Auf und davon
Unter all den vielen Krokodilen, die am großen Fluss wohnten, gab es eines, das sich von den anderen unterschied: Sein Name war Carla, auch bekannt als das „kleine“ Krokodil. Doch nicht die geringe Körpergröße war es, die Carla so besonders machte. Es waren ihre seltsamen Essgewohnheiten, mit der sie sich von den anderen Krokodilen unterschied.
Carlas Speise-Vorlieben waren so untypisch für ein gewöhnliches Fluss-Krokodil, dass sogar ihre Freunde immer wieder den Kopf schüttelten, wenn sie daran dachten. Allein die Vorstellung, Schirme zu verzehren, und das auch noch mit Genuss, konnte da bereits Magendrücken verursachen. Es gab Krokodile, die bezeichneten Carla sogar als vollkommen verrückt, machten sich über sie lustig oder behaupteten, sie sei gar kein richtiges Krokodil.
Carla war das schnurzpiepegal. Alles Geschmacksache, dachte sie, und fand, dass es kaum etwas Köstlicheres geben könne als einen knackigen Schirm. Am besten schmeckten ihr Regenschirme mit Holzgriff.
Aber jetzt hatte Carla ein echtes Problem. Ihr Magen knurrte, weil sie schon seit Tagen keinen Regenschirm mehr gegessen hatte. Der Heißhunger auf ihre Lieblingsspeise wurde langsam unerträglich. Leider war die Vorratshöhle leer – bis auf einen löchrigen alten Gummistiefel, der einer Schneckenfamilie als Heim diente.
Vielleicht hat Nadja in ihrem Laden ja noch ein paar Regenschirme vorrätig, dachte Carla. Voller Hoffnung ließ sie sich von ihrem Lieblingsplatz am Flussufer ins Wasser gleiten. So schnell sie konnte, schwamm sie zum kleinen Kramladen von Nadja, der dicken Nilpferddame.
Nadjas Laden, in dem man nicht nur einkaufen, sondern sich auch mit einem Imbiss stärken konnte, stand mitten im großen Fluss auf einer kleinen, flachen Insel. Er war auf dicken, stabilen Bambuspfählen errichtet, so dass ihm Hochwasser nichts anhaben konnte.
Gerade für Krokodile war dieser Inselladen praktisch, bot er ihnen doch die Möglichkeit einzukaufen, ohne an Land gehen zu müssen. Denn das Laufen war nicht gerade die Lieblingsbeschäftigung der Krokodile. Viel lieber schwammen und tauchten sie. Und noch mehr liebten sie es, an einer seichten Flussuferstelle ein Nickerchen zu halten, dort wo kaum Strömung war – und das Wasser nur so tief, dass gerade noch Augen und Nasenlöcher herausragten.
„Hallo Nadja“, rief das kleine Krokodil. Dann musste es erst ein paar Mal tief Luft holen, so schnell war es geschwommen. „Hallo Carla, schön dich mal wieder zu sehen“, antwortete Nadja mit ihrer tiefen Stimme, die wie Gewittergrollen klang. Weil sie gerade Schokoladenpudding gekocht und schon mal ein wenig davon probiert hatte, wischte sie ihre Hände an der Schürze ab. Dort wo die schneeweiße Schürze sich um Nadjas runden Bauch spannte, blieb ein großer, schokoladenbrauner Fleck zurück.
„Was kann ich für dich tun?“ fragte Nadja. Das kleine Krokodil seufzte. „Ach weißt du, Nadja, ich esse ja für mein Leben gern Regenschirme. Am liebsten die großen roten, mit Griffen aus Kirschbaumholz. Doch jetzt wäre ich sogar mit einem klitzekleinen Taschenschirm zufrieden. Kann ich bei dir vielleicht einen kaufen?“
Die Nilpferd-Dame rollte mit den Augen. „Ja hast du denn noch nicht davon gehört?“ Nadjas Schwanz begann zu zucken. „Es gibt keine Regenschirme mehr. Weder in meinen Laden noch sonstwo. Jedenfalls nicht im Land des großen Flusses.“
„Und warum nicht?“ fragte das kleine Krokodil. „Weil sie alle weggeflogen sind“, antwortete Nadja. „Selbst meine schönen Stockschirme: einfach fort. Sogar der bunte Sonnenschirm der alten Giraffenlady ist davon gesegelt – am helllichten Tag. Jetzt hat die Ärmste einen Sonnenbrand auf ihrem Hals.“
„Weggeflogen“, stammelte das kleine Krokodil fassungslos. „Aber wohin denn nur? Und warum überhaupt?“ Nadja zuckte mit den Schultern. „Weiß der Geier. Doch der kahle Pelikan, der immer faul auf dem Ladendach hockt, der will gesehen haben, dass die Schirme in Richtung Berge geflogen sind. Allerdings erzählt dieser komische Vogel viel, wenn der Tag lang ist.“
„Und warum sind die Schirme denn in die Berge geflogen?“ fragte das kleine Krokodil. Aber Nadja war plötzlich eingefallen, dass sie noch die Strandmatten, die das Postboot am Morgen gebracht hatte, auspacken musste. Denn mit Lukas dem Löwen, der die Matten bestellt hatte und heute noch abholen wollte, war nicht gut Kirschen essen.
Nadja hatte keine Lust, ihn unnötig zu verärgern. Seitdem er in seiner rotblonden Mähne die ersten grauen Haare entdeckt hatte, wurde Lukas schnell aufbrausend, wenn ihm etwas nicht passte. Und ein ausgewachsener Löwe, der wütend war, konnte ganz schön ungemütlich werden.
Deshalb sagte sie nur knapp zum Krokodil: „Frag doch den alten Kaffernbüffel. Der weiß doch immer über alles Bescheid.“ Und dann drehte sie sich einfach um und verschwand im Ladeninneren.
Die Geschichte des Kaffernbüffels
Nadja ist heute ja seltsam, dachte das kleine Krokodil. Sein Magen begann wieder hungrig zu knurren. Und so entschloss es sich, dem Büffel einen Besuch abzustatten. Auch wenn es ihn nicht besonders gut leiden konnte. Denn er hatte meistens schlechte Laune und schimpfte ständig über das Wetter.
Schien die Sonne, war es ihm nicht warm genug. War der Himmel wolkenverhangen, schimpfte er über die unerträgliche Schwüle. Nur bei Gewitter, wenn der Donner rollte und die Blitze zuckten, trabte der Büffel fröhlich durchs hohe Gras und rief pausenlos: „Was für ein Wetter, was für ein famoses Wetter. Ich hoffe, es hört niemals auf.“ Und mit einem zufriedenen Grunzen schüttelte er die dicken Regentropfen aus seinem zottigen Fell. Doch sobald die Sonne wieder hinter den dunklen Gewitterwolken hervorlugte, begann der Kaffernbüffel zu fluchen und wurde unausstehlich.
Bis zum Grashaus des Büffels war es ein weiter Weg. Und das kleine Krokodil konnte nur einen kleinen Teil der Strecke schwimmend zurücklegen. Außerdem war Laufen nicht gerade Carlas Stärke. Bereits nach ein paar hundert Metern begannen ihre Füße zu schmerzen. Und die Nachmittagssonne brannte auf ihrer Haut, so dass sie sich ins kühle Wasser des großen Flusses zurücksehnte.
Unterwegs begegnete Carla einem zerzausten Geier, der sich mühte, seine wenigen, völlig verklebten Federn zu säubern. Carla fragte den Vogel, ob er etwas über die verschwundenen Schirme wüsste. Doch der Geier antwortete, er interessiere sich nicht für fliegende Regenschirme, er habe selbst ein Problem mit dem Fliegen, seit ihm eine Hyäne die Flügel gestutzt habe. „Diese nichtsnutzigen Biester wollen einfach nicht teilen“, klagte der Geier, doch da war das Krokodil bereits so weit entfernt, dass es nur noch das Musizieren der fleißigen Grillen hörte.
Das Gras wurde höher. Jetzt wusste das kleine Krokodil, das es nicht mehr weit sein konnte. Wenig später konnte es bereits den riesigen Baum sehen, der über dem Grashaus des Büffels hoch in den Himmel ragte.
Carla blies in das leere Riesenschneckenhaus, das der Büffel neben der Eingangstür statt einer Klingel mit einer Grasschnur an einem Bambuspfahl befestigt hatte. Der schrille Klang der Schneckenklingel lies die getrockneten Halme des Grasdachs erzittern – und Carla schmerzten die Ohren. „Hereinspaziert, wenn es kein Elefant ist“, ertönte ein tiefe Stimme aus dem Inneren des Hauses. Carla folgte der Aufforderung.
Im Grashaus war es gemütlich. Und obwohl das Bauwerk nicht gerade den stabilsten Eindruck machte, hatte es bereits so manchem Herbststurm standgehalten, der übers Grasland gefegt war. Das lag an den dicken Schilfrohren, die der Kaffernbüffel sich für den Bau seines Hauses von befreundeten Zebras vom Flussufer hatte herschleppen lassen. Um die Errichtung des kunstvollen Grasdaches hatten sich Affen gekümmert. Niemand konnte so gut klettern und behend von Schilfrohr zu Schilfrohr springen, wie die kleinen Äffchen aus dem Bananenwald. Und es war für den schwerfälligen Kaffernbüffel eine Freude gewesen, ihnen bei der Arbeit zuzuschauen. Jaja, dachte Carla, so ein Kaffernbüffel ist schon ein bequemer Zeitgenosse.
„Sag Büffel“, kam das kleine Krokodil gleich zur Sache, bevor der für seine Gastfreundlichkeit bekannte Hausherr ihm eine Kokosschale mit Bambuswein anbieten konnte. Von diesem abscheulich schmeckenden Gebräu trank der Büffel bereits zum Frühstück Unmengen. „Sag, weißt du etwas über die Schirme, die verschwunden sind?“
Der Büffel schnaufte enttäuscht. „Ach deshalb bist du gekommen. Und ich hatte schon gedacht, du wolltest mir zum Geburtstag gratulieren und mit mir auf meine Gesundheit mit einem Gläschen Wein anstoßen.“ Eine dicke Büffelträne lief ihm über das zerknautschte Gesicht.
„Aber natürlich will ich auf dein Wohl trinken, lieber Büffel“, sagte Carla mit ihrer lieblichsten Stimme. „Und wenn ich gewusst hätte, dass du heute Geburtstag hast, dann hätte ich dir natürlich einen Blumenstrauß mitgebracht – und einen selbstgebackenen Dattelkuchen noch dazu.“
Der Kaffernbüffel lächelte. „Na, nichts für ungut, kleines Krokodil. Das lässt sich ja alles nachholen. Vielleicht schaust du morgen ja noch mal bei mir rein. Und was die Regenschirme angeht … Aber probier doch erst einmal von meinem frisch vergorenen Bambuswein, ein wirklich vorzüglicher Jahrgang.“
Carla blieb nichts anderes übrig, als einen kleinen Schluck von dem klebrigen Wein zu trinken. „Jetzt erzähl aber endlich“, forderte sie den Büffel auf, der seine leere Kokosschale bereits wieder aufgefüllt hatte. „Ach natürlich, die Regenschirme“, sagte er. „Aber ich weiß gar nicht, ob ich dir das überhaupt erzählen darf. Es ist nämlich eine Geheimnis. Ich musste dem weisen Pelikan hoch und heilig versprechen, zu niemanden darüber ein Sterbenswörtchen zu sagen.“
Das kleine Krokodil verdrehte die Augen. „Also gut, Kaffernbüffel“, sagte es, „wenn du mich an deinem Geheimnis teilhaben lässt, backe ich dir einen extragroßen Dattelkuchen. Mit Kokosraspeln oben drauf.“
Dem Büffel lief das Wasser im Mund zusammen. „Einverstanden, Krokodil. Aber der Kuchen muss so groß sein, dass er für mindestens eine Woche reicht.“
Carla glaubte nicht, so dass sie einen so riesigen Kuchen würde backen können. Der müsste ja so groß sein, wie die alte Giraffendame, überlegte sie. Aber sie dachte nicht im Traum daran, dem Büffel die Wahrheit zu sagen. „Aber natürlich, lieber Kaffernbüffel. Ich backe einen Riesenmonstermammutkuchen für dich, so ein Prachtexemplar hat die Welt noch nicht gesehen.“
Die Büffelaugen leuchteten. „Also“, begann der Büffel, „die Sache mit den Regenschirmen verhält sich so. Der Affe Barakon, der König des Regenwaldes, hat sich mit Mera, der Schlange, verbündet. Mera besitzt ja, wie du vielleicht weißt, magische Kräfte, seit sie während eines schweren Unwetters vom Blitz getroffen wurde. Und da Barakon Mera versprochen hat, sie dürfe ihr Leben lang nach Herzenslust von den verbotenen süßen Paradiesäpfeln essen, die im Regenwald unweit des Königspalastes wachsen, hat sie ihre Zauberkraft dem Affenkönig zur Verfügung gestellt – als Gegenleistung sozusagen. Das Angebot war wohl zu verlockend für die gierige Schlange, die man eigentlich Naschkatze nennen sollte.“
„Aber“, meinte das kleine Krokodil, „was hat das alles mit den Regenschirmen zu tun?“ „Ach ja, die Regenschirme…“ Aber jetzt hatte der alte Büffel den Faden verloren. Erst nach einer weiteren Schale Bambuswein war ihm wieder eingefallen, was er eigentlich erzählen wollte. „Die Schirme, ja klar“, und seine Stimme klang jetzt ungewöhnlich hoch, so dass Carla den Verdacht hatte, der Wein beginne langsam zu wirken. „Mera hat sämtliche Regenschirme diesseits und jenseits des großen Flusses verzaubert. “ „Verzaubert? Und warum?“ fragte Carla.
„Ja, warum eigentlich?… Ach so! Barakon, der Affenkönig, hasst Regen. Aber er regiert nun mal im Regenwald, wo es bekanntlich häufig regnet. Und wie es dann regnet: Es ist, als fiele alles Wasser der Welt vom Himmel. Und da kam Barakon auf die Idee mit den Schirmen. Mera sollte so viele Schirme herbei zaubern wie möglich, so dass sie dann alle zusammen ein riesiges Dach über den Regenwald bilden können.“
Das kleine Krokodil war sprachlos. Es versuchte sich vorzustellen, wieviele Schirme wohl erforderlich seien, um ein Dach über den ganzen Regenwald zu bilden. Soweit Carla wusste, war der Regenwald so groß, dass ein schnelles Wildschwein viele Tage brauchte, um ihn zu durchqueren und die weißen Berge zu erreichen.
„Und wie sind die Schirme dahin gekommen?“ fragte das Krokodil nach einer ganzen Weile – und weckte damit den Büffel auf, der über seiner Kokosschale eingeschlafen war. „Was, wie?“ stotterte er benommen. „Die Schirme“, wiederholte Carla ärgerlich. „Ja hab ich das nicht schon erzählt?“ grummelte der Büffel. „Zauber, du Dummerchen. Magie. Hokuspokus. Davon versteht die Schlange wirklich eine Menge. Mera hat den Regenschirmen das Fliegen beigebracht. Dicke Schirme, dünne Schirme, Taschenschirme, Stockschirme… Sogar Sonnenschirme lässt sie duch die Lüfte segeln. Und jeder Schirm fliegt dorthin, wo sie es will. Und da sie den Schirmen befohlen hat, zum Regenwald zu fliegen, haben sie es getan. So ist das!“
Erneut sank der schwere Kopf des Büffels auf die Tischplatte aus Gummibaumholz. Doch Carla hatte noch eine Frage. Eine Frage, auf die sie unbedingt eine Antwort haben wollte. Und so biss sie dem Kaffernbüffel ganz leicht in sein rechtes Ohr. Der Büffel fuhr hoch. „Mäuseschwanz und Hamsterbacke“, fluchte er. „Wieder eine von diesen widerlichen Heuschrecken. Diese gefräßigen Biester machen sogar vor meinen zarten Öhrchen nicht halt.“ Und er schüttelte sich, als gelte es, einen Schwarm Hornissen zu vertreiben, der sich in seinem struppigen Fell eingenistet hatte.
