon zeugten, dass die Soldaten ihr Werk bereits vollbracht hatten. Die Häuser waren still, aber sie warfen hasserfüllt ihre Augen auf den Reiter, als wollten sie nicht glaubten, dass er zufällig vorbei­ritt.

Chapter 139. Die geworfene Hand

Die Wachen waren verdoppelt worden. Es waren vier, und Woi kannte keinen von ihnen. Nachdem sie ihn durch­sucht hatten, durf­te er passieren. Sie re­deten nicht mit ihm, sondern erle­digten ihre Pflicht schweigend. Auch unter­einander redeten sie nicht. Wenn er es recht erkann­te, dann waren die Wa­chen neu zu­sammenge­stellt worden und sich fremd.
Die Soldaten, die ihn erkannten, zeigten es nicht. Sie blickten in eine andere Richtung oder beachteten ihn nicht. Vom Oberen bekam er ei­nen freundlichen Blick, dann einen, der ihn gütlich warn­te, sich vorzuse­hen.
Viele Bedienstete standen im Hof. Auch sie redeten nicht mit­ein­an­der. Manch einer erkannte ihn kurz, ließ sich aber nichts anmerken. Es gab für sie nichts zu tun, als re­gungslos her­umzu­stehen. Es war, als sei auch ihnen der Schreck in die Kör­per ge­fahren und traue sich nicht mehr heraus. Woi sah sich nach Was­serlachen um, konnte aber keine entdecken. Ihm fiel auf, dass die jungen Mägde, die sonst für die niederen Arbeiten nach drau­ßen geschickt wurden, alle fort waren oder sich nicht zeig­ten.
Als ein Pferdejungen seinen Prinz genommen hatte, ging er langsam zum Haus der Prinzessinnen. Ihm schien, als wäre überall die Arbeit liegen geblieben. Wenn irgendwo eine Hand frei war, dann war sie den Soldaten zu Dienste. Ein ganzer Trupp kam so rücksichtslos hinter Woi in den Hof gerit­ten, dass er ei­ligst zur Seite springen musste.
Weil er eigentlich noch nicht wusste, wie er sei­nen Abschied mit Nadim anfangen sollte, ging er erst ein­mal um den Trakt der Prinzessinnen herum, setzte sich an eine Stelle, wo ihn niemand umreiten würde, dachte an nichts und flö­tete, beides zur gleichen Zeit.
Irgendjemand warf Steine. Als ihn einer beinahe getrof­fen hätte, sah er sich ärgerlich um. Eines der oberen Fenster wipp­te wenig, eine Hand erschien und winkte ihm zu, wenn er sich nicht täuschte. Wen als ihn konnte sie mei­nen, diese Hand?
Nadim hatte ihn kommen sehen. Sie strich sich durch das Haar, bis das Herz nicht mehr so klopfte. Sie tat vor ihrem Herz, als sei nichts. Was für ein albernes Herz! Sah es nicht, wie ruhig sie war?
Schließlich, als die Haare glatt waren und glänzten, da war nur noch Freude in diesem Herzen, gerade soviel Freu­de, dass er sie nicht bemerken würde.
Sie durfte kein Puder mehr auf der Haut tragen, die Brauen nicht schwärzen, den Mund nicht bemalen. Aber das Haar zu kämmen, hatte ihr niemand verboten. Wenn sie allein war, trug sie es sogar offen. Doch nun band sie es im Rücken zusammen. Wenn er nicht sah, was für ein Haar es war, trug er die Schuld bei sich.
Die Dienerin kam und meldete, dass ein junger Herr unten sei und warte. Dieser sei der Prinzessin bekannt und genau dies, dass er bekannt sei, habe er gesagt.
Die Dienerin war sehr erstaunt über Nadim. Wer hätte ge­dacht, dass ihre Prinzessin ein wenig von ihrem Herzen verloren hatte? Dazu noch, dass es die­ser war, zu dem es gegangen war! Er hatte sie immer so böse ge­macht, wie niemand ande­rer es je vermoch­te. Da hatte die Diene­rin schon gedacht, dass es mit ihm etwas Beson­deres war. Aber mit einem Mal war er fortge­blie­ben, ohne ein Wort, keinen Brief, keinen Blick. Nichts hatte die Prin­zessin sich an­mer­ken lassen, aber eine Diene­rin weiß eben, wie ihrer Herrin zumu­te ist.
Wer Woi draußen gesehen hätte, wäre überzeugt gewesen, er habe gerade ein gutes Geschäft gemacht oder sei sicher, eines in Aussicht zu haben. Aber es be­ach­tete ihn niemand, und mit einem Ge­schäft hatte seine Zu­frie­denheit nichts zu tun.
Er war einfach glücklich, dass das Verrückte alle in der Stadt und im Hof angesteckt hatte, nur ihn und Nadim nicht. Das freute ihn. Sie hatte auf ihn gewar­tet, damit sie sich zusam­men anstecken konnten. Sofort ver­bot er sich den Mund. Das war nun wieder eine Bemer­kung gewe­sen, die sie geärgert hätte.
Lange musste er warten, bis er von der Dienerin her­ein­gelassen wurde. Er glaubte schon, sie habe ihn vergessen, und klopfte erneut. Aber die Dienerin beschied ihn un­ge­dul­dig, dass er zu warten habe, bis die Prinzessin sage, dass sie ihn emp­fangen wolle. Nur fortgehen dürfe er nicht. Das sage die Dienerin, nicht die Prinzessin.
Also wartete Woi weiter, ging um das Haus herum und ver­suchte nicht zu denken, dass Nadim wieder ein Spiel mit ihm spielte. Es konnte viele Gründe geben, ihn nicht zu empfangen. Ihm fiel zwar keiner ein, aber er ver­bot sich zu denken, dass sie ihn nur ärgern wollte.
Er ging um das Haus der Prinzessin herum. Dort warf er mit klei­nen Stein­chen auf eine Blume, die ei­nen roten Kelch hat­te, der so hoch auf einem schma­len Hals saß, dass er im Wind von ei­ner Seite zur anderen schwankte und schwer zu tref­fen war.
Währenddessen stellte er sich Nadim immer ge­nauer und schärfer vor. Er gab sich nicht zufrie­den mit ihrem Bild, sondern betrachtete in der Erinnerung jede Einzelheit, so es ihm möglich war. Aber er stellte fest, dass ihre Augen sich nicht für eine bestimmte Farbe entscheiden konnten. Er sagte sich Worte mit ihrer Stimme vor. Dann dies­sel­ben Worte mit einer anderen Stimme, die auch möglich war.
Als er so vor sich hinsprach und mit den Händen ihre Stimme durch die Worte führte, winkte die Hand am Fenster dring­lich und auf eine bekann­te Weise ungnädig. Also winkte er zurück und hatte vergessen, dass er zum Abschied gekommen war. Damit trat die Dienerin aus der Tür und machte sich bemerk­bar.
Er wurde in die unteren Räume des Prinzessinnenhauses ge­führt. Dort hatte sich nichts verän­dert. Alles stimmte mit seiner Erinnerung überein.
Eine alte Frau kam langsam die Treppe herunter. Sie hatte im linken Bein Schmerzen, denn sie stützte sich durch einen krummen Geh­stock ab. Das Haar hatte sie im Rücken zusammengebunden, vorn hing es ihr strähnig über die Stirn und die Augen. Brab­belnd und vor sich se­hend, tockte sie mit dem Stock die Treppe von Stufe zu Stufe ab.
Woi sah die Dienerin Rat suchend an, doch sie zog die Vorhänge gegen das Licht herunter. Ir­gendwo hatte er die Frau schon einmal gese­hen, aber das war an einem anderen Ort gewesen, si­cherlich nicht bei den Prin­zessin­nen oder am Hof. Viel­leicht in einem Wald bei sich zu Hau­se. Dort gab es eine alte Hütte und eine Alte, die dort wohnte und von der Käl­te kaum lau­fen konn­te. Nein, die war es nicht! Zu­mindest war es nicht ihr Stock.
Die Alte ging direkt auf Woi zu und blieb vor ihm ste­hen, als sie mit ihrem Stock gegen seine Füße gestoßen war. Sie schob die Strähnen aus ihrem Gesicht und betrach­tete Woi, in dem sie mit dem Stock auf der Stelle tockte, auf der sie stand.
"Was wollt ihr, junger Mann?", fragte sie. "Seid ihr be­kannt, dann sagt es mir."
"Ich will zu Prinzessin Nadim", sagte Woi. "Sie wird mich wohl noch kennen."
"Erkennt auch ihr sie, eure Prinzessin?"
"Natürlich erkenne ich sie! Sie soll nur kommen. Ihr werdet sehen, dass wir uns kennen."
"Seid ihr sicher, dass ihr sie erkennt?", fragte die alte Frau und schob sich die Haare aus dem Gesicht.
"Was stellt ihr für Fragen?"
"Ihr wart eine lange Zeit fort. Sie wird sich verändert haben. Die Arme ist alt geworden, mit den Sorgen krumm und führt einen Stock, der letzte Freund, der ihr geblieben ist, aber ein treuer."
Die Augen der Alten lächelten ihn auf eine bekannte Wei­se an. Die Hand war zu jung und zu fein für die Haare, die sie beisei­te schob.
"Nun hat er mich doch erkannt", sagte Nadim zu ihrer Die­nerin. "Jaja, mein Freund aus frühen Tagen", kratzte ihre Stim­me wieder, und der Stock tokte weiter, "so schnell geht sie da­hin, die Jugend, und geht an einem Stocke krumm, als er zurückkehrt von der langen Reise."
"Keine lange Reise war das!"
"Husch, siehst du, ist die Jugend fort und eilt, das treu­los Ding, zu einer anderen, der sie Verweil ver­spricht, was die ihr gerne glaubt und -"
"- was soll der Aufzug?", fragte Woi streng und nun em­pört.
Nadim sah ihn ernst an: "Die Kaiserin will es so."
"Warum denn? Was hat sie davon?"
"Mit meinem Alter macht sie sich jung. Von meiner Häß­lichkeit borgt sie sich ihre Schönheit."
"Das glaube ich nicht!"
"Willst du es sehen?"
Statt auf seine Antwort zu warten, winkte ihm Nadim, ihr zu folgen. Er half ihr langsam die hohe Stufe hinunter auf das Pflaster und ging neben ihr über den Hof. Sie wies mit dem Stock auf Dinge, die sie sah, und stütze sich auf sei­nen Arm. Er hör­te ihr zu und nickte und sammelte von den Worten auf, was er verstand. Jeder, der sie so sah, blieb stehen und sah ih­nen verwun­dert nach.
Da die Kunde schneller lief als das seltsame Paar, stand der Hof bald mit Leuten voll. Während Nadim das Schau­spiel genoss und immer wieder Din­ge erfand - ja, sie spuckte sogar auf den Boden und huste­te! - ging Woi dicht bei ihr und tat sehr ernst. Es war seine Idee, sich auf eine Bank zu setzten, inmitten der Menschen, dass sie statt des Him­mels aufge­rissene Au­gen und offene Münder sahen. In eine Lücke drängte sich eine nied­rige Wolke hin­ein, welche die Neugierde vom Weg ab­ge­bracht hatte.
Als Nadim sich die Bemerkung erlaubte, wie schön es sei, wenn zwei ihr Alter nicht allein verbringen müssten und ge­mein­sam den Himmel betrachten kön­nten, teilte sich die Kup­pel der Köp­fe über ihnen, und die Die­ner tra­ten ängst­lich flüsternd zurück.
Die beiden Alten kümmerte das nicht. Na­dim rutschte ein we­nig näher an Wois Seite. Er nahm ihr den Stock aus der Hand und legte ihn auf ihrer beider Kniee. So saßen sie zu­sam­men auf einer Bank, zwei alte Leute, die sich soviel ge­sagt hatten, daß das Nichtgesagte nun gnädig mit ihnen war.

Chapter 140. Nadim und Woi werden gemalt

"Platz da für die Kaiserin! Alle weg, die ihr nicht zum Ärgernis werden wollen!", rief Baldeina, und ließ seine Stimme von Solda­tenschritten herantragen.
"Du?", fragte er erstaunt, als er Woi erkannte.
"Und sie", antwortete Woi und zeigte auf Nadim, die strahlend aufsah und alle Zittrigkeit vergessen hatte.
"Zurück von deinem Abenteuer?", fragte Baldeina spöt­tisch.
"Geht es voran mit Dessa?", fragte Woi zurück.
Baldeina warf einen bösen Blick auf Nadim und fragte Woi mit Bitterkeit: "Was willst du überhaupt hier? Ich denke, du hast alles hinter dir gelassen."
"Ich bin eben da", sagte Woi und zuckte die Achsel.
Die Kaiserin war hinter Baldeina hervorgetreten und breitete ihr Schweigen aus. Nadim spürte, dass sich Wois Körper neben ihr angriffslustig straffte, ihr nicht einmal die kleinste Ängst­lich­keit zu spüren gab. Mit einem Mal war ihr bang um ihn. Dann warf sie die Anwandlung fort. Um was sollte sie ängstlicher sein, wenn er bei ihr war - weniger Grund gab es, sich zu fürchten, zweimal weniger!
"Er ist doch der Sohn eines bedeutenden Fürsten?", frag­te die Kaiserin an Baldeina gewandt.
"Der Sohn eines Fürsten gewiss, dessen Bedeutung ein wenig ungewiss", bestätigte Baldei­na. Von dieser Spit­ze aber wollte die Kaise­rin nichts wissen.
"Was macht er dann bei dieser Frau, die alt und hässlich ist und jüngst aus jeder Gnade fiel?", fragte die Kaise­rin.
"Ich weiß es nicht", sagte Baldeina.
"ER soll es sagen!", herrschte die Kaiserin ihren Günst­ling unwil­lig an.
"Auch ich bin alt, und von der Schönheit brauche ich erst in ei­nem neuen Leben", sagte Woi, worauf Nadim einen verzück­ten Schrei ausstieß, der ihr den bösen Blick der Kaise­rin ein­trug.
"Die Gunst der Kaiserin, die am Hof das Wichtigste ist, die braucht er nicht?", fragte die Kaiserin sanft.
"Die Gunst der Prinzessin ist ihm wichtig. Fragt sie, wenn ihr einen Teil davon wollt", entgeg­nete Woi laut und fest.
Ein Raunen bildete das Echo auf seine Worte. Das Licht am Hori­zont hatte sich ver­än­dert. Wenig, ganz wenig, gerade so, dass die Augen tiefer in den Schat­ten lagen.
Der Maler hatte sich zur Kaiserin gestellt und flü­sterte ihr etwas zu. Von ihrer Miene ver­zogen sich die Wolken und die Schwingen der Brauen glitten in ruhigem Flug dahin.
"Euch wird eine Ehre zuteil", sagte sie zu Nadim und Woi gewandt. "Ihr werdet auf dem Großen Bild direkt in mei­ner Nähe ste­hen. Begleitet ihn nun! So wie ihr seid, will ich euch für immer in meiner Nähe sehen."
Sie gab zwei Soldaten einen Wink, welche sich sogleich hinter der Bank aufstellten und dem Paar folgten, als es sich ohne Zittern erhoben hat­ten. Der Maler nahm den Stock, den Nadim auf der Bank hat­te liegen­lassen.
Er ließ sie in die Gemächer der Kaiserin führen, wo sein Junge wartete, und gab den Sol­daten einen ärgerlichen Wink, dass er sie nicht bei sich dulde­te. Dann drehte er das Große Bild zu ihnen hin und warte­te, was sie sagen wür­den.
"Wird das die Kaiserin?", fragte Nadim.
In ihren Blic­ken sah er, wie schön sie das Kleid und den Schmuck fand. Ganz unwillkürlich suchte sie die rätselhaf­te Hal­tung der Dar­gestell­ten anzunehmen, aus welcher der Maler alles Ein­deu­tige und mit Erkennen be­frachtete her­aus­gewo­gen hatte.
Stolz sah er, welchen Eindruck das Gro­ße Bild auf die Prinzessin machte. Das Urteil des jungen Man­nes an ihrer Seite war ihm von geringerem Wert. Nicht länger als die Sol­daten hatte dieser das Bild betrachtet.
"Der Kopf ist das schwerste", erklärte er der Prinzes­sin, "wir war­ten noch auf den Moment, wo wir das Gesicht in seiner wahren Schönheit vollenden kön­nen."
"Dafür muss ich als alte Frau gehen?", fragte sie ihn, ohne dass sie einen Vorwurf damit verband.
"Es war nicht meine Idee", sagte der Meister entschul­di­gend, "aber ihr habt recht, dafür ist es."
"Gibt es denn diese ... wahre Schönheit?"
"Stellt euch vor, ihr seht einen Toten. Sein Gesicht ist bekannt und nicht weni­ger fremd ge­worden. Die Menschen star­ren ihn an und wissen nicht, was sie den­ken sol­len. Der Tod und der Mensch sind ein Neues geworden, und wenn es eine wahre Schönheit gibt, dann -"
"- ihr denkt nicht etwa dran, die Kaiserin zu enthaup­ten?", fragte Woi grinsend. "... mir könnt ihr es ruhig sagen."
Bevor der Meister etwas entgegnen konnte, sagte Nadim: "Ich verstehe es, Woi. Ich verstehe es wirklich."
"Die wahre Schönheit ist noch ungnädiger als der Tod, dul­det nichts vom Menschen an sich. Das ist, was ich mei­ne!", erklärte der Mei­ster und war immer noch ärger­lich.
"Und was sollen WIR auf dem Bild?", fragte Woi. "Das ver­stehe ich immer noch nicht!"
"Wenn du es wissen willst - ihr seid das, was die Schön­heit beiseite gelegt hat."
Woi sah Nadim an. Wieder schien sie das Gesagte ver­stehen zu können.
"Stellt euch hierher", sagte der Mei­ster. Er rückte sie zurecht und dichter zusammen. Wois Gesicht drehte er zu Nadim. Deren Haltung bog er nach vorne, dass ihr Blick den Stock entlang zum Boden ging.
"So ist gut", sagte er schließlich, als sie sich von al­len Seiten angesehen hatte, "fasst euch jetzt bei den Hän­den."
Das war ein Gedanke, der ihm gefiel. Er griff per­sön­lich zu, um ihre Hände ineinander zu legen. Nadim starr­te stumm ihren Stock herunter zu Boden. Derweil durchbohr­te Woi mit Blicken die kopflose Kaiserin.
Der Maler wandte sich dem Bild zu. Einige Male sah er noch zu ihnen hin. Machte sich an den Vorhänge zu schaf­fen, zog sie schließ­lich ärgerlich ganz zur Seite. Dann malte er aus dem Kopf und hatte wohl vergessen, dass zwei junge Menschen im Modell standen, die sich an den Händen gefasst hielten und lange nichts zu sagen wussten.
"Baldeina wollte wissen, warum du zurückgekommen bist", flüsterte Nadim. Sie fürchtete, den Maler zu stören.
"Ich weiß nicht", sagte Woi.
"Du traust dich nicht, es zu sagen", flüsterte Nadim.
"Es ist durcheinander", so Woi. "Das ist, woran es liegt."
"Sie hat es verboten", flüsterte Nadim und gab ihm dabei ihre Hand zu spüren.
Woi schwieg.
"Das Heiraten - hörst du? - hat die Kaiserin verboten", kam es leiser als geflüstert von Nadim.
"Würdest du es denn wollen?", fragte er.
"Ich würde es, glaube ich, wollen", sagte sie.
"Ich auch!", sagte er, als wäre es nichts.
"Sie hat es aber verboten!", warf Nadim eiligst ein. "Wie kann sie DAS verbieten?"
"Das Heiraten?"
"Nein, das andere!"
"Würdest du mein Versprechen wollen", fragte sehr leise Nadim.
"Hhmm", sagte Woi.
Nadim glaubte sogar, dass er ge­nickt hatte. "Dann gebe ich dir mein Versprechen", flüsterte sie.
Es dauerte ei­ne Weile, bis die Hän­de vergaßen, zu wem sie gehörten. Kurz erin­nerten sie sich wieder. Dann war auch diese Erinnern fort. Die Hände hatten Nadim und Woi ver­gessen.

Chapter 141. Die Kaiserin bei Baldeina

Der ganze Hof hatte sich ver­sammelt. Die Gärtner hatten sich zwischen den Sol­daten und den Köchen aufge­stellt. Sie waren als letzte erschienen und suchten noch ihre Ordnung und Zugehörig­keit. Am Him­mel, der den Tag so heiter begon­nen hatte, umstellten nun Wol­kenberge das Blau des Mit­tags.
Zum zweiten Mal hob die Kaiserin an, etwas sehr leise zu sagen. Es war still geworden, damit nicht wieder Worte von ihr in die Unachtsamkeit fielen.
"Ich werde das Diadem nicht tragen", sagte sie und ver­suchte es von ihrem Haar zu entfernen. Niemand rührte sich, nicht einmal die Dienerin, die ihr eigentlich hätte zur Hand gehen müssen.
"Eigentlich, nicht wahr, ist es IHR Tag", sagte die Kai­serin und zeigte auf das Bild, an dem nun, abgesehen von Au­gen nichts mehr fehlte. Die Haare hatte der Maler an diesem Tag vollendet, ebenso das Diadem, welches die Stirn schmückte.
Baldeina hatte das Gefühl, alle warteten darauf, dass er etwas sagen würde.
Der Hofmarschall hatte ei­gene Gedan­ken, angenehme Gedan­ken, die ihm nicht wütig gegen die Schläfen klopften.
Währenddessen betrachtete der General den Hofdichter, der mit einem sehr jungen Mädchen gekommen war. Es bestand wirklich eine große Ähnlichkeit zwischem diesem LoBe und dem Mann, den er an der Seite einer Dame im stramm gefüll­ten Witwen­kleid gesehen hatte.
"Ich möchte, dass du mir die Haare hochbindest", sagte die Kaiserin zu der Dienerin, die aus einer eidechsenhafte Starre erwachte. "Ihres ist das schönere Haar", fügte die Kaiserin sehr leise hinzu.
Der Kämmerer nahm das Diadem entgegen, welches vorsich­tig aus dem Haar entfernt worden war. Während die Diene­rin der Kai­serin das Haar aufband, waren alle weiter still und war­te­ten, dass sie noch etwas sagen würde.
Als sie nichts sagte, sondern sich selbst einer Abwe­sen­heit überließ, begann der Maler leise mit seinem Lehrjun­gen zu flüstern. Hinter dem Rücken der Hofwichtigen schlich sich der Lehrjunge davon, als fürchte er ihre fra­genden Blicke.
"Sie fährt in einem eigenen Wagen", sagte die Kaiserin. Während Baldeina nicht wusste, von wem die Kaiserin sprach, gab der Hofmarschall ein paar schnelle Anweisun­gen, die er mit einer Ent­schul­digung für seine Unachtsam­keit ab­schloss.
Die Kaiserin ging umher, als sei sie allein. Schließ­lich blieb sie vor dem Mädchen stehen, das an der Seite des Hofdichters gekommen war, und fragte, ob dieses Mädchen eine Schwe­ster habe. Nein, sagte das Mädchen leise, sie habe keine Schwester. Dann habe sie einen kurzen Na­men, der Anfang und Ende in einem sei, sagte die Kaiser. Das Mädchen nickte und verschwand hinter dem Rücken des Hof­dichters. Die Kaiserin sah sich zu­frie­den um.
Als der Wagen gekommen war, stieg der Maler auf und nahm vorsichtig sein Bild entgegen. Er half auch seinem Lehr­jungen hoch, der sich, mit zwei Rücksäc­ken be­laden, einge­funden hatte. Wieder hatte der Hofmar­schall einen schlaue­ren Blick als Baldeina.
"Ich bitte sie, die Zügel zu nehmen. Ich mag nicht ei­nen Len­ker, der mir fremd ist", sagte die Kaise­rin leise, nachdem sie Platz genommen hatte.
Baldeina vergaß nicht, den Hofmarschall wie einen Be­sieg­ten anzusehen. Doch der Hof­marschall schien sich mit seiner Niederlage abge­fun­den zu haben. Nichts Feindseliges lag in seinem Blick.
Weil Baldeina so in Gedanken lenkte und neben dem ande­ren Wa­gen fuhr, wäre er beinahe gegen das Tor des Kaiser­lichen Hofes gefahren, denn beide Wagen passten in ihrer Breite nicht hindurch.
"Sie soll zuerst fahren", sagte die Kaiserin, als Bal­deina sich verwirrt umblickte.
So erschien der Wagen mit dem Bild der Kaiserin als erster den in der Stadt warten­den Men­schen. Dann folgte die Kaiserin, die Soldaten und alle Bedien­steten.
Die Blicke der Menschen wechselten zwischen den beiden Kaiserinnen hin und her. Die Blu­men, die sie in den Händen hielten, waren allesamt welk.
'Es ist ein Tag, der ganz still ist', dachte die Kaise­rin. 'Ein wunderbarer Tag. Niemand sagt etwas. Niemand ruft Dinge. Es ist ein Tag, wie ihn die Augen sich ge­wünscht haben.'
Sie war den Mädchen für ihren Gehor­sam dank­bar und hatte doch nichts zum Schen­ken dabei. All die Wan­gen, all die Augen, all die Lip­pen, bleich und spröde, fortgegeben das Schöne, damit es im Schön­sten aufge­hoben war und der Maler ihm eine Heimat geben konnte, nicht eine Unter­kunft, nein, einen Adels­sitz - die im Ver­gessen em­porge­tauchte, jung­fräuli­che, für alle Zeit unbe­wohnte In­sel der Schönheit.
'Wie wissen die Häuser, wer in ihnen wohnt?', dachte die Kaiserin. 'Erkennen die Wolken die Ferne wieder? Wie findet das Licht die Schönheit? Wissen die Häuser um die Trau­rig­keit, die sich in Schattentücher betten muss?' Eine Fra­ge hatte die ande­re geru­fen und würde rufen, endlos ru­fen, bis sie sich selbst wieder fand. So dachte die Kaise­rin mit einem Lä­cheln.
Auf dem großen Platz standen die Häuser dicht ne­benein­ander, ließen keine Lücken zwischen sich. Dicht um­stellten sie die beiden Wagen und warteten im Kreis, als gehöre jedem von ihnen der gleiche Teil am Recht, das Bild zu schauen.
"Seht ihr nicht, dass sie friert", sagte eine Stimme.
Wo konnte diese Stimme herkommen? Die Wolken hatten dunkle Stimme, da war sich die Kaiserin sicher. Die Häuser würden im Echo der Menschen sprechen. War es eine Stimme, die vom Gestern übrig geblieben war? Wälzte sich das Morgen im Schlaf?
"Seht ihr nicht, dass die Kaiserin friert?" Die Stimme stand in einem jungen Mann. Wenn er verstand, dass die andere Kaiserin mehr als ein Bild war, dann verstand er als ein Freund.
"Ich werde ihr meinen Mantel geben", sagte die Stimme, die in dem jungen Mann stand.
"Wenn SIE euren Mantel hat, dann friert doch IHR", gab die Kaiserin als Beden­ken vor.
"Ich tausche meinen Mantel gegen ihr Frieren", entgegne­te die Stimme im jungen Mann. "Das soll unser Handel sein."
"Ich könnte ihr meinen Mantel geben", schlug die Kaise­rin vor.
"Das ist nicht dasselbe!", entgegnete die Stimme aus dem Mund des jungen Mannes.
"Nein, da habt ihr recht. Euer Mantel war der erste, und das ist der wahre vor dem zweiten", sagte die Kaise­rin, nahm seinen Mantel entgegen und sorgte, dass der Ma­ler ihn der Kaiserin auf dem Großen Bildes um die Schulter legte.
"Wer seid ihr? Kennt sie euren Namen?", fragte sie, ängstlich, dass die Stimme den jungen Mann wieder ver­lassen hatte.
"Sie kennt mich, wie sie euch kennt", sagte die Stimme. "Einen Namen würde sie gleich vergessen und nur ärgerlich darüber werden."
"Aber ihr wisst, wer ich bin?"
"Niemand weiß, wer er ist", antwortete die Stimme.
"SIE weiß, wer sie ist", sagte die Kaiserin und zeigte auf das Große Bild.
"Das ist etwas anderes."
"Ja, etwas anderes ... Kommt ihr uns besuchen?" Das war ein Wunsch, den sie für die andere Kaiserin aussprach.
"Ich werde kommen", versprach die Stimme, die ein Freund geworden war.
"Wann wird es sein?"
"Sie bestimmt den Tag. Was hätten WIR für SIE zu bestim­men!"
"Ja", sagte die Kaiserin leise, "sie soll den Tag be­stimmen. Das werden wir ihr überlassen."

Chapter 142. Die Enttarnung

Baldeina hatte fest geschlafen. Sein Kopf lag auf dem Arm, weil das Kissen bei seinen Füßen lag. Von der Decke lag das meiste unter seinem Körper. Weil er wieder zu reichlich gegessen hatte, hatte er sich lange gewälzt, be­vor er eingeschlafen war,
Etwas hatte ihn ganz leicht berührt.
'Nein', sagte der Schlaf, 'es ist nichts.'
Wieder berührte ihn etwas, diesmal an seiner Schläfe. 'Es ist eine Hand, nichts als eine fremde Hand. Es lohnt nicht, nachzusehen', sagte der Schlaf.
Jemand sprach ihn leise an.
'Ich habe mich geirrt', sagte der Schlaf. 'Es ist die Kaiserin. Sie steht und schaut uns zu.'
Da schreckte Baldeina hoch und sah mit schweren Augen, dass der Schlaf nicht gelogen hatte. Vor ihm stand die Kaiserin in einem weißen Nachtkleid, unter dem sie etwas verborgen hielt.
"Der Maler ist fort, ohne seinen Lohn", sagte sie leise.
"Ja, er ist abgereist", sagte Baldeina, obwohl er nichts davon wusste.
"Er weiß etwas", sagte die Kaiserin. "Etwas macht ihm so große Angst, dass er ohne seinen Lohn abge­reist ist."
Baldeina kratzte sich am Bauch und hörte erst damit auf, als er den Blick der Kaiserin bemerkte.
"Er weiß etwas über SIE", sagte die Kaiserin bestimmt. "Er weiß ihr Geheimnis. Das macht ihm große Angst."
"Wen, wie?", fragte Baldeina, und beinahe hätte die Hand den Bauch erneut gekratzt.
"Die FRAU", sagte die Kaiserin. "Es ist etwas mit ihr. Der Maler weiß darüber Bescheid. Ich muss - muss ihr Ge­heimnis erfahren."
"Die Frau mit der Kutte?", fragte Baldeina.
Statt ihm eine Antwort zu geben, zog die Kaiserin etwas unter ihrem Schlafgewand hervor, streckte den bloßen Arm aus und stach hinein. "Kein Blut", stellte sie fest. "Hast du Blut? Ich habe keins."
'Es ist eine Schere', dachte Baldeina. 'Deshalb kommt kein Blut.'
"Sie ist eine böse Frau. Also ist es ein böses Geheim­nis. Und ich muss wissen, was es ist."
Baldeina sah den Kopf eines Soldaten in der Tür. Der Soldat erkannte erst glotzend die Kaiserin, dann konnte er seinen Blick nicht von Bal­deinas nacktem Bauch lösen. Als dieser eine Decke darüber schlug, ver­schwand sein Kopf wieder.
"Sie sind ein Mann und ein Günstling der Kaise­rin. Zu­sammen müssen wir die Frau zwin­gen, uns ihr Geheimnis zu sa­gen. Erst dann werde ich wieder schlafen können."
'Ich kann warten' sagte der Schlaf zu Baldeina. Saß auf dem Kissen und spielte mit Baldeinas Zehen.
"Ich werde - ich muss ihr Gesicht sehen. Unter der Kut­te - sie hat es verboten - was ist, wenn sie kein Gesicht hat?"
"Jeder hat ein Gesicht", behauptete Baldeina und hätte beinahe hinzugefügt, dass es nur mit dem Schlaf etwas an­deres sei. Der Bursche am Fußende grinste und kniff ihm in den Zeh.
"... ach, was wisst denn ihr!", sagte die Kaise­rin traurig, öffnete dabei die Schere und zerschnitt einen Gedanken in der Luft.
"Werden wir gebraucht?", fragte der Soldat, der wieder hereingesehen hatte, ob es etwas Neues gab.
"Wir brauchen nur eine Schere", sagte Baldeina, "aber die haben wir."
"Ah so", sagte der Soldat und verschwand wieder und stellte sich horchend wieder dorthin, wo er gestanden hat­te.
"Ich muss mich anziehen", sagte Baldeina.
"Nein", sagte die Kaiserin, "das ist nicht nötig. Das Wichtigste ist, dass wir die Schere haben."
"Nur den Wams, die Hose, die Stiefel", bat Baldeina.
"Die Stiefel, nur die Stiefel, und einen Gürtel!"
"Gut" sagte Baldeina.
'Kratz dich am Bauch', sagte der Schlaf. 'Das mag sie nicht.'
Bevor Baldeina sich erhob, trat er mit den Füssen nach dem Frechling und seinem Kissen. Dann nahm er seinen Gürtel und wählte, nachdem er tief eingeatmet hatte, eine enges Loch. Als er sich bückte, um in die Stiefel zu steigen, be­kam er keine Luft und japste, als er schließ­lich drin­steckte.
Die Kaiserin zeigte auf ihre nackten Füße und sagte nichts. Baldeina zog seine weißen Schlüpfpantoffeln unter dem Bett hervor, die er dort vor Woi versteckt hatte.
Als sie die Tür öffneten, hatte der Soldat immer noch an der Wand gehorcht und sich über die Geräusche gewun­dert, die er gehört hatte. Sein Ka­merad hielt eine Kerze und stellte sich in Positur.
"Haben sie etwas beobachtet?", fragte Baldeina streng.
"Ja, wie soll ich sagen, eh ...", stotterte der eine, der an der Wand gestanden hatte.
"Nein, nichts. Keine Vorkommnisse", sagte der andere mit der Kerze.
"Gut beobachtet, Soldat", lobte ihn Baldeina dafür und scheuchte sie zusammen fort.
"Ich muss erst nach IHR sehen", flüsterte die Kaiserin und drückte die Klinke des Empfangssaales herunter, in dem das Große Bild stand.
Das Bild stand nicht mehr auf seinem Podest, sondern mit dem Fuß auf dem Boden und war somit im Flackerkerzenlicht von einer wirkli­chen Person kaum zu unterscheiden.
Schweigend und starr stand die Kaiserin vor dem Bild, war bewe­gungslos geworden wie die Kaise­rin auf der Lein­wand. Ja, dieser allein schien ein Lächeln den Mund zu bewegen, als das Mond­licht durch einen lose schwingenden Vorhang ihre Lip­pen be­rühr­te.
"Sie schläft nicht", sagte die Kaiserin. "Niemals schläft sie. Solche Schönheit hat keinen Schlaf."
Baldeina fand, dass das Gesicht nur ernst schau­te. Schien nicht bereit zu sein, sich in seiner Ge­genwart an einem weiteren Lächeln zu ver­suchen. Aber das war doch al­les Unsinn und ein Spiel des Monden­scheins aus Lange­weile!
"Es ist das Werk dieser Frau", sagte die Kaiserin lei­se, als wolle sie nicht, dass die andere sie hörte. "Vergessen wir nicht, dass es ihr Werk ist. Sie weiß mehr darüber als der Maler."
"Das Bild ist doch fertig, warum lassen sie die Frau nicht einfach fortschicken. Wäre doch das Einfachste!", schlug Baldeina vor.
"Sehen sie nicht, warum? Sehen sie nicht, wie traurig die Kaiserin schaut."
"Eben hat sie noch gelächelt"
"Das war das Licht vom Mond, welches sie ge­täuscht hat. Nie­mals sah ich sie lächeln. Unglücklich ist sie! Kein Wort kommt über ihre Lippen, nicht einmal, wenn wir mit­einander allein sind."
"Ich finde Bilder wirken immer ein wenig starr", sagte Baldeina und bereute seine Worte, als die Kaise­rin­nen, die eine wie die andere, ihn gleicherweise streng ansahen.
"Ich habe ihr gesagt, dass ihr Meister vor dem dunklen Geheimnis dieser Frau geflohen ist!"
"Was machen wir also?", fragte Baldeina, um sie mit sei­nem Gehorsam zu versöhnen.
"Wir erfüllen IHREN Wunsch", sagte die Kaiserin.
"Und der wäre ...?", schritt Baldeina fest in Glaube und Ge­horsam aus.
"Aber das sagte ich doch: Sie schickt uns, das Ge­sicht der Frau zu erforschen, ihr das Geheimnis zu entreissen."
"Das ist IHR Wunsch?" Als Baldeina ins Strau­cheln ge­riet, zog die Bild­kai­serin spöt­tisch die Au­gen­braue hoch.
"Natürlich ist es IHR Wunsch. Ich allein hätte Angst, es zu tun. Aber einen Wunsch von IHR muss ich erfüllen. Was bedeutet Angst?"
'- oder Müdigkeit?', dachte Baldeina.
"Ich wollte nur sehen, ob sie nicht schwankend geworden ist."
"Und? Ist sie schwankend geworden?"
"Macht sie diesen Eindruck auf sie?", fragte die Kaise­rin streng.
"Nein", antwortete Baldeina begütigend, "sie will, glau­be ich, dass wir es tun."
"Dann kommen sie! Was stehen wir hier und sind in den Augen der Kaiserin ängstlich und ungehorsam!"

Chapter 143. Die Kaiserin erwacht

"Die Frau schläft", flüsterte Baldeina und hielt die Kerze so, dass die Kaiserin sehen konnte.
Das Bett war nicht bezogen, keine Decke, kein Kissen, bloß die Kutte der Frau lag darauf. Dass jemand dar­un­ter lag, war nichts als Baldeinas bloße Annah­me.
"Ich spüre, dass sie nicht schläft", flüsterte die Kai­serin. "Ihr Körper ist leblos, aber nicht tot."
"Was machen wir?"
"Wir sind zu zweit. Es wird geteilt. Ihr seid der Mann im besten Saft, für euch also der Körper. Mir als Frau und Kaiserin gehört ihr Gesicht!"
"... wie es euer Wille ist!"
"Nehmen sie die Schere! Ich halte die Kerze."
Baldeina tat, wie sie ihm geheißen hatte. Es war zu spät, der Kaiserin Ver­nunft einzure­den. Das Licht der Ker­ze ver­einigte sich in ihren Augen mit dem Feuer des Has­ses. Er hätte nicht einmal sagen wollen, ob es Hass war oder nur ein wildes Flackern ohne Bestimmung.
"Soll ich nun schneiden?", fragte er leise.
"Ja, beginnen sie mit dem Schneiden. Was ihr Körper ist, will ich nicht sehen? Ich weiß, dass ich ihn verabscheuen würde." Die Kaiserin wandte ihr Gesicht zur Wand und hielt die schräg abtropfende Kerze zur Seite.
"Wollen mal sehen, ob überhaupt jemand drunter liegt. Könnte sein, dass Lumpenhaus ist leer." Baldeina bemüh­te sich um einen Tonfall, der dem Gruseligen unerschrocken entgegentrat.
"Schneidet!", sagte die Kaiserin tonlos, als spreche sie ein Urteil gegen sich selbst.
Weil sie es nicht anders wollte, zog Baldeina das Tuch nach unten glatt, setzte die Schere an und mach­te einen tiefen ersten Schnitt, dann einen halben zweiten, der ihn der Füße angesich­tig wer­den ließ - knochige, steinweiße, eigent­lich ge­pflegte Füße, wie er sie nicht erwartet hat­te.
"Was seht ihr, Baldeina?", fragte die Kaiserin ungedul­dig.
"Ihre Füße, ich bin bei ihren Füßen."
"Ja, was denn? Fehlen euch vor Schreck die Worte?"
"Nein, nein", beruhigte sie Baldeina. "Es sind die Füße ... einer vornehmen Frau. Nicht durchgeschunden, keine Haut dick wie eine Sohle. Gepflegt ist die Haut, fei­ner und weicher als Papier."
"Sonst noch etwas?"
"Ich fühle mit dem Finger ... kalt sind sie, wie man es nicht glauben würde."
"Schneide, Baldeina! Ihre Waden will ich sehen."
"Der Stoff der Kutte ist feiner, als er ausschaut ... ich sehe, Kaiserin, nun die Wade."
"Wie sieht sie aus? So sprecht. Macht mich nicht unge­duldig!"
"Nicht die Waden einer Frau, nicht die eines Mannes, ein Ding dazwischen, sehr dünn würde ich sagen."
"Erregt euch ihr Anblick?"
"Was ich sehe, kann nicht mich oder einen anderen erre­gen."
"Dann schneidet weiter!"
Baldeina machte einen Schnitt bis Kniehöhe, wechselte dort flötend die Richtung und schnitt die Wade frei, hoch hin­auf, bis zur Erhebung der knochigen Hüfte.
Er hörte, wie die Kaiserin vor Spannung die Luft anhielt und sagte schnell, damit sie ihn nicht wieder fragen muss­te: "Ob es ein Weib ist, könnte ich nicht sagen ... die weißen Glie­der wie gemeißelt, niemals von einer Hand in zärt­li­cher Absicht berührt, die Schenkel, altfräulich, jungfräulich - wer würde sich festlegen wollen!"
"- weiter, schneide weiter!"
"Das will ich tun, wenn ihr es sagt", gehorchte Baldeina und legte mit sicherem Schnitt die knochige Hüfte frei.
"Ich höre nicht, was ihr seht", drängte die Kaiserin.
"Sie liegt auf der Seite. Wo soll ich mit dem Betrachten beginnen, vorne oder hinten?"
"Das überlasse ich euch!"
Baldeina betrachtete sich von hinten den Po, der flach war, ohne jede Rundung, mit einer tiefen querlaufenden Falte an seinem Ende, wo das Bein ansetzte. Mit ei­nem Finger prüfte er: "Kalt wie die Füße und die Beine, ohne jeden Reiz, nichts Wei­ches, nichts Festes, nie­mals von einer anderen Männer­hand als meiner berührt. Die Kutte ist ein Fest der Sinne gegen dieses Unterrückenteil!"
"Von vorne nun!"
Also betrachtete er das vordere: "Ebensowohl nichts, nicht das Nachgebilde einer Weiblichkeit, wie eine Puppe, nicht wie eine Frau, kein Geheim­nis hinter be­wachse­nen Hügeln ..."
"Sagt ihr mir auch alles?"
"Hier ist nichts, was ich der Unterschlagung wert gewe­sen wäre", rechtfertigte sich Baldeina.
"Den Bauch bis zu den Brüsten!"
"In einem Schnitt?"
"Jeden Teil für sich!"
"Das ist ihr Bauch ..."
"Was seht ihr?"
"Sie hat keinen Nabel, als wäre sie nicht von einer Frau geboren!"
"Wisst ihr nicht, dass eine Frau niemals einen Nabel hat. Auch ich habe keine Nabel ... keine Frau hat einen Na­bel, wusstet ihr das nicht!?"
Es war in der Tat so, dass Baldeina dies unbekannt war. Eigentlich hätte es ihm auffallen müssen, aber es war immer recht dunkel gewesen und gewis­sermaßen eilig. Das seien so Dinge, die ein Mann nicht wissen müsse, hätte sein Vater gesagt.
"Das nächste ...!"
Vorsichtig schnitt Baldeina für seinen Teil die Kutte bis zum Hals auf und achtete dar­auf, dass er einen Kranz von Stoff zum Schneiden übrigliess.
"Es ist der pure Geiz", berichtete er eifrig, "Nippelhöfe, schwarz und runzlig, und Milch für ei­nen Fin­gerhut -
"Ich mag euren Spaß nicht!"
"Entschuldigt, euch zornig zu machen lag nicht in meiner Absicht."
Ungnädig wischte die Kaiserin seine Entschuldigung bei­seite: "Hier, haltet die Ker­ze, und wen­det euch ab. Vor­sicht! Haltet sie gerade, auch wenn ihr nicht hin­seht ... Gebt mir die Schere. Schaut ihr auch weg?"
"Ich sehe nichts als eine Wand und ein Fenster, gefüllt mit dunkelster Nacht."
Er vernahm, dass die Kaiserin die Sche­re langsam öff­nete, hörte einen vorsichtigen, langsamen Schnitt und kurz darauf einen Schrei, der in schrillster Höhe abbrach.
Erst dachte er, dass er draußen einen Tierlaut gehört hatte, der durch dem Fenster gekommen war. Im Augen­blick der Verwun­derung schlug ihm die Kaiserin die Kerze aus der Hand. Als er sich um­dre­hte, war die Kerze zu Boden ge­fal­len und er­löschen. Er stand im völligen Dunkel und wusste nicht, was geschehen war.
"Haben sie gerufen, Kaiserin?", fragte er unsicher. "Ist etwas geschehen?"
"Sie hat in der Tat gerufen", sagte eine andere Stimme. "Hat etwas verloren, etwas sehr Wichtiges."
"Ja, was denn ...?"
"Ihren Verstand - hinaus und hui in die schwarze Nacht!"
"Wie denn ...?"
"In meinem Gesicht erblickte sie das ihre. Gewarnt war sie genug!"
"Und dieser Trug erschreckte sie so sehr ...?"
"Kein Trug - ich nahm ihr Alter bei mir auf, machte einen Handel mit der Zeit."
Baldeina verstand nich­t das geringste. Er hoffte, dass nicht auch er einen Teil seines Verstandes verloren hatte.
"Ihre Schönheit gab sie fort an ein Bild, ich nahm ihr Alter auf. Was ist sie nun? Nicht alt, nicht jung, nichts blieb von ihr - alles gehört mir und der anderen!"
"Sie ist MEINE Kaiserin!", empörte sich Baldeina.
Aber die Frau ließ ihr Lachen mit einer aufgeschreckten Abteilung Wild­gänse in den Nachthimmel davonflie­gen.