„Büffel“, sagte das kleine Krokodil, so laut es konnte. „verrat mir noch eins. Kann man den Zauber der Schlange wieder aufheben? Ist es möglich, die Schirme wieder zu befreien, so dass sie dorthin zurückkehren, wo sie hergekommen sind? “
Der Kaffernbüffel glotzte sie verdutzt an. „Natürlich ist das möglich. Wenn die Schlange ihre Zauberkraft verliert, wird alles wieder so, wie es vorher war.“ „Und was muss passieren, damit die Schlange ihre Zauberkraft verliert?“ Der Büffel grinste. „Ja meine Liebe, so ganz genau weiß ich das nicht. Aber der weise Pelikan hat behauptet, wenn ein Blitz in den tausendjährigen Mammutbaum, dem höchsten Baum im Affenreich, einschlägt, sei es mit Meras Zauberkraft aus und vorbei.“
„Ja dann brauche ich ja nur auf das nächste Gewitter warten“, meinte Carla. Da brach der Büffel in ein schallendes Gelächter aus, das sein Haus erzittern ließ. Carla befürchtete schon, das Dach könne über ihrem Kopf zusammenstürzen. „Warum lachst du, Büffel?“ rief sie. „Weil der…“ – und vor lauter Lachen hatte der Büffel Mühe, die Worte auszusprechen, „weil der Mammutbaum in seinem langen Leben schon so viele schwere Unwetter überstanden hat, ohne auch nur ein einziges Mal vom Blitz getroffen zu werden.“ Und er lachte und lachte und bekam vor lauter Lachen kaum mehr Luft. Jedes Tier im Grasland konnte sein bellendes Lachen hören. Und obwohl der eigensinnige Büffel unter den Tieren nicht gerade besonders beliebt war, fragten sich doch nicht wenige besorgt, was mit dem alten Kaffernbüffel los sei, ob er vielleicht krank sei und Hilfe brauchte.
Carla hielt jetzt nichts mehr bei dem Büffel. Sie hatte es auf einmal furchtbar eilig. Ohne Abschiedsgruß machte sie sich auf den Weg. Als sie bereits das süße Wasser des großen Flusses riechen konnte, hörte sie aus der Ferne immer noch das Lachen des Büffels, das jetzt schon ganz heiser klang.
Die Abmachung
Carla war aufgeregt, wie noch nie in ihrem Leben. Denn sie hatte einen Plan. Um ihren Plan auszuführen, musste sie flussabwärts schwimmen, flussabwärts zum Regenwald. Denn dort, wo der große Fluss das sonnendurchflutete Grasland verließ und im Schatten der dicht stehenden Bäume des Regenwaldes träge weiter floss, wohnte Roderik, der Wolkenreiher.
Seit Roderik dem kleinen Krokodil, das sich einmal hoffnungslos in einem Nebenarm des großen Flusses verirrt hatte, den Weg zurück nach Hause gezeigt hatte, waren die beiden die dicksten Freunde. Und Roderik war nicht irgendein Reiher. Er war ein Wolkenreiher, ein Vogel, der ständig die Wolken im Auge behielt und wie kein anderer wusste, woher sie kamen und wohin sie zogen. Er kannte die verschiedenen Wolkenformen und konnte über jede Wolke sagen, ob sie gutes oder schlechtes Wetter brachte, oder ob sie nur mitteilen wollte, es bleibt alles, wie es ist.
Roderik beherrschte auch die Kunst, genau vorherzusagen, wann sich das Wetter ändern würde. Doch das Wichtigste für Carla war: Roderik hatte einmal behauptet, Wolkenreiher wüssten nicht nur alles über Wolken und Wetter, Sonne, Regen und Wind, sondern könnten, wenn sie es wollten, sogar das Wetter beeinflussen: wenn nur genügend Wolkenreiher gemeinsam in den Himmel aufsteigen würden…
Das kleine Krokodil hatte nie gewusst, ob sie dem Glauben schenken solle, was Roderik ihr da erzählt hatte. Doch jetzt war es an der Zeit zu erfahren, ob ihr immer zu einem Späßchen aufgelegter Freund ihr die Wahrheit erzählt, oder ihr nur eine nette Lügengeschichte aufgetischt hatte. Carla schwamm so schnell sie konnte.
Roderik saß auf dem vertrockneten Ast einer Uferweide und war mit dem beschäftigt, was er meistens tat, wenn er nicht gerade auf Futtersuche war, im Fluss badete oder schlief: Er schaute in den Himmel und beobachtete die Wolken. Doch heute war kein Wölkchen zu sehen. Nichts als strahlend blauer Himmel, wohin man auch blickte.
Allmählich begann der Wolkenreiher, sich zu langweilen, und Rodrik
überlegte schon, ob er seinem Freund, dem Storch, einen Besuch abstatten solle: Eine Partie Frosch-Rennen, das wäre jetzt vielleicht genau das Richtige … Da erblickte er das kleine Krokodil.
Die Wiedersehensfreude war groß. Zur Begrüßung drehte Roderik eine paar elegante Runden über dem Kopf des Krokodils, um sich schließlich auf seinem Rücken niederzulassen. Neckisch pickte er Carla mit seinem langen spitzen Schnabel in den Hals. Doch das kleine Krokodil tauchte blitzschnell unter, so dass Roderik ein unfreiwilliges Bad nahm.
Später, im weichen Ufergras, als Carla sich ein wenig von der langen Reise ausgeruht hatte und Roderiks Gefieder wieder trocken war, erzählte das kleine Krokodil seinem Freund die Geschichte von den verschwundenen Schirmen – und das, was sie vom Kaffernbüffel erfahren hatte. Auch ihren Plan, die Schirme vom Zauber der Schlange zu befreien, verschwieg sie Roderik nicht.
„Ja was glaubst du eigentlich“, krähte Roderik und plusterte sich auf. „Hast du überhaupt eine Ahnung, wie weit man über den Regenwald fliegen muss, um zum Palast des Affenkönigs und zu diesem sagenhaften Mammutbaum zu gelangen? Und wer sagt mir denn, ob ich genügend Freunde und Nachbarn überreden kann, um mit mir dorthin zu reisen. Außerdem“ – und jetzt streckte Roderik seine Haubenfedern steil in die Höhe, „außerdem weiß ich gar nicht, ob wir das überhaupt noch können, das mit dem Wettermachen meine ich. Schließlich ist es Jahre her, dass wir Wolkenreiher das letzte Mal aufgestiegen sind, um geeignete Wolken zu suchen, sie herzutreiben und regnen zu lassen.“
Roderik seufzte. „Damals mussten wir drei Tage und drei Nächte in den kühlen Norden fliegen, bis wir geeignete Regenwolken gefunden hatten. Vom Rückflug und der Mühe mit dem Wolkenschieben ganz zu schweigen. Und das anstrengende Unternehmen haben wir überhaupt nur durchgeführt, weil der große Fluss kaum mehr Wasser hatte, sich kein Fisch mehr blicken ließ und das Gras der Uferwiesen völlig vertrocket war. Hast du etwa in verdörrtem Gras schon mal eine saftige Honig-Schnecke oder einen leckeren Karamel-Frosch gefunden? “
„Ich mag keine Honig-Frösche und Karamel-Schnecken“, sagte das kleine Krokodil. „Am liebsten esse ich Regenschirme. Doch die“, und jetzt klang es ganz traurig. „die sind ja alle auf und davon.“
„Auf und davon, genau“, plapperte Roderik, „alle Wolken scheinen auf und davon gesegelt zu sein. Wer weiß, ob hier überhaupt noch einmal welche auftauchen. Und ohne Wolken brauchen wir gar nicht erst unsere Flügel auszubreiten.“ Und dabei gähnte er so theatralisch, dass Carla wütend auf ihren Freund wurde.
„Du fauler Kerl“, schimpfte sie, „denkst du eigentlich immer nur an dich? Hauptsache, die Krokant-Fische springen dir in den Schnabel hinein und du brauchst keine Feder zu rühren. Du solltest dich schämen, Roderik.“
„Du übertreibst, Carla“, erwiderte Roderik. „Und außerdem: Geht es dir nicht auch nur ums Essen? Weil dir deine Lieblingsspeise weggeflogen ist, sollen wir dir nun aus der Patsche helfen. Wie uneigennützig!“ Er gähnte so lange, dass Carla schon befürchtete, er wolle seinen Schnabel nie wieder schließen.
Das kleine Krokodil schwieg. Im Grunde hatte Roderik ja recht. „Und wenn ich Dir für deine Hilfe etwas verspreche?“ Roderik war plötzlich wieder putzmunter. „Was willst du mir denn versprechen?“ „Ach“, meinte Carla, „vielleicht ist das doch keine so gute Idee.“
Jetzt hatte sie den Reiher erst so richtig neugierig gemacht. „Nun rück schon raus mit der Sprache“, forderte Roderik ungeduldig. „Nun ja“, meinte Carla vorsichtig, „ich dachte da an etwas Essbares, das dir und deinen hilfsbereiten Freunden vielleicht schmecken könnte.“
„Sag schon was es ist, oder ich hacke dir gleich in deinen Schwanz!“ Roderik war jetzt ein wenig ärgerlich. „Also ich könnte mit vorstellen“ sagte Carla, „dass meine Lieblingstante Lissi, die es gewohnt ist, in großen Mengen zu kochen und zu backen, mir einen Wunsch nicht abschlagen kann.“ „Und was würdest du dir wünschen?“ fragte Roderik, dem jetzt ganz heiß vor Neugierde war. „Ich würde mir vielleicht von ihr wünschen, das sie mir zwei oder drei Bleche mit den köstlichen Muschelküchlein backen soll, eine Spezialität aus dem Seenland, mit der schon ihre Urururgroßmutter die Familie verwöhnt hat.“
Roderik hatte seine Augen geschlossen. Er musste ein paar Mal schlucken, und sein Magen fühlte sich auf einmal völlig leer an, obwohl er kräftig gefrühstückt hatte. „Muschelküchlein“, flüsterte er. Und dann, etwas lauter: „Für Muschelküchlein könnte ich sterben. Ich weiß gar nicht, wann ich die das letzte Mal gegessen habe. Das muss Jahre her sein.“ Er öffnete die Augen, und sein Blick hatte auf einmal etwas Lauerndes. „Wie viele Bleche sagtest, du, würde deine Oma von den Küchlein backen?“ „Zwei, höchstens drei, das müsste für dich und deine Freunde eigentlich reichen. Außerdem ist es meine Tante und nicht meine Oma“, antwortete Carla.
„Egal, wer sie backt“, meinte Roderik frech, „aber vier große Bleche müssten es schon ein, damit für jeden etwas abfällt. Schließlich müssen viele von uns mitmachen, damit das Unternehmen auch ein voller Erfolg wird. Wann sollen wir loslegen?“
„Immer mit der Ruhe, Roderik“, versuchte Carla ihren Freund zu bremsen. „Da gibt es noch vieles, was vorher besprochen werden muss. Aber eins sage ich dir gleich: Die Muschelküchlein bekommt ihr erst, wenn ihr ganze Arbeit geleistet und ein Gewitter über dem Regenwald inszeniert habt, dass den Affen angst und bange wird. Außerdem muss ich meiner ahnungslosen Tante ja auch noch Bescheid sagen, dass ein Großauftrag auf sie wartet.“
„Okay, okay“, meinte Roderik, „aber ich muss meine Freunde auch erst dazu überreden, bei der Aktion mitzumachen. Ich hoffe nur, ein paar kleine Muschelküchlein sind es ihnen wert, mal wieder die fliegenden Regenmacher zu spielen. Vielleicht reichen ja fünf Bleche doch nicht…“
„Sag mal, Roderik“, wechselte Carla das Thema. „dass du und deine Freunde es regnen lassen könnt, wann immer ihr Lust dazu verspürt, will ich ja gern glauben. Aber könnt ihr auch ein richtiges Gewitter machen? So eins mit Blitz und Donner? Denn gerade auf die Blitze kommt es ja an, wie ich dir bereits erzählt habe.“
Roderik schluckte. Jetzt darf ich keine Unsicherheit zeigen, schoss es ihm durch den Kopf. „Wir sind geradezu Gewitter-Spezialisten“, posaunte es eine Spur zu laut aus ihm heraus, und er warf sich in die Brust, als wolle er dem schrecklichsten Unwetter aller Zeiten befehlen, sich augenblicklich über seinem Kopf zusammenzubrauen.
Dass es in Wahrheit reine Glücksache war, ob sich aus den Regenwolken, die er und seine Reiherfreunde vor sich her treiben konnten, ein richtiges Gewitter entwickelte, noch dazu, über einem bestimmten Ort, das behielt er natürlich für sich. Denn insgeheim hoffte er, dass es auch nach einem erfolglosen Unternehmen die Küchlein als Belohnung für die Mühe geben würde. Schließlich waren sie dann schon mal gebacken. Und irgend jemand musste sie ja essen!
Roderik wusste nicht, dass Carla zu ihm auch nicht ganz ehrlich gewesen war. Es stimmte zwar, dass ihre Tante Lissi meisterlich backte und mit ihren leckeren Muschelküchlein eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte. Doch dass sie in letzter Zeit zunehmend vergesslich und recht tüdelig geworden war, hatte das kleine Krokodil seinem Freund verschwiegen. Die gute Tante verwechselte mittlerweile nicht nur oft Zucker und Salz oder vergaß, das Gebackene rechtzeitig aus dem Ofen zu nehmen. Nein, vor kurzem hatte sie sogar statt der Gugelhupfform das Butterfass in die Backröhre gestellt.
Der Wunsch der Schlange
Der Affenkönig fand das Leben im Urwald einfach herrlich. So hatte Barakon sich immer das Paradies vorgestellt. Doch jetzt war sein eigenes Dschungelreich selbst zum Paradies geworden. Und das mitten in der schrecklichen, schier endlosen Regenzeit!
Zufrieden saugte der Affenherrscher die restliche Milch aus der Kokosnuss und schleuderte die leere Frucht lässig in die unteren Etagen des Waldes. Hier oben in der Hängematte zu liegen, sich von seiner Lieblingsfrau ab und zu eine frische Kokosnuss oder reife Banane reichen zu lassen – das konnte eigentlich ewig so weitergehen, dachte Barakon und grunzte vor Glück. Aber am besten gefiel ihm das Prasseln. Gab es ein zauberhafteres Geräusch als das Prasseln der unzähligen fetten Regentropfen auf dem Schirmdach?
Barakon musste sich schütteln, als er daran dachte, wie es früher war. Früher, bevor er die dumme Schlange dazu überredet hatte, ihre Zauberkraft in seinen Dienst zu stellen. Er war immer noch stolz darauf, dass die grandiose Idee mit den Schirmen von ihm selbst stammte. Im Grunde war es ja ein Traum gewesen. Ein schützendes Dach von Tausenden und Abertausenden Regenschirmen, die über seinem Urwald schwebten: in mehreren Schichten natürlich, damit sich auch ja nicht das winzigste Regentröpfchen dazwischen drängen und hindurch mogeln konnte! Und jetzt war dieser Traum Wirklichkeit geworden!
Zum ersten Mal hatte der Himmel pünktlich zum Beginn der Regenzeit seine riesigen Schleusen geöffnet – und kein einziger Regentropfen war auf seinen Kopf geklatscht. Zum ersten Mal saßen der Affenkönig und seine Untertanen während der Regenzeit im Trockenen: Niemand bekam einen Schnupfen, weil sein Fell sich für viele Wochen in ein nassen Schwamm verwandelte. Niemand fiel vom Baum, weil Äste und Lianen vom Dauerregen ganz glitschig geworden waren und selbst kräftigsten Affenhänden keinen Halt mehr boten. Niemand musste zum Frühstück vom Dauerregen aufgequollene, matschige Bananen essen und sich in klatschnasses Farnkraut legen, wenn er sich nach dem anstrengenden Waldbeeren-Suchen ein kleines Nickerchen gönnen wollte.
Doch das Beste war: Endlich konnten alle Affen auch während der Regenzeit ihrem Lieblingssport nachgehen, dem Kokosnuss-Kegeln. Die Regenzeit-Pause der Kokos-Kegel-Liga fiel einfach aus, weil sich die Waldlichtungen, auf denen die sonntäglichen Meisterschafts-Spiele stattfanden, nicht mehr in sumpfähnliche Schlammlöcher verwandelten. Und zum ersten Mal sah Barakon, der nicht nur Herrscher des Regenwaldes, sondern auch Cheftrainer der Waldaffen-Nationalmannschaft war, eine echte Chance, die Elf der Bergaffen zu schlagen und sich den Meisterschaftstitel zu sichern. Denn jetzt konnten seine Spieler ja auch während der Regenzeit trainieren und die technische Überlegenheit der flinken Bergaffen vielleicht durch eine verbesserte körperliche Kondition ausgleichen.
Jäh wurde Barakon aus seinen Meisterschafts-Träumen gerissen: Lautlos hatte sich Mera um eine der Lianen geschlungen, mit denen die königliche Hängematte an zwei kräftigen Palmenstämmen befestigt war, und brachte nun die Matte gehörig ins Schlingern. Um ein Haar wäre der Affenkönig herausgefallen.
„Mera“, rief Barakon zornig, „lass den Unsinn.“ Natürlich hatte er gleich erkannt, dass nur die freche Schlange hinter einem solchen Streich stecken konnte. Kein Affe würde sich derartiges erlauben. Zu groß war die Angst vor einer drohenden Verbannung und Ausweisung ins Grasland, wo Waldaffen äußerst unbeliebt waren und ein hartes Leben voller Entbehrungen und Demütungen seitens der anderen Tiere führen mussten.