Chapter 144. Der Vater am Tor

Das Gefühl, dass sie etwas vergessen hatte, war zu ihr ins Bett gekrochen. Aber sie tat so, als läge der Schlaf noch in ihr und kümmere und rühre sich nicht.
Dabei waren der Schlaf nur in den Beine, die schwer davon waren. Die Arme waren ganz leicht, und im Brustkorb war ein großes Loch, durch das der Himmel sah. Dünn und leicht wie Papier hatte das Gesicht die ganze Nacht wach­ge­legen.
Ein Gefühl flüsterte ihr leise zu, ob sie nicht wisse, dass sie jemanden vergessen habe. Der Schlaf boxte es bei­seite. Doch weil es geflüstert hatte, und weil es die rech­te Stunde für das Flüstern gewesen war, hatte sie zuge­hört.
Hatte sie jemanden vergessen? Sie konnte sich an nieman­den er­innern. Und doch war das Gefühl überzeugt gewesen, dass sie jemanden vergessen hatte.
"Wie geht es der Kaiserin heute?", fragte die Stim­me einer Frau.
Das war es - sie hatte vergessen, nach der Kaiserin zu se­hen!
"Ich weiß es nicht", sagte sie leise und spürte, wie der Vorwurf ihr den Hals eng machte. "Ich habe noch nicht nach ihr gesehen ... es vergessen. Wie konnte ich?"
"Sie haben NICHT nach der Kaiserin gesehen?", fragte die Stimme und erlaubte nicht, dass sie die Augen öffnete.
"Im Schlaf - war bin war im Schlaf", sagte sie und wuss­te doch, dass die Pflicht leise, leise von irgendwoher geru­fen hat­te.
"Die KAISERIN aber wacht!", sagte die Stimme streng. "Wie hätte sie schlafen können?"
"Ja", sagte sie und legte sich die Hand auf die Stirn, "die Kaiserin kann niemals schlafen."
"Öffnen sie die Augen und sagen sie, ob sie mich erken­nen?"
Die Frau saß ganz nah an ihrem Bett, obwohl ihre Stimme entfernt geklungen hatte. Was verbarg sie ihr Gesicht hin­ter einer Kutte? Nur der Duft von trockenen Blumen war ihr Gesicht.
"Sagen sie, ob sie mich kennen!", sagte die Frau streng.
Sie schüttelte den Kopf. Wollte das 'Nein' aber lie­ber nicht aussprechen. Das gedachte 'Nein' musste der Frau als Sicherheit genügen.
"Aber die KAISERIN kennt mich", stellte die Frau fest.
Nun durfte sie eifrig nicken. Ja, das war es gewesen! Ihre Kaiserin kannte diese Frau. Und war es nicht so für sie ein Kennen im zweiten Grade?
"Die KAISERIN hat nach ihnen verlangt", sagte die Frau. "Wollen sie nicht zu ihr gehen?"
Wie gern sie das wollte! Die Erscheinung der Frau sollte nur fortge­hen. Dann würde sie den Schlaf in das Bett le­gen können, da­mit er ihr nicht nach­lief. Denn es gehörte sich nicht, dass er sich zeigte vor der Kaiserin. Auch gab es noch Worte, die sie suchen muss­te. Ohne diese Worte durfte sie nicht vor die Kaiserin treten.
"Bestellen sie der Kaiserin, dass sie mich nicht mehr braucht. SIE sind da und werden für die Kaiserin sorgen." So sprach die Frau und legte das Glück ihr auf die Stirn.
Dann war es still. Der Schlaf ließ sich fangen und al­lein ins Bett locken. Es blieb ihr nichts zu tun, als auf die Worte zu warten.
"Ist der Kaiserin nicht wohl?", fragte ein Gesicht in der Tür.
"Die Kaiserin ist sehr krank", erklärte sie unwillig. Einem Löffel gleich rührte Sorge die Stirn des jun­gen Mannes um. Er tat, was er nicht durfte, und nahm ihre Hand. Wo er sie hielt, war es weich und feucht, dass sich ih­re Hand schä­men musste.
"Behalten sie die Hand", sagte sie zu ihm. "Ich muss nach der Kaiserin sehen. Wenn sie genug von ihr ha­ben, legen sie die Hand in die Kühle, vielleicht dort auf den kleinen Tisch ..."
"Was ist mit der Kaiserin?", fragte der Mann, dem sie ihre Hand gegeben hatte.
"Es ist, weil sie so schön ist", er­klärte sie. "Erst war sie nicht so schön, nun ist sie es. Dazwischen ist et­was, durch das niemand hindurchgehen darf. Sogar mir ist es verboten ..."
"Hmm, weil sie so schön ist ..." Nun hatte der junge Mann ver­stan­den. Beinahe wäre ihm die Hand hinge­fallen. Hatte er schon vergessen, dass er sie auf den kleinen Tisch legen sollte, wenn er mit dem Anfassen fertig war.
"Sie findet sich nicht mehr zurecht?", fragte der junge Mann, gab damit zum Vorschuss sein Verstehen.
"Ja, ja, mehr und auch das", sagte sie traurig. "Die Dinge kommen nicht her­an, eben weil sie so schön ist. Da müssen sie von weitem ru­fen. Manche verstecken sich auch. Andere macht es über­mü­tig. Das ist nicht fein."
"Nein, nein", sagte der junge Mann und schüttelte den Kopf, bis er nichts verstand.
"Ich werde nun in ihr Zimmer ge­hen", erklärte sie ihm. "Die Kaiserin braucht die mög­lichste Ruhe. Ich werde sie pflegen. Sagen sie den ande­ren, dass ich bei ihr bin und sie pflegen werde."
"Ich werde sie begleiten", sagte der junge Mann und ver­beugte sich so tief, dass sie die Haare sah, die in seinem Nacken wuchsen.
Als sie an den Soldaten vorbeigingen, sprang das Licht vom Helm des einen zu dem des anderen. Dabei stritten die Schuhe in einer knarrenden, frem­den Sprache mit­einander.
Weiter ging das Licht ihnen voraus. Dann folgte der junge Mann und schließlich sie. So war es wohl recht für eine, die nichts als eine Dienerin war.
Das Licht lief in einen ande­ren Gang und saß schließlich wartend in den kleinen Bögen, die ein Übermütiger für vier Himmelsblicke in die Wand ge­schnitten hatte.
"Ist dort das Zimmer der Kaiserin?", fragte sie leise, "Das ist ihr Zimmer, wenn es nichts anderes ist", ant­wortete der junge Mann. Er hob ei­nen zeigenden Arm über einem Ach­selfleck auf. Sein Geruch kam nah an sie heran, weil er nicht acht­gab.
"Wer ist diese Frau?", fragte sie, hielt sich das Atmen zu, weil er seinen Geruch nicht wohl erzogen hatte.
"Ich diene der Kaiserin?", antwortete sehr ängstlich diese Frau.
"Ich ALLEIN werde bei ihr sein!", sprach sie gebietend aus. "Wenn jemand der Kaiserin etwas sagen will, dann soll er zu MIR kommen. Sie will mit niemanden spre­chen als mit mir. So hat sie ent­schieden. Es ist nicht leicht, aber es ist wich­tig, dass sie es ver­stehen!"
Der Schweiß des jungen Mannes hatte sich auf der Stirn dieser Frau niedergelassen. Der Geruch suchte einen neuen Platz und fand ihn nicht. Sie konnte sich nicht erwehren, war sie doch nicht mehr als eine Dienerin und besaß nicht den Schutz der ho­hen Damen.
Dennoch war sie dem jungen Mann dankbar, dass er die andere Frau fort­schickte. Er verstand, dass die Kaise­rin nie­man­den brauchte, der fremd war. Die andere Frau hatte sie böse ge­macht, weil sie so unterwürfig war. Aber ihre Kaise­rin brauchte keine solche Die­ne­rin­nen. Niemand mit einem fremden Herz war nötig. Und die Ruhe vor solchen würde ihr gut tun.
Schnell wischte sie sich den übergekommenen, eklen Schweiß des jungen Mannes von der Stirn und rieb ihn an der Türklinke von draußen ab. Bevor sie die Türe öffnete, wartete sie stumm, bis er verschwand und seinen Geruch entfernt hatte.
Dann trat sie ein und schloss sehr leise die Tür hin­ter sich, weil die Kaiserin ganz still mit sich in ihrem Zimmer stand. Wie sehr es der Kaiserin be­hagte, wenn vertraute Blicke bewundernd auf ihrer Schönheit lagen.
Es war still, als übe sich das Innen im Vergessen, um nichts als die Schönheit sich zu erhalten. Das Lächeln der Kaiserin bot den Fragen keinen Halt. Ver­geblich hat­te die Zeit ver­sucht, sich an ihr festzuhalten. Nun war sie fort. Eine andere Zeit war gekommen - vor­her, nachher, oder beides, oder nichts von bei­dem. Da stand sie und sah ihre Dienerin an, als wolle sie sagen: "Tu es mir nach. Es ist ganz ein­fach. Lass es uns zu zweit versu­chen!"
"Und wer pflegt dich dann?", fragte sie die Kaiserin nach­sichtig. "Nein, achte du nur auf deine Schönheit. Für mich lass den Rest. Viel ist es nicht, grad genug, für eine Frau zu tun."
"Ja", antwortete die Kaiserin, "das ist mir recht. Du sprichst draußen mit der Zeit und handelst ihr un­sere Stille ab. Ich spreche mit der Schönheit und sage ihr, dass wir zu zweit sind, als Freundinnen eins."
"Liebste Li, es steht ein Mann am Tor", sagte LoBe und ge­stattete sich, dem Mädchen den Bogen zu entzie­hen, auf dem sie gerade schrieb.
"Was tut ihr da?", fragte Li empört, weil er die Zeile und das Ganze durch sein plötzliches Wegziehen unleserlich gemacht hat­te. "Nun kann ich von vorne beginnen!"
"Wartet nicht in jedem Tag, in jeder Stunde ein anderer Be­ginn?", fragte LoBe.
"Ich meine es ernst, schließlich sind es eure Gedichte, die ich abschreibe!"
LoBe drehte das Blatt um. Nun lag die leeren Seite zu­oberst auf dem Tisch.
"Es steht ein Mann am Tor", sagte er wie­der.
"Wollt ihr nicht, dass ich euer Gedicht zu Ende ab­schrei­be?"
"Mein Kind, nichts lie­ber säh ich dich tun, doch dieser Mann, er fragt nach dir", sagte LoBe und strich ihr über das Haar.
"Was habe ich zu tun mit einem Mann, den ich nicht ken­ne?"
"Willst du nicht hören, was er dir zu sagen hat?"
"Soll er sich ein anderes Mädchen suchen, dem er etwas sagen kann."
"Aber er will es DIR sagen!"
"Was geht mich an, wonach es ihn verlangt!"
"Lass ihn doch für sich sprechen."
"Ich will ihn aber nicht sehen!"
"Komm mit! Von der sicheren Mauer herunter wollen wir ihn uns ansehen!"
"Immer noch - ich will es nicht!"
Aber LoBe zog und zerrte weiter an ihr. Da er stärker war und nicht von ihr lassen wollte, ehe sie nicht eigene Schritte tat, da er immer wie­der von diesem auf Li warten­den Mann rief, bis ein Auf­sehen um sie war, folgte sie ihm über den Hof zu einer Treppe, die hoch hinauf zur Mauer führte. Aus einer schma­len Spar­te im Stein lugte LoBe hinaus.
"Dort, dieser ist es!", rief er und winkte sie heran.
Vorsichtig ging sie zu der Scharte, steckte den Kopf in die Aussparung und sah hinaus. "Wel­cher Mann - der mit dem Karren?"
"Nein, nein, der Mann mit den zwei Eseln ist es!", rief LoBe so laut, dass der Mann zu ihnen hochsah.
"Schscht!", zischte Li und verschwand blitzartig mit ihrem Kopf.
"Ich sprech mit ihm", sagte LoBe, und Li konnte nicht verhindern, dass er sich über die Mauer beugte und den Mann ansprach.
"Ich hab sie bei mir!", winkte er.
"Zeigt sie sich nicht?", fragte der Mann. Er sprach lei­se, aber seine Stimme drang leicht durch die Mauern hin­durch.
"Sie traut sich nicht", rief LoBe so dröhnend, dass es auf beiden Seiten der Mauer zu verstehen war.
"Weiß sie vom Schicksal ihres Vaters?", fragte der Mann.
"Mehr davon als jeder, der ein Fremder mit zwei Eseln ist!", rief Li aus LoBes Rücken.
"Sie hat sonst diese Launen nicht!", entschuldigte sich LoBe und hielt Li am Zipfel des Hemdes gefasst, damit sie nicht fortrannte.
"So leidet sie mit ihm an seinem Schicksal?", fragte der Mann.
"Ich spreche nicht darüber!" Li riss sich von LoBe los und stand auf der ersten Stufe, bereit hinab- und fortzu­laufen.
"Wenn sie vernünftig spricht", so LoBe begütigend, "ist sie ein gutes Mädchen."
"Meint ihr, sie will ihm nah sein?", fragte der Mann.
"Ich würde für ihn in die Verbannung ge­hen, wenn es gestattet wäre!", sagte Li so fest und laut, dass er es hören konnte.
"Das braucht sie nicht", sagte der Mann ruhig und fügte leise hinzu: "Von Verbannung lasst uns lieber nicht spre­chen."
"Was weiß denn ER von meinem VATER!", rief Li zornig.
"Ich kann nicht sprechen", antwortete der Mann. "Nur soviel - ich kann sie zu ihrem Vater führen!" Er blieb geduldig, als spreche er mit seinen Eseln.
"Sie folgt keinem, den sie nicht kennt!", rief Li und trat auf die zweite Stufe, weil LoBe wieder seine Hand ausgestreckt hatte.
"Auch nicht zu ihrem Vater?", fragte der Mann.
"Wollt ihr mich totfragen! Warum ist euch nicht genug, was in den WORTEN steckt!"
"Gebt ihr ein wenig Zeit", schlug LoBe vor. "Euren Vor­schlag soll sie allein und in Ruhe prüfen."
"Ihr glaubt ihm doch nicht etwa!?", empörte sich Li. "Er ist ein Lügner mit dem, was er spricht!"
LoBe beugte sich über die Zinne und schaute ange­strengt schweigend hinunter. "Nein", sagte er schließlich, "dieser Mann ist kein Lügner."
"Wie könnt ihr das sehen!", fauchte Li und riss sich los.
"Es ist nicht weit", sagte der Mann. "Es wäre nur bes­ser, sie käme ohne Aufsehen mit."
Li hörte, dass er seine Esel nahm und wieder fort­ging. Vorsichtig sah sie hinaus. Der Mann ritt langsam und gleichmäßig, als sei er die Wanderschaft ge­wöhnt. Einer der beiden Esel trug keine Last und keinen Reiter. Im Er­schrecken war ihr, als hätte der Mann sie auf der Stelle mitge­führt, wenn sie ihm eingewilligt hätte.
"Ihr habt mir versprochen, dass wir zusammengehen!", sag­te Li entschlossen.
"Ich kann nicht mitkommen", sagte LoBe und zwängte sich aus seiner Zinne. "Ich habe eine Be­kanntschaft gemacht ... sie würde mich nicht gehen lassen."
"Und unsere Reise in die Verbannung ...?", fragte Li bitter.
"Muss es immer WEIT sein?", so LoBe, auf das Unerschöpf­lichste freundlich.
"Da kommt der Mann euch gerade recht, mich auf einem Esel fortzuführen."
"Das Kind glaubt nicht an meine Ehre?", klagte LoBe vor sich selbst und den Zinnen.
"Ihr sucht die Gedichte über den Tod und ich meinen Va­ter ... all unser Planen vergessen?"
"Kind, mag sein, ich finde die Ge­dichte bei ihr, der Witwe, und du den Vater ganz nah ..."
"Und euer Wort, dass ihr mitgeht? Habt ihr euer Ver­spre­chen vergessen?"
"Ist ein Dichterwort!"
"Ein Lügenwort!"
"Gut, mein Kind, ich gebe zu, die Wahrheit ist verklei­det!"
"Ich wette, sie ist eine REICHE Witwe!", sagte Li ah­nend.
"Ihr Mann war ein Händler, immer auf Reisen. Er ließ sie oft allein!"
"Ich wette, sie ist REICH!", sagte Li unerschüttert.
"Ich schreibe die Gedichte!", versprach LoBe.
"REICH! REICH! REICH!", sagte Li bösebitterblass.

Chapter 145. Der Traumgänger

Der Vorhang in Wois Zimmer hatte das Schaukeln verges­sen und dachte ins Leere hinein. An den Wänden flossen die letzten feinge­siebten Geräusche ab. Was die Ohren ver­nah­men, gaben sie zurück. In den Augen war dicht der Nebel aufgestie­gen. Vergeblich suchten die Bilder des Tages ihren Weg. Wer an­derer als einen Geist hätte Woi an­spre­chen können, hier im Grenzge­biet des Schla­fes?
"Bin ich ein geträumtes oder ein wirkliches We­sen?", fragte Asari.
Das Aufmerken hatte sich nach der Gewohnheit mit schwe­rem Magen ein­gerollt. Woi ließ sei­nen Kopf zur Seite fal­len. Hinter einem Schleier stand eine Ge­stalt, die er an­spre­chen wollte.
"Bist du es wirklich, Asari?", fragte er.
Die Gestalt bewegte sich nicht. Eher noch der Schleier, der sich an den Rändern doppelt nahm. Eher noch der Kopf, der die Stimme nicht wieder herauslassen wollte.
"Dann träume ich dich", sagte Woi und war ruhig. Nur der Kopf blieb in einer pendeligen Lage und bewegte die Ge­stalt.
"Im Kerker waren Wirklichkeit und Traum dasselbe. Wie hät­te ich lernen sollen, sie zu unterscheiden."
Die Stimme besaß viele lange Arme, die nackt wa­ren und biegsam und sich in einem Knäuel niederlegten. In solcher Weise war es eine mächtige Stimme, oder je­den­falls eine reiche.
"Wenn ich ihnen glaube, dann ist die Kaiserin ver­rückt geworden ... hat sich eingeträumt, fort gestohlen aus dem Traum der Wirklichen, ist gegangen, sich in eige­nen Träu­men zu suchen."
Woi hörte und sah, aber wechselseitig bezeichneten sich das Hören und das Sehen des Truges. Sie stritten und schoben, statt sich an der Hand zu nehmen und gemeinsam zu gehen.
"Jetzt frage ich mich: Werde ICH die Schale sein oder der KAISER? Füllt der Kai­ser MICH aus oder ICH den Kai­ser?"
Einen solchen Traum hatte Woi noch nicht gehabt! Dieser Traum drehte sich beständig im Kreis um Asari. Solange er auch wartete, dass der Traum von Asari genug hatte, so begann der Traum doch stets von neuem und immerfort von Asari zu sprechen.
"Traum", sagte Woi und war so wach, wie man sein durf­te, wenn man einen Traum ansprach, "du bist im falschen Zim­mer. Warum gehst du nicht zu Asari? Sicherlich wartet er auf dich und ist es überdrüs­sig, sich mit einem von mei­nen Träumen zu pla­gen."
Es klopfte an der Tür. Das musste der neue Traum sein, der sich nicht hereintraute!
"Komm herein!", rief Woi vorfreudig.
"Ich bin es, Baldeina, dein Freund", rief es zurück.
"Dann bist du mir der rechte Traum!"
"Ich bin es, Baldeina, kein Traum!"
"Du bist es wirklich?", fragte Woi enttäuscht.
"Und wer ist das?", fragte Baldeina zurück.
"Das ist mein Traum", antwortete ihm Woi.
"Woi, wach auf! Ich meine diesen da, der in deinem Zim­mer steht und nichts sagt ... warte, ich kenne sein Ge­sicht!"
"Das ist Asari oder jedenfalls das Gesicht von ihm."
"Sie suchen ihn überall", sagte Baldeina erschreckend.
"Da hast du ihn", zeigte sich Woi großzügig. "Nimm ihn mit und lass mich schlafen!"
"Aber wie weiß ich, dass er es ist", Baldeina kniff die Augen zusammen, weil die Gestalt bei längerer Betrachtung etwas Nebeliges an sich hatte. "Sie sehen sich jetzt alle gleich!"
"Wenn du ihn reden hörst, dann weißt du, dass er es ist!"
"Aber es - ich meine, er redet nicht." Baldeina fand, dass die Gestalt sich nicht einmal bewegt hatte.
"Eben hat er geredet", versicherte Woi. "Wie er Sinn und Unsinn mischt, daran erkenne ich ihn unter all sei­nen Gesichtern heraus."
"Woi übertreibt gerne", ließ Asari sich ver­nehmen.
"Es - er hat gesprochen!", rief Baldeina.
"Wundere dich im weiteren über nichts", riet Woi hohl­tö­nend. "Am besten du hörst nur halb zu."
"Was macht er hier?", fragte Baldeina.
"Sie haben mich zu ihm geschickt", erklärte Asari und zeigte mit dem Kinn auf Woi.
"Warum zu ihm?", Baldeina konnte sich keinen Grund denken, welcher Woi am Hof herausgehoben hätte.
"Er soll sagen, dass ich wirklich der Sohn des Kaisers bin", antwortete Asari. "Er weiß das besser als ich selbst."
"Da siehst du", brummelte Woi, "ES fängt wieder mit seinen sonderlichen Reden an."
"Er ist WIRKLICH der Kaiser der Tränen?", presste Bal­deina restzweifelnd hervor.
"Ich schwöre", kam Wois Antwort, "dass er auf die ihm gegebene Weise wirklich ist. Ich den­ke, mehr werden wir von ihm erwarten dürfen."
Asari ließ den abgeschnittenen Teil eines Lachens her­aus.
"Aber dies ist doch ein wunderbarere Augenblick", wagte sich Baldeina in eine vorläufige Begeisterung, "der Sohn des Kaisers, unser neuer Kaiser ... warum so missgestimmt, Woi?"
"Ich möchte schlafen", antwortete Woi, ohne zugehört zu haben. "Was er redet, macht mich entsetzlich müde."
"Unsere Kaiserin - weißt du nicht, was der Kaiserin zu­ge­sto­ßen ist?", fragte Baldeina.
Ein gleichgültiges "Neee!" drehte Woi auf den Bauch. Ein dump­fes "Lass mal bis mor­gen!" hob den Arm in ga­stun­freund­li­cher Weise über sein Gesicht.
"Woi, es ist wichtig: Die Kaiserin hat leider - wie soll ich sagen? - eine Schwäche des Gemüts. Sie hat sich gewis­sermaßen geteilt, dient sich selbst als ihre Diene­rin, wenn du verstehst ..."
"Asari wird sie alle anstecken!", sagte Woi zu sich.
"Du bist bereit, mir zu versichern", fragte Baldeina mit großem Ernst, "dass er der pas­senden Mensch zu diesem Gesicht ist. Du verstehst, was ich sagen will?"
"Ich habe sie beide befreit: Gesicht Asari, Men­sch Asari ... kann ich versichern, wenn du willst!"
"Ich nehme ihn dann mit zur Kaiserin, wenn dir das recht ist", verkündete Baldeina. "Gewissermaßen kommt er gerade recht ..."
Das Kissen sprach einen dumpfen Dank aus, erkärte sich, geradezu redselig geworden, für wunschlos und bei Baldeina in der Schuld ste­hend.
"Dann kommen sie bitte, Herr Kaiser", flüsterte Bal­dei­na und fasste die Gestalt an der Hand, wohl auch, weil er letztes Zweifel an der Tatsächlichkeit des Erlebten besei­tigen wollte.
Hinter ihnen wischte die Stille mit weichem Tuch die rest­lichen Geräusche auf. Ir­gendwo weit fort quietschte eine Tür in der An­gel. Viel­leicht nicht ein­mal eine Tür, son­dern ein Karren, den man ausge­spannt und ver­gessen hat­te, eine Diele, die zu nichts als zur Beschwerde nutze war, ein Fenster, welches sich wachhielt.
Es klopfte an der Tür. Vorsichtig, mit kleiner Knöchel­hand. Vertrauend auf das Willkommen. Behutsam über das Zerfallene tretend.
"Wer ist es?", so Woi, der Dämmernde.
"Es ist ein Traum, der gerufen kam."
"Was für ein Traum?", so Woi, der Sinkende.
"Die Drachenzähne. Haben ein Abenteuer gefesselt. Schweigt sich aus und sagt zu ihnen nichts."
"... ein Traum für mich?", so Woi, der Ertrinkende.
"Ist die Müdigkeit da?"
"Schon lange hier!"
"Dann bin ich spät!"
"Was tun die Drachenzähne?"
"Das Abenteuer, sie wissen nicht, was damit tun."
"Sie sollen auf mich warten!"
"Das sagte ich ihnen bereits", so der Traum und schüt­tel­te ein taubfeines Lächeln von den Lippen, weil Woi so we­nig von ihm und seiner Art verstand.