„Entschuldigung,“, zischelte die Schlange in Barakons Ohr, während sich der Affenkönig krampfhaft an den Rand der Hängematte klammerte, um nicht in die Tiefe zu stürzen, „tut mir leid, tut mir leid, ach wie ungeschickt von mir. Ich wollte dich wirklich nicht in deinen königlichen Träumen stören.“
Barakon grunzte. „Was willst du, Mera?“ „Ach“, säuselte die Schlange, „ich wollte nur einmal vorbeischauen und mich erkundigen, wie es dir geht. Aber wie ich sehe, scheinst du nicht gerade bester Laune zu sein. Dabei ist es dir doch nie besser gegangen, als im Augenblick, oder?“
Barakon knurrte ungeduldidg. „Sag endlich, was du von mir willst, Schlange, und erspare mir dein Gefasel. Ich habe keine Zeit für ermüdende, langweilige Unterhaltungen, die zu nichts führen.“ „Aber, aber, Barakon“, erwiderte Mera, „warum so unhöflich? Hast du es nicht mir zu verdanken, dass du jetzt so gemütlich im Trockenen liegst und keine Erkältung dich plagt?“
Statt einer Antwort brummte der König nur laut, so dass Mera sich gezwungen sah, zur Sache zu kommen. „Während du wie im Schlaraffenland lebst und deine Diener und Frauen hast, die dir jeden Wunsch von den Lippen ablesen, muss ich mich plagen, um meinen Hunger zu stillen. Findest du das etwa gerecht, Barakon?“
Für einen Moment war der Dschungel-Herrscher sprachlos. Dann polterte er los: „Ja habe ich dir nicht gegeben, was du wolltest, Schlange? Habe ich dir nicht erlaubt, soviel von meinen kostbaren Früchten zu essen, wie du willst? Und da sprichst du von Hunger?“
„Sachte, sachte, lieber König, warum regst du dich denn so auf? Ich kann doch auch nichts dafür, dass deine geheimnisvollen Früchte überhaupt nicht so toll schmecken, wie du immer behauptet hast. Und sättigend sind sie nun wirklich nicht! Doch was mich am meisten enttäuscht: Dass man nach ihrem Genuss nicht mehr altert, wie du mir erzählt hast, ist schlichtweg gelogen! Erst gestern habe ich mich gehäutet. Und warum sollte eine Schlange ihre Haut abwerfen, wenn sie eigentlich gar nicht mehr altern kann? Du hast mich betrogen, Barakon. Und jetzt, wo ich das erkannt habe, fordere ich dich auf, deinen Betrug wieder gut zu machen…“
Der Affenkönig schwieg. Es war ein Fehler, die Schlange zu unterschätzen, dachte er. Natürlich musste sie früher oder später erkennen, dass er ihr über die geheimnisvollen Kräfte der süßen Früchte Märchen erzählt hatte. Von wegen ewige Jugend, dachte Barakon, Blähungen sind das einzige, was die Wunderfrüchte herbeizauberten. Und der König hatte Mühe, sein Grinsen vor Mera zu verbergen.
Mera merkte, dass den Dschungelherrscher irgendetwas belustigte und dass seine schlechte Laune nur gespielt war. Sie zögerte nicht, schwerere Geschütze aufzufahren.
„Ich glaube, liebster Barakon,“ sagte Mera, und ihre Stimme hatte plötzlich etwas Schneidendes, ja fast Bedrohliches, „ich glaube, ich muss noch ein wenig deutlicher werden. Wenn du mir nicht einen klitzekleinen Wunsch erfüllst, dann könnte es glatt passieren, dass du von einer Sekunde auf die andere im Regen sitzt.“
„Was meinst du damit, Schlange?“, fragte Barakon argwöhnisch, „was willst du damit andeuten?“ „Nun ja, mein Bester,“ und Meras Stimme war jetzt so süß wie Himbeersirup, „ich meine ja nur, dass der Zauber, den ich über die Regenschirme verhängt habe, nicht ewig wirken muss.“
„Sag mir, was du willst, Mera – sag es mir einfach.“ Zorn und Ungeduld klangen in Barakons Stimme mit. Doch als er Meras Antwort hörte, traute er seinen Ohren nicht: „Ich will, dass du mir ein kuscheliges Baumhaus bauen lässt“, sagte Mera, „ein gemütliches Plätzchen, wo ich ich mich zurückziehen kann, wenn mir das Gelärme von euch Affenbande auf die Nerven geht und ich ein wenig Ruhe und Erholung vom Urwaldstress brauche. Und dieses Haus soll in der Krone des riesigen Mammutbaumes errichtet werden, so hoch, wie es überhaupt nur möglich ist.“
„Niemals,“ schrie der König des Regenwaldes, als er erkannt hatte, dass die Schlange keineswegs scherzte, „niemals werde ich dir erlauben, auf den heiligen Mammutbaum zu kriechen.“ Und Barakon richtete sich in seiner Hängematte auf, so dass diese bedrohlich zu schaukeln begann. „Niemand außer dem König des Dschungels ist es erlaubt, auf den heiligen Baum klettern. So war es schon immer – und so wird es immer sein.“ „Außerdem“, fuhr Barakon nach einer kleinen Pause fort, „außerdem befindet sich die Krone des Mammutbaumes weit über dem Schirmdach. Bei diesem Regen würdest du dir da oben nur einen Schnupfen holen“
„Das lass mal meine Sorge sein“, erwidert die Schlange spitz. Dann schwieg sie. Sie wollte Barakon die Gelegenheit geben, sich ein wenig zu beruhigen und die möglichen Folgen zu bedenken, die eine Ablehnung ihres Wunsches nach sich ziehen würde. Sie wusste, dass der bequeme, verwöhnte Affenkönig wenig Lust verspürte, auf den Dienst der Regenschirme zu verzichten. Schließlich standen die Schirme ja unter ihrem Kommando, sie verfügte über die Zauberkraft, nicht dieser eingebildete, aufgeblasene Affe.
Barakon wusste, dass es keinen Ausweg gab. Die Vorstellung, die Schirme könnten auf und davon fliegen und die Sintflut bräche wieder über sein Reich herein, erschreckte ihn zutiefst. Beim Gedanken an ein nasses Fell musste er unwillkürlich niesen.
„Na gut, Schlange“, sagte der Affenkönig, und seine Stimme war so kalt, dass Mera eine Gänsehaut bekam. „Du sollst deinen Willen haben. Ich werde sofort veranlassen, mit den Bauarbeiten zu beginnen. Aber eines musst du mir versprechen. Deine Regenschirme sollen ihren schützenden Dienst verrichten, solange ich lebe. Und wenn nicht, wenn dein Zauber versagt oder du meinst, mich hereinlegen zu können, dann, dann, dann …“ „Was dann, Barakon“, säuselte Mera, in der wohltuenden Gewissheit, dem dummen Affenkönig überlegen zu sein und ihr Ziel erreicht zu haben. „Dann wirst du es bitter bereuen!“
Mera tat so, als habe sie Barakons Drohung stark beeindruckt, und schlängelte um den Palmenstamm herum, als sei sie völlig aufgeregt. „Keine Sorge, Affenkönig, “ sagte sie, „auf meinen Zauber ist Verlass. Wenn ich erst einmal in meinen gemütlichen Pavillon hoch oben im Mammutbaum kuschle und den Papageien beim Nestbauen zuschaue, brauchst du dir nie mehr Sorgen über Regengüsse zu machen. Halte du nur dein Versprechen, dann halte ich meins.“
„Einverstanden, Schlange, so soll es sein“, antwortete Barakon. „Doch jetzt will ich dich nicht mehr sehen.“ Mit einer Gewandtheit, die ihm Mera nicht zugetraut hatte, sprang der Affenkönig aus der Hängematte, griff nach einer Liane, schwang zum dicksten Ast des benachbarten Feigenbaums, sauste die Gummiblätter-Rutsche herunter, die er erst vor wenigen Tagen hatte bauen lassen, und landete sicher und bequem im federweichen Orchideenblüten-Haufen: Das Urwald-Erdgeschoss hatte ihn wieder!
„Bringt mir Bananenschnaps, aber sofort“, hörte ihn die Schlange wütend brüllen, und sie war so zufrieden mit sich und der Welt, wie schon lange nicht mehr.
Picknick mit Überraschung
Alle waren gekommen: Nicht unbedingt, weil Roderik ihnen versprochen hatte, es werde gegrillte Blutegel mit Senfsauce geben, was für jeden Wolkenreiher ein wahres Festessen war. Doch als Roderik mit leiser Stimme und leuchtenden Augen von einem Geheimnis sprach, das er nicht länger für sich behalten könne, und dass er darauf brenne, dieses süße Geheimnis mit seinen besten Freunden zu teilen, hatten es seine Kumpanen auf einmal furchtbar eilig, ihm zu versichern, wie gern sie seine Einladung annehmen würden. „Selbstverständlich kommen wir, was denkst denn du.“ „Gar keine Frage, mein Freund!“ „Haben wir dir jemals einen Korb gegeben, Roderik?“ „Meinst du, wir lassen dich allein die vielen Blutegel verputzen, mein Bester?“
Natürlich freuten sie sich auf ein üppiges Festmahl. Doch noch mehr freuten sie sich darauf, geheimnisvolle Neuigkeiten zu erfahren. Denn wenn Wolkenreiher eine große Schwäche hatten, von ihrer ewigen Fresslust einmal abgesehen, dann war es ihre unglaubliche, unübertreffliche Neugier. Und so fieberte jeder dem Augenblick entgegen, wo Roderik die Katze aus dem Sack lassen würde.
Wie immer, wenn sich die Wolkenreiher zu einem Picknick trafen, hatten sie auch dieses Mal ein besonders gemütliches Plätzchen für ihren Schmaus gewählt. Unter der alten, knorrigen Weide im dichten, weichen Ufergras ließ es sich aushalten, doch weder dem idyllischen Ort noch den köstlichen Speisen galt heute die besondere Aufmerksamkeit der Freunde: Noch nie hatten sie ihre gegrillten Egel so schnell heruntergeschlungen. Und noch nie waren die geschwätzigen Reiher so schweigsam beim Essen gewesen. Keiner konnte es abwarten, dass Roderik endlich seinen Schnabel aufmachte. Jeder grübelte darüber nach, was das für ein Geheimnis sein könnte.
„Jetzt red' schon, Roderik“, brach Henrik, Roderiks bester Freund, endlich das Schweigen. „Los, erzähl – und spann uns nicht länger auf die Folter. Schließlich sind alle längst fertig mit Essen.“
Doch der Gastgeber tat so, als habe er gar nicht zugehört, und schenkte allen noch einmal in aller Seelenruhe Karpfenwein nach. Dann wartete er ein paar endlose Minuten, bis die Abenddämmerung einsetzte, und räusperte sich wichtigtuerisch. „Hmh, ehem, mmh – nun gut, liebe Freunde. Wenn keiner mehr Hunger hat, dann will ich mal loslegen. Ja, womit fange ich denn am besten an?“ „Am besten, du fängst mit dem Anfang an“, meinte Frederik, der jüngste und frechste unter ihnen, „und kommst dann ganz schnell zum Schluss.“ Normalerweise wäre ihm angesichts einer solchen Dreistigkeit einer der älteren Reiher in die Parade gefahren, doch diesmal erntete Frederiks Bemerkung nur zustimmendes Kopfnicken.
„Na gut“, sagte Roderik, „ich versteh schon. Also Freunde: Was würdet ihr davon halten, wenn wir in Zukunft jeden Sonntag mit zehn Körben voll der leckersten Muschelküchlein beliefert würden, natürlich immer ganz frisch gebacken und besonders fein gewürzt. Ich wiederhole: jeden Sonnntag. Die köstlichsten Muschelküchlein, die ihr euch vorstellen könnt. Und soviel davon, dass eure Bäuche so dick und rund werden wie die stattlichsten Halloween-Kürbisse. Na, was sagt ihr dazu?“ Erwartungsvoll lächelnd schaute Roderik in die Runde.
Die Wolkenreiher konnten erst einmal gar nichts sagen. So unglaublich klang das, was Roderik gerade erzählt hatte. Mit offenen Schnäbeln starrten sie ihren Freund an, als sei er der Geist des Gänsegeiers höchstpersönlich.
Tomrik war der Erste, der seine Fassung zurück erlangte. „Ich habe das Gefühl, lieber Roderik, du willst uns veralbern“, sagte er mit schneidender Stimme und schaute finster drein. „Es war wirklich ein netter Zug von dir, uns zum Essen einzuladen, keine Frage, und wir sind dir alle auch sehr dankbar dafür: Doch auf diesen schlechten Scherz hättest du ruhig verzichten können.“ „Ja das hättest du wirklich“, grummelte Ruprik, der Älteste in der Runde.
„Um Himmels willen, liebe, liebe Freunde“, stotterte Roderik aufgeregt. „Das ist kein Scherz, Ehrenwort. Meint ihr etwa, ich würde euch eine solche Lügengeschichte auftischen?“
Die Wolkenreiher machten große Augen. „Ja wenn das wirklich stimmen sollte“, sagte Henrik, „das mit den Muschelküchlein, meine ich, das wäre natürlich fantastisch. Aber wer sollte uns jeden Sonntag so etwas Leckeres bringen? Und warum sollte er das tun?“
Jetzt war Roderik wieder die Ruhe selbst. „Das sind zwei sehr gute Fragen, Henrik“, lobte er wie ein Schullehrer. „Jetzt ist es wirklich an der Zeit, euch die ganze Geschichte zu erzählen. Also spitzt eure Ohren, Kollegen: Ich kenne da jemanden, der würde uns – als Gegenleistung für einen klitzekleinen Gefallen – dieses sonntägliche Vergnügen bereiten. Nur eine winzige Gefälligkeit von uns, gar nicht der Rede wert, und wir werden an jedem Sonntag besser speisen als der König des Dschungels an seinem Geburtstag.“
Die Wolkenreiher waren beeindruckt. Nur Frederik traute der Sache noch nicht so ganz. „Wer ist denn dieser Geheimnisvolle, der uns derart verwöhnen will? Und wie müssen wir uns diesen klitzekleinen Gefallen überhaupt vorstellen, von dem da die Rede ist?“ „Ja genau, Roderik“, meinte Henrik. „Was ist es, das wir tun müssen, um ins Paradies zu gelangen?“
Roderik war klar, dass er jetzt nicht mehr länger um den heißen Brei herumreden konnte. „Die Idee mit den Muschelküchkein stammt vom kleinen Krokodil, einer alten Freundin von mir“, begann er behutsam und so ruhig wie möglich. „Tja, und was den Gefallen angeht, nun ja, da brauchen wir eigentlich nur wieder mal gemeinsam loszufliegen – und äh, für ein kleines Gewitter zu sorgen – wie in den guten alten Zeiten. Das ist schon alles!“
Die Wolkenreiher schauten sich zunächst völlig verdutzt an – und brachen dann in schallendes Gelächter aus. Sie lachten und lachten, bis sie keine Luft mehr bekamen. „Ein kleines Gewitter“, prustete Tomrik, „nur ein kleines Gewitter.“ Und als er sich ein wenig gefasst hatte - seine Augen blitzten immer noch vor Vergnügen, meinte er: „Weißt du eigentlich, Roderik, wie lange das her ist, dass wir das letzte Mal auf Wolkenfang gegangen sind? Und solltest du wirklich vergessen haben, was für ein grandioser Fehlschlag dieses Unternehmen war? Kannst du dich wirklich nicht erinnern, dass wir uns damals geschworen haben, nie wieder aufzusteigen, um irgendwelche dunkle Regenwolken vor uns herzutreiben? “
Roderik räusperte sich nervös. „Sachte, sachte, mein Freund. Natürlich erinnere ich mich. Aber damals hatten wir auch eine regelrechte Pechsträhne. Außerdem war mindestens die Hälfte der Truppe nicht ganz bei der Sache. Und warst du es nicht, Tomrik, der bereits nach wenigen Minuten schlapp gemacht hat, weil er kurz vor dem Start unbedingt noch eine fünffache Portion geräucherter Sardinen in sich hineinstopfen musste?“
Tomrik schaute beschämt zu Boden. „Und überhaupt, verehrte Flugkameraden,“ fuhr Roderik fort, „ wer sagt denn eigentlich, dass wir alles verlernt haben. Wir müssen nur mit dem richtigen Selbstbewusstsein an die Sache rangehen und an uns glauben. Außerdem ist es an der Zeit, dass wir etwas unternehmen, um unseren ruinierten Ruf wiederherzustellen. Ihr wisst genau, dass alle Tiere des Graslandes und des Regenwaldes seit der verpatzten Aktion nur noch über uns spotten. ‘Die-aus-den-Wolken-fallen-Reiher‘ nennen uns die Affen. Eine Schande ist das! Damit soll endlich Schluss sein!. Und wer jetzt noch Zweifel hat,“– im hellen Licht des soeben aufgegangenen Mondes ließ Roderik seinen Blick bedeutungsvoll in die Runde schweifen – „wer jetzt noch denkt, das ist alles nicht zu schaffen, der sollte einfach nur an die köstlichen Muschelküchlein denken, dann klappt das schon ganz von allein.“
An den Gesichtsausdrücken seiner Freunde merkte Roderik, dass er er sie fast schon überzeugt hatte. Doch da meldete sich Frederik zu Wort, ausgerechnet Frederik: „Seit du das erste Mal von Muschelküchlein gesprochen hast, denke ich ununterbrochen an die leckeren Biester, werter Roderik. Doch bedauerlicherweise ist mir noch keins von den Dingern in den Schnabel geflogen. Aber dafür sollen wir ja jetzt wohl fliegen. Um von irgendwoher düstere, ungemütliche Wolken wer weiß wohin zu bringen. Und uns dabei eiskalte Füße und klatschnasse Federn zu holen, vorausgesetzt, es geht alles gut, und niemand stürzt ab oder wird von einem plötzlichen Sturmwind so weit fortgetrieben, dass er nie wieder nach Hause zurückfindet.“
„Frederik hat Recht“, sagte Ruprik mit seiner tiefen Stimme, „wenn wir wirklich noch einmal in die Wolken fliegen wollen, sollten wir uns über die Risiken im Klaren sein. Deshalb müssen wir auch wissen, was hinter der ganzen Angelegenheit eigentlich steckt, Muschelküchlein hin und Muschelküchlein her. Warum will das kleine Krokodil, dass wir die Wettermacher spielen?“
Roderik sah ein, dass seine Freunde jetzt die ganze Geschichte erfahren mussten. „Gleich werdet ihr Antworten auf eure Fragen erhalten, Kollegen, nur noch einen Augenblick Geduld“, sagte er. „Denn ich denke, dass es besser ist, wenn ihr alles aus erster Hand erfahrt. Und deshalb werde ich jetzt Carla rufen, das kleine Krokodil.“
Aber Carla brauchte gar nicht erst gerufen zu werden. Die ganze Zeit, während die Wolkenreiher im Ufergras hockten, speisten, tranken und über die Muschelküchlein debattierten, hatte sich das kleine Krokodil hinter dem Stamm eines umgestürzten Affenbrotbaumes versteckt: nur ein paar Meter vom Picknickplatz entfernt. Natürlich hatte es jedes Wort verstanden. Und noch bevor Roderik nach ihr rufen konnte, sprang Carla aus ihrem Versteck heraus – und in den Kreis der Reiher hinein.
Die klapperten vor Überraschung mit ihren Schnäbeln und riefen „Ooh“ und „Aah“ – und Bollerik, der Ängstlichste von ihnen, flatterte sogar einen Meter in die Luft, als er im hellen Mondlicht erkannte, dass es sich um ein Krokodil handelte, das da wie aus heiterem Himmel in ihrer Mitte aufgetaucht war. Denn Krokodile waren Bollerik nicht ganz geheuer, und er hatte einen Mordsrespekt vor ihnen.
Natürlich hattte sich die Aufregung schnell gelegt. Denn jeder der versammelten Wolkenreiher war begierig darauf zu erfahren, was es mit Carlas Geschichte auf sich hatte. Und schon bald lauschten sie gespannt den Worten des kleinen Krokodils. Carlas erzählte ihnen alles ganz genau, ohne auch nur die winzigste Kleinigkeit auszulassen. Sie berichtete von den verschwundenen Regenschirmen, von ihrem Besuch bei Nadja, und natürlich von ihrer Begegnung mit dem Kaffernbüffel.
Jetzt wussten die Wolkenreiher bestens Bescheid über die Zauberkräfte von Mera, der Schlange, und ihre Abmachung mit Barakon, dem Affenkönig. Endlich verstanden sie auch, warum sie noch einmal die Regenmacher spielen sollten.
Natürlich war es jedem der Reiher völlig egal, ob Carla oder irgendein anderes Krokodil den Rest des Lebens darauf verzichten musste, Schirme zu verspeisen. Auch das Wohlergehen von Barakon oder der seltsamen Schlange interessierte sie nicht die Bohne. Doch das alles behielten die Reiher selbstverständlich für sich. Schließlich hatten sie ja einen triftigen Grund, dem kleinen Krokodil zu helfen: Sie wollten unbedingt künftig sonntags so viele himmlische Muschelküchlein in sich hineinstopfen, wie in ihren Bäuchen Platz fanden.
Als Carla mit ihrer Geschichte zu Ende war, fragte Roderik seine Freunde, ob sie sich noch ein wenig beraten wollten, jetzt, wo sie alles aus erster Hand erfahren hatten. Doch Ruprik, der Älteste, winkte ungeduldig ab und rief „Nein, nein, wir wollen gleich abstimmen. Wer außer mir sieht es noch als seine Pflicht an, dem armen Krokodil zu helfen?“ Und eh Roderik sich versah, hatte jeder Wolkenreiher die Spitze seines langen Schnabels gen Himmel gereckt - und somit unmissverständlich zum Ausdruck gebracht: Ich bin dabei!
Wenig später hockte jeder Wolkenreiher auf seinem privaten Schlafast in einem der alten Weidenbäume. Doch obwohl sie alle nach dem ungewöhnlich langen Abend, dem reichlichen Essen und dem vielen Karpfenwein hundemüde waren, gelang es keinem von ihnen, gleich einzuschlafen. Jeder dachte an das bevorstehende Abenteuer – viele mit einem mulmigen Gefühl im Magen, einige erfüllt von Unruhe, Abenteuerlust und Tatendrang. Nur Tomrik hinderte der Gedanke an gigantische, frischgebackene Muschelküchlein nicht daran, ins Reich der Träume zu reisen.
Erst als der Nachtwind einsetzte, sanft übers weite Grasland wehte und Äste und Zweige der Flussweiden in beruhigende Schwingungen und Schaukelbewegungen versetzte, fielen die Reiher in einen leichten Schlummer. Und Tomrik träumte von einem schrecklichen Unwetter, in dem rabenschwarze Wolkentürme Muscheln statt Hagelkörner ausspuckten.
Das Abenteuer beginnt
Kurz nach Tagesanbruch saßen alle Wolkenreiher abreisebereit auf einem ausladenden Ast der größten Pappel – alle, bis auf Roderik. Der hockte gemütlich im vom Morgentau noch nassen Ufergras und ließ sich seine Frühstücksschnecken schmecken, so als habe er alle Zeit der Welt.
Ruprik, der ungeduldig darauf wartete, das Zeichen zum Start geben zu können, war bereits ein wenig ärgerlich. „Wir wollen endlich losfliegen, Roderik“, rief er. „Kannst du nicht pünktlich frühstücken, wie alle anderen?“
Genüsslich schlang Roderik erst eine weiteren Nacktschnecke herunter, ehe er antwortete. „Vor einem solchen Abenteuer habe ich halt einen besonders großen Appetit. Außerdem kann ich sowieso nicht mit euch fliegen.“
Die Reiher glotzten verdutzt vom Baum herab. „Warum denn nicht“, fragte Ruprik argwöhnisch, und Frederik meinte frech: „Du hast wohl Angst, Kollege?“
„Ich und Angst“, rief Roderik und bemühte sich dabei, besonders entrüstet zu klingen. „Aber wo denkt ihr hin! Nein, nein. Ich habe mir einfach heute morgen beim Aufstehen einen Flügel verrenkt. An Fliegen ist damit überhaupt nicht zu denken.“
„Dann kommst du überhaupt nicht mit?“ rief Bollerik mit seiner kreischenden Stimme vom höchsten Ast herunter, so dass ein Junikäfer unsanft aus dem Schlaf gerissen wurde, den Halt auf der Baumrinde verlor und ins Gras purzelte.
„Mein lieber Freund“, antwortete Roderik, „so wie es aussieht, müsst ihr wohl auf euren besten Wolkenreiher verzichten. Es sei denn, es sei denn… Ja, vielleicht gibt es doch noch eine Möglichkeit. Mir ist da gerade eine Idee gekommen. Ich will mal sehen, was sich da machen lässt – und hören, was Carla dazu sagt …“
Erstaunlich schnell war Roderik auf den Beinen und stakste durchs hohe Gras zum Flussufer, bis er die kleine, sumpfige Landzunge erreichte, die Carla gestern Abend als Schlafplatz ausgewählt hatte.
Eine Stunde später waren die Wolkenreiher bereits viele Kilometer von ihren Schlafbäumen entfernt. Der leichte Rückenwind ließ sie schnell vorankommen, und das Fliegen war für alle das reinste Vergnügen: für alle, bis auf einen: Denn Roderik flog gar nicht mit. Stolz stand er auf dem Rücken des kleinen Krokodils, wie ein Kapitän auf der Kommandobrücke seines Schiffs – und seine Haubenfedern flatterten im Fahrtwind. Auch wenn es ihm Mühe bereitete, die Balance zu halten – einmal wäre er fast über Bord gegangen – genoss Roderik es, den Weg übers Wasser gewählt zu haben.
Obwohl das kleine Krokodil ein ausgezeichneter Schwimmer war und es das Federgewicht von Roderik auf seinem Rücken kaum spürte, konnte es mit der Reisegeschwindigkeit der Wolkenreiher nicht mithalten. Durch die Lüfte zu segeln war halt leichter als im Wasser zu schwimmen, noch dazu, wenn man über so große Flügel verfügte, wie die Reiher sie besaßen. Außerdem musste Carla häufig das Tempo drosseln. Zum Beispiel, wenn plötzlich gefährliche Stromschnellen auftauchten oder im Wasser treibende Äste den Weg versperrten.
Einmal mussten die beiden Freunde sogar einen Umweg über Land machen: Den tosenden Wasserfall hinunterzusausen hielt nicht nur Roderik für ein viel zu riskantes Unternehmen. Allerdings blieb Carla eine Kletterpartie nicht erspart. Vorsichtig setzte das kleine Krokodil Fuß vor Fuß und krabbelte im Schneckentempo die Felsen am Rand des Wasserfalls hinab. Ab und zu benutzte es seinen kräftigen Schwanz, um sich abzustützen oder die Balance zu halten.
Auf einem glatten Felsblock rutschte Carla aus und schlitterte zwei, drei Meter, doch gottseidank konnte sie sich mit ihrem Schwanz gerade noch rechtzeitig an der Wurzel eines Gummibaumes festhalten: Einen Meter weiter gähnte der Abgrund, in den sich die Wassermassen des großen Flusses mit unbeschreiblichem Getöse hineinstürzen.
Während Carlas gefährlicher Kletterpartie flatterte Roderik die ganze Zeit geschäftig über Carlas Kopf hin und her und krähte Warnungen. „Aufpassen, dort ist eine Wurzel. Vorsicht, da ist eine spitzer Felsvorsprung! Achtung, gleich wird's ziemlich steil.“
Natürlich konnte Roderik so gut fliegen wie eh und je. Die Sache mit dem beim Aufstehen verrenkten Flügel hatte das Schlitzohr nur vorgetäuscht, um nicht mitfliegen zu müssen. Mittlerweile hatte Roderik es allerdings längst bereut, nicht mit den anderen Reiher losgezogen zu sein. Denn die Reise auf dem Fluss war schwieriger und weniger bequem als erwartet, und Carla und er kamen auch längst nicht so schnell voran wie erhofft. Nicht nur, dass an jeder Flussbiegung dicke Nilpferde auftauchten, die wissen wollten, wohin die Reise ginge oder ihnen spöttische Bemerkungen zuriefen, wie „Ist für mich auch noch Platz?“ oder „Seid ihr beiden auf Hochzeitsreise?“ Nein, auch die zahlreichen Hindernisse, wie von Bäumen herabhängende Äste oder kleine, plötzlich auftauchende Felsinseln, verzögerten die Fahrt und sorgten für Gefahr.
Als Carla die Klettertour endlich überstanden hatte und am Fuß des Wasserfalls heil angekommen war, schimpfte sie mit ihrem gefiederten Freund. „Roderik, du hast mich ganz verrückt gemacht mit deinen Anweisungen und Warnungen. Ein Wunder, dass ich den Abstieg überlebt habe.“ „Aber Carla“, widersprach Roderik, „du tust mir unrecht. Ohne mich hättest du es nie geschafft. Oder willst du etwa behaupten, Krokodile seien die geborenen Bergsteiger?“
Carla schwieg, denn sie wollte keinen Streit mit ihrem Weggefährten. Schließlich mussten sie gemeinsam noch eine gewaltige Strecke zurücklegen, bevor sie den vereinbarten Treffpunkt erreichten. Und sie hatte nur eine ungefähre Ahnung, wie lange sie noch bis zur Palmeninsel unterwegs sein würden. „Schon gut, Roderik“, meinte Carla, „bis jetzt haben wir ja alles gut überstanden. Aber lass uns jetzt weiter schwimmen, solange ich noch nicht zu müde bin.“
Die ungewohnte Kletterei hatte das kleine Krokodil viel Kraft gekostet, aber das behielt es lieber für sich. Sein Magen knurrte, und sehnsüchtig dachte Carla an einen stattlichen Sonnenschirm mit Nussbaumholzgriff. Den hätte sie jetzt auf der Stelle verschlingen können, und als Nachtisch noch einen kleinen, knusprigen Taschenschirm dazu.
Carla ließ sich ins Wasser gleiten, das ihr jetzt viel dunkler und auch etwas kühler erschien als oberhalb des Wasserfalls. Die Bäume, die wie eine riesige grüne Wand das Flussufer säumten, waren ihr alles andere als vertraut, mit ihren langen, spitzen Blättern und den unzähligen Luftwurzeln, die oft so lang waren, dass sie ins Wasser hingen. Irgendwie hatte Carla das Gefühl, als seien sie bereits im Reich des Affenkönigs angelangt. Wie zur Bestätigung ihrer Vermutung ertönte tief aus dem Regenwald ein Gekreische und Gebrüll, wie sie es noch nie zuvor gehört hatte.
„Los, Roderik“, rief das kleine Krokodil, „sieh zu, dass du dich auf meinen Rücken setzt. Sonst musst du von deinen Flügeln Gebrauch machen“. Das ließ sich der Wolkenreiher nicht zweimal sagen. Denn auch ihn hatte eine seltsame Müdigkeit befallen. Und ein merkwürdige Stimmung, die er nicht so recht einordnen konnte.
Die Palmeninsel
Noch folgten die Reiher dem Lauf des großen Flusses, dessen Wasser smaragdgrün in der Vormittagssonne leuchtete. Doch bis zur Palmeninsel, die als Treffpunkt mit Roderik und dem Krokodil vereinbart war, dürfte es eigentlich nicht mehr weit sein, dachte Ruprik.
Diese Insel konnten sie gar nicht verfehlen. Mitten im Fluss, dort, wo er besonders breit war, ragte eine kleine, felsige Insel aus den Fluten, in deren Mitte drei stattliche Palmen thronten. So hatte Carla es ihm zumindest erzählt.
Auf der Insel würden die Wolkenreiher dann, nach einer entsprechenden Rast, den Fluss verlassen und eine andere Route einschlagen: Quer über den dichtesten Urwald in Richtung der Schwarzen Berge, dorthin, wo die Gipfel von den dicksten und dunkelsten Wolken eingehüllt waren, die man sich überhaupt nur vorstellen konnte.
Ruprik bildete den Kopf der Reiher-Formation: Als Ältester und Erfahrenster unter ihnen stand ihm dieses Recht zu. Keiner seiner Kumpanen war neidisch auf seinen Job. Denn Ruprik allein trug die Verantwortung darüber, ob der Kurs stimmte, oder ob sie sich verflogen hatten. Während er auf den Weg achten und mögliche Gefahren rechtzeitig erkennen musste, konnten die anderen ungestört den Flug und die Landschaft genießen oder während der Reise ein kleines Nickerchen halten. Für Wolkenreiher war es nämlich überhaupt kein Problem, während des gleichmäßigen Fluges ein wenig vor sich hin zu dösen: Die Flügel verrichteten ihre Arbeit schließlich ganz von allein. Und wenn der richtige Wind wehte, brauchten sie ihre Schwingen oft minutenlang gar nicht bewegen. Die Reiher segelten dann einfach so durch die Lüfte.
Dass sich allerdings der eine oder andere Wolkenreiher während eines solchen Schlummer-Flugs unbemerkt von seinen Kollegen entfernt hatte, war schon vorgekommen. Nur dank Rupriks Aufmerksamkeit hatte der Ausreißer wieder Anschluss an die Gruppe gefunden.
Jedes Mal schwor sich Ruprik, die Schlafmütze beim nächsten Mal einfach dorthin fliegen zu lassen, wohin der Wind sie trieb. Doch wenn dann wieder mal einer der Reiher abdriftete, brachte Ruprik es doch nicht übers Herz, ihm das anzutun. Und so flog er dem vom Kurs Abgekommenen fluchend hinterher, um ihn aus den Träumen zu reißen und ihn zur Truppe zurückzuholen. Natürlich mussten die anderen Wolkenreiher inzwischen eine Warteschleife nach der anderen drehen – etwas, das sie überhaupt nicht leiden konnten. Und so wurde der Rückkehrer mit wüsten Beschimpfungen und den schrecklichsten Verwünschungen begrüßt.