Chapter 146. Der Umzug

"Ist es erlaubt, die Kaiserin um etwas zu bit­ten?", fragte ein dicker Mann, der aus einer Tür getreten war, die sie nicht bemerkt hatte. Er war wohl aus zwei glei­cherma­ßen hässlichen Män­nern gemacht, so groß und hässlich war er. Ganz aus weichem Teig war er ge­formt und wurde bestän­dig von un­sichtbaren Händen gekne­tet.
"Die Kaiserin ist zu krank", gab sie ihm Bescheid. "Sie muss auf ihrem Zimmer bleiben. Niemand darf zu ihr. Ich habe die Vorhänge zugemacht wegen der Sonne."
"Es würde genügen, wäre geradezu gebo­ten, wenn ihre Dienerin die Stelle der Kaiserin ein­nimmt", sagte der Mann zu ihr. Dabei machte er seinem dicken Bauch mit den Finger merk­würdige Zeichen.
Sie werde kommen, hatte sie dem Teigmann versprochen. Erst müsse sie nach der Kaiserin für die Nacht sehen, dann werde sie kommen und ihre Herrin vertreten.
Im Kaiserlichen Zimmer hielt der Abend ihrer Herrin sein sil­bernes Ta­blett hin, damit sie sich einen der blauschwe­ren Ge­danken wäh­len konnte. Einen Ab­schied durf­te die Dienerin nicht neh­men, denn Ende und An­fang gab es nicht in der Schön­heit. Die Kaise­rin würde nicht wis­sen, etwas damit anzu­fangen.
So schlich sie sich für den Umzug des zweihäßlichen Mannes aus dem Zimmer und machte sich schön, ob­wohl es ihr als einer Dienerin nicht zu­stand. Doch ver­trat sie die Kaise­rin, musste sich an ihrer Stelle zeigen. Kein Blick der eit­len Selbstbeschau war er­laubt. Dies wenige sollte blind genügen.
Furchtsam trat sie dann in das dunkle Frei des Hofes, heraus in die Blicke, die Lichter, die Fackeln der Men­schen. Die Soldaten wichen zurück. Das gebot ihnen der Respekt vor der kranken Kaiserin. Am lieb­sten hätte sie ihnen Trösten­des gesagt. Aber wen von ihnen hät­te sie ansprechen sol­len? Sie machten alle dasselbe Ge­sicht, weil der Kaiser her­ausgetreten war.
Sie sah verwundert, was die Krankheit einem Menschen antun konnte. Sie kann­ten den Kaiser von früher. Da war er ein dicker Mann gewe­sen, der gerne in der Sonne saß und bis in den Abend hin­ein schlief. Manchmal schlief er so fest, dass sie glaubten, er sei für immer ent­schla­fen, und sogar die Diener aufgeregt herbei­gerannt kamen. Doch wenn die Sonne fort war, wischte er sich die Kälte vom Gesicht, immer auf's neue, bis er die Augen öffnete und voller Ärger zum Himmel hinaufsah. Dann stöhnte er leise, wohl weil ein Kaiser dem Himmel nichts befehlen konnte.
Eines Tages aber war er krank geworden. Die Diener legten ihn auf eine Bahre, wo er tagaus, tagein schlief. Er war so krank geworden, dass er sich an keiner Käl­te auf sei­nem steinigen Gesicht mehr störte. Er wurde nicht mehr in die Sonne gebracht, wie er es gern hat­te. Schließlich kam er für seine Ruhe in ein dunk­les Zimmer, wo niemand ihn stören durfte.
Die Ruhe hatte ihm gut getan, denn als entschieden jun­ger Mann war er wieder herausgekommen. Sie dachte, dass die Zeit sich sonder­lich stellte zu den Kaiserlichen. Bei ihm hatte sich die Zeit zurückge­stellt, würde wieder vorlaufen und wieder zurück­gestellt werden. Während ihre Kaiserin völlig von der Zeit erlöst war, trug der Kai­ser sie auf wie ein Kleid nach dem ande­ren.
Zwei Soldaten waren an ihre und ihrer Gedanken Seite getreten und hatten jeder auf seiner Seite die Hand genom­men. Wer hatte ihnen dies erlaubt? Sie war keine Kranke, die man führen musste! Der Kaiser aber ver­stand sich auf ihr Be­finden und machte ih­nen einen Wink. Er zeig­te auf den Platz neben sich, wo sie sich set­zen sollte. Er saß auf einem Wa­gen, der große Räder hatten, die das Mondlicht sil­berbe­schlagen hatte. Sah er nicht, dass an seiner Seite düster die Macht saß und schreck­liche Gesichter schnitt?
Mit vorsichtigen Schritten ging sie auf den mondsilber­nen Wagen zu. Sie wollte der Macht ihren Platz nicht streitig machen. Vorne war ein kleiner Sitz, auf den sie sich setz­te. Sie hielt sich an der seitlichen Stange fest, die kühl war, während aus den Pferderücken der Dampf auf­stieg.
Es ging durch das große Tor hindurch und unter dem Mon­d in die Stadt hinein. Still standen die Häuser, hatten die Augen fest im Schlaf geschlossen. Was träumten sie? Waren es ihre eigenen oder die Träume ihrer Bewohner?
Da pochten die Soldaten mit ihren langen Lanzen auf den Boden und schlugen mit den wachscharfen Spitzen gegen die Augen der Häuser. 'Klick, Klick, Klick!' machten die Lan­zen an ihrer Spitze. 'Pumm, Pumm, Pumm' mach­ten sie auf dem Boden.
Sie kamen herausgerannt, die weichen Gesichter, die ver­wirrten Haare, die dünnen Kleider auf nackten Füs­sen, die Kleinen mit Fragen, die Großen mit leeren Mündern.
"Hört, was diese euch zu sagen hat!", rief laut der dickste der Soldaten und zeigte zu ihr auf den Wagen, wo ihre Hand die Stange hielt.
'Pog, Pog, Pog!' machten die Lanzen der Soldaten.
"Hört, was sie sagt!", rief der dicke Soldat.
'Pug-pug, Pug-pug!' begleiteten die Lanzen sein Ver­künden.
Aber die Dienerin sagte nichts. Sie verstand nicht zu sprechen, zeigte nur still auf den Dicken und seine Lan­zen. Wie hätte sie über die Krankheit der Kai­serin zu spre­chen sollen?
"Die Kaiserin ist erkrankt. Es geht ihr so schlecht, dass sie alle Geschäfte niedergelegt hat", rief der Dicke heraus.
'Hört-hört!' pochten seine Lanzen.
Bloß ein Nicken woll­te er von ihr. Das gab sie ihm.
"Wir haben wieder einen Kaiser. Er ist es!", rief der Dicke und zeigte mit kurzem Arm und doppeltdickem Finger auf den wiederge­nesenen Kaiser. "Wir stehen alle hinter ihm. Ver­kündet sei es al­len!" Und die Lan­zen der Soldaten lie­ßen den Boden im Echo erbeben.
Der Kaiser hatte plötzlich viele eigleiche Ge­sich­ter unter die Menschen ge­worfen. Er ließ sie in Ju­bel und La­chen ausbrechen und machte, dass ihre Händen wie die Hufe der Pferde klapperten. Der Kaiser durfte das. Er hatte die Zeit zurück­ge­stellt. Nun freute er sich an einfachen Dinge.
Ihre Kaiserin - da war sie sich si­cher - hät­te nicht fremden Menschen ihr Gesicht gegeben. Es war gut, dass die Dienerin an ihrer Stelle zusah, denn unanstän­dig wäre der Kaiserin solches Aus­leihen vorgekommen und als ein Frevel.
'Was für ein Spiel ist dies?', hätte sie gefragt. 'Wel­chen anderen Sinn kann es haben, als mich und jeden in Ver­wirrung zu stürzen?'
Was für eine Ant­wort hätte ihr die Diene­rin dar­auf geben können? Dass es dem Kaiser ein Spiel war, wie das Zurück­stellen der Zeit, hätte die Kai­serin nicht ver­stan­den.
"Es ist gut, dass es wieder einen Kaiser gibt", rief der dicke Mann und glänzte von Schweiß. "Der ist euer Kai­ser jetzt. Auch wenn er dem alten nicht gleicht, ist er doch euer Kaiser." Dann trat er stampfend auf den Boden, weil die Lanzen den Takt vergessen hatten.
So trug der Boden die Nachricht vor und hinter dem zie­henden Wagen durch die ganze Stadt. Überall schlugen die Soldaten mit ihren Speerspitzen an die bleimüden Augen der Häu­ser und schrien Dinge in die tau­ben Ge­sichter der Menschen hinein.
Sie kamen zu den armen Hütten, die keine Augen hatten und sich eng zusammendrängten, als die Soldaten vor sie tra­ten. Die Men­schen, die hier wohnten, waren in schlür­fend zusam­menge­bet­telten Tageskleidern gekommen, als hät­ten sie drinnen auf den Schlaf warten müssen, weil der sie immer als letzte bedach­te.
Die Kinder zogen ihr am Kleid, weil die Soldaten mit den stumpfen Speeren nach ihnen ge­stoßen hat­ten. Sie riefen mit hohen Stimmen, die kein langes Leben hatte. Die Pferde ka­men nicht von der Stel­le, bis die Solda­ten mit ih­ren spitzen Speeren auf die Dächer schlugen und Schimp­fun­gen in die Münder stopf­ten.
'Schließ die Augen für mich', hörte sie die Kaiserin sagen. 'Höre dich in das Weite der Nacht hinein. Trage Geräusch und Lärmen hinaus. Der Wind, höre, wie der Wind herbeikommt, der Dieb. Er gibt nicht Acht auf seinen Raub, hat sorgschnell verloren, was er dir aus den Händen stahl.'

Chapter 147. Die Reise

"Komm", hörte Li eine Stimme an ihrem Ohr. Als sie auf­blickte, sah sie erschreckt in das Gesicht des Mannes, der ein Führer zu ihrem Vater sein wollte.
"Komm", sagte der Mann noch einmal, "ich bringe dich zum Haus deines Vaters."
Leise, fast zweifelnd fragte Li: "Ich habe doch gesagt, dass ich nicht mitkommen will ..."
"Verstehe doch", sagte der Mann. "Ich kann nicht länger warten, weil es gefährlich für mich ist."
"Ich muss zu LoBe, dem Hofdichter, und ihn fragen."
"Nimm deine Sachen. Es ist ein Tagesritt. Dort brauchst du nicht viel", sagte der Mann und hielt ihr einen Sack hin, damit sie ihre Sachen darin ver­stauen konnte.
Leise folgte der Mann ihr durch den Gang und betrat mit ihr LoBes Zimmer. Li schüttelte den Körper ihres Dichters, der schnau­bend und röchelnd und stöhnend erwachte.
"Er ist wieder gekommen, der Mann", sagte sie leise und schüttelte ihn an der Schulter.
"Welcher Mann?" LoBe glotzte sie an.
"Der Führer mit den zwei Eseln. Ihr wisst, mit dem wir über meinen Vater gesprochen haben."
"Den meinst du, ach ja, den ... Grund mich zu wecken?"
"Er ist da und will fort, weil es gefährlich ist."
"Gefährlich ... will ich glauben."
"Soll ich mitgehen? Was ratet ihr?"
"Geh nur, Kind. Es ist recht ... dein Vater ... er ist dein Füh­rer ... recht nur recht, dass ich schlafen kann."
"Ihr seid es schuld, wenn mir etwas passiert", sagte Li. "Nicht einmal die Augen habt ihr aufgemacht."
"Ich bin schuld, ja ... wenn ich nicht schlafen kann ... bin ich meinen Augen schuldig."
"Ich komme mit", sagte Li entschlossen und wand­te sich um. Sie nahm dem Führer ihren Sack fort und ging ihm nach. Vor dem Tor warteten seine Esel.
"Ich bin froh", sagte der Mann. Ein Esel stupste ihn mit der Nase, aber das bemerkte er nicht. Es war etwas Trauri­ges in seinem Ge­sicht, als erkenne er in Li eine andere Person, an die er denken musste.
Sie bestiegen ihre Esel. Die Hufe machten munterkleine Klapperschritte. Das Geräusch erfüllte bald die ganze Stadt, kam ihnen entgegen, bog ab und fand sei­nen Weg wieder zurück. Es ließ sich in den blinden Enden der Gassen fangen, suchte seinen Weg vom Sims zu Sims und lief über die Dächer, um sie in der Höhe einzuholen.
Li hatte nicht das Gefühl, dass sie vorankamen. Auch ihr Führer sah sich suchend um, als wisse er den Weg aus der Stadt nicht. Er suchte wohl das Licht, welches die Sonne ihrem Aufstieg vorausschickte. Aber die Stadt schlief fest, eingewickelt in die eigenen Schatten.
Mit einem Mal war die Luft kalt und die Geräusche der Hufe verstummt. Eine fadenfeine Linie aus Licht zeich­nete die Umrisse der Berge nach. Die Häuser waren zu grau­en Schwaden niedergeschmolzen. Nur die Bäume standen am Weg­rand und wuchsen, vergessen und geisterhaft.
"Ich muss mich entscheiden", sagte Li laut.
Keiner hörte ihr zu. Die Sprache der Menschen war in der Stadt zurückgeblieben. Dort lag sie achtlos, und Kinder spielten damit herum, bis sie davonliefen. Hunde schnup­perten heran und setzten ihre Marken.
"Noch kann ich umkehren!", rief sie laut.
Nicht einmal ein Hall hielt sie einer Antwort für wür­dig. Langsam wickelte sich der Tag aus den Decken. Er konnte sich nicht entscheiden, ob es Zeit für ihn war, und schloss die Augen wieder, als das Gähnen ausblieb. Der Mann hatte sich nicht einmal umgewandt.
"Also kennen sie meinen Vater!", sagte Li.
"Hast du das verges­sen, dass du es bist, die ihn nicht kennt?"
"Wie kommt es dann, dass mein Vater nicht mehr verbannt ist? Ich möchte das wissen, sonst reite ich zurück!", ver­sprach sie entschlossen.
"Wärst du ihm wirklich in die Verbannung gefolgt?" Der Mann hatte sich wenigstens umgewandt. Aber die Esel schrit­ten fort, verächtlich Li und ihrer Drohung.
"Keine Ausflüchte!", erinnerte ihn Li drohend an ihr Versprechen.
"Dein Vater schrieb eine Chronik über diesen, der jetzt Kaiser geworden ist."
"Weiß ich!", unterbrach ihn Li. "Das weiß ich alles schon!"
"Haben wir keine Zeit", sagte der Mann verwundert und zeigte auf die zusammenrückenden Berge.
"Ich habe KEINE Zeit", rief Li. "Ich muss mir überlegen, ob ich umkehre. Noch geht es ja!" Aber als sie sich umge­blickt, war die Stadt nicht mehr da.
"Es ist nicht lange her, da kam Fürst Alta, um sich diese Chronik zu holen. Als frühes Zeugnis von des Kaisers Recht hat das Geschriebene nun einen hohen Wert."
"- und mein Vater", unterbrach ihn Li, atemlos und stolz.
"Denk nur, wie überrascht er war, dass Fürst Alta die Chronik nahm und IHN ver­gaß!"
"Ritt er ihm nicht auf der Stelle nach?"
"Doch, auf diesen Eseln hier mischte er sich unter das Fürstengesinde und kam in Freiheit."
"Das soll ich glauben ...?", sagte Li zweiflerisch. Aber sie suchte nicht mehr die Stadt in ihrem Rücken.
Der Führer zuckte die Achsel. Er ritt nun neben ihr und sah herüber, wenn sie fortsah.
Auf dem Weg lasen tiefe Wolken die Reste der grauen Schwa­den auf. Flügelschlag­los kreiste ein Vogel, als habe er am Himmel schlafend die Nacht verbracht.
"Was für ein Mensch ist er?", fragte Li forsch und schaute dem Ton ihrer Frage mit sanfter gestimmtem Blick nach.
"Ich - hörst du? - bin dein Vater, niemand sonst!", sagte der Mann und sah Li kopfschüttelnd in die ver­schreckten Augen.
"Ich - du - sie - nein ...", stammelte sie. "Nein, das stimmt nicht, und ich will zurück!"
"Stell mir eine Frage, Kind, wenn du dich überzeugen willst."
"Ich bin nicht ihr Kind! Mein Vater hätte es mir gleich gesagt, wenn er mir begegnet wäre."
"Vor den Wachen am Tor? Wie hätte ich da anders spre­chen sollen?"
Li zerrte an ihrem Esel.
"Und heute morgen!?"
"Hast du nicht gehört, was LoBe gesagt hat? 'Dein Führer ist dein Vater', sagte er. Er hat mich gleich erkannt. Ich dachte, du hättest zugehört, was er sagte."
"Was er gesagt hat, war im Schlaf, und ich habe es NICHT gehört!", entgegnete Li vol­ler Unwillen. Was war, wenn der Mann doch ihr Vater war? Nein, er war es nicht! Es gab kein Gefühl, dass sie so hätte betrügen können!
"Sehr weit ist es nicht mehr", sagte der Mann begüti­gend, und Li wusste nicht, ob er es zu ihr oder zu ihrem Esel gesagt hatte.
Schweigend und ohne sich umzusehen und ver­mutlich ohne zu lächeln ritt er vor ihr her. Und wenn er nun doch ...? Nein, Li spürte sicher, dass dieser Mann nichts mit ihr gemein hatte! Sie konnte nur hoffen, dass die Sache gut ausgehen würde.