Am späten Nachmittag hatten die Reiher ihr Ziel erreicht. Es war Frederik, der als erster die Palmeninsel entdeckte. Frederik war nicht nur der jüngste von ihnen, sondern hatte auch die schärfsten Augen. „Ich seh‘ sie, ich seh‘ sie“, rief er aufgeregt, und natürlich konnte sich der Frechdachs einen Scherz nicht verkneifen: „Bald können wir soviel Kokosnüsse essen, wie wir wollen, Freunde. Und Datteln noch dazu. Schaut euch nur diese riesigen Palmen an.“ Natürlich wusste Frederik ganz genau, dass Wolkenreiher keine Kokosnüsse mochten, und Datteln erst recht nicht.“
„Halt deinen dummen Schnabel, Frederik“, meinte Henrik, „Von mir aus kannst du dir ja soviel Kokosnüsse in deinen dürren Hals stopfen, bis du keine Luft mehr bekommst. Ich schnappe mit lieber einen leckeren, frischen Kokosfisch. Und ich hab so eine Ahnung, als wimmele es rund um diese komische Insel nur so von stattlichen Kokosfischen.“
Henrik sollte Recht behalten. Die Kokosfische schienen nur darauf gewartet zu haben, von den Wolkenreihern verspeist zu werden. Und während die Vögel vergnügt im seichten Uferwasser der Palmeninsel herumstolzierten und sich einen Fisch nach dem anderen schmecken ließen, hockte Frederik schmollend und mit eingezogenem Kopf in der größten Dattelpalme.
Ruprik hatte ihm verboten, mit den anderen fischen zu gehen. Da ihn der Hunger plagte, pickte er sich aus lauter Verzweiflung eine Dattel vom Ast. Doch beim Versuch, sie herunterzuschlucken, blieb sie mitten in seinem Schnabel kleben. Verzweifelt bemühte sich Frederik, die Frucht wieder aus dem Schnabel herauszubekommen: vergeblich. Da hatte er eine Idee: Er flatterte vom Baum herab und landete direkt im Wasser, an einer Stelle in Ufernähe, wo er gerade noch stehen konnte. Dann tauchte er seinen Kopf ins Wasser, sperrte den Schnabel auf, so weit er nur konnte, und schüttelte den Kopf mit wilden Bewegungen hin und her.
Während sich ihr Kollege im Wasser abplagte, saßen die anderen Reiher längst mit prallen Bäuchen im Ufergras und genossen die milde Abendsonne. Mehr noch aber freuten sie sich über die Vorstellung, die Frederik ihnen bot. Ihr Lachen und Feixen schallte weit in den Dschungel hinein.
Schadenfroh wie Wolkenreiher nun mal sind, sparten sie nicht mit unpassenden Kommentaren und schlechten Ratschlägen für ihren Freund. „Versuch es doch mal mit einem Zahnstocher, Frederik“, rief Tomrik, und verschluckte sich fast vor Lachen. Und Bollerik posaunte: „Du musst den Kopf noch tiefer ins Wasser stecken, mein Lieber, tiefer, viel tiefer. Am besten bis in den schlammigen Grund hinein. Vielleicht mögen ja die Krebse gern Datteln.“ Vor Vergnügen klapperten die Reiher so laut mit ihren Schnäbeln, dass es sich anhörte wie das Prasseln von Hagelkörnern auf ein Wellblechdach.
Es dauerte lange, bis Frederik die Dattel loswurde. Als er endlich wieder frei durchatmen konnte, war ihm vom vielen Schütteln und Tauchen ganz schwindelig.
Es war ein gelungener Abend für die Reiher, für alle, bis auf Frederik. Doch da Wolkenreiher nicht nachtragend waren, währte dessen Zorn auf die Kollegen nicht lange. Und bevor sich jeder einen Schlafast in einer der Inselpalmen gesucht hatte, war die Sache längst vergessen.
Die meisten Reiher waren mit ihren Gedanken ohnehin ganz woanders. Einige dachten an den bevorstehenden Einsatz und fragten sich, ob die in Aussicht stehende Belohnung das Risiko überhaupt rechtfertigte. Andere spielten mit dem Gedanken, später noch einmal zur Palmeninsel zurückzukehren, um sich den Bauch wieder mit köstlichen Kokosfischen voll zu schlagen. Nur Henrik dachte an Roderik, seinen besten Freund: Ob Roderik und das Krokodil es schaffen würden, die Insel zu erreichen? Wie lange die beiden wohl noch unterwegs sein würden? Doch bevor er sich ausmalen konnte, was ihnen alles auf der Reise Schreckliches passieren könnte, war er bereits in einen tiefen Schlaf gesunken.
Gefährliche Flussfahrt
Die Dämmerung setzte ein. Carla wusste, dass es bereits in wenigen Minuten vollständig dunkel sein würde. Es erschien ihr zu viel riskant, jetzt noch weiter zu schwimmen. Sie schlug Roderik vor, sich für die Nacht ein passendes Plätzchen am Flussufer zu suchen. Natürlich war Roderik einverstanden, denn längst war er so müde, dass er Mühe hatte, die Augen aufzuhalten.
Und so war es Carla, die eine geeignete Stelle zum Übernachten entdeckte. Bevor die Nacht hereinbrach, hatten die Freunde es sich unter dem dichten Blätterdach eines Gummibaum-Wäldchens gemütlich gemacht. Das kleine Krokodil schlief sofort ein. Nur Roderik war es viel zu unheimlich, als dass er schlafen konnte. Kein Mond erhellte die Nacht, und die bedrohlich klingenden Stimmen von unbekannten Tieren, die von überall aus dem Dschungel zu kommen schienen, erfüllten ihn mit Angst. Jedes Mal, wenn es in den Bäumen über ihm knackte oder raschelte, zuckte er zusammen.
Doch allmählich gewöhnte sich der Wolkenreiher an die vielen geheimnisvollen Geräusche des nächtlichen Urwalds. Und schließlich siegte die Müdigkeit über seine Unruhe und Angst.
Am nächsten Morgen fühlten sich die Gefährten nur wenig erholt. Roderik hatte von riesigen, fledermausähnlichen Geschöpfen geträumt, die ihn aus dem Dschungel vertrieben und ihn auch noch verfolgten, als er in den Höhlen der Schwarzen Berge Zuflucht suchte. Carla war in der Nacht häufig aufgewacht, weil irgendetwas über ihren Rücken und Kopf krabbelte.
Doch die Reise musste weitergehen. Wie weiß, wie lange die Wolkenreiher am vereinbarten Treffpunkt noch auf uns warten werden, dachte Carla. Ohne Frühstück und schlecht gelaunt machten sich die Freunde auf den Weg.
Der Fluss wurde nun zunehmend schmaler, und manchmal erschienen Carla und Roderik die Uferbäume zum Greifen nah. Papageien und viele andere bunte Vögel, deren Art ihnen unbekannt war, riefen ihnen von den Bäumen aus das ein oder andere zu. Meistens wollten die neugierigen Vögel nur wissen, wohin die Reise ginge. Mit der Zeit waren es Carla und Roderik allerdings leid, jedem Fragesteller zu antworten. Immerhin hätten sie als Antwort jedes Mal eine komplette, lange Geschichte erzählen müssen. Und dafür war einfach keine Zeit.
Als besonders hartnäckig und wissbegierig erwies sich ein Beo, der sie ein gutes Stück des Weges begleitete, indem er ständig hektisch über Roderiks Kopf umherflatterte und dabei Mühe hatte, mit dem Tempo der beiden mitzuhalten.
Um ein Haar wäre der Beo sogar mit einem Ast zusammengestoßen, der dicht über dem Wasser hing. „Nun erzählt schon, erzählt“, plapperte er unaufhörlich. „Ihr schwimmt doch nicht ohne Grund gemeinsam auf diesem Fluss, noch dazu mitten in König Barakons Reich. Was habt ihr vor, wohin wollt ihr bloß, nun redet schon, erzählt mir alles, los, lasst einen armen alten Beo nicht dumm sterben…“ Und so ging das in einer Tour, bis Roderik es nicht mehr länger ertragen konnte: Er beschloss, dem Störenfried die Geschichte in Kurzform zu erzählen.
Der Beo stellte sich den Gefährten als Isidor Hopps vor und behauptete, 105 Jahre alt zu sein und jedes Tier in diesem Dschungel mit Namen zu kennen. „Und mit jedem bin ich dick befreundet“, krähte er, „sogar mit Sybille, der Giftschlange.“
Natürlich glaubten Carla und Roderik ihm kein Wort, doch das kleine Krokodil gestattete dem aufdringlichen Vogel, sich einen Moment neben Roderik auf ihren Rücken zu setzen. „Aber nur solange die Geschichte dauert“, sagte es zu ihm. „Natürlich, selbstverständlich,“ plapperte dieser, „gar keine Frage, überhaupt kein Problem. Ich bin schon so gut wie weg.“
In der Tat dauerte sein Aufenthalt auf Carlas Rücken nur kurze Zeit. Denn schon als Roderik von Carlas Vorliebe für Schirme erzählte, was ja sozusagen der Beginn der ganzen Geschichte war, musste sich der Beo vor Lachen so schütteln, dass er den Halt verlor. Fast wäre er in den Fluss gestürzt, hätte ihn nicht ein großes Seerosenblatt aufgefangen. Und als Isidor Hopps begriff, was da überhaupt geschehen war, konnte er das kleine Krokodil und ihren Begleiter nicht mehr sehen. Längst waren die beiden hinter der nächsten Flussbiegung verschwunden.
Ein starker Regen hatte eingesetzt. Die Fahrt wurde immer ungemütlicher. Der Wind peitschte übers Wasser, so dass es unangenehm in Roderiks Augen spritzte. Außerdem war sein Federkleid schon ganz durchnässt. Obwohl es schwülwarm war, begann der Reiher zu zittern.
Carla machte das widrige Wetter kaum etwas aus. Sie schwamm so, dass nur ihre Augen und Nasenlöchern aus dem Fluss ragten. Doch als die Wellen jetzt höher wurden, tauchte sie immer öfter für einen Moment ganz unter, so dass ihr Freund, der sich längst hingehockt hatte, um nicht umzufallen, halb unter Wasser geriet. Das gefiel Roderik ganz und gar nicht, und so langsam bekam er es mit der Angst zu tun.
„Lass uns an Land gehen und warten, bis das Unwetter vorbei ist“, bat er das kleine Krokodil. Doch Carla hielt das für keine gute Idee. „Hier im Urwald kann so ein Regen ewig dauern, habe ich gehört“, sagte sie, „vielleicht lässt ja wenigstens dieser schreckliche Wind bald nach. Sonst muss ich dich noch aus den Fluten retten, wenn die Brise dich von meinem Rücken pustet.“
Roderik kauerte sich ganz auf Carlas Rücken zusammen und schloss die Augen. Was blieb ihm auch anderes übrig.
Nach einer Weile besserte sich das Wetter. Es hörte auf zu regnen, und der Wind ließ deutlich nach. Das Flussbett war jetzt wieder breiter, und die Strömung nicht mehr so stark. Für Carla bedeutete das wesentlich weniger Kraftaufwand beim Schwimmen. Zum ersten Mal seit längerer Zeit glaubte sie wieder daran, noch rechtzeitig die Palmeninsel erreichen zu können. Lediglich der Hunger machte ihr zu
schaffen.
Roderik hatte das gleiche Problem. Immer, wenn in der Nähe ein Fisch aus dem Wasser sprang, musste er sich beherrschen, nicht hinterherzuhüpfen. Dass ein Reiher auf diese Weise ohnehin keine Beute machen konnte, wusste er natürlich. Und ihm war auch klar, dass er sich mit einem solchen Manöver nur unnötig in Gefahr brachte – auch wenn der Fluss jetzt so glatt war, wie ein Spiegel.
Gegen Mittag hatten sie es endlich geschafft. Schon von weitem sah Roderik die kleine Insel mit ihren hohen Palmen. „Das muss sie sein“, rief er aufgeregt, „schau doch nur, Carla“. Auf einmal war alle Müdigkeit verschwunden, und es hielt den Wolkenreiher nicht mehr auf Carlas Rücken. Ehe das kleine Krokodil überhaupt begriff, was ihr Freund meinte, war Roderik bereits in der Luft und nahm Kurs auf die Insel.
Die Wiedersehensfreude war groß. Vor allem Henrik war froh, dass er sich durchgesetzt und die anderen Reiher am Morgen dazu überredet hatte, noch bis zum Mittag zu warten. Insbesondere Bollerik hatte darauf gedrängt, sofort zurückzufliegen. „Wenn sie jetzt noch nicht aufgetaucht sind, ist ihnen unterwegs bestimmt etwas zugestoßen. Das wäre natürlich sehr bedauerlich, aber warum sollen wir dann noch länger warten“, hatte er gemeint. Henrik hatte sich über Bolleriks Worte ziemlich geärgert. „Dann wäre der ganze Flug bis hierhin ja völlig umsonst“, gab er zu bedenken. „Und außerdem: Habt ihr vergessen, wofür wir dies alles überhaupt machen? Ich sage nur ein Wort: Muschelküchlein!“
Mit diesem Zauberwort war es Henrik gelungen, seine Freunde zu überzeugen, noch ein paar Stunden auf der Insel auszuharren. „Aber nur, bis die Sonne am höchsten steht“, sagte Ruprik. „Dann kehren wir um.“
Die Wolkenreiher vereinbarten mit dem kleinen Krokodil, den restlichen Tag und die kommende Nacht noch auf der Palmeninsel zu bleiben, um sich richtig auszuruhen. „Aber zuerst müsst ihr euch ordentlich stärken“, rief Henrik zu Carla und Roderik. „Ich kenn‘ da eine Stelle im Fluss, da springen euch die Kokosfische nur so in den Schnabel.“ Roderik ließ sich das nicht zweimal sagen. Schon stolzierte er unter Rupriks Führung durch das seichte Uferwasser – und fühlte sich wie im Paradies.
Carla war viel zu müde, um sich nach etwas Essbarem umzuschauen. Außerdem zählten Kokosfische nicht gerade zu ihren Lieblingsspeisen. Und so wählte sie sich ein besonders schattiges Plätzchen aus und ließ sich in den kühlen Uferschlamm gleiten. Wenn ich ausgeschlafen habe, dachte das Krokodil mit dem besonderen Geschmack, dann suche ich mir einen knackigen, morschen, alten Ast, auf dem die Pilze wachsen. Und wenn ich den nicht finde, probiere ich einfach mal die Dattelpalmenrinde. Während sie noch überlegte, ob Dattelpalmenrinde wohl eher süß oder eher bitter schmeckte, klappten ihr die Augen zu.
Meras Baumpalast
Mera hätte es nicht besser gehen können. Wohlig räkelte sie sich in ihrem weichen Nest aus Kolibrifedern, das auf einer Art Hochsitz mitten auf dem Balkon thronte, und genoss die herrliche Aussicht. Hier oben im heiligen Mammutbaum fühlte sich die Schlange wie die Herrscherin der Welt. Bei gutem Wetter konnte sie hier, viele Meter über dem Schutzdach der Schirme, bis zu den Schwarzen Bergen schauen, die sich am Horizont majestätisch erhoben.
Gutgelaunt ließ Mera sich noch eine von den köstlichen Früchten schmecken, die wundersamerweise auf Barakons verbotenem Baum wuchsen. „Verboten“, kicherte sie, während ihr der süße Saft den Hals herunter lief, „aber nicht für mich“.
Es war bereits ein großes Vergnügen für die Schlange gewesen, den besten Baumeistern des Affenkönigs dabei zuzuschauen, wie diese hoch oben im heiligen Baum emsig wie Honigbienen herumturnten, um den Pavillon zu errichten. Auch die Tatsache, dass Mera immer wieder notwendige Verbesserungen an den Bauplänen durchsetzen musste, konnte dieses Vergnügen nicht schmälern. Schließlich sollte das Baumhaus ja so komfortabel wie möglich werden. Und was wussten diese dummen Affen schon von den Bedürfnissen einer weisen Schlange, dachte Mera.
So war die Schlange während der Arbeiten im Mammutbaum stärker mit Überwachungsaufgaben beschäftigt, als sie es erwartet hatte. Ständig musste sie die Arbeiter zurechtweisen, hier noch etwas zu ändern, und dort noch etwas anzubringen. Mal war ihr die Balkonbrüstung zu niedrig, mal erschien ihr das Rindendach nicht dicht genug. „Da scheint ja die Sonne durch die Ritzen, ihr Stümper“, giftete sie und verlangte, augenblicklich eine weitere Schicht Kokosrinde aufzutragen.
Als das Baumhaus dann endlich fertig war und der letzte Affe mit seinem Werkzeug den Mammutbaum verlassen hatte, war Mera mehr als zufrieden mit ihrem neuen Heim. Der luxuriöse Pavillon war überhaupt nicht zu vergleichen mit der winzigen, löchrigen Affenkönig-Hütte, die sich vorher an der selben Stelle in der Baumkrone befand. Meras erster Befehl an die Bauarbeiter war natürlich gewesen, die alte Hütte sofort abzureisen, um Platz für den Neubau zu schaffen.