Chapter 148. Gold-Hanga

Baldeina war blendender Stimmung. Zu Hofe war heute sein Vater eingetroffen, geladen als der mächtig­ste der Für­sten zur feierlichen Einführung des jun­gen Kaisers.
Mit einem Mal war Baldeina wieder guten Mutes in den Din­gen des Heiratens. Er schämte sich nicht, dass der Va­ter ihm anwesend Mut gemach­t hatte. Er dachte ­nicht daran, sich dafür zu schämen! Der Vater hatte Baldeina angesehen, Bal­deina sei­nen Vater, und der Stolz auf­ein­ander war beiderseits der­selbe gewesen.
Ein wunderbares Kostüm hatte der Vater für ihn dabei. Ein wenig schlanker war Baldeina geworden, das stellten sie beide fest. Mit dem Appetit, das werde wieder, hatte der Vater gesagt, und so tönend ge­lacht, dass Baldeina allein schon vom Klang seines vollen Lachens satt geworden war.
Das Kostüm werde sich ändern lassen, es brauche 'korrek­tierend' nicht viel, sagte der Vater, weil es ja wieder wer­de mit seines Sohnes 'Pro­mi­nenz'.
Der Vater legte immer die fal­schen Worte aus, aber es gab nie­manden, der ihn in seiner Rede nicht verstanden hätte. Wenn der Vater die Freiheit in Gebrauch nahm, dann brauch­te es kei­nen Mut, ihm zu fol­gen. Es war wunder­bar, einen solchen Va­ter zu ha­ben!
Der Zweck seiner Reise seien eigentlich mehrere, sagte der Vater. So könne er gerade lange genug bleiben, dem jungen Kaiser bei seiner Krönung beizuwohnen und nach sei­nem Sohnes zu sehen, den er mit Stolz betrach­te und in dessen Glücksgeschäft er von einer geradezu kausalen Neu­gier sei. Darauf war Baldeina hauchrot geworden, weil er dach­te, dass der Vater in seiner Annahme viel­leicht das Fal­sche sich vorgedacht hatte.
Wie es denn mit der 'Inkarnation' der Prinzessin stehe, fragte der Vater mit gefasstem Blick. Darob wurde Bal­deina grundrot und wusste zu diesem Mal nicht, was der Vater mit seinem falschen Wort in richti­ger Weise meinte. Doch der Vater lachte und drohte mit dem Finger. Ein Schelm sei der Baldeina, sein Sohn, und sei im Verste­hen weiter als der Vater in seinem Sagen.
Baldeinas Blick wich den Vateraugen aus, fand an der Gren­ze zwischen Ferne und Weite Woi vor, den er her­bei­rief, um ihn vor den Vater zu stellen.
Er, Woi, solle nur gleich herbeikommen, rief Baldeina und stellte ihn als einen Freund vor.
Dies sei sein Va­ter, sagte er zu Woi und sah zu, wie sich die bei­den die Hände schüttel­ten. Der Vater schüttelte allen Men­schen, denen er begeg­nete, sehr lange die Hände. Wäh­rend der Va­ter schüttelte, sah Woi mal seinen Freund an, mal an seinem anderen Arm her­unter, der ungeschüt­telt von der Schul­ter herunterhing.
Es sei eine 'Ho­norig­keit', sag­te der Va­ter und wenn er sagen dürfe, eine 'Bles­sur'. Dabei betrachtete er Wois Klei­dungsversuch mitleidig. Ebenso wie seine Hände waren die Augen des jun­gen Mannes von einer losen, ja bau­melnden Art. Wie an­ders sein Sohn, der alle Kraft in einen ent­schlossen freund­lichen Blick und und einen kräftigen Hand­shake legte!
Baldeina übernahm Wois Hand von seinem Vater und führte sie über den Stoff seines neuen Kostüms.
Ja, hatte Woi gesagt, schön, sehr schön das.
Er sei schlanker gewor­den, sagte Baldeina stolz, da müs­se es geändert werden.
Der Vater drehte das Kostüm, damit es Woi auch von hin­ten sehen konnte.
Ja, sagte Woi, sehr schön das. Steckte aber die Hand in die Hosenta­sche und gab sie zum Fühlen nicht wie­der her.
Ob Woi eine 'Identität' habe, fragte der Vater.
Nein, sag­te Woi, eigentlich nicht.
Den Sohn vom Fürsten Alta habe sein Vater vor sich, trom­pete Baldeina und tipp­te an den blauen Himmel mit sei­nen weichen Tupfe­fin­gern.
'Ah ja ...', sagte der Vater, und 'So ja ...' Dann war er still, als müsse er mehrere Dinge, auf einer schwie­rigen Seite ste­hend, beden­ken.
Sein Sohn riss derweil Fetzen vom Himmel herunter und schnup­perte dar­an.
Den Vater von Woi kenne er, sagte der Vater von Baldei­na. Mehr war ihm nicht zu entlocken. Er überleg­te instän­dig, was er sa­gen dürfe, ohne den jungen Mann zu verlet­zen. Es war aber sehr wenig, was er zusam­menbrachte, und reichte nicht, ohne schonungslos zu sein, für eine 'Kon­servation'.
Woi habe zum selben Zwecke die Reise an den fernen Hof des Kaisers angetreten, rief Baldei­na.
Auch die Prinzessin, fragte der Vater.
Die andere, rief Baldeina, die andere sei es, und wollte nicht bemerken, dass er sich die Stille des Hofes zum Feind gemacht hatte. So wäre es nie zum Streit zwischen ihnen gekommen. Denn schließlich, sei eine Prinzessin je­dem der Freunde genug und ge­nug. So gutgelaunt, ja gerade­zu über­mütig, zeigte sich Baldeina, der glück­lose Glück­liche, vor des ­Va­ters nachfassenden Augen in dieser Sache.
Ob es mit Wois 'Kasus' ebenso gedeihlich bestellt sei wie bei seinem Sohne, fragte der Vater.
Wenn der Vater Fürst das mei­ne, was er, Woi, denke, dann wolle er nicht darüber spre­chen.
Was er denn den­ke, was er meine, so spötterisch der Va­ter.
Doch Woi be­kannte sich zu keinem Ding. Er schloss sich die Lip­pen und streckte das Kinn dem Vater entge­genwehrend aus.
Vorsichtig fragte der Vater, ob er verstehen dürfe, dass keinem der beiden die Hand von irgendeiner der Prinzessin­nen versprochen sei.
Nun sagte Baldeina nichts mehr, und Woi schwieg fortge­setzt.
Wie es denn mit der 'Gradualität' der Prinzessinnen ste­he, fragte behutsam der Vater wei­ter.
Die Prinzessin Nadim zeige sich am Orte, antwortete Bal­deina, dafür aber sei sie, wenn er für Woi sprechen dür­fe, ein wenig un­nahbar, ja 'diffizil'.
Die Prinzessin Dessa, gab Woi zurück, zeige sich nicht. Ihr Mund sei ebenso verschlossen geblieben wie ihre Tür. Weil sie 'disponierlich' sei, glaube sein Freund Baldeina daraus, auf ihre 'Af­fir­ma­tion' schließen zu können.
Nein, stritt Baldeina, nicht auf ihre 'Affirmation' wage er zu schließen, sicherlich aber sei ihre 'Affekta­tion' größer, wenn er etwas davon verstehe.
Ob den wenigstens eine Vorversprechung erfolgt sei, fragte der Vater vorsichtig.
Doch - Baldeina zeigte sich gelöst und verdienstsicher - da gebe es zahlreiche und inständige, wenn er für seine Seite sprechen dürfe.
Woi schwieg fortgesetzt in den mitleidigen Blick des Vaters hinein, während Baldeina überlegte, ob er etwas vergessen hatte, was in dieser Sache für Woi hätte spre­chen können.
Die eine, so Baldeina erklärend, werde nur glücklich, wenn es auch die andere sei. So hätten es die Prinzessin­nen sich versprochen. Und der Vater müsse glauben, dass es ihnen ernst damit sei. Nicht EINMAL habe das Glück sie in Gegen­wart der Fürstensöhne ZUSAMMEN angetrof­fen.
Er habe dem Sohne etwas mitgebracht, sagte der Vater und rieb den Schweiß aus seinem Kragen. Mit der Fer­tigstel­lung hätten die Handwerker nicht auf den Anlass war­ten kön­nen. Es sei eben gewis­sermaßen vor der Zeit ein­ge­trof­fen und sei nun da und könne nicht anders, als un­übersehbar zu sein.
Baldeinas Augen weitete sich. Nichts füllte seinen Kopf, nicht der Freund, nicht einmal Dessa, nichts als eine dem Glück entgegensehende Erwartung.
Es sei ein Hochzeitsgeschenk, sagte der Vater, und nichts könne besser entschuldigen, dass es eines sei und in gleicher Weise auch keines, als ein Blick dar­auf.
Den wolle er wagen, rief Baldeina.
Ob Vatersohn ihn weiter brauche, fragte Woi.
Das Schicksal habe ihn mit dem Glück seines Sohnes ver­schränkt, rief der Vater. Was das Schicksal verlange, solle man ihm geben, und sei es so schwer, wie es sei.
Ob es zu sehen sei, fragte Baldeina.
Das Schicksal könne man nicht sehen, erwiderte ihm im Scherze der Vater. Es mache sich unsichtbar, ebensowohl wie die Prinzessin sei­nes Sohne.
Das Hochzeitsgeschenk meine er, so leise der bespottete Sohn.
Wenn das ein Fenster sei, das zum Hafen blicke, dann könne man es sehen, sagte Vater.
Nicht dieses, aber jenes blicke zum Fenster, sagte Bal­deina.
Baldeinas Vater tat, als vernehme er keine Worte. War ein Menschenstimmen nicht hörender Vogel. Hob die Arme und drehte er im gedachten Flug eine Runde. Landete als ein Schwan auf dem Wasser. Schlug sei­ne weißen Flügel auf, legte das Ge­fieder an, hob den Kopf zum Noten­schlüssel und glitt maje­stä­tisch klingend aus.
JENES Fenster blicke auf den Hafen, insistierte Baldei­na.
Da lud Baldeinas Schwanenvater, als schaufele er ihre Blicke auf, zur Be­sichtigung.
Die Sonne hatte sich am Tage sattgesehen, saß auf der Senke des Berges und kehrte das filzige Licht durch die Straßen zum Marktplatz, wo eine große Lache ent­stan­den war, die in ädrigen Bächen austrat und zufäl­lige Gäss­chen benutzend zum Fluss hin ablief.
"Dort ist der Hafen", rief Baldeina. "Dort!"
Baldeinas Vater trat hinter seinen Sohn, führte dessen Hand durch die Reihe der Kähne und verblieb bei dem schön­sten von ihnen allen: einem Schiff mit blauen Se­geln, der wei­ße Bug, schmal wie der Schnitt der Wellen, die runde­n Augen der Ka­binen goldumrandet, einem schwimmen­den Herren­sitz gleichend, der seinesgleichen vergeblich gesucht hätte.
Wie sehr erkannte Baldeina den Vater darin wieder! Seine Wen­dig­keit, welche die Wellen des Lebens vor sich teilte, seine Machtfülle, die auf ein Zeichen den Wind herbeirufen würde, seine Majestät, welche die Dinge um ihn herum ärm­lich und klein erscheinen ließ. Wie sehr vertraute der Vater ihm, wie glänzten die Fensteraugen in Freude und Stolz!
"Ich habe meine Liebe im Herzen", rief Baldeina, "und nun ein solches hochzeitliches Geschenk. Was sollte mir zu meinem Glück da noch fehlen!?"
Darauf umarmte er seinen Vater solange, dass Woi Zeit hatte, sich zu entfernen.
"Mein Sohn", fragte der Vater mitleidig, "ist es wirk­lich DIESER, mit dem die Prinzessinnen dein Lebensglück ver­schränkt haben?"
Baldeinas Augenlider zählten für beide, das windge­straffte Glück des Hafenblic­ks und das wirtlose Weh des Schicksals, die gleichgerechte Zahl der Tränen ab.

Chapter 149. Die Krönung

"Die Prinzessin bittet zu sich, wenn es genehm ist", sagte die Dienerin.
"Es ist genehm", rief Baldeina so laut, dass ihn wohl beide Prinzes­sinnen in ihrem Gemach hören konnten. "Ganz und überaus genehm, nicht wahr, Woi!?"
Woi sagte nichts. Baldeina verstellte ihm mit der Wehr­reihe seiner Zähne den Weg und wartete auf einen ebenso Genehmlichkeit versichernden Ausruf aus Wois Mund. Als er einsah, dass es vergeblich war, folgte er, ohne sich wei­ter nach Woi umzu­blicken, der Dienerin.
Die Prinzessin stand in ihrem Zimmer, umgeben von ande­ren Diene­rinnen, die beschäftigt waren, das Licht gün­stigst ihrer Erscheinung anzupassen. Hier ein Farbwischer am Kleid, dort eine ausgestrichene Taille und erneut ein Strich und Wedel am Haar, den herabgefallenden Glanz wie­der hinauf­werfend.
"Wie gefällt sie euch?", fragte die Dienerin leise, die ihrer Herrin das Sprechen abnahm.
"Wie wunderbar das Heimliche ist", rief Baldeina laut ge­nug, dass Des­sa seine Worte für sich verwenden konnte, "eine Weide für die Sehnsucht, als dürfe sie nie weiter­gehn und - wenn ich mir erlaube zu sagen - eine ungesehene Schönheit, die mich - nur für mich kann ich sprechen - in eine andere Welt entzückt, wo der Tumbe keinen Zugang hat und der Übereif­rige unge­hört am Tore sich festklopft. Eine Schön­heit des Inne­ren, das keiner Blicke bedarf."
Woi sagte nichts, auch wenn Nadim ihn ansah. Bei sol­chen Gelegenheiten war Baldeina nicht zu schlagen. Es war eine Schlacht, in der die Kämpfenden sich mit Süßspeise bewar­fen und Sirup von den Mauern schütteten und auf Pfer­den über das ausgekratzte Kuchen­blech ritten. Es war ebenso wi­derwär­tig wie eine Nie­derlage gewiss war.
"Wollt ihr von dem anderen noch hören, Prinzessin?", fragte die Die­nerin.
Die Prinzessin Nadim schüttelte vorsichtig den Kopf. Licht fiel auf ihre Schulter, und ein Herzschlag bekam sei­nen Platz in der Reihe der anderen nicht zurück.
"Bitte begleiten sie die Prinzessin zur Krönung des Kai­sers", sagte die Dienerin.
Baldeina ging dicht neben Nadim und besprengte den Bo­den vor ihr mit Dessa zugedachten Blicken der Huld. Nadim suchte Schritt für Schritt den Weg durch die Pfützen, und Woi schaffte es, noch langsa­mer als sie zu gehen.
Er ließ sich zurückfallen, so­weit es ihm die Dienerin ge­stattete. Diese trat ihm fast in die Fer­sen, so nah war sie ihm und so zürnte sie mit ihm an Stelle ihre Herrin, der solches nicht gestat­tet war. Nichts verstand dieser Bursche von den Dingen des Herzens! Für IHN hatte die Prinzessin das alles erdul­det! Wenig­stens einen Blick wäre es wert ge­we­sen. Aber er starrte nur kalt und wurde mürri­scher als mür­risch. Was hatte ihm ihre Prinzessin denn getan, dass er wie ein Gefangener hin­ter ihr hertrottete, die Ketten so schleifend über den Bo­den zog, damit jeder nur ja auf ihn sehe und auf sein Schicksal und nicht auf die Schön­heit und das Verlangen, die sei­ne Wär­ter waren.
Langsam paradierten sie zum Kaiserzimmer. Baldeina führte Na­dim in seinem Schritt. Vom Licht nahmen sie sich zu gleichen Tei­len. Baldeina ein wenig mehr, aber das war keine Ab­sicht. Vor Woi ging der sich vereinigende Schatten der beiden und in seinen Fersen die Dienerin, die unabläs­sig ihre Herrin vertretend, neue Vorwürfe und Klagen auf den heißen Schmie­de­rost legte.
Im Kaiserzimmer hatte sich alle versammelt und warteten schweigend, dass sich der Wille des neuen Kaisers in sei­nem Erscheinen äußere.
Die Reihe der Fürsten stand hin­ter einer Reihe von Sol­da­ten des Hofes. Von ihnen war nichts zu erken­nen als ihr hohen zy­lin­drigen Hüte, von denen jeder eine ande­re Farbe besaß, je nach Tradition des Fürstenhauses. Die Soldaten in ihren Helmen standen steif und gleich, wie die Zinnen einer Mau­er, hin­ter welcher die Fürstenhüte schwankten und wackel­ten, weil sich die Fürsten leise untereinander aus­tausch­ten.
Im Halbschatten des Thrones standen die Rang­höch­sten des Hofes, dahinter im völligen Schatten die bevorzugten Die­ner.
An die linke Seite des Thrones wurde von zwei Dienern das Bild der Kaiserin gestellt, welches sie in ihrer na­türlichen Größe darstell­te und mit den Füßen den Boden berühren ließ. Die Fürsten, welche das Bild es zum ersten Mal sahen, wuss­ten nicht, was sie mehr be­wun­dern sollten, die gefass­te Leben­digkeit oder ihre we­senlo­se Schönheit, die im wechselseitigen Be­trach­ten von­ein­an­der abtraten.
Etwas zurück, aber näher als jeder andere, stand die Die­nerin, auf die alle Blicke gerichtet waren, weil jeder in ihr die frühere Kaiserin erkannte und für sich ihren Gei­steszustand erfor­schen wollte. Doch schien sie davon nichts zu bemerken, stand unscheinbar und ins Bescheidene gekehrt ne­ben ihrer Her­rin.
Die Prinzessin Nadim und ihre beiden Begleiter nahmen auf der anderen Seite des Thrones ihren Platz ein. Als alle zu ihr hinblickten, tat die Prinzessin so, als flü­stere sie ein leises Wort in Wois Ohr.
'Ah', dachten sich alle, 'unsere Prin­zes­sin hat ihre Wahl getroffen.'
Baldeina ver­suchte, die vielen Blicken, die auf ihn ge­richtet waren, zu entzif­fern. Woi aber machte weiter ein unbe­weg­tes Ge­sicht und war nicht gewahr, dass Nadim ihm vor al­len Augen den Vorzug gegeben hatte.
Asari trat als letzter und völlig allein in der Raum. Nun sahen alle auf ihn, ja, sogar die gemalte Kaiserin schien ihren Blick zugewandt zu haben.
Er sah den leeren Sitz auf dem hohen, schwarzen Stuhl, deren Lehne als Dra­chenfigur gestaltet war. Dann sah er sich um, ob er nicht hätte wo­anders Platz nehmen können. Als er keinen sah, nicht ein­mal einen zum Stehen, so fest waren die Reihen gegen ihn geschlossen, fügte er sich, legte Woi kurz im Vorbeigehen die Hand auf die Schulter und nahm Platz.
Weil alle schwiegen, schwieg auch er. Lange schwieg Asa­ri. Ohne jede Anstrengung. Ohne jede Ablenkung. Tief und gleichtönend. Doch seine Ruhe steigerte die Spannung auf den Gesichtern der Beistehenden, hiel­ten sie doch sein Schweigen für eine List und blie­ben gewapp­net. Schließlich zuckte er gleichgültig die Achsel und wandte sich halb zur Seite: "Mach du das, was sie wollen, Für­stensohn."
Woi sah sich unsicher um, bis sein Blick sich in Baldei­nas Blick verfing. Doch dieser dachte nicht dar­an, gegen das Wort des Kaisers an Wois Stelle zu treten.
"Sie wollen euch ihren Gehorsam anbieten, die Fürsten", sagte Woi leise.
"- ihre Geschenke", flüsterte Baldeina.
"- und haben Geschenke für euch", ergänzte Woi.
"Sollen sie", flüsterte Asari ebenso leise zurück.
"Bitte", sagte Woi matt, "treten sie vor."
So traten die Fürsten der Reihe nach vor, kündigten wortreich unge­borene Pferde als Geschenk an, Teppi­che, deren Entwurf sie priesen, Ge­schmeide, das in Arbeit war, Schwerter, die auf dem Feuer lagen, sich in der Nie­der­schrift be­findliche Schwüre, unbesehen und treu, auf das Le­ben des Kaisers.
Einzig Baldeinas Vater, der den Namen 'Gold-Hanga' trug, führte einen Ring bei sich, den er auf einer weißen, stoffbezogenen Platte vor sich hertrug und dergestalt langsam nach vorne schritt, dass alle Zeit hatten, ihn zu betrachten. Den bot er Asari an, forderte geradezu, dass dieser sich zur Ent­gegennahme erhob und händigte ihn schließlich Woi aus, als er seine Erwartung enttäuscht sah.
Als er mit seinem lee­ren Bezug an seinen Platz zu­rück­kehrte, hatten sich der Neid der Zublic­kenden in Häme ver­wandelt und begoss ihn überaus großzügig.
Als der letzte der Fürsten mit her­unterhängendem Kopf und schlürfend zittrig und im­mer wie­der die Rich­tung ver­lassend, vortrat, erkannte Woi den al­ten Mann zu spät. Und als er ihn erkannte - was hätte er sagen sol­len, als die Vater­augen die Für­sten­brauen bei­sei­te schoben und ein Lä­cheln dem Sohn entgegentrat?
"Was ist das Geschenk dieses Fürsten?", fragte Asari von hinten.
"Das ist mein Vater", sagte Woi leise.
"Ich habe ein Buch hier ...", sagte der Vater, nahm sich stützend den Arm von Woi und stand im Altersbeben vor Asari.
"Ein Buch?", fragte Asari freundlich.
"Es ist eine Chronik von eurem frühen Leben, ein Buch bringe ich euch, das ist alles", sagte der alte Mann und sah an sich herunter.
"Ich habe mein Leben in einem Kerker UND in einem Buch ge­lebt?", rief Asari überrascht.
Von Zittern und Gelächter begleitet, überreichte der alte Mann das abgegriffenen Buch, das Asari behutsam, als sei es ein Nebel, entgegennahm.
Da wandete sich Asari der gemalten Kai­serin zu und sprach sie an: "Hörst du, Kaiserin? Das ist ein Geschenk, wie ich es liebe!"
Unter den Fürsten erhob sich einzelnes Gelächter. Doch es verstummte, ohne sicher seine Richtung preisgegeben zu haben.
Asari sprach wirklich und voller Ernst die Kaiserin an: "Ein Teppich, was ist das? Eine goldene Kette, ein Pferd, ein Schwert, ein überaus hässlicher Ring? Was be­deuten sie mir? Aber dieses Nichts, das er mir bringt, ist ein Ge­schenk, das SICH schenkt, und nicht sei­nen Bringer!"
So sprach er, erhob sich von seinem Thron und ging allen voraus, an der Seite der Kaiserin, die man zum Gespräch neben ihm hertrug, gefolgt von Nadim und Baldeina, den Für­sten und allen anderen.
Zurück blieb nur Woi und sein Vater, weil diesem die Füße zum Gehen nicht gehorchen wollten. Ordnete man die ver­blie­be­nen zwei Sol­daten den stei­fen Fackelhaltern zu, dann waren die beiden allei­n in dem gro­ßen Saal.
Der Vater bewegte den Mund, aber er sagte nichts. Es war eine Schwäche der Muskeln, welche die Lippen nicht zusam­men­hielt, kein Sprechen. Er versuchte den Arm seines Soh­nes los­zu­lassen, aber es ging nicht. Sein Zittern konnte nicht auf eigenen Füssen stehen.
Die Haut über sei­nem Ge­sicht war durchsichtig ge­worden wie die von einem neugebo­renen Kind. Struppig wie ein Win­ter­busch waren die weißen Haare über die Augen und aus den Ohren ge­wachsen. Die lan­gen Haar­strähnen gingen unter­schiedliche Wege.
"Zu Hause ...", sagte der Vater. "Ich bin alt geworden. Bald wirst du allein sein. Manchmal kommt der Tod und schaut nach mir. Ich sage ihm, wenn der Junge kommt, dann ist es Zeit. Er hat es nicht eilig, sagt er."
Langsam ging der Blick des Vaters durch den Raum. Mach­te bei einer schweren Vase, deren Schrift verwittert war, einen Halt. Betrachteten nachdenklich den hölzernen Schrecken des Drachenkopfes über ihm.
"Die Leute fragen nach dir", sagte er weiter. "Ich sage ihnen, bald, sicherlich bald wird er kom­men."
Woi schaute zu den schweren Vorhängen, welche die Fen­ster verdeckten. Abwesend spiel­te er mit der Hand des Vaters, als wäre es eine vertrocknete Wur­zel, die herum­lag.
Der Vater entschied sich, den Sohn zu fragen: "Wolltest du nicht eine Prinzessin heiraten? Bist doch deswegen hier, nicht wahr?"
Woi musste in die aufmerksame Vateraugen sehen.
"Mag sie dich nicht? Mag sie einen anderen mehr?", frag­te der Vater.
"Ich weiß es nicht", gestand Woi und war ehrlich.
"Aber du bist doch schon lange hier, nicht wahr? Da musst du doch wissen, ob sie dich oder einen anderen mag?" Die Hand des Vaters lag über die glänzende Sitzflä­che des Thrones. Nun war sie eine im letzten Licht schla­fende Ei­dechse, keine Wurzel.
"Mir haben sie immer gleich gesagt, dass sie mich nicht mögen", fuhr der Vater fort, indem er schelmisch blinzel­te, "aber eine Prinzessin war nicht da­bei."
"Ja", sagte Woi unglücklich, "sie ist eine richtige Prin­zessin ..."
Wenn er an sein Unglück dachte, fühlte er sich minde­stens so alt wie sein Vater. Irgendwo in seinem Inne­ren hatte das Zit­tern schon begonnen und würde sich lang­sam nach außen zit­tern.
"Du bist noch jung", sagte der Vater.
"Ich weiß", sagte Woi und seufzte tief.