Um ihn zu demütigen, hatte Mera den Urwald-Herrscher extra zur Einweihung des neuen Baumhauses gebeten. Nur widerwillig war Barakon der Einladung gefolgt, doch er hielt es für klüger, nicht abzusagen. Ich will die Schlange nicht unnötig verärgern, dachte Barakon. Er hoffte, dass sie jetzt, wo ihr Wunsch erfüllt war, Ruhe gab und keine weiteren Forderungen mehr stellte.
Bester Laune und äußerst redselig zeigte Mera dem Affenkönig das neue Haus im heiligen Baum. Sie wies ihn auf jede Besonderheit und Annehmlichkeit hin und geizte nicht mit Vergleichen: „Ich weiß gar nicht, Verehrtester, wie du es früher in der Bruchbude aushalten konntest. Da muss doch der Wind nur so durch die Ritzen gepfiffen haben. Und dass du da überhaupt Platz drin gehabt hast. Schließlich zählst du ja nicht gerade zu den schlanksten Geschöpfen des Urwalds.“
Mera ersparte es Barakon auch nicht, ihn auf den riesigen Balkon zu führen und von der grandiosen Aussicht zu schwärmen, so als habe Barakon von hier oben aus noch nie über sein grünes Dschungelreich geblickt und die fernen schwarzen Bergen gesehen.
Als dem Affenkönig der ganze Luxus des Pavillons offensichtlich wurde, bereute er es, gekommen zu sein. Das ist ja eher ein Schloss als eine Hütte, dachte er wütend.
Natürlich war er nicht selbst den riesigen Baum hinauf geklettert, das wäre eines Königs unwürdig gewesen. Doch die Fahrt mit dem Lianenaufzug erschien ihm viel länger als sonst. Barakon wurde den Verdacht nicht los, als ließen sich die Affen, die am Seil zogen, diesmal besonders viel Zeit. „Schneller, ihr Idioten“, rief er zornig hinunter. Doch der Vorarbeiter der Aufzug-Kolonne rief zurück, sie würden ihr Bestes geben. Da steckt bestimmt diese Schlange hinter, argwöhnte Barakon.
Während der Einweihungsfeier hatte Mera es regelrecht genossen, dem Affenkönig ihre ganze Macht unter die Nase zu reiben. „Leider, verehrter Herrscher des Dschungels“, hatte sie ihm zugesäuselt, „leider wird es nicht möglich sein, dich noch einmal hier herauf zu bitten. Aber eine so mächtige Schlange, wie ich es bin, braucht einfach den ganzen Platz dieser bescheidenen Hütte, damit sie sich so richtig entspannen und wohl fühlen kann. Ich bin sicher, das wirst du verstehen. Also, liebster König, genieße einfach noch ein paar Sekunden diese wunderbare Aussicht.“
Barakon bebte vor Zorn. Und als die Schlange ihm auch noch ein Glas Saft anbot und betonte, dieser Saft sei aus den verboten Früchten frisch gepresst worden, reichte es dem Affenkönig endgültig.
Ohne ein weiteres Wort stieg er in die Aufzuggondel und rief mit sich überschlagender Stimme in die Tiefe: „Lasst mich auf der Stelle herunter, ihr faule Bande.“ Nichts rührte sich, nur die Gondel, die der Affenkönig vollständig mit seinem massigen Körper ausfüllte, schaukelte sanft im Wind.
Barakon brüllte sich die Seele aus dem Leib: vergeblich. Nach einer Weile musste er annehmen, dass das königliche Liftpersonal entweder nicht hören wollten, oder dass sich am Fuße des Mammutbaums einfach niemand mehr aufhielt.
Dem König blieb nichts anderes übrig, als den Baum herabzuklettern: ohne fremde Hilfe, allein mit seiner Muskelkraft. Bereits nach wenigen Metern stellte er fest, dass es mit seiner Kondition nicht gerade zum Besten stand. Außerdem hatte er das unangenehme Gefühl, als schauten sämtliche Untertanen bei dieser eines Königs unwürdigen Fortbewegungsart zu.
Doch da irrte er sich. Nur zwei Augen verfolgten Barakons beschwerlichen Weg ins Erdgeschoss des Dschungels – und das taten sie nur so lange, bis Äste und Zweige den Blick nach unten endgültig versperrten. Aber in diesen beiden Augen, den schmalen, stechenden Augen einer verschlagenen Schlange, leuchtete unverhohlene Schadenfreude. Mera wusste, dass sie auf dem Höhepunkt ihrer Macht angelangt war. Und doch hatte sie noch weitere Pläne mit dem Affenkönig und seinem Reich.
Während des mühevollen Abstiegs dachte Barakon voller Wut darüber nach, welche schreckliche Strafen die Liftarbeiter für ihre respektlose Tat verdient hätten. Aber als er, völlig erschöpft, zerkratzt und mit tiefen Rissen und Schwielen in seinen Händen, unten angekommen war, erfüllte ihn nur ein Gedanke: Wie tief bin ich gesunken! Der König des Urwalds kam sich so klein, schwach und machtlos vor, wie noch nie in seinem Leben.
Während sie den fantastischen Sonnenuntergang beobachtete, versuchte Mera sich vorzustellen, in welcher Weise Barakon wohl seine Wut an seinen Untertanen auslassen würde. Wie auch immer, schmunzelte sie, das wird ihm alles nichts nützen. Ich habe dich in der Hand, fetter Affenkönig, dachte sie, es ist aus und vorbei mit deiner Macht. Und wenn du es jetzt noch immer nicht wahrhaben willst: Ich werde es dich schon noch spüren lassen.
Als die Sonne blutrot hinter den Bergen versunken war, genehmigte sich die Schlange noch einen letzten Schluck von dem köstlichen Saft der verbotenen Früchte. Dann zog sie sich ins Innere des Baumpalastes zurück, kroch ins riesige Himmelbett und rollte sich auf der bequemen Mäusehaar-Matratze zusammen. Bevor Mera einschlief, war es ihr, als höre sie ganz leise das Donnergrollen eines Gewitters, das sich in weiter Ferne austobte.
Auf zu den schwarzen Bergen
Roderik genoss es, wieder mit den anderen Wolkenreihern durch die Lüfte zu segeln. Doch seine Gedanken eilten immer wieder zu dem kleinen Krokodil, das jetzt ganz allein den vielen Gefahren des Dschungels ausgesetzt war.
Die Trennung war den Freunden schwer gefallen. Aber Carla hatte Roderik Mut gemacht für das riskante Unternehmen. „Schon in ein paar Tagen sehen wir uns wieder, ganz bestimmt“, hatte sie versucht, ihren treuen Gefährten zu trösten. Und Roderik hatte geantwortet: „Natürlich Carla. Da kannst du Gift drauf nehmen. Wenn unser Auftrag erledigt ist, treffen wir uns im Eukalyptuswäldchen. Das soll sich auf einer kleinen Anhöhe befinden, nur ein paar Hundert Meter südlich vom Mammutbaum. So hat es jedenfalls Ruprik behauptet. Keine Ahnung, woher er das weiß. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er jemals dort war. Aber Ruprik ist immer wieder für eine Überraschung gut. Auf jeden Fall sehen wir uns in diesem Wäldchen wieder “ Doch so richtig zuversichtlich hatten seine Worte nicht geklungen. Jedenfalls nicht in Carlas Ohren.
Jeder Reiher achtete darauf, beim Flug nicht aus der Formation auszuscheren, wie es Ruprik ihnen vor dem Start noch einmal eingebleut hatte. „Disziplin, liebe Kollegen, ist das Wichtigste bei dieser Aktion“, hatte er gesagt, „und wer glaubt, er könne sich Extratouren leisten, bekommt es mit mir zu tun.“
Da nur ab und zu ein kleines, weißes Wölkchen das strahlende Blau des Himmel trübte, hatten die Wolkenreiher ihr Ziel immer gut vor Augen und konnten ohne Probleme den Kurs halten. Roderik hatte den Eindruck, als seien die Schwarzen Berge schon viel näher gerückt.
Über den Plan, sich die für ein gewaltiges Gewitter erforderlichen Wolken aus dem fernen, unheimlichen Gebirge zu holen, waren die Reiher sich schnell einig geworden. „Das ist am sichersten“, hatte Henrik noch kurz vor dem Aufbruch gesagt, „Nirgendwo sonst gibt es solch stattliche, voll gesogene Wolkentürme, wie rund um die Gipfel der Schwarzen Berge.“ „Woher weißt du das so genau, Ruprik?“ hatte Frederik gefragt. Doch der hatte nur geantwortet. „Ich weiß es eben, du Grünschnabel.“
Natürlich war keiner der Freunde jemals in diesem düsteren Gebirge gewesen. Doch gehört hatte jeder schon einmal das eine oder andere über die Schwarzen Berge – allerdings immer wenig Erfreuliches. So erzählte man sich beispielsweise unter Grasland-Kranichen, in Höhe der Gipfel sei es so bitterkalt, dass jeder Vogel, der sich dorthin wage, bereits innerhalb kürzester Zeit im Flug zu Eis erstarre – und wie ein abgebrochener Eiszapfen in die Tiefe stürze.
Ein betagter Pelikan habe sogar einmal behauptet, erzählte Bollerik, wer sich zu nah an die dunklen Gipfelwolken heran traue, werde von geheimnisvollen Kräften in sie hineingezogen – und würde nie wieder herausfinden. Und Tomrik wusste von einem Nashorn zu berichten, das überall herumerzählte, die Wolken über den Schwarzen Bergen bestünden in Wirklichkeit aus pechschwarzem Stein. So sei auch zu erklären, dass sie sich nie von der Stelle bewegten. Und wenn man versuche, in diese Wolken hineinzufliegen, zerschelle man daran wie ein Schiff, das bei Nacht und Nebel mit einem Granitfelsen zusammenprallt.
„Woher soll ein Nashorn das wohl wissen?“ hatte Frederik eingewandt. „Kann es etwa fliegen? So einen Unsinn habe ich ja noch nie gehört.“
Während die Wolkenreiher zügig auf die Berge zuflogen, gingen ihnen natürlich die ganzen Theorien und Mutmaßungen durch den Kopf. Doch Angst hatte keiner von ihnen. Denn mit Wolken kannten sie sich schließlich aus. Und warum sollten die Wolken über den Schwarzen Bergen so anders sein, als die, die sie bisher nach Belieben hin und her geschoben hatten – auch wenn dies nicht immer einfach war und oft viel Mühe gekostete hatte?
Ruprik fiel auf, dass der Dschungel, über den sie die ganze Zeit geflogen waren, sich in eine karge, hügelige Landschaft verwandelt hatte. Nur hin und wieder wurde der durchgängige Braunton dieses Gebiets durch das dunkle Grün eines einzelnen großen Baumes oder einer kleineren Buschgruppe unterbrochen.
Die Reiher flogen nicht mehr ganz so hoch wie vorher. Da es Zeit für eine Pause war und sie außerdem Durst hatten, suchten sie die Landschaft auf Flüsse oder Seen ab. Doch keiner der Vögel konnte auch nur den kleinsten Bach oder winzigsten Teich erspähen.
Sie waren so sehr damit beschäftigt, nach Wasser Ausschau zu halten, dass sie den Schatten nicht bemerkten, der sich ihnen schnell näherte. Der große Adler hatte die Wolkenreiher bereits entdeckt, als sie noch kilometerweit von seinem Lieblingsbaum entfernt waren. Der höchste Ast des Ahorns war sein Beobachtungsposten – ein idealer Platz für einen schnellen und gewandten Jäger wie ihn.
Kein anderer Vogel hatte so scharfe Augen wie er. Ihnen entging nichts. Seit Tagen hatte der stolze Greif keine Beute mehr gemacht. Er musste unbedingt heute noch etwas essen, morgen wäre er vielleicht schon zu schwach, um erfolgreich auf die Jagd zu gehen.
Als die Reiherformation den Ahornbaum in mittlerer Höhe überquert hatte, sah der Adler seine Chance. Mit kräftigen Flügelschlägen stieß er schräg empor – im Rücken der Wolkenreiher, damit sie ihn nicht sehen konnten.
Schon befand sich der Greif auf ihrer Höhe, doch der erfahrene Jäger wusste, dass er jetzt noch nicht zuschlagen durfte. Er musste noch warten, bis er sich ein paar Meter über den Reihern befand. Dann war es vor allem wichtig, sich rechtzeitig einen der Vögel auszuwählen und sich ganz auf ihn zu konzentrieren. Hatte der Adler dies alles beachtet, war ihm die Beute so gut wie sicher.
Noch drei Schläge seiner mächtigen Schwingen – und der Adler hatte die ideale Stelle erreicht: Er befand sich jetzt wenige Meter über Frederik, der das Schlusslicht der Reihergruppe bildete. Allerdings flog er ein wenig hinter ihm, so dass der Adler nicht befürchten musste, sein Opfer bemerke ihn doch noch und entkomme ihm in letzter Sekunde.
Der Greifvogel war bereit. Jetzt hieß es, schnell wie der Blitz zu sein und die Überraschung für sich zu nutzen. Der Adler fuhr seine dolchartigen Krallen aus und brachte sich in die richtige Position für den Sturzflug. Dann griff er an.
In diesem Moment wirbelte eine plötzliche, heftige Windbö die Reiherformation durcheinander. Der kräftige Wind drückte Frederik zur Seite, so dass der Adler mit seinen ausgestreckten Klauen nur den rechten Flügel des Wolkenreihers streifte.
Es ging alles sehr schnell. Ebenso wie seine Freunde war Ruprik vom Kurs abgekommen und kämpfte verzweifelt mit den überraschenden Sturmböen Er sah, wie Federn durch die Luft wirbelten – dann erst entdeckte er den Räuber.
Nach seiner missglückten Attacke hatte sich der Adler rasch abgefangen. Jetzt schnellte er wieder in die Höhe – diesmal direkt auf Henrik zu. Der kräftige Seitenwind schien ihm nicht das Geringste auszumachen.
Ruprik rief, so laut er konnte: „Vorsicht Freunde, ein Adler. Er ist direkt unter uns. Verteilt euch, fliegt so hoch ihr könnt. Pass auf Henrik, gleich hat er dich …“
Auch wenn nicht jeder Wolkenreiher das, was Ruprik ihnen zubrüllte, verstehen konnte: Die Gefahr erkannt hatten jetzt alle. Instinktiv taten sie genau das Richtige. Wie ein Schwarm Mücken stoben sie auseinander - um dann in den Himmel empor zu steigen, so schnell sie konnten.
Der Adler war wütend: Auch diesen Reiher hatte er knapp verfehlt. Im letzten Augenblick war Henrik mit einem Ausweichmanöver den scharfen Krallen des Greifs entkommen. Jetzt hatte er Mühe, sich zu zurechtzufinden. Einen Moment lang wusste er nicht, wo Himmel und Erde waren.
Er hatte zwar Rupriks Stimme gehört, aber nicht verstanden, was sein Kollege gerufen hatte. Wo war jetzt bloß dieser schreckliche Greifvogel?
Henrik konnte ihn nirgends entdecken. Und so hielt er es für das Beste, mit allen Kräften nach oben zu fliegen.
Die Strategie des Adlers war nicht aufgegangen. Er war ratlos. Er konnte sich nicht entscheiden, bei welchem Vogel er es noch einmal versuchen sollte. Die Reiher hatten sich in alle Himmelsrichtungen verteilt und außerdem beträchtlich an Höhe gewonnen. Der Raubvogel spürte, dass es mit seinen Kräften nicht mehr zum Besten stand. Aber vielleicht reichte seine Energie ja noch für einen allerletzten Versuch.
Der Adler atmete ein paar Mal tief durch und versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen. Er sah, dass einer der Reiher nicht ganz so weit entfernt war wie die anderen. Den oder keinen, dachte der Greif und nahm direkten Kurs auf den Vogel. Sein Ziel war Ruprik, der älteste der Wolkenreiher. Der Adler flog so schnell er konnte.
Die tapferen Krähen
Es war später Nachmittag, Wie immer um diese Zeit stellten die Krähen ihre Nahrungssuche in der Hochebene ein und begannen, zu ihren Schlafbäumen im Tal zurückzufliegen. Die vier schwarzen Vögel waren noch nicht lange unterwegs, als sie den Adler entdeckten. Obwohl sie noch weit entfernt waren, konnten sie genau beobachten, wie der Greif sich bemühte, einen der Reiher zu schnappen.
Greifvögel, insbesondere Adler, waren die Todfeinde der Krähen. Kam ihnen ein Greif in die Quere, und sie waren mindestens zu zweit, so versuchten die mutigen Vögel stets, den unliebsamen Besucher aus ihrem Revier zu vertreiben. Es war sogar schon vorgekommen, dass eine besonders mutige Krähe es ganz allein mit einem Habicht oder Adler aufgenommen hatte. Doch das war die Ausnahme.
Krähen wussten nur zu gut, dass Greifvögel nicht davor zurückschreckten, ihre Kinder oder die ihrer Freunde aus dem Nest zu rauben. Und deshalb bekämpften sie jeden Greif, der ihnen in die Quere kam. Auch wenn ein Greifvogel andere Vögel bedrohte, ließ sie das nicht gleichgültig.