Chapter 150. Die Ankunft im Dorf

Die Sonne war um den Berg herumgewan­dert und in seinem Rücken hinaufgeklet­tert. Als Li das kleine Dorf sah, fiel die Spannung von ihr ab.
Der Mann zeigte auf die wei­ßen Häuser, die still la­gen, als seien sie ver­las­sen.Li konnte nur hoffen, dass der Mann sie nicht in böser Absicht hierher geführt hatte. Ein Hund bellte, dann ein zweiter, da war sie beruhigt.
Sie kamen auf einen Platz, wo zwei hohe Bäume hin­ter einem kleinen Brunnen standen. Hier räkelte und streckte sich ein Hund und war mit dem Mann und den Eseln wohl vertraut. Es war noch alles feucht von der Nacht. Als der Hund sich schüttelte, flogen von seinem Fell die Trop­fen auf.
Die Häuser lagen ein gutes Stück weiter weg, als wollten sie einen Abstand zu dem Brunnen und seinem Hund halten. Der Esel des Mannes machte 'Gnaah' und trottete los, während Lis Esel beim Brunnen stehenblieb. Der Mann ritt weiter und hatte nicht bemerkt, dass er alleine ritt.
"Hallo", rief Li ihm hinterher, "der Esel - er steht!"
Der Mann richtete seinen Blick auf den Esel, der langsam und schuldbewusst seinen Kopf immer tiefer senkte. Dem Esel war im Ungehorsam ersichtlich nicht wohl. Schließlich trottete er weiter.
Das kleine Dorf hatte sich genügen lassen, drei und vier Häuser zu den Seiten des Weges aufzustellen. Ein Kamin stieß hustend den ersten Ruß des Tages aus. Eine Hand, die einer alten Frau gehörte, öff­nete ein Fenster und schloss es schnell wie­der, als sei sie er­schreckt. Sonst schliefen die Men­schen.
Der Mann ritt bis zum Ende des Dorfes und dann weiter. Auch Lis Esel trottete weiter, obwohl sie an seinem Zü­gel zog.
"Hallo!", rief Li wieder. "Reiten wir denn wei­ter?"
"Noch ein Stück", sagte der Mann, ohne sich umzudre­hen. "Das Haus steht abseits."
Li beschloss, nur noch so weit zu reiten, dass man sie im Dorf hören konnte, wenn sie laut um Hilfe rufen musste. Vorsichtig lockerte sie den Halt in ihrem Bügel und über­legte, auf welcher Seite sie vom Esel herunterkommen sollte, ohne dass er ihr auf die Füße trat. Viel­leicht war es das Beste und Sicherste, sich langsam Stück für Stück nach hinten zu schieben und sich dann von seiner Rückseite her­unterzurut­schen zu lassen. Das behagte ihr nicht, aber ihr fiel nichts Besseres ein.
"Dort ist es", sagte der Mann. "Es steht allein, weil dort ein Teich ist."
"Ich mag Teiche", sagte Li und hatte es nicht sagen wol­len.
"Dann magst du mein Haus", sagte der Mann.
Zuerst sah sie das Haus nicht, weil ein Baum davor stand, wie ihn Li noch niemals gesehen hatte. Er sah wie ein Mensch aus, der seine Haare nach vorne gekämmt hatte und sie sich nun, so lang wie sie waren, über das Gesicht ins Was­ser hängen ließ. Der halbe Kopf und der Rücken waren kahl und wiesen borstige Narben auf.
Das Haus lugte durch die Zweige nach dem fremden Mäd­chen, das der Mann von seiner Reise mitgebracht hatte. Dann sah es wieder in das glatte Wasser des Teiches, wo sein Spie­gelbild war.
"Bitte tritt ein", sagte der Mann.
Doch Li blieb auf ihrem Esel sitzen, der sich nicht dar­an störte, sondern das Bündel Stroh ausein­anderschüttelte, das der Mann ihm hingeworfen hatte. Zumindest der Esel des Mannes fand merkwürdig, dass Li nicht absaß. Er sah zu ihr hin, was sie tun würde, während seine Lippen am Stroh her­umta­ste­ten.
"Du wolltest mir eine Frage stellen", sagte der Mann.
"Ich weiß keine", antwortete ihm Li.
Vor dem Haus war ein kleiner Platz. Ein Bottich, eine Presse und ein paar Stangen hatten ihre Ar­beit unterbro­chen und sahen sich den Neuankömmling an. Die Spitze eine Bootes zeigte sich zwi­schen dem Schilf und zog sich gleich wieder zu­rück.
"Wir sind Papierschöpfer", sagte der Mann.
"Ich glaube, dass sie meinen Vater nur KENNEN", sagte Li. "Aber sie SIND nicht mein Vater, da lasse ich mich nicht täuschen."
"Das ist schwierig", sagte der Mann.
"Für MICH ist es schwierig", berichtigte Li ihn empört.
"Dort ist mein Lehrjunge. Ihm wirst du vielleicht glau­ben", sagte der Führer.
"Ich glaube nur, was ich sehe." Li sah einen jungen Mann in ihrem Alter, der vom Dorf herkam. Er wink­te, und sie winkte zurück. Als sie merkte, dass er dem Mann hinter ihr zugewunken hatte, fühlte sie, wie ihre Wangen rot wur­den.
Der junge Mann kam näher, aber er sah zum Teich und zum Baum. Der Esel des Mannes war der einzige, der fortwährend zu ihr hin­sah. Als der junge Mann nah genug bei ihr war, sah Li, dass er helle Augen hatte und dem Mann nicht ähn­lich war.
"Das ist Li", sagte der Mann zu ihm.
"Das ist Daid", sagte er dann zu ihr.
Der junge Mann sah zu ihr hoch, und sie sah zu ihm her­unter. Seine Augen waren nicht so hell, wie sie ge­dacht hatte, und er wurde rot, als Li ihn fest ansah.
"Sie glaubt nicht, dass sie meine Tochter ist", sagte der Mann.
"Aber sie ist doch die Li?", fragte Daid besorgt. Wenn er seine Stirn hochzog, dann machte seine Besorgnis tiefe Falten und große Augen.
"Natürlich bin ich die Li!", sagte sie zornig. Dann fügte sie etwas freund­licher hinzu: "Ich glaube nur nicht, dass er mein Vater ist, weil ich ihn nicht kenne."
Daid sah Li an, als präge er sich ihr Aussehen genau ein.
Ein Streifen der Son­ne lag ihm quer über dem Gesicht. Er blinzelte hinein und hin­durch.
"Du bist jung", sagte der Mann, "vielleicht verstehst du sie ja."
"Doch, ich verstehe sie", sagte Daid.
"Dann verstehst du sicher auch, warum sie auf dem Esel sitzen bleibt?", meinte ein wenig grimmig der Mann.
Daid machte einen Schritt und reichte Li die Hand.
"Bit­te", sagte er.
"Danke", sagte Li und nahm seine Hand als Hilfe, um von diesem Esel herunterzukommen. Als sie stand, war Li froh, dass die Reiterei vorbei war.
"Er ist wirklich dein Vater, Li", sagte Daid. Aber weil sie ihn unglücklich ansah, fügte er rasch hinzu: "Dein Vater hat mir viel von dir er­zählt."
"Was weißt du GENAU?", fragte Lis Mund, und ihre Augen wo­gen das Herz des jungen Mannes, bis es leicht war und schwer zugleich.
"Von braunen Augen sprach er, die wie ein Kitz durch seine Ge­schichten gehuscht sind. So sprach er immer."
"Und was siehst du?", verlangte Li triumphierend zu wis­sen.
"Schwarz sind sie und huschen nicht", sagte Daid leise.
"Er ist nicht mein Vater", sagte Li fest. "Ich weiß es. Er ist ein fremder Mann und hat sich alles ausgedacht." In ihre Augen traten schwimmend die Trä­nen.
"Was willst du denn ma­chen?", fragte der Mann besorgt.
"Fort von hier", gab Li leise dem Daid zur Antwort.
"Tu, was sie verlangt", sagte der Mann zu seinem Lehr­jun­gen. "Weißt du einen Ort, wohin du sie bringen kannst?"
"Ich könnte Li zum Haus meiner Mutter bringen", sagte Daid, ohne überlegt zu haben, "Es ist nicht weit und ist im Dorf bei den ande­ren. Wenn sie es will, kann ich sie dorthin brin­gen."
Li nickte freudig, und schnell hatte das Sonnen­licht ihr wieder die Augen gefüllt.

Chapter 151. Fürst Alta

Ob sie die Prinzessin sei, fragte der alte Mann und sah von seiner Bank freundlich zu Nadim hoch.
Sie sei eine der Prinzessinnen eben, sagte Nadim.
Sei sie die, von der ihm sein Sohn erzählt habe.
Ja, diese Prinzessin sei sie wohl.
Woi habe keine Mutter gehabt, sagte der alte Mann. Er sei bei einem Soldaten aufgewachsen.
Das merke man gelegentlich.
Am liebsten hätte er DEN zum Vater gehabt.
Das Traurige des alten Mannes legte sich Nadim auf die Schultern. Es war dünn, was zwischen seinen Stimmungen stand. Bald würde nichts Trennendes mehr da sein.
Doch nun finde er Woi sehr verwandelt vor, sagte der alte Mann.
Das sei wohl das Alter, sagte sie.
Ja, das Alter.
Oder die Fremde sei es.
Ja, die Fremde.
Die Liebe vielleicht, rätselte er.
Nein, das wisse sie nicht, erschreckte sich die Prinzes­sin. Das sei es eben, dass man es nicht wissen könne.
Weil Nadim den Kai­serhof in ihrem Rücken hatte, blickte sie auf den Fluss, der heute so klar war, dass Wolken in ihm schwam­men. Ein kleines Schiff hatte sich auf einer der Wolken niedergelassen und ließ sich ohne Se­gel auf ihr dahintreiben. Eigentlich war es ein schöner Platz für eine Bank.
An seinem Hof gebe es auch schöne Plätze, sagte der alte Mann und bot Nadim einen Platz an seiner Seite.
Und nun wolle Woi dorthin zurückkehren, sagte Nadim und legte ihren Blick vorsichtig auf eine der Wolken.
Habe er das gesagt, fragte der alte Mann.
Ja, wenig habe Woi gesagt, aber von dem wenigen habe er am meisten darüber gesprochen.
Er, der Fürst, kenne sich nicht aus in den Din­gen der Zuneigung.
Ob er nicht von Wois Mutter erzählen wolle, fragte die Prinzessin
Wois Mutter sei eine schöne Frau gewesen, aber ande­re hät­ten sie für ihn, den Fürsten, ausge­sucht, und sie sei gleich darauf ge­storben.
Bei ihr gebe es keinen mehr, der für sie aussuche. Der Vater und die Mutter seien tot. Der Kaiserin sei ver­rückt, und der neue Kaiser habe andere Gedanken.
So könne sie ihrem Her­zen folgen.
Ja, das stehe ihr frei, sagte Nadim ohne Mut.
Für einen alten Mann sei es leicht, seinem Her­zen zu fol­gen. Er kenne es lang genug, und sie machten es ein­ander nicht mehr schwer.
Sie habe - als es verboten war - Woi versprochen, ihn zu heiraten.
Was sei daran schlimm, wenn das Herz nicht lüge, fragte der alte Mann.
Nun wolle ihr Woi - mit den Augen nur - das Versprechen zurückgeben.
Wie er es sehe - als alter Mann - gehöre ihr das Geben nicht anders als das Nehmen. Zum Gesagten nickte er Ge­wiss­heit bestärkend den Kopf.
Sie denke manchmal, so die Prinzessin, ihr Herz habe eine Zeit und die Schrit­te der Menschen eine andere.
Das habe sie wahr und schön gesagt.
Aber traurig ge­meint.
Spä­ter einmal, wenn sie zurücksehe, dann würden das Traurige und das Heitere ohne Unterschied im Schönen aufge­hen.
Was er den­ke, ob sich die Wege irgendwo kreu­zten. In der Fer­ne, meine sie, ob sie sich in der Ferne kreuzten.
Er habe nie etwas gekannt, was wirklich fern gewe­sen sei.
Und wenn der Weg des einen das Nebeneinander verlasse, um dem Weg des Vaters zu folgen.
Der Vater gehe in den Tod, da folge ihm kein Junger nach.
Am Rande des Lebens stehe ein leerer Stuhl, auf dem Woi sitzen wolle, um seinem Vater nachzusehen. So habe er es ihr, der Prinzessin, gesagt.
ZWEI Stühle ständen dort, sagte der Fürst lächelnd.
Das Gesagt solle er erklären.
Den anderen habe er dazugestellt, damit Woi nicht al­lei­n sei, wenn er seinem Vater nach­blicke, denn das könne nicht gut sein.
Wer säße auf dem zwei­ten Stuhl, fragte die Prinzessin vorsichtig.
Ihr, der Prinzessin, habe er den Stuhl hingestellt. Wenn sie nur Platz nehmen wolle. Auf EINEM Stuhl nur könne Woi sitzen.
Das sei wohl war und schön habe er es ge­sagt.
Und schön habe er es gemeint.
Was solle aus zwei Menschen werden, die Hand in Hand sitzen und keine Worte finden.
Er sei ein alter Mann. Er verlange nicht, die Jungen zu verstehen.
Woher, fragte sie, indem sie auf das Wolkenspiel des Flusses zeigte, komme aus dem Nichts der Schmerz der Lie­be, an einem Tag, der friedlicher sei als dieser dort.
Woher, fragte er, komme aus dem Nichts der Tod, an einem Tag, der be­gann, als kenne er keinen Abend.
Woher der Schmerz, als sei er es, den man liebt.
Woher der Tod, als sei er es, für den man gelebt hat.
Vielleicht liege vieles auf demselben Weg, sagte die Prinzess­sin.
Es sei eine lange Reise an der Seite eines alten Mannes und seiner Gebrechlichkeit ...
- die habe keinen Schrecken für sie.
Eine lange Reise für einen Sohn, eine lange für eine Prinzessin ...
- wenn sie den bei­den nur von gleicher Länge wäre.
Die Berge gehe es heran, die sich in den Weg stel­lten ...
- leicht gehe der Fuß ohne die Ketten der ein­samen Stun­den.
Flüsse gebe es, die nicht zu zähmen seien ...
- an ih­rem Rand wol­le sie sitzen und den Au­gen­blick der Treue zum Köder auswer­fen.
Nächte, die heu­len­den Wölfen ge­hörten ...
- darüber ein Him­mel, der lange Netze aus­spanne, um ein Wort darin zu fangen.
Wüste, schattenlos versengte Erde ...
- wenn sich zwei nur an den Händen gefasst hielten, bräuchten sie den Boden nicht berühren.
Ein Wald, in dem die Stimmen der Räu­ber zu Hause seien ...
- denen die Bärte im Dickicht festgewachsen sind.
Und einen Für­sten­hof, der klein sei und bis auf seinen Namen nichts besitzte ...
- man habe ihr einen Stuhl versprochen.
Den solle sie haben.
- und einen zweiten Stuhl, wenn sich jemand setzen wolle.
Der werde sich finden lassen.
- und ein Schweigen aus zwei Herzen.
Wenn sich die Stühle finden ließen, dann ver­spreche er ihr gern das andere.

Chapter 152. Das Schiff

Es war ein schöner Tag, genau richtig für eine Fahrt auf dem Wasser. Alle Menschen, die Baldeina begegne­ten, mach­ten ihm freundliche Gesichter, als sei es ihnen recht, dass der Tag nicht ihnen, sondern Baldeina gehörte.
Die Wa­chen fragten ihn, ob er aus­reite, ih­nen für morgen einen ebenso schönen Tag zu holen.
Wenn sie ihm Glück bringen wür­den, sag­te Baldeina.
Wobei, fragten sie und sahen sich lustig an, als wüss­ten sie von der Prinzessin.
Das könne er nicht sagen, ent­gegnete Bal­deina.
Dann habe er genug gesagt, so die Wa­chen. Er solle immer nur daran denken, wie sie ihm ihre Daumen drückten, dann sei ihnen um sein Anliegen nicht Angst. Sie zeigten sich, wie sie den Daumen zwischen den Fingern drückten, und waren sehr vergnügt.
Baldeina war so aufgeregt, dass er absaß und sein Pferd zum Hafen führte. Eine Frau reichte ihm einen Strauß. Sie sagte, dass sie kein Geld erwarte. Was solle eine alte Frau mit solch schönen Blumen? Er solle sie seiner Lieb­sten geben. Bal­deina konn­te ihr nicht sagen, dass seine Liebste eine Prinzessin war, deren Herz mit ein paar Blumen nicht zu ge­winnen war. Aber er nahm die Blumen entgegen und dankte dem Mutt­chen, das er 'Gnädigste' nannte.
Die Blumen hatten kein Band. Weil er auch den Zügel hielt, verlor er erst eine, dann alle anderen. Das war sehr ärger­lich, aber es gelang, dar­über hinwegzu­den­ken.
Er ging nicht durch die engen Gassen, sondern machte einen Umweg, der ihn zu den besseren Häuser führte, deren Gär­ten gut versteckt hinter den hohen Bü­schen lagen. Hier begegnete ihm niemand. An und an reichte ihm ein Baum ein paar Früchte herüber. Wenn er stehen blieb und zum Himmel aufsah, dann traten die Bäume ein wenig zur Seite. So jeden­falls schien es ihm.
Weil er Zeit hatte und ein Spalt im Buschzaun war, sah er neugierig hinein. Ebenso neugie­rig sah ein Junge her­aus. Er sah zu dem großen Pferd hoch, und Baldei­na ent­deckte, dass der Junge ein kleines Pferd aus Holz hinter sich führte. Der Junge zeigte auf Baldei­nas Pferd und sag­te et­was, das Baldeina nicht verstand. Bal­deina zeigte auf das Holzpferd des Jungen, aber dann fiel ihm kei­ne Frage ein, weil der Junge ihn weiter streng ansah und auf sei­ne Antwort warte­te.
Die Allee führte zum engen Anlegekreis des Hafens, sodass er langsam durch die Stände der Fischer zum anderen Ende des Hafens gehen musste, wo sein neues Schiff lag, in gehöri­gem Ab­stand zum letzten dieser ge­duckten, abge­riebenen und irgend­wie teilnahmslosen Boote.
Die Fischer wussten, wer er war. Sie hatten denselben Blick wie die Fische, die tot auf den Tischen lagen und mit offenem Mund glotzten. Das Pferd hielt sich in der Mitte des Pfades durch den Ge­stank, der in jedem der aus­ge­leg­ten Net­zen lag und in der Sonne döste.
Die Prinzessin würde er nicht über den Kai führen kön­nen. Wenn er sah, wie die Fischer vor seinen Augen die Fische auf­schlitzten, dann wur­de selbst ihm übel, und ein noch so schöner Tag konnte en­den, als habe ein Gleichgül­tiger über ihm die Ge­därme aus­geschüttet.
Dort endlich lag sein Schiff und blies ihm zur Begrüßung einen fri­schen Wind herüber. Sobald es Baldeina hatte kommen sehen, straffte sich seine Erscheinung in der Manier eines Die­ners, der auf seinen Herrn gewartet hatte.
Alles war bereit. Der Himmel war vom feinsten Staube be­freit. Die flau­schigen Wolken - gerade recht in der Grö­ße - hatte jemand wie Kissen zum Besten arran­giert. Der Fluss nahm keine Notiz und auch der Weg aus verstreu­ten Steinen tat gleich­gültig, aber das war nur, weil die Taue über Gebühr ihre Freunde zeigte.
Der Kapitän fragte ihn zur Begrüßung, wo denn sein Vater sei. Als Baldeina sagte, dass wisse er nicht, wunderte sich der Mann. Er ließ darüber sogar zu, dass der Schiffs­junge weiter faul herumstand und ihnen zuhörte, als ginge ihn das etwas an. Der Alte fuhr sich mit beiden Händen durch seinen Bart, und es wäre dem Schiffsjungen wohl recht gewe­sen, wenn er seine Hände nicht mehr daraus hätte be­freien können.
Baldeina zeigte auf den Bug. Dort wolle er sitzen. Man solle es so herrichten, dass er zu zweit nebeneinander sitzen könne. Kurz blickte er in das Gesicht des Schiffs­jungen, dessen Neugierde größer als sein Ver­stehen war. Der Kapitän zog eine Hand aus seinem Bart und drohte den Jungen an die Arbeit. Dieser verschwand flugs in einer Kabine, die tiefe Stimme des Kapitäns auf den Fersen hinter ihm her. Dort würde sie vor der Tür warten! Der Junge sollte sich nur ja nicht heraustrauen, ohne sei­ne Ar­beit gemacht zu haben!
Der Kapitän richtete die Stelle persönlich her, wie Bal­deina es verlangte. Er tat es gerne, und seine Anteilnahme war verständig und voller Wohlwollen. So erzählte ihm Bal­deina, dass sie eine Prinzessin sei. Die Augen des Mannes hatten genau die Farbe des Flusses. Sie wechselten ihre Farbe nicht anders als der Fluss. Nun waren sie tief und gaben kein Licht zurück. Baldeina fragte, ob der Kapitän den Tag für den richtigen halte. Das könne schon sein, brummte der Kapitän aus einem mundlosen Bart. Das Wasser seiner Augen wurde seicht und warm, gerade recht, dass man An­ker und Angel auswerfen wollte.
Als Baldeina vorne auf dem Bug saß, und alles so war, dass er sich die Prinzessin gegenwärtig vorstellen konne, da war Fluss milde gestimmt und gerade so blau, wie es die Gedanken von zwei Schweigenden mögen, dass sie hierhin und dorthin treiben können, aber niemals auseinander.
Er stell­te sich vor, wie Dessa und er vorn auf dem Bug beieinan­der saßen und in einer Art auf das Was­ser hinaus­sahen, dass es für sein Anliegen fast keine Worte brauch­te. Die Prinzes­sin würde nicken, wie der Bug des Schiffes in den Wellen nickte. Da­bei würde sie ihn anse­hen. Damit war es ent­schieden und gesagt. Sie würden zweisam wieder auf das Wasser hinaus­blicken.
Eine Zeit verging, bis Baldeinas Gedanken zurückgekehrt waren. Der Wind hatte vergeblich versucht, seine Aufmerk­samkeit zu fangen. Der Fluss hatte stirnrunzelnd zugese­hen, wie Baldeina immer weiter und weiter hinaus­trieb. Erst jetzt sah Baldeina zum Weg, wo ein junger Mann auf einem Gefährt auf sich aufmerk­sam machen wollte.
Dieser junge Mann winkte und rief. Baldeina blinzelte auf die Ent­fer­nung und erkannte Woi an seiner Stimme. Ein Mädchen saß hinter Woi, neben einem alten Mann, wohl der Va­ter von Woi. Die schwarzen Haare des Mäd­chen flogen auf wie die grauen des Fürsten, als sei­en sie anein­and­ergebun­den.
Was war das für ein Mäd­chen? Aus dieser Ent­fer­nung sahen für ihn alle gleich aus. Sie hätte auch die Prinzes­sin sein können. Keine hätte er von der ande­ren unter­scheiden können, wenn er nicht ihre Stimme hörte. Baldeina blin­zel­te.
"Wir sind auf der Reise", rief Woi und das Mäd­chen wink­te. Der alte Fürst rief etwas in seinen Husten hinein. Es war nicht zu verstehen.
"Wir wünschen alles Gute", rief das Mädchen. Es war Nadim - kein Zweifel war erlaubt! Baldeina winkte kräf­tig mit bei­den Händen. Wie sehr wünschte Baldeina den beiden, Nadim und Woi, alles glückliche Gute!
Nun war alles leicht, auch für ihn! Nichts Trennendes stand zwi­schen ihm und seiner Prin­zes­sin, we­nige Stun­den viel­leicht, mehr war es nicht. Wie nah das Glück war! Das Glück des Freun­des und der Schwe­ster ent­fernten sich, das Glück von Dessa und das Glück von Baldeina kamen sich aus der anderen Richtung einander entgegen.
Er gab dem Kissen neben sich einen freundlichen Puff. Er war nun hungrig, und es war Zeit, zu­rückzukehren. Wenn er sich ge­stärkt hatte, wollte er zur Prin­zessin gehen. Dann war der rechte Zeitpunkt gekommen, die Gewissheit auf ih­ren letzten Weg zu füh­ren.