Die vier schwarzen Vögel waren jetzt nah genug herangekommen, um zu sehen, dass es sich um einen besonders großen Adler handelte, der seine Angriffe fortsetzte. Es war für die Krähen nicht nötig, lange zu überlegen oder sich gar zu beraten. Sie waren zu viert – und damit stark genug, um es auch mit dem stattlichsten Greifvogel aufzunehmen. Und sie wussten, dass auf jeden ihrer Gruppe absolut Verlass war.
Für die Krähen war es eine Freude, dem Adler eine Lektion zu erteilen. Eine Lektion, die er nie mehr vergessen sollte. Wenn sie gleichzeitig auch den Reihern helfen konnten, so ging das in Ordnung. Reiher waren zwar nicht unbedingt die besten Freunde der Krähen, doch sie hatten auch nichts weiter gegen sie. Im Grunde begegneten sie ihnen nicht allzu oft, und deshalb wussten sie recht wenig über die großen, schlanken Vögel.
Ruprik merkte, dass er nicht mehr der jüngste war. Er brauchte unbedingt eine Verschnaufpause. Seine Flügel fühlten sich schwer wie Blei an, und sein Herz schlug so schnell wie nie zuvor. Besorgt fragte er sich, wo der Adler sich jetzt eigentlich befand. Als er einen Blick nach unten warf, wusste er es. Der Greif war direkt unter ihm und schoss mit enormer Geschwindigkeit auf ihn zu.
Panik überfiel den erfahrenen Wolkenreiher. Er versuchte, noch schneller zu fliegen, doch seine Kräfte reichten dafür nicht. Im Gegenteil, Ruprik wurde immer langsamer. Und der Abstand zwischen ihm und den Angreifer verringerte sich mehr und mehr. Bald würde der Adler ihn erreicht haben. Dann gab es kein Entkommen mehr. Denn den mörderischen Krallen eines Adlers hatte ein Reiher nichts entgegenzusetzen.
In der Gewissheit, dass sein Schicksal besiegelt war, schloss Ruprik die Augen. Doch als er einen schrillen Schrei direkt unter sich hörte, öffnete er sie sofort wieder. Er konnte kaum glauben, was er sah.
Der Adler war sicher, dass es diesmal klappen würde. Sein Opfer befand sich jetzt unmittelbar vor ihm und schien nicht mehr die Kraft zu haben, noch einmal zu beschleunigen oder ein Ausweichmanöver durchzuführen. Noch ein paar Meter, dann hatte er ihn. Seine Krallen waren bereit.
Ein wütendes Krächzen direkt neben ihm ließ den Greifvogel herumfahren. Wie aus heiterem Himmel tauchte eine Krähe auf und schoss schnurstraks auf ihn zu. Mit Mühe gelang es dem Adler, dem spitzen Krähenschnabel auszuweichen. Schnell brachte er sich in Position, um mit seinen Füßen einen weiteren Angriff abzuwehren. Da stürzte sich von oben ein zweiter schwarzer Vogel auf ihn.
Diesmal musste der Adler einen schmerzhaften Schnabelhieb einstecken. Erschrocken trudelte er zur Seite, konnte sich dann aber abfangen. Ein paar kräftige Schläge seiner Schwingen ließen ihn zwanzig, dreißig Meter an Höhe gewinnen. Er musste sich unbedingt einen Überblick verschaffen, um für die nächste Attacke vorbereitet zu sein.
Doch da näherten sich von der Seite laut krächzend gleich zwei Krähen gleichzeitig, die spitzen Schnäbel angriffslustig nach vorne gestreckt.
Der Adler, der noch nie in seinem Leben Angst verspürt hatte, erschrak. Sie schienen ihn von allen Seiten zu attackieren. Verstört fragte er sich, mit wie vielen von diesen schwarzen Biestern er es eigentlich zu tun hatte. Er hatte keine Ahnung, aus welchem Grund sie ihn überhaupt attackierten, hier oben, wo überhaupt nicht ihr Revier war.
Er flog eine scharfe Rechtskurve, so dass die beiden Krähen ihn knapp verfehlten. Doch eine dritte, die er übersehen hatte und die steil von oben gekommen sein musste, erwischte ihn am linken Flügel.
Der Adler hatte nicht nur die Orientierung verloren, sondern auch eine Flügelfeder. Und schon wieder hielten zwei Krähen direkt auf ihn zu. Er begann einzusehen, dass er auf verlorenem Posten stand. Das Risiko, noch weitere Federn einzubüßen, war einfach zu groß. Noch immer wusste er nicht genau, um wie viele Krähen es sich handelte, die ihm da so heftig zu Leibe rückten. Auf jeden Fall waren es zu viele.
Der Greif war viel zu müde und abgeschlagen, um sich weiter verteidigen zu können. Er sah keinen anderen Ausweg, als das Weite zu suchen. Er nahm alle verbliebene Kraft zusammen und schraubte sich hoch in die Himmel empor.
Eine Zeitlang versuchten die Krähen, ihm zu folgen. Doch als der Adler so viel an Höhe gewonnen hatte, dass er die Aufwinde nutzen konnte, mussten sie einsehen, dass sie ihn nicht mehr erreichen konnten.
Mühelos ließ sich der mächtige Vogel von den willkommenen Winden nach oben tragen. Als er sicher war, seine Verfolger abgeschüttelt zu haben, flog er gemächlich in die Richtung, wo sein Ahornbaum stand. Er sehnte sich danach, solange im kühlen Schatten der großen Baumkrone auszuruhen, bis er neue Kräfte gesammelt hatte. Wenn nur dieser Hunger nicht wäre.
Aber der Adler tröstete sich mit der Gewissheit, dass morgen wieder ein neuer Tag anbrechen – und er eine neue Chance erhalten würde, Beute zu machen. Und diesmal, davon war er felsenfest überzeugt, diesmal würde er seine Chance nutzen.
Während der Greif müde der untergehenden Sonne entgegen flog, hatte Ruprik seine in alle Winde zerstreute Reihertruppe wieder um sich geschart. Der Schreck saß allen noch gehörig in den Gliedern. Rurprik meinte, sie sollten sich unbedingt bei den tapferen Krähen bedanken, die ihnen so heldenhaft aus der Patsche geholfen hatten. Und so beeilten sich die Wolkenreiher, die schwarzen Vögel einzuholen. Denn als ihnen der Adler entwischt war, hatten die Krähen unverzüglich ihren Heimweg fortgesetzt.
Nach wenigen Minuten hatten die Reiher die Krähen erreicht. Ruprik schloss zur Krähe auf, die voran flog, und begann mit seiner Dankesrede. Doch bevor er überhaupt einen Satz zu Ende sprechen konnte, hatte der Rabenvogel längst abgewunken. „Keine Ursache“, meinte er. „Es war uns eine Freude, dem alten Greif gehörig in die Parade zu fahren. Das soll ihm eine Lehre sein, sich auf wehrlose Reiher zu stürzen.“
Ohne einen Abschiedsgruß begannen die Krähen mit dem Landeanflug, denn sie hatten ihre Schlafbäume bereits gesichtet. Dem verdutzten Ruprik blieb nichts anderes, als sich einmal mehr über die schwarzen Vögel zu wundern.
Als die Sonne unterging, hatten es sich die erschöpften Wolkenreiher am Rande eines sumpfigen Tümpels gemütlich gemacht. Bollerik war es gewesen, der den Teich entdeckt hatte – ein kleines Gewässer, das versteckt in einer Talsenke lag. Die anderen Reiher waren Bollerik dankbar für seine Aufmerksamkeit – und ließen ihn hochleben, während sie zufrieden im Gras hockten.
Das Wasser des Tümpels schmeckte faulig, doch jeder war froh, endlich den quälenden Durst stillen zu können. Aus dem dichten Uferschilf erscholl ein munteres Quaken, aber keiner der Reiher verfügte jetzt noch über genügend Energie, um auf die Froschjagd zu gehen.
Während die meisten in Gedanken noch bei der wilden Verfolgungsjagd waren, die sie heil überstanden hatten, freute sich Frederik bereits auf das Frühstück. Vielleicht leben hier ja Frösche, die ich gar nicht kenne und die besonders aromatisch schmecken, überlegte er. Und er malte sich aus, dass sie gelb-rot-gestreift aussehen und nach Nougat schmecken würden. Nach Nougat mit einem Hauch Meerrettich. Sie sind so groß, stellte er sich vor, dass ich nur einen von ihnen zu fangen brauche, um satt zu werden. Und dann schlief Frederik ein.
Carlas Fußmarsch
Lustlos knabberte das kleine Krokodil an der vertrockneten Wurzel eines Affenbrotbaumes. Doch nicht das dürftige Nahrungsangebot war es, das ihr Kummer bereitete, sondern die Tatsache, dass Roderik ihr keine Gesellschaft leistete.
Besorgt fragte sich Carla, ob ihr bester Freund und die anderen Wolkenreiher die Schwarzen Berge schon erreicht hatten. Hoffentlich ist ihnen nichts passiert, dachte sie. Und als ihr die zahlreichen unheimlichen Geschichten wieder einfielen, die sie über die schwarzen Berge gehört hatte, hatte sie mit einem Mal große Zweifel und Bedenken: Die Reiher sollten eigentlich wissen, worauf sie sich da eingelassen haben, dachte sie. Doch sicher war sie sich nicht. Carla wusste, dass sie die stolzen Vögel zu diesem gefährlichen Abenteuer überredet hatte. Ihr war auch klar, dass es jetzt kein Zurück mehr gab. So blieb ihr nur, die Daumen zu drücken.
Einen Tag und eine Nacht war Carla jetzt bereits auf dem großen Fluss unterwegs, seit sie sich auf der Palmeninsel von den Wolkenreihern getrennt hatte. In dieser Zeit hatte sie sich nur wenige, kurze Ruhepausen gegönnt. Auch jetzt, auf dieser kleinen gemütlichen Sandbank in Ufernähe, wollte sie nicht lange verweilen. Zu groß war ihre Angst, nicht rechtzeitig in der Nähe des Mammutbaumes zu sein, wenn es losging.
Vielleicht treiben die Reiher ja bereits gewaltige dunkle Wolkentürme vor sich her und sind gar nicht mehr weit von Barakons heiligem Baum entfernt, dachte das kleine Krokodil – und beschloss, dass es Zeit sei, die Reise fortzusetzen.
Bevor die Sonne ihren Höchststand erreicht hatte, war Carla an der Flussbiegung angelangt. Dort musste sie wohl oder übel das kühle Wasser verlassen und sich zu Fuß durch den Dschungel schlagen. Immer in Richtung Sonnenuntergang, hatte ihr die kleine Wasserschlange gesagt, dann könne sie ihr Ziel eigentlich nicht verfehlen. „Und wenn du einmal unsicher sein solltest“, hatte sie noch hinzugefügt, „dann frage einen Grauen Lärmvogel, ob du noch auf dem richtigen Weg bist. Graue Lärmvögel verfügen nämlich über eine besondere Eigenart, die dir nützlich sein könnte: Sie müssen immer die Wahrheit sagen, ob sie wollen oder nicht. Sie können gar nicht lügen. Das ist auch der Grund, warum sie bei den Affen so verhasst sind. Also: Wenn du einmal nicht mehr weiter weist – frag' einen Grauen Lärmvogel nach dem Weg zu Barakons Baum. Wenn er ihn kennt, wird er ihn dir verraten. Da kannst du Gift drauf nehmen!“
Carla war der hübschen grünen Schlange mit den braunen Augen mehr als dankbar. Denn ohne ihre Hilfsbereitschaft hätte sie wirklich nicht mehr gewusst, in welche Richtung sie weiterlaufen solle.
Unterwegs hatte sie Flusspferde, Schildkröten, Papageien und viele andere Urwald-Bewohner nach dem Weg zum heiligen Mammutbaum gefragt. Doch entweder hatten die Tiere so getan, als wären sie taub, oder aber behauptet, von solch einem Baum noch nie in ihrem Leben etwas gehört zu haben, und ein Barakon sei ihnen auch nicht bekannt.
Erst die freundliche Wasserschlange hatte ihr den Weg beschrieben – und ihr auch erklärt, warum alle anderen Tiere sich so seltsam verhielten. „Jedes Tier hat Angst vor dem Affenkönig, denn es ist in Barakons Reich strengstens verboten, vom heiligen Mammutbaum zu sprechen, geschweige denn, seinen Standort zu verraten. Und alle fürchten sich vor der Zauberkraft der Riesenschlange, die mit dem Affenkönig verbündet ist.“
„Und du, liebe Wasserschlange,“ hatte Carla gefragt, „warum hast du keine Angst vor Mera?“ „Ach weißt du, Krokodil“, hatte die Schlange geantwortet und dabei hatten ihre Augen schelmisch geblitzt, „ich hab mich noch nie vor Magie und anderem Hokuspokus gefürchtet. Und außerdem, was geht es Barakon und Mera überhaupt an, wenn ich einem netten Krokodil, das sich hoffnungslos im Urwald verirrt hat, den richtigen Weg weise?“
Kaum hatte die Wasserschlange dies gesagt, war sie auch schon in den grünen Fluten des Flusses verschwunden. Und so hatte Carla keine Gelegenheit gehabt, sich zu bedanken.
Dem kleinen Krokodil schmerzten die Füße. Die Wanderung durchs dichte Dschungel-Unterholz war viel anstrengender und gefährlicher als erwartet. Wurzeln erwiesen sich als tückische Fußfallen, und Lianen, die bis zum Boden hingen und deren Enden oft sogar in die Erde hineingewachsen waren, bildeten manchmal fast unüberwindliche Hindernisse.
Einmal befürchtete Carla schon, sich hoffnungslos in einem Lianenbündel verfangen zu haben. Je mehr sie versuchte, sich loszureißen, um so enger schnürten sich die Luftwurzeln in ihre Haut. Bald waren ihre Beine vollkommen gefesselt, und auch um Bauch und Rücken hatten sich zähe Lianen wie Stricke gewunden – so fest, dass Carla kaum mehr genügend Luft zum Atmen blieb.
Das kleine Krokodil steckte fest. Das einzige, was es noch bewegen konnte, war sein Schwanz. Und so schlug Carla mit ihrem Schwanz so kraftvoll wie möglich hin und her.
Als sie bereits dachte, ihre Bemühungen seien völlig aussichtslos, gelang es ihr, einen Lianenstrang, der sich um ihren Leib gewickelt hatte, vom Baum zu reißen. Damit war der Anfang gemacht. Nach einigen Minuten hatte sich Carla aus der Falle befreit und konnte ihren beschwerlichen Fußmarsch fortsetzen.
Der Urwald wurde immer dichter. Nur noch ab und zu gelang es einem Sonnenstrahl, das Blätterdach zu durchdringen. Dann war der ganze Dschungel urplötzlich in ein seltsames Dämmerlicht getaucht. Carla schaute nach oben. Dort, wo vor kurzem noch der eine oder andere blaue Himmelsfleck durch das Dschungeldickicht gelugt hatte, war jetzt nichts mehr zu erkennen als fahl-graue Löcher. Carla hatte den Eindruck, als habe jemand ein riesiges dunkles Tuch über den Urwald gebreitet.
Natürlich, schoss es dem kleinen Krokodil durch den Kopf. Warum bin ich nicht gleich darauf gekommen. Es sind die Schirme, die den Blick auf den Himmel versperren. Ich bin im Zentrum von Barakons Reich angelangt, dem Teil des Urwalds, den das gigantische Dach aus Tausenden von verzauberten Schirmen vor dem Regen schützt.
Jetzt kann es nicht mehr sehr weit sein, dachte Carla. Der Gedanke, es könne gleich ein mächtiger Regenschauer niederprasseln, doch sie bliebe vollkommen trocken, versetzte sie in eine fröhliche Stimmung.
Natürlich wünschte sich das kleine Krokodil nach wie vor nichts sehnlicher, als dass die Schirme endlich dorthin zurück kehrten, woher sie gekommen waren. Und ein besonders großer Stockschirm fliegt schnurstracks in mein Maul, stellte Carla sich vergnügt vor. Doch der Appetit, der sie bei ihren Gedanken überfiel, dämpfte ihre gute Laune wieder. Auf einmal fühlte sie sich hungrig wie ein Elefant.
Im dämmerigen Dschungellicht stieß Carla auf einen kleinen, sumpfigen Tümpel. Sie wusste nicht, wie lange sie schon zu Fuß unterwegs war. Carla schätzte, dass es bereits spät am Nachmittag sein musste. Doch sie konnte sich auch täuschen.
Das kleine Krokodil nutzte die Gelegenheit und gönnte sich ein Bad. Aber das trübe, bräunliche Wasser erwies sich als wenig erfrischend.