Chapter 153. Lis Vater erzählt

"Wenn du mitgehst", sagte Li zu Daid, "dann gehe ich zu mei­nem Vater."
Im Dorf war es still. Die Bank stand vor dem Haus, der Vater saß darauf und sah ihnen entgegen.
Daid nahm Li bei der Hand und sag­te: "Sie weiß jetzt, dass sie eure Tochter ist."
"Dann wird es stim­men", sagte der Vater. "Ich zweifele nicht daran."
"Ich gehe dann ...", sagte Daid zögernd.
"Nein", sagte Li. "Ich will nicht, dass er geht."
"Bleib, Daid", sagte der Vater. "Ihr seid mir beide will­kom­men."
Sie set­zten sich auf die Bank, Li in die Mitte zwi­schen ihnen. Ein kleiner Vogel hüpfte auf dem Boden. Lis Vater warf einen Krumen.
"Er ist scheu. Ich hoffe, wenn es kalt wird, kommt er zu mir her­ein ... Es ist eine lange Ge­schichte. Hast du Zeit, Li? Du auch, Daid? ... Seht ihr, der kleine Vogel wird zutrau­lich, hat keine Angst vor euch. Er kommt manch­mal bis auf die Bank, wenn ich allein bin.
Ich war damals jung, noch nicht lang am Hof des Kaisers und uner­fahren, wie ich es heute sagen würde. Ich war ein Leh­rer für ein paar Schü­ler, die zu richtiger Ar­beit nichts taug­ten. Und war zufrieden und dachte schon daran, wie ich meine Familie nachholen konn­te.
Nun muss ich sa­gen, dass über uns Schreibern die Chro­nisten wa­ren. Sie schrieben über alles mögliche. Man­che von ihnen waren so wichtig, dass sie einen eigenen Schrei­ber hatten. Beson­ders einer war wich­tig, weil er über das Leben des Kai­sers schrieb. Das durfte er in seinem ei­genen Haus tun. Er hieß Guo, und weil er aus einer Familie von wich­tige Schreibern stammte, hieß er Guo der Vierte.
Zu diesem Guo wurde ich eines Tages geru­fen. Ich weiß noch, wie ich staunte über seinen prachtvol­len Garten, der nicht groß war, aber in die Höhe wuchs, wie ich es noch bei kei­nem gesehen hatte. Guo der Vierte war klein, noch kleiner als ich. Er musste zu mir hoch­sehen, und das tat er auch und nahm es mir nicht übel, dass ich grö­ßer war.
Der Schreiber sei krank, sagte er, für lan­ge krank, wenn er es recht sehe. Gleich darauf sagte er, dass er es mit mir pro­bieren wolle. Ich sagte nichts, aber nun schwieg auch er. So war es immer. Wenn ich etwas sagen wollte, kam er mir zuvor. Wenn ich nichts sagte, schwieg auch er. Ich glaube, in der ganzen Zeit bei ihm, habe ich kein einziges Wort gesagt.
Er setzte mich auf einen hohen Stuhl und lach­te, weil der Stuhl mir viel zu hoch war. Zu der dama­ligen Zeit dachte ich, er würde über seinen Kleinwuchs lachen, weil er eben große Stühle brauchte, aber heute weiß ich, warum er lachte. Das Denken war meine Auf­gabe nicht, so wenig wie das Reden. Ich hatte verstan­den, was von mir erwartet wur­de, ohne zu verstehen, was ich tat.
Seht ihr, wenn ich dem Vögelchen Gift geben würde statt Kör­ner, es sähe mich nicht anders dankbar an als jetzt. Und Gift gab mir die­ser vierte Guo, Schreiber­gift von der töd­lichsten Art!
Am Morgen rief er mich. Überall in seinem Zimmer sah ich Striche an der Wand, wie man sie für Kinder macht, um zu sehen, wie sie gewachsen sind. Ob ich etwas bemerke an ihm, rief er, ob ich etwas be­merke. Als ich gera­de sagen wollte, dass mir nichts auf­falle und ich sei­ne Hilfe brau­che, um zu ver­stehen, da rief er bereits, er sei kleiner geworden, es sei wieder ein Schub, wie er ihn ken­ne. Da­bei deutete er aufgeregt auf die vielen Striche an den Wände, welche die traurige Chronik sei­ner abnehmenden Kopfhöhe erzählen sollten. Ich sah ihn mitleidig an und glaubte ihm stumm, dass er litt.
Nun zog er mich zu dem Stuhl. Er war ernst, und das La­chen war ihm vergangen. Auf dem Tisch la­gen Berich­te, die - was lag anders auf der Hand? - auf eine sorg­fältige Nie­der­schrift war­teten. Guo machte mir ent­spre­chende Zei­chen. Dann war er fort. Und ich be­gann mei­ne Niederschrift mit der erdenk­lichsten Sorg­falt, was Sauber­keit und Vollstän­digkeit an­ging.
Es war ein wun­derbares Schreibwerkzeug und das herrlich­stes Pa­pier, welches er mir gelassen hatte, und ich hatte die größte Freude daran. Guo aber blieb ver­schwun­den. Wusste ich eigentlich, was ich da schrieb? Ich glaube nicht! Spä­ter hatte ich genug Zeit, darin zu lesen.
Ich schrieb über den Kaiser. Er war da­mals gerade so alt, dass man seine Mannes­jahre zur Chronik hin­zu­zufügen be­gann. Ich schrieb, dass der Kaiser von der Kaiserin eine Tochter bekommen hatte. Meine Zet­tel waren hier sauber und vor­gefasst.
Da wa­ren aber noch an­dere, in Eile ver­fasste und von zittri­ger Hand ge­schriebene. Sie berichteten von einer ande­ren Frau, die dem Kaiser zur gleichen Zeit einen Sohn ge­schenkt hatte. Ihr Name wurde nicht ge­nannt und auch nicht ihre Fami­lie oder Tu­genden. Also ent­nehme ich dem, dass sie eine Niedrige war, wohl ein Mäd­chen aus der La­ternen­stadt. Nach und nach schrieb ich al­les nieder.
Als ich damit fertig war, suchte ich Guo den Vierten auf. Er lag in einem völ­lig dunklen Zimmer und sagte mit dünner Stimme, er wäre nun so krank, dass er Angst habe, es gehe zu Ende mit ihm, dem letzten der Guos. Ich solle doch, wenn ich fertig sei, dem Hofmar­schall mei­ne Nieder­schrift vor­legen und solle nur ruhig sagen, dass ich die Ar­beit von Guo gemacht habe, der sehr an den Augen er­krankt sei und um sein Leben fürchten müsse.
Das wun­derte mich, weil es nun nicht der Grö­ßen­schwund, son­dern die Augen waren. Aber was verstand ich von die­sen höfi­schen Krankheiten! Ich fragte nach dem anderen Schrei­ber, weil ich wissen wollte, ob ich meine Stelle auf dem hohen Stuhl behalten durfte. Und ich hörte ihn sagen, dieser Schreiber sei in ähn­licher Weise erkrankt wie Guo. Auch er fürch­te um sein Leben, und ich solle nur mein Glück allein ver­suchen.
Also ging ich treuherzig und sogar ein wenig stolz auf mein Werk zum Hofmarschall und legte es ihm vor. Er sah mich sonder­bar dafür an, aber ich dachte mir nichts dabei. Ich kam denen, welche die Neuigkeit verbreiten wollten, ge­rade recht! Am nächsten Tag standen zwei Soldaten vor mei­ner Tür und holten mich aus dem Bett.
Sie brachten mich zu Guos Haus, wo der Hofmarschall mit Sol­da­ten stand und ei­nem sehr klei­nen Guo. Sie fragte mich aus, wo­her ich mein Wissen habe. Ich deutete auf den Tisch, aber die Notizen waren ver­schwunden. Auch den Schreiber holten sie, aber wie Guo wuss­te er von nichts. Die Notizen blie­ben ver­schwunden und konn­ten nicht mehr ver­raten, wer sie ge­schrieben hat­te.
Ich wurde ver­bannt, nicht einmal einem Richter legten sie mein Vergehen vor. Am nächsten Tag schon brachten mich Sol­daten auf ein Schiff und ich erfuhr vom Kapitän, dass ich ver­bannt worden war."
Die Hände des Vaters lagen offen auf seinen Knieen. Das Erzählen hatte ihn angestrengt und ihm den Rücken gebeugt. Heiterleicht hatte er seine Geschichte erzählen wollen, an ihrem Ende saß er allein mit einer großen Traurig­keit.
Li legte ihre Hand in seine. Er legte nach einem langen Zögern die an­dere dar­auf. Daid hatte sich unbemerkt er­ho­ben und war fortgegangen. Vater und Tochter saßen neben­einander auf der Bank vor dem Haus, und ein Außen­stehender hätte den­ken kön­nen, es sei ein Abschied zwi­schen ihnen.

Chapter 154. Asari fragt um Rat

Asari ging in seinem Hof umher. Er sah niemanden an, weil er auf den Boden sah. Sehr groß war der Hof des Kai­sers. Weil er um viele Ecken gegangen war, wusste er nicht, wo er war. Alles war neu und fremd. Niemals wie­derholte sich etwas.
Die Welt bestand aus Boden, rauhem und glatten, warmem und kalten, hallendem und schluckenden, bis er auf zwei Füße stieß. Sie gehörten zu einem jungen Mann, der mit einer Tür sprach.
"Ich bin es, Baldeina", sprach der junge Mann die Tür an. "Was stellst du dich wie eine Fremde vor mich hin? Hast du kein Herz, keine Seele? "
Dann wandte er sich an Asari: "Ich will ihr sagen, dass ich sie liebe, aber ich weiß nicht einmal, ob sie mir zu­hört. Dabei war ich so voller Zu­versicht."
"Ja", sagte Asari und sah ihn und die Tür mitleidig an, "manchmal geht der Mut schnell verloren."
"Ich verliere nie den Mut", sagte der junge Mann aber und sah die Tür geradezu herausfordernd an. "Nie! Warum sollte ich? Was würde sie denken, wenn ich den Mut verlö­re?"
"Ist es diese eine?", fragte Asari. "Niemals eine ande­re?" Eigentlich hätte er gedacht, dass sie alle gleich waren. Wäre das ein Trost für den jungen Mann?
"Diese eine - auf ewig und mein ganzes Leben", sagte der und fiel auf die Knie.
"Die anderen ...", fragte Asari und zeigte die lange Flucht der Türe entlang, "... keine von denen?"
"Eine andere? Niemals, nein, wie können sie es denken!", rief der jun­ge Mann. "Ich gäbe mein Leben für sie, wenn sie mich nur erhören würde!"
"Das ist etwas anderes", sagte Asari beruhigend und nach einer Überlegung: "Was wäre, wenn ich einfach öffnen lie­ße. Ich bin der Kaiser und könnte jemanden ho­len las­sen."
"Nein, bei meinem Leben", rief der junge Mann und hob ver­zweiflungshalber die Hände, "was wäre mir dadurch ge­wonnen? Hätte ich, Gewalt anwendend, ihr Herz gewonnen? Würde sie mir jemals wieder ihr Vertrauen schenken?"
"Nein, wohl nicht", gab Asari zu. Wenn man der Tür auch nur ein Mindestmaß an Empfindung zusprach, dann hätte er der Sache des jun­gen Mannes durch seine Voreiligkeit sehr ge­schadet.
"Bitte lassen sie mich mit ihr allein", flehte der jun­ge Mann. "Es kann sein, sie ist misstrauisch geworden. Sie kennt meine Stimme, soviel darf ich sagen. Vielleicht ist es nur ein wenig, was fehlt. Sie will sehen, dass ich ge­duldig bin. Könnte das nicht sein!?"
"Dann gehe ich", sagte Asari. "Ich glaube auch, dass sie geduldig sein müssen. Das darf sie erwarten."
"Bitte", hörte er in seinem Rücken den jungen Mann sei­ner Tür zurufen, "es ist nie­mand mehr da. Wir sind allein. Ist es nun besser. Sag wenigstens, dass ich hoffen darf! Nur ein einziges Wort!"
Asari sah nicht mehr nur den Boden entlang. Das war ent­schieden langweilig und in nichts zu vergleichen mit den Erlebnissen des jungen Mannes. Nachdenklich ging er den Flur entlang, um zu sehen, ob es nicht eine Sitte am Hofe war, die Türen um Liebe anzuflehen.
"Ich muss sie suchen", rief einer mit einer hohen Stim­me, der den Gang entlangerannt kam.
"Sie haben mich gefunden", sagte Assari freundlich.
"Ja", der kleine Mann japste, "da bin ich froh. Ich muss gestehen, dass ich die Befürchtung hatte, sie nicht zu finden."
"Und nun? Was müssen sie tun, wenn sie mich gefunden haben?", fragte Asari.
"Das weiß ich nicht", japste der kleine Mann. "Ich bin nur ein Eunuch. Und sie haben gesagt, dass ich sie, den Kaiser, su­chen soll."
"Nichts weiter gesagt, als dass sie mich suchen sollen?"
"Sie müssen wissen, es ist eine Ehre für einen Eunuchen, den Kaiser zu su­chen", sagte der kleine Mann stolz.
"Entschuldigen sie, wenn ich es nicht weiß, aber was ist ein Eunuch?"
"Das wissen sie nicht?", fragte der kleine Mann und sah sehr unglücklich aus.
"Ich bin noch nicht lange - seit sehr kurzem erst Kai­ser", entschuldigte sich Asari.
"Ein Eunuch ist kein richtiger Mann", sagte der Eunuch leise.
"Ein kleiner Mann?", fragte Asari ebenso leise.
"Kein - überhaupt kein Mann", antwortete der Eunuch noch leiser.
"Ah, dann ist es schlimm", hauchte Asari. Es MUSSTE et­was Schlimmes sein, wenn es sich so schwer erklä­ren ließ.
"Es ist nicht so schlimm, wie man denkt", sagte der kleine Mann. "Es ist nur, weil alle immer daran denken. Sonst wäre es nicht schlimm."
"Das ist bei mir nicht anders. Alle denken immer das­sel­be. 'Oh', denken sie, 'da ist der Kaiser.' Immer das­selbe, nie etwas ande­res."
"Ja, so ähnlich ist es, wenn man ein Eunuch ist - also nicht ganz natürlich ..."
"Es ist aber ärgerlich - wie das Kaiser-Sein ärgerlich!"
"Ich glaube, ich kann mir vorstellen, wie es ist", sagte der kleine Mann sehr ernst.
"Wollen sie mein Vertrauter werden?", fragte Asari und wurde ganz rot, als er gefragt hatte.
"Das geht nicht, ich bin ein Eunuch!", rief der kleine Mann aus.
"Dann könnte ich IHR Vertrauter werden", schlug Asari vor. "Ginge denn das?"
"Um Himmels Willen", rief der kleine Mann und schlug mit den Händen gegen seine Backen, dass es klatschte. "Wenn sie erfahren würden, dass mir, einem Eunuchen, der Kaiser vertraut!" Da rannte er schon den Gang entlang und rief und warf die Hände hoch und rief und rannte.
"Eunuchen sind immer ängstliche, und dieser ist der kleinste und ängstlichste", sagte ein dicker Mann, der vornübergebeugt auf ei­nem Stuhl saß und aus sei­nem Zimmer sah.
Asari begrüßte ihn höflich, aber der Mann schien durch ihn hin­durchsehen zu wollen, obwohl er mit ihm ge­sprochen hat­te.
"Warten sie auf jemanden?", fragte er ihn schließ­lich.
"Es kommt gleich wieder", sagte der dicke Mann. "Es war da, aber ist gleich wieder fort."
"Ich habe nichts gesehen", sagte Asari, "aber ich habe auch die ganze Zeit auf den Boden geschaut, da kann es natürlich sein -"
"Hoho, Haha", lachte der dicke Mann sehr laut. "Was bist du für ein Spaßvogel."
"Es war kein Spaß, eigentlich."
"Ich bin der Hofdichter LoBe", sagte der dicke Mann, "und ich warte auf einen Gedanken."
"Der kommt hier herein?", fragte Asari er­staunt.
"Ich brauche nur die Tür aufstehen lassen. Ganz genau so ist es!"
"Man braucht sehr viel Geduld", sagte Asari und dachte an den jun­gen Mann und seine Tür.
"Und wer bist du?", fragte der dicke Mann.
"Ich bin ein - der neue Kaiser", sagte Asari und war be­leidigt.
"Aha", sagte der dicke Mann, "das wusste ich nicht ... der Kaiser des Blauen Drachen. Das hätte ich mir denken können."
"Des Blauen Drachen? Nennt man mich so?"
"Alle Kaiser nennt man so, weil der Große Fluss wie ein blauer Drache ist. Keiner hat je anders gehei­ßen."
"Aber ich heiße Asari. Da heiße ich doch anders."
"Wenn du Kaiser geworden bist, dann habe alle deinen Namen vergessen. So ist das eben - immer schon."
"Ich könnte ihnen befehlen, dass sie meinen Namen behal­ten."
"Die anderen Kaiser - alle siebenundzwanzig Kaiser vor dir - haben ihnen schon befohlen, dass sie deinen Namen vergessen sollen."
"Aber mir hat niemand etwas zu befehlen. Ich behalte einfach meinen Namen in der Erinnerung", sagte Asari trot­zig.
"Hö", sagte der dicke Mann und sah auf seinen aufsprin­genden Bauch, "hö, hö, hö! Dann musst du mit dir selbst sprechen, wenn dich jemand bei deinem Namen nennen soll. Hö!"
"Ich spreche mit dem Mond", sagte Asari.
"Das ist etwas anderes", sagte der dicke Mann.
"Der Mond spricht auch mit mir", sagte Asari, aber er war sich nicht sicher, ob das etwas Besonderes war.
"Immerhin", sagte der dicke Mann, "das ist schon etwas."
"Meint ihr wirklich?", fragte Asari hoffnungsvoll.
"Ich kenne keinen, der mit dem Mond spricht", sagte der dicke Mann, "Also ist es etwas SEHR Besonderes!"
"Der Kaiser, der mit dem Mond spricht", sagte Asari lei­se.
"Wir werden uns verstehen, glaube ich", sagte der dicke Mann. "Du bist ein Kaiser ganz nach meinem Geschmack."
"Sprechen sie auch mit dem Mond?", fragte Asari.
"Ich bin oft allein, da spreche ich mit mir selbst. Ich bin der einzige, der 'Herr Hofdichter' sagt. Dabei verbeu­ge ich mich jedes Mal."
"Wissen sie, Herr Hofdichter", sagte Asari und verbeugte sich auch, "ich saß lange in einem Kerker. Der Mond hat oft auf ein Gespräch vor­bei­geschaut. So kam es, dass wir Freunde ge­wor­den sind."
Erst hatte der Hofdichter wegen Asaris Verbeugung ge­lacht, dann war er still und traurig geworden.
"Ist es schlimm in einem Kerker?", fragte er flüsternd.
"Warum sollte es schlimm sein?"
"Ich fürchte mich vor dem Kerker. Ich gehe niemals hin. Unser Kerker ist unter dem Weinkeller, aber ich bin noch nie dort gewesen."
"Ich fürchte mich nicht", sagte Asari stolz. "Im Ver­trauen gesagt - manchmal möchte ich lieber kein Kaiser sein, Herr Hofdichter ... ich werde sie immer 'Herr Hof­sichter' nennen, wenn sie mich Asari nennen."
"Abgemacht", sagte der Hofdichter, "wenn das so ist, Asari, dann pfeife ich auf den Befehl der siebenundzwanzig ande­ren Kai­ser."
"Ist jemand für immer verrückt?", fragte Asari unvermit­telt.
"Ihr meint die Kaiserin ... hm", sagte der Hofdichter und überlegte, wobei er mit dem Finger auf seinem Bauch Worte schrieb. So jedenfalls erschien es Asari.
"Wenn sie für immer verrückt ist, dann bin ich für immer Kaiser? Das wäre ich nicht gern und darum frage ich!", drängte er.
Der Hofdichter bewegte die Lippen, als lese er die Schrift auf seinem Bauch. Schließlich sagte er: "Ihr müsst es ausprobieren. Wenn sie schweigt, dann habt ihr viel­leicht Glück. Spricht sie dagegen lang und seltsam, dann steht es schlecht um eure Hoffnung."
"Das ist ein guter Rat", sagte Asari. "Ich gehe zu ihr. Dann weiß ich, ob ich für immer Kaiser sein muss!"

Chapter 155. Die Kaiserin spricht

Asari stand unschlüssig vor dem Zimmer der Kaise­rin. Dann gab er sich einen Ruck und klopfte.
Der Kopf der Kaiserin erschien in der Tür und sah ihn streng an: "Wollt ihr zu meiner Herrin?"
Asari sagte kein Wort, weil er sich eigentlich gewünscht hätte, dass auch sie keines sagte.
"Habt ihr ein Buch?", fragte die Kaiserin. "Ihr könnt nur zu ihr, wenn ihr ein Buch habt."
"Ich habe ein Buch", antwortete Asari. "Ich wusste, dass ich eines brauchen würde."
Der Kopf der Kaiserin verschwand und kurze Zeit später tauchte sie wieder in der Tür auf.
"Ihr müsst das Buch so halten, als würdet ihr darin le­sen", erklärte ihm die Kaiserin. "Ja, so ist es recht. Sie spricht nicht, wenn ihr sie anseht. Dann schweigt sie, wie es sich gehört."
Asari sah die Dienerin-Kaiserin schelmisch an, als müsse diese ver­stehen, dass alles nur ein Spaß war. Das aber tat sie ent­schieden nicht. Sie hatte die Augen zusammen ge­kniffen, als fehle ihr jegli­ches Ver­ständnis. Zornig sah sie drein, wie eine Dienerin eben, die für ihre Herrin eine Belästi­gung fürchtet. Schnell neigte er den Kopf aus ihrem stren­gen Blick und blät­terte in seinem Buch.
"So kommt", sagte die Kaiserin. "Sie hat bereits einmal nach mir gerufen."
Als er mit der Dienerin in das Zimmer trat, war er über­rascht, wie wunderbar das Bild geworden war. Es sah so lebendig aus, dass der Gedanke auch ihm nicht fern lag, er habe die wirkliche Kaiserin vor sich. Besonders die Augen waren lebendig. Der Mund, als habe er gerade etwas gesagt, dass lange und gut überlegt war. Nur der Schmuck glänzte mehr Licht, als der abgedunkelte Raum herge­geben hätte. So stand die Kaiserin in all ihrer Pracht, als sei die Zeit etwas, das sie tragen oder auch ablegen durfte, wie einen Armreif oder eine Spange des Haares.
"Ist sie nicht schön?", flüsterte die Dienerin. "Sie ist so stolz, dass die Schönheit sich für sie entschied, vor all den anderen."
"Weiß sie, wer ich bin?", fragte Asari leise zurück.
"Nein, nein", erschreckte sich die Dienerin, "solche Din­ge berühren sie nicht. Mich erkennt sie, sonst nieman­den!"
"Schweigt sie immer?", fragte Asa­ri behutsam.
"Manchmal spricht sie. Dann steht sie dort am Fenster und sieht hinaus. Dabei sagt sie seltsame Sachen."
Asari stellte sich neben die Kaiserin an das Fenster und sah hinaus. Er wartete, dass sie etwas Seltsames sagen würde. Lange Zeit geschah nichts. Es war still. Wenn er zu ihr hinsah, dann war sie lebendiger ge­worden. Ihm kam es vor, als zögere sie noch, als sehe auch sie ihn von der Seite an.
"Was trägst du für ein Buch unter dem Arm?", fragte die Bild-Kaiserin und erschreckte ihn beinahe. Ihre Stimme war freund­lich und sehr nah.
"Es ist ein Buch über mich", antwortete Asari nach sei­ner ersten Erschrecken.
"In dem Buch ist dein Leben gut aufbewahrt. Keine Zeit kann ihm dort etwas anhaben. Wenn du nur behutsam mit dem Buch umgehst, dann passt es für immer auf dein Leben auf."
"Ja", sagte Asari, "ich sollte froh sein."
"Kann dein Leben denn ohne die Zeit auskommen? Ist es dafür stark genug?"
"Auf jeden Fall ... ich bin ganz sicher", sagte Asari. Aber eigentlich war er sich nicht einmal sicher, ob er sie richtig verstanden hatte.
"Die Zeit fällt ab ... die Dinge, die nicht hineingehö­ren, verlassen es ... das Leben gehört sich selbst."
"Das Leben in dem Buch?", fragte Asari.
"In dem Buch ist es wie auf einem Bild. Es bleibt das Fremdeste übrig und mit sich allein."
Asari nickte. Er konnte sich gut vorstellen, dass sie recht hatte. In ih­rer Schönheit machte sie wirklich einen sehr ver­lassenen Ein­druck.
"Der Morgen kommt und legt mir das Licht vor die Füße. Gleich muss ich es wieder zurückgeben", fuhr sie fort, als sei sie wieder allein mit sich. "Immer kommt der Mor­gen mit sei­nem Licht als der Ersten zu mir. Dann nehme ich mir, was ich für meine Schönheit und für einen Tag brau­che."
'Sie redet viel und sehr seltsam', fand Asari. 'Es steht er­denklich schlecht um meine Sache.'
"Dem Abend erzähle ich Geschichten, damit er müde wird. Er hört sie gerne. Sagt, dass ihm niemand sol­che erzählt. Die Menschen sehen nach der Zeit, wenn er sich zu ihnen setzt."
Asari musste für immer und alle Zeit Kaiser bleiben, ein ganzes neues Buch mit leeren Kaiserpflichten füllen müs­sen - das war gewiss!
"Der Fluss ist ein Blauer Drache. Ein alter Mann reitet darauf und stirbt, weil sein Sohn keinen Vater hat. Ein Buch hat leichte Flügel. Schwere Flügel hat ein Sarg."
Dass der Abend ihre Geschichten zum Einschlafen hören wollte, mochte Asari nicht recht glauben.
"Der Kaiser hat viele Gesichter. Kein eigenes ist dar­unter. Der Kaiser ist ein Schwarm von Fischen. Die Kro­ne ein Räuberfisch, der jeden Tag einen anderen frisst, nur den richtigen nicht."
Asari hätte das Buch am liebsten fortgeschleudert. Das war nun doch unerhört! Sie suchte das letzte Fünkchen Hoffnung auszutreten.
"Seht ihr, dass die Sonne sich einen Spaß macht. Vor unseren Augen taucht sie ins Wasser ein und hält die Luft an, damit wir glauben sollen, sie sei er­trunken."
Das fand Asari übertrieben seltsam. Es wurde Abend, aber der Abend machte nicht viel Worte. Deutlich war zu sehen, dass die Sonne hinter dem Fluss in die Tiefe fiel.
"Die Nacht trägt eine Kapuz­ze über dem Ge­sicht, weil sie dem Kaiser eine Geliebte versprach. Merkt er nicht, dass der Tod ihm schöne Augen macht? Frage, Nacht, ihn nach der Kai­serin!"
Im Hof stand eine Kutsche ohne Pferd. Zwei Die­ner strit­ten sich. Die Füße eines dritten lagen auf der Kut­scher­bank und schliefen.Draußen wurden die Tore ver­schlossen. Die Wachen lösten sich ab.
"Ich trage sie fort", flüster­te die Dienerin-Kaiserin. "Sie darf nicht zu lange aus dem Fenster sehen. Alles strengt sie sehr an."
"Es ist für immer!", sagte Asari. "Ich weiß nun, dass es für immer ist!"
Er stand am Fenster und sah hinaus, wo das Blau des Him­mels gla­sig wurde, wo die zuletz­t gekommenen Wol­ken sich am Ho­ri­zont eine Auf­lage für ihre Mü­dig­keit suchten, wo ein er­ster Stern den Rest des Ta­ges aufwog und ein blas­ser Mond kein Wort des Trostes fand.

Chapter 156. Ein neuer Tag

An diesem Mor­gen wartete Daid auf Li, als wäre es nicht das Haus seiner Mutter, vor dem er stand.
Niemand sei da, sagte er. Die Leute aus dem Dorf, ihr Vater und seine Mutter, alle seien sie fort. Es sei Markt­tag, und Li habe sehr lange geschlafen.
Die Wolken türmten sich vor der Sonne auf, und Daid hat­te ihr einen Schirm aus Papier mit­gebracht. Diesen schwang er so freiweg und stolz, dass sie sich vor­se­hen musste vor seinem Übermut und dem Schirm.
Er hatte ver­sprochen, mit ihr zu dem Teich zu gehen und hin­auszuru­dern, und sie kam immer au­ßer Atem, weil er lan­ge und schnelle Schritte machte. Wenn sie atemlos stehen blieb, spannte er den Schirm zum Spaß über ihr aus.
Li zeigte auf eine Stelle, wo der Nebel streifig her­ab­hing. Dort habe es zu regnen begonnen, sagte sie. Der Beginn des Regens sei sehr schwer zu malen.
Er sah sie an und schwieg.
Sie hatte nicht aufschneiden wollen, und nun hatte sie es doch getan. Es tat ihr leid, aber sie würde ihm nicht erklären können, dass hier etwas Beson­deres war.
Ob sie eine Malerein sei, fragte Daid. Er sah sie nicht an, sondern suchte weiter den Regen im Nebel zu entdecken.
Nicht richtig, antwortete Li ihm. Sie sei nur interes­siert. Er müsse nicht denken, dass sie eine Meisterin sei.
Ob sie ihm ihr Malen zeigen könne.
Nein, sie könne es nicht zeigen. Worauf denn solle sie malen?
Das werde sie sehen.
Wenn Daid ernst war, dann sah er beständig auf den Boden und konnte den Blick nicht he­ben.
Als sie zum Boot kamen, gab er ihr den Schirm. Mit stel­zigen Schritten stieg er ein, nahm das Ruder in die eine Hand und reichte ihr die andere Hand. Geschickt balan­cier­te er ihre Schritte mit seinem Ruder aus.
Li war ein schmales Bott für zwei nicht ge­wöhnt, machte ängstliche Blicke und lu­stige Bewe­gungen mit dem Schirm über ihrem Kopf. Als sie endlich ruhig auf ihrem Platz saß und ihn an­schaute, stieß er das Boot vor­sichtig mit dem Ruder vom Ufer ab.
Eigentlich sah Daid die Umgebung zum ersten Mal richtig an. Weil er heute keine Fische fangen wollte, brauchte er sich nicht um die Zeit zu kümmern. Der Nebel lag flach, fast durchsichtig auf dem Wasser. Ein Tauchvogel machte einen Punkt darin wie von einem Astloch. Ihm fiel auf, wie ähnlich sich Nebel und feuchtes Papier waren.
Während der ganzen Zeit hatte das Mädchen nichts ge­sagt. Daid saß bei ihr und sah ihren Blicken in die Ferne nach. Der See war so still, als sei er al­lein. Das gefiel ihm. Er war nicht allein, aber es war still.
Fast hätte er seine Überraschung für sie vergessen. Vor­sichtig stand er auf und holte aus seinem Wams vor ihren verwunderten Augen alles heraus, was er ihr mitgebracht hatte: das Papier, den Spannblock, Tusche und vier Pin­sel.
Li wollte gleich beginnen. Aber er hatte auch eine Decke für sie und wickelte sie darin ein. Dann erst durfte sie mit dem Malen beginnen. Er saß vor ihr und sah hinaus.
Den Tauch­vo­gel würde er malen und einen zweiten. Das Schilf vorn, damit man sähe, dass die Vögel weit draußen waren. Die Bäume dort hinten. Ihr Stammm war schwarz und schwer, aber der Schlaf der Krone war leicht geworden.
Ein wenig heller war die Fläche des Wassers nun. Der Nebel und das Boot trieben langsam aufeinander zu. Immer noch sah er den Re­gen nicht, den sie ihm gezeigt hatte. Es wäre eine präch­ti­ge Zeit zum Fi­schen gewe­sen. Dazu würde er sie ein­mal ein­la­den. Aber sie würde es nicht wol­len. Das spürte er. Sie hatte einen Wil­len, wie ihn nicht einmal die Mut­ter hatte, die immer sagte, dass sie einen solchen starken Willen habe und nicht wis­se, war­um ihr Sohn keinen habe.
"Das Papier ist sehr schön", sagte das Mädchen.
Er hatte sich erschreckt, weil es das erste war, was sie beim Malen sagte.
"Ich habe das Papier gemacht", sagte er. "Dein Vater hat mir das Handwerk beigebracht. Er ist ein wirklicher Mei­ster. Das bin ich nicht."
"Ist es sein Papier, oder ist es dein Papier?", fragte sie.
"Dies ist mein Papier", antwortete er ihr stolz. "Es ist noch ganz neu."
"Es ist das feinste Papier, das ich kenne", sagte sie. "Ich wusste nicht, dass es solches gibt."
Das hatte ihn so stolz gemacht, dass der Nebel vor sei­nen Augen eine andere Farbe bekommen hatte. Aber sie hatte ihn nicht an­gesehen, sondern immer nur auf ihr Gemaltes.
Wie brachte sie es bloß fertig, dass der Pinsel nicht tropf­te? Ihre Hän­de waren geschickt, aber es waren ihre Augen, die malten. Man konnte denken, der Pinsel sei nur von Wasser feucht und verstreiche den Glanz ihrer schwarzen Augen.
Es war etwas Besonderes mit ihr, ohne dass sie darum wuss­te. Die anderen Mädchen, die er kannte, sagten zuerst ih­ren Namen. Jedes Mal sagten sie den, obwohl er ihn kann­te. Wenn er sie nicht immer­fort ansah, dann riefen sie ihm hässliche Dinge nach oder flüsterten über ihn. Seine Mut­ter stellte sonst vie­le Fragen zu den Mädchen, aber zu Li war ihr keine eingefal­len.
Dann war das Bild fertig. Vorsichtig legte sie es sich auf die Hand und blies noch einmal darüber. Dann reichte sie es ihm auf beiden Händen herüber.
Der Nebel war durchsichti­ger, als er ihm erschienen war. Eine Grenze zwischen Was­ser und Himmel gab es nicht. Das Boot spiegelte sich kopfüber im Wasser. Er erkannte den Schirm, dachte, dass er aussah wie ein schräg sit­zen­der Hut. Das Ruder glich einem Pin­sel, der im Wasser den Wor­ten nach­sah, die über Bord gefallen waren. In feinen Fäden fiel der Regen auf sein Spie­gel­bild.
Es regnet nicht, sagte er. Sieh nur, der Nebel ist über uns, aber es fällt kein Regen auf die Haut.
Nur die Augen können diesen Regen sehen, sagte sie.
Ein von dir erdachter Regen?, fragte er leise.
Der Himmel weint ... meine Tränen, deine Tränen, die Trä­nen der Menschen, ich weiß es nicht. Ein Regen ist etwas anderes.
Das Ruder sieht wie ein Pinsel aus, sagte er.
Es malt ein Zeichen in das Wasser, sagte sie.
Wofür steht das Zeichen?
Es ist der Rest von einem Zeichen, nicht mehr als Hals und Kopf, wie von dem Vogel dort.
Dem Taucher?
Ja, dem Taucher.
Das Zeichen kann also viel bedeuten?
Ja, wenn du es als Zeichen sieht.
Ist es ein Zeichen?
Ich weiß es nicht. Es kann auch sein, dass es nichts bedeutet.
Ich kann nicht lesen, sagte er ernst. Dein Vater kennt alle Zeichen, aber ich bin nur ein Papierschöpfer.
Wie findest du das Bild, fragte sie und sah ihn an.
Ihm fiel nichts zu sagen ein. Er sah weg, dorthin wo die Wasserhalme schwarz und steif standen. Dorthin wo über das Wasser ein Schauer lief.Im Schilf rief der Tauchvogel sein Weibchen. Sie hat­ten ein Nest gebaut und Junge bekom­men.
Er lacht über uns, sagte das Mädchen.
Nein, sagte er, es ist sein Rufen.

Chapter 158. Die Prinzessin spricht

Nach einigen Wendungen, die ebenso schmal wie ziel­los waren, gab der Wald den beiden Aufsteigenden die Aussicht frei, die an ei­nem hel­len Abend wie diesem bis zur Kaiser­stadt reichte.
"Kannst du ihn sehen?", fragte Woi leise.
"Ich weiß nicht", sagte Nadim unsicher. "Es ist alles sehr entfernt."
"Dort, was aussieht wie geschichteter Fladen - das ist euer Hof."
Nadim sah bedrückt drein. Es machte ihr das Herz schwer, so zu stehen und zu­rückzublicken. Es wäre ihr lie­ber ge­wesen, wenn Woi ihr eine andere Stelle ge­zeigt hät­te.
"Ich werde Dessa vermissen", sagte Nadim. "Eigent­lich vermisse ich sie schon jetzt ..."
"Ihr seid Schwestern, da seid ihr euch sehr nah." Woi überlegte, ob es nicht besser war, zum Lager zurückzuge­hen. Vielleicht war Nadim kalt. Schließlich war sie eine Prin­zes­sin und den Wald nicht gewöhnt.
"Warum aber ich ... und nicht Dessa?", sagte Nadim plötz­lich und wusste gleich, als sie Woi nach­denken sah, dass seine Antwort sie traurig machen würde.
"Baldeina hat das entschieden!", antwortete Woi.
"Du nicht ...?"
"Baldeina wollte gleich die Unsichtbare ... da war ich übrig."
"... also ich nur, weil Dessa vergeben war?" Ei­gentlich hät­te sie Mitleid mit sich selbst haben müssen. Aber es war an­ders - Woi tat ihr leid. Aus diesem Gefühl heraus nahm sie seine Hand, sah aber zur Seite, damit er nichts dach­te.
"Du musst wissen, ich wollte gleich keine Prinzessin. Ich war nur in Begleitung sozusa­gen."
"Ein Mädchen wolltest du, nicht wahr, keine Prinzessin? Das kann ich verstehen", sagte Nadim und war froh, dass sie darüber gesprochen hatten. Sie hatte vergessen, dass Woi sie oft als Prinzessin gesehen hatte.
"Ich muss dir etwas sagen", begann Woi und löste seine Hand aus der ihren, um damit einen Jackenknopf zu drehen.
Wenn Woi lange schwieg, dann sagte er immer das Fla­sche. Soweit hatte ihn Nadim schon kennengelernt.
"Ich kann dir dein Verspre­chen zurückgeben, wenn du möch­test ... ich meine, dass du mich hei­ra­ten sollst, wenn es wieder erlaubt ist."
Nun hatte Nadim ihren Kopf abgewendet, und Woi sah nicht, wohin sie blickte.
"Ich meine, das war es doch, war­um du mit uns ge­kom­men bist."
"Gab ich nicht einem anderen mein Versprechen?", fragte Nadim leise.
"Erinnerst du dich nicht?"
Nun blickte Nadim wieder zur Kaiserstadt. "Ich erinnere mich, dass ich jemanden mein Versprechen gab, der treu mit dem Herzen war. Er ging fort und blieb doch, wo ich ihn brauchte."
"Es war nicht so gemeint", entschuldigte sich Woi und fand, dass sie ein wenig recht hatte. Es war vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt, ihr das Versprechen zurück­zugeben, aber schließlich war es die letzte Gelegen­heit.
"Ich gab meine Versprechen einem, der meist stumm war. So stumm, dass ich ihm die Dinge aus den Au­gen lesen musste." Nadim hatte Spaß bekommen, Woi die Wahrheit zu sagen.
"Ich hätte schon früher damit kommen sollen ...", ge­stand Woi zerknirscht.
"Wenn er etwas sagte, dann war es immer das Falsche. Aber es war mir, als lerne er das Sprechen, lerne es für mich."
'Die Worte stehen klar auf ihrer Seite und nicht auf mei­ner!', dachte Woi.
"Wissen sie, wo er geblieben ist?", fragte Nadim. "Unbe­holfen war er, und doch kann ich sagen, dass er Freude und Schmerz nicht ungerecht verteilte."
"Was meinst du, was ich machen soll?", fragte Woi. "Sag es einfach, dann reden wir nicht darüber."
"Ist er nicht mitgekommen, wie er versprach?"
"Also wirklich, es reicht!" Woi fand, dass Nadim ihren Spaß zu weit trieb.
"Sagen sie mir, wo ich ihn finden kann?", fragte Nadim und sah Woi zum ersten Mal in die Augen.
"Ich ... wie meinst du das?"
"Wenn ihr mit ihm bekannt seid, dann geleitet mich zu ihm", bot Nadim an. "Zeigt mir den Weg. Ich will euch vertrau­en!"
"Lass mal ... lassen sie mal sehen", überlegte Woi. "Weit ist es nicht. Gebt mir die Hand, ich führe euch!"
"Wir wollen uns ihm vorsichtig nähern. Wer weiß, ob er nicht ängstlich ist?" Nadim rollte die Augen, als sie es sag­te.
"Ich werde ihm sagen, wie schön eure Hand zum Anfassen ist."
"Ein Wegkundiger, der die schönsten Worte wählt ..."
"Scheu ist dieser Woi und wagt sich nur hervor, wenn er sich sicher glaubt."
"Hat er denn Angst vor mir?"
"Er war furchtlos ein Ritter, ein Drache, ein Bär!"
"War er auch ein Woi, nicht weniger furchtlos?"
"Es lastet ein Fluch auf ihm, das muss ich euch sagen."
"Ein Fluch? Von wem ein Fluch?"
"Niemals werde er gewahr die Liebe einer Frau, so ver­fluchte ihn eine Fee."
"Und diese Frau - diese Fee ist mächtig?"
"Er glaubt an ihren Fluch ..."
"Sagt ihm, die Prinzessin - er wird mich schon kennen! - wäre traurig gewesen, zum end­losen Weinen traurig."
"Aber warum denn? Was soll ich sagen, wenn er fragt?"
"Ihre Schwester ist fort. Der Wald ist dunkel. Sie geht an der Hand eines Fremden, und nirgends ist der, den sie sucht."
Der Führer hieß Nadim, vorsichtig ihre Füße set­zen. Sie gingen auf Gestrüpp, einem weichen Boden, von dem nicht zu sagen war, ob er sie tragen würde.
"Es ist schwer, eine Prinzessin und zur gleichen Zeit ein Mädchen zu sein. Sagt ihm das. Vielleicht versteht er es, trotz des Fluches."
"Riechen sie nicht den Wald? Er will sie betäuben, Prin­zessin. Der Schlaf der Tiere, das Rauschen der Bäume, die Zeit unter ihren Füßen, wie leicht lernt sich das Ver­ges­sen. Die Worte der Menschen, nichts als das Knacken klei­ner Zweige."
"Was sagte er - wird er im Dunkel mich an der Hand nehmen?", fragte Na­dim lei­se.
'Schsscht' hieß sie der Wind schweigen. Aus dem tiefen Schlaf der Bäume kam das Knarren wie Blasen aus morastigem Was­ser auf. Irgendjemand hatte für ihr Glück einen feinen Regen von Sternen über den Himmel gewor­fen.
Woi führte sie auf einen festen Weg. Dort konnten sie sicher neben­einander herschreiten. Es war nicht mehr nö­tig, dass sie sich an den Händen hielten. Noch wenige Schrit­te, und sie stan­den auf einer An­höhe und sa­hen auf das Lager herunter, das Fürst Alta hatte auf­schla­gen las­sen.
"Was ist mit Woi? Wird er kommen?", fragte Nadim.
"Ich werde auf ihn warten", sagte der Führer. "Er hat mir das Kommen versprochen. Morgen am Tag wer­det ihr zu­sammen fortreiten."
Vorsichtig stieg Nadim durch das hohe Gras hinunter. Einmal blickte sie sich nach Woi um. Da saß er noch und hielt von ihrem Herzen mehr, als sie bei sich trug.
Er wartete, wie er ihr versprochen hatte. Der Mond schau­te ihm noch eine Weile zu, bis ihm langweilig wur­de und er sein Spiel mit den Wol­ken wie­der aufnahm. Er wen­dete sie, eine nach der anderen, wie flache Fi­sche, ein­mal die dunkle Sei­te nach oben, dann wie­der die silbrig glän­zende.
So saß Woi. Die Zeit machte ihm mit einem lose hängenden Zweig Striche für ihren Takt. Der Mond wendete weiter die Wol­ken auf den Bauch und auf den Rücken. Ein feiner Regen von etwas fiel auf sein Haar.
"Es ist schwer, Woi zu sein", sagte er nach einer lan­gen Weile, "aber ich will es versuchen."
Er stand auf und ging hinunter, wo das Lager war.
ENDE

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Tag der Veröffentlichung: 18.09.2011

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