Als Carla den Tümpel verließ, war sie über und über mit halbverfaulten Blättern, glibberigen Algen und zerfaserten Lianenstücken bedeckt. Sie schüttelte und schüttelte sich, bis sie den größten Teil der modrigen Schicht herunter geschleudert hatte. Noch nie hatte sich das kleine Krokodil so schmutzig und unwohl gefühlt. Was hätte es jetzt für ein Tauchbad im großen Fluss gegeben! Doch es nutzte nichts: Carla musste weiter.
Instinktiv suchte sie den gelben Ball der Sonne, um sich wieder zu orientieren. Aber vergebens: Das dichte Dach aus Schirmen, das über dem Dschungel schwebte, ließ keinen Sonnenstrahl durch. Wie sollte Carla jetzt weiterlaufen, ohne sich nach dem Stand der Sonne zu richten? Es war ihr unmöglich, auch nur grob zu schätzen, wo die Sonne untergehen würde, wo also Westen war.
Carla war ratlos. Wie sollte sie jetzt bloß zum Mammutbaum gelangen? Vielleicht war es ja gar nicht mehr so weit … Da fiel ihr ein, was die freundliche Wasserschlange ihr über die Grauen Lärmvögel erzählt hatte. Doch wie sahen diese Vögel überhaupt aus?
Während ihrer Wanderung waren Carla Vögel aller Größen und Farben begegnet. Sie waren dicht über ihren Kopf
hinweggerauscht, schnell wie der Blitz schlanke Baumstämme empor geklettert, hatten laut von den Baumwipfeln herunter geschnattert oder waren wild durchs Gebüsch geflattert.
Von keinem dieser gefiederten Geschöpfe hatte Carla bislang den Eindruck, als interessiere es sich dafür, was ein Krokodil in diesem Teil des Dschungel überhaupt suchte. Von keinem der Vögel war sie bislang angesprochen worden – und Carla hatte bisher auch keinen Anlass gehabt, eine Unterhaltung mit einem von ihnen zu beginnen. Doch jetzt hatte sie einen Anlass. Das Problem war nur: Wie erkannte sie einen Grauen Lärmvogel? War er grau und machte viel Lärm? Oder hatte sein Name überhaupt nichts mit seinem Aussehen und seiner Stimme zu tun?
Carla wusste sich keinen anderen Rat, als einfach jeden Vogel, der ihr über den Weg lief oder flog, zu fragen. Und so wollte sie von einem zerzausten weißen Kakadu, der kopfüber an einer Liane hing, wissen, ob er ein Grauer Lärmvogel, sei. Aber der Kakadu antwortete nur frech: „Selber Lärmvogel“.
Carla fragte noch eine ganze Reihe anderer Vögel, ob sie vielleicht zu der gesuchten Art gehörten. Doch alle hatten eher buntes Gefieder und reagierten auf ihre Frage entweder mit Entrüstung – oder lachten sie einfach aus.
Längst hatte das kleine Krokodil keine Lust mehr auf dieses Spiel. Da entdeckte es einen stattlichen grauen Vogel, der mit seinem großen Schnabel im Unterholz herumstocherte.
„Hallo, lieber Vogel“, sagte Carla so freundlich sie nur konnte. „Tut mir leid, dass ich dich störe. Aber könntest du mir vielleicht sagen, ob du ein Grauer Lärmvogel bist.“
Der Vogel ließ den dicken Käfer fallen, den er gerade mit seinem Schnabel gefangen hatte, drehte seinen Kopf und schaute das Krokodil fassungslos an. „Was soll ich sein? Ein Grauer Lärmvogel?“ Und dann begann er so laut und kreischend zu lachen, dass in seiner Umgebung unzählige kleine Vögel vor Schreck aus dem Unterholz aufflogen und schleunigst Schutz im Blätterdach suchten.
Carla war es zu dumm. Sie hatte genug von all diesen Vögeln. Sie war bereits ein paar Schritte weitergegangen, als sie in ihrem Rücken eine schrille Stimme hörte: „Nun lauf doch nicht weg, Krokodil, warte.“ Carla blieb stehen, drehte sich um und beobachtete, wie der graue Vogel wild mit seinen Flügen zu schlagen begann, schließlich Zentimeter um Zentimeter vom Boden abhob, unbeholfen ein paar Meter flatterte und direkt auf ihrem Kopf landete.
„Nichts für ungut, Krokodil. Aber du musst schon entschuldigen. So eine komische Frage hat mir noch nie jemand gestellt. Nun denn, wenn ich mich einmal vorstellen darf“, und dabei reckte er seinen großen Schnabel stolz in die Höhe, „mein Name ist Fernando, und ich bin ein Fratzenkuckuck.“
Carla beteuerte, dass es ihr leid täte und erklärte dem Kuckuck ihre missliche Lage. Doch als sie vom Rat der Wasserschlange erzählte und von der Angewohnheit des Grauen Lärmvogels, stets die Wahrheit zu sagen, begann Fernando wieder zu lachen. „Haha, jaja, das stimmt natürlich schon. Diese dummen Vögel können wirklich nicht anders, als immer schön die Wahrheit zu sagen. Und doch ist kein Verlass auf sie.“
„Wie meinst du das, Fernando?“ fragte Carla. „Ja sieh mal, kleines Krokodil“, antwortete der Fratzenkuckuck und zwinkerte schelmisch mit den Augen, „es gibt niemand im Dschungel, der sich so häufig verirrt, wie der Graue Lärmvogel. Deshalb wird er von vielen anderen Tieren auch der ewig Suchende genannt.“ „Warum der ewig Suchende?“ fragte Carla. „Nun, das ist ja wohl klar wie Kloßbrühe“, sagte Fernando, „weil er halt ständig auf der Suche nach seinem Zuhause ist – oder nach seinen Freunden. Immer glaubt er, auf dem richtigen Weg zu sein, und doch ist es meist der falsche. Und so irrt er dauernd im Urwald herum, behauptet aber stets, er wisse haargenau, wo er sich gerade befinde. Und er sei sich hundertprozentig sicher, dass er jetzt exakt in dieser Richtung weiter müsse.“
Carla schaute Fernando mit großen Augen an. „Du kannst mir ruhig glauben, Krokodil“, fuhr der Kuckuck fort. „ Natürlich würde dich der Lärmvogel nicht belügen, wenn du ihn nach dem Weg zum Mammutbaum fragen solltest. Er würde augenblicklich in eine bestimmte Richtung weisen und wäre davon überzeugt, das man auf diesem Weg zum Ziel gelange. Das Problem ist nur: Der Vogel sagt zwar die Wahrheit, doch es ist seine Wahrheit. Und das heißt noch lange nicht, das sie stimmt. Denn der Graue Lärmvogel hat nun mal eine große Schwäche: Er kann sich keinen Weg merken. Und doch denkt er immer, er sei auf dem richtigen Weg.“
Carla seufzte. Sie glaubte, verstanden zu haben. „Ja wenn das so ist, lieber Fratzenkuckuck, dann würde es mir wirklich herzlich wenig nützen, dass dieser komische Vogel nie lügt. Wo er doch überhaupt keine Ahnung hat, wo was ist im Dschungel und wie man wohin gelangt. Auch wenn er denkt, er sei immer im Bilde. Aber warum hat mich die Wasserschlange dann überhaupt auf den Lärmvogel hingewiesen?“
„Ja warum bloß?“, murmelte Fernando und legte den Kopf schief, als müsse er angestrengt nachdenken. „Ich meine“, sagte er nach einer Weile, „die Wasserschlange weiß es nicht besser. Wahrscheinlich hat sie es zwar gut gemeint und irgendwann einmal vom Grauen Lärmvogel und seiner Eigenschaft, immer die Wahrheit zu sagen, gehört. Doch wie es im tiefsten Dschungel in Wirklichkeit zugeht, dort wo Affen und Vögel, Raubkatzen und Riesenschlangen zu Hause sind, davon scheint sie nicht viel Ahnung zu haben, die Gute. Vielleicht liegt das daran, dass sie den lieben langen Tag im Fluss herum schwimmt – und wohl eher selten an Land kommt.“
Carla schien mit dieser Antwort zufrieden zu sein. Doch jetzt, wo es fast dunkel war, rätselte sie immer noch darüber, in welche Richtung sie weiterlaufen solle. Vielleicht wusste es ja der Kuckuck, der nicht gerade einen dummen Eindruck auf sie machte. Warum frage ich ihn nicht einfach, dachte Carla.
„Natürlich kenne ich den Weg zum Heiligen Mammutbaum, Krokodil, was denkst denn du.“ Fernando wirkte fast ein wenig beleidigt. „Es gibt nichts, was ich nicht weiß über diesen Dschungel. Schließlich lebe ich schon lange genug hier. Aber denke ja nicht, dass ich dir verrate, wie alt ich bin.“ Und dann grinste er plötzlich und bot dem kleinen Krokodil sogar an, sie persönlich zum Baum zu führen. „Aber nur unter einer Bedingung“, krähte er: „Du musst mich hintragen, denn – wie du vielleicht bemerkt haben solltest – das Fliegen ist nicht gerade mein Lieblingssport. Und zu Fuß ist es mir einfach zu weit. Schließlich“, und dabei kicherte er, „schließlich habe ich nur zwei Beine“.
Carla war einverstanden. Da es mittlerweile vollkommen dunkel geworden war, fragte sie Fernando, ob er sich denn auch nachts orientieren könne. „Ja aber natürlich“, meinte der Kuckuck entrüstet, „sogar mit verbundenen Augen würde ich dich zu jedem beliebigen Baum im ganzen Dschungel führen.“
Doch darauf wollte es Carla lieber nicht ankommen lassen. Und so marschierte sie los, den stolzen großen Vogel auf ihrem Rücken. Fernando war schwerer als erwartet. Mit knappen Befehlen dirigierte er sie durchs Unterholz: „Rechts“, „links“, „jetzt geradeaus“: Es schien ganz so, als kenne er jeden Halm und jedes Blatt – und als könne er im Dunkeln genauso gut sehen wie am hellichten Tag.
Nur einmal irrte sich der Fratzenkuckuck, und dieser Irrtum brachte ihm nasse Füße ein. Carla hatte das Plätschern schon längst gehört. „Sag mal, Fernando, kann es sein, das wir gleich an einen Bach oder Fluss kommen?“ „Nein, nein, das ist ganz unmöglich“, erwiderte der Kuckuck. „In dieser Gegend gibt es keinen Fluss – und auch keinen Bach. Diesen Teil des Dschungels kenne ich so gut wie meine Westentasche.“
Doch schon hatte das kleine Krokodil festen Boden unter den Füßen verloren und war in einen schmalen Bach geplatscht. Fernando kreischte erschrocken auf, als seine Beine plötzlich unter Wasser gerieten. Für einen Moment war Carla ganz untergetaucht. Fast hätte der Fratzenkuckuck das Gleichgewicht verloren und wäre in den Bach gestürzt.
„So pass doch auf, du Tölpel“, rief er zornig, während das kleine Krokodil die wenigen Meter ans andere Ufer schwamm. „Ich bin doch kein Teichhuhn. Um ein Haar hättest du mich ertränkt.“ „Wer ist denn hier der Obertölpel“, antwortete Carla wütend. „Ich denke, du kennst dich hier bestens aus.“
Statt einer Antwort ließ Fernando nur ein knarziges Geräusch vernehmen, das klang, als würde man zwei vertrocknete Kokosnüsse aneinander reiben. Dann schüttelte er ein paar Wassertropfen von seinen zerzausten Flügelfedern.
Während sie weiter marschierten, der Fratzenkuckuck wieder auf Carlas Rücken, hielt Fernando es für besser, für eine Weile den Schnabel zu halten – bis auf die knappen Richtungsanweisungen natürlich.
Seit dem unfreiwilligen Bad im Bach zweifelte Carla daran, dass der seltsame Vogel sie ans Ziel führen würde. Aber es blieb ihr keine andere Wahl, als es darauf ankommen
zu lassen.
Carla war bald so müde, dass ihre Augen immer wieder kurz zufielen. Sie schlug Fernando vor, Rast zu machen. „Wenn es unbedingt sein muss“, knurrte der Kuckuck, der selbst schon lange mit dem Schlaf kämpfte, aber zu stolz war, es zuzugeben. „Obwohl ich sicher bin, dass es nicht mehr weit bis zu unserem Ziel sein kann. Aber okay, ich glaube dort hinten, unter dem großen Gummibaum, könnte ein geeignetes Plätzchen für eine Rast sein“, sagte er.
Carla fragte sich zwar, wie der Kuckuck bloß erkennen konnte, dass es sich beim dem Baum, von dem sie noch nicht mal die Silhouette sah, um einen Gummibaum handelte. Doch kurze Zeit später schliefen die beiden tief und fest: Carla hatte es sich auf dem Waldboden in einem Bett aus Gummibaumblättern und Farnkraut gemütlich gemacht, und Fernando hockte ein paar Meter über ihr auf einem dicken Ast und schnarchte leise vor sich.
Als der Kuckuck erwachte, war es bereits Tag. Auch wenn das Licht fahl war und die Sonne im Verborgenen blieb, hatten die Urwaldvögel längst ihr Morgenkonzert angestimmt. Um Fernando herum zwitscherte, schnatterte, trällerte und pfiff es, als sei ein Wettbewerb im Gange, wer über die lauteste Stimme verfüge.
Fernando blickte sich um – und traute seinen Augen nicht. Den kleinen Felsen, der nicht weit vom Gummibaum entfernt wie eine knollige Nase aus dem Gebüsch ragte, kannte er genau. Der Kuckuck wusste, dass der Mammutbaum nur noch ein paar hundert Meter entfernt war.
Fernando flatterte vom Baum, landete direkt neben dem noch schlafenden Krokodil und stieß Carla den spitzen Schnabel in die Seite.
Noch nie war das kleine Krokodil so unsanft aus seinen Täumen gerissen worden. Es brauchte einen Augenblick, um zu wissen, wo es sich befand und wer da so ungeduldig vor ihrer Nase von einem Bein aufs andere hüpfte.
„Was ist denn los, Fernando“, fragte Carla schlaftrunken. „Was los ist?“ zischte der Kuckuck, „das werde ich dir gleich sagen. Wir sind so gut wie am Ziel, Krokodil, das ist los“.
„Wir sind bald am Mammutbaum?“ fragte Carla, und in ihrer Stimme schwang eine gute Portion Misstrauen mit. „Ja natürlich“, posaunte Fernando, „keine fünf Minuten mehr, und wir sind am Fuß dieses Baumriesen angelangt, wenn uns nicht vorher die Affenwachen entdecken.“
„Es gibt dort Affenwachen?“ fragte Carla. „Ja natürlich. Und aus diesem Grund werde ich dich auch nach ein paar Schritten verlassen. Du läufst dann einfach immer schön geradeaus weiter , bis du direkt mit der Nase auf den heiligen Baum stößt. Nein nein, ich mach mich lieber vorher aus dem Staub. Verspüre wirklich keine Lust, mich wieder von dieser Affenbande jagen zu lassen. Die haben einfach keinen Respekt vor einem alten Fratzenkuckuck. Und Spaß verstehen diese ungehobelten Kerle auch nicht.“
Carla wollte noch genauer wissen, was es mit den Affenwachen auf sich habe. Doch Fernando erzählte ihr nur, auf Wunsch von Mera, der Schlange, lasse der Dschungelkönig seit einiger Zeit den Mammutbaum von besonders großen und kräftigen Affen bewachen. Sie sollten ungebetene Gäste, die sich in die Nähe des heiligen Baums wagten, vertreiben. Dann hüllte sich der Kuckuck in Schweigen.
Wie angekündigt begleitete Fernando das Krokodil nur wenige Meter. Vor einem dichten Gestrüpp ließ er Carla anhalten und hüpfte von ihrem Rücken. „Dort musst du lang“, sagte er und wies mit dem Schnabel auf eine Baumgruppe hinter dem Buschwerk. „Und gib auf die Affen acht. Mit denen ist nicht gut Kirschen essen.“
„Vielen Dank, Fernando“, sagte das kleine Krokodil, doch der Kuckuck stakste bereits in die Richtung, aus der sie gekommen waren. „Keine Ursache, Krokodil“, hörte Carla ihn rufen, „auf den guten alten Fernando ist Verlass.“ Dann hatte das grüne Pflanzendickicht des Dschungels den Fratzenkuckuck und seine Stimme verschluckt.
Das Versteck
Das kleine Krokodil fühlte sich nicht besonders wohl in seiner Haut. Die Sache mit den Affenwachen war ihm nicht geheuer. Doch so nah vor dem Ziel wollte Carla nicht aufgeben. Sie brannte darauf, möglichst alles aus nächster Nähe zu erleben, wenn Roderik und die anderen Wolkenreiher für das schrecklichste Gewitter aller Zeiten sorgen würden: direkt über dem heiligen Mammutbaum. Und natürlich wollte sie dabei sein, wenn der Blitz in Barakons Baum einschlug und dem bösen Zauber der Schlange ein Ende bereitete.
Langsam und so behutsam wie möglich arbeitete sich Carla durch das dichte Gestrüpp vor: immer der Nase lang, wie es Fernando ihr geraten hatte. Sie bemühte sich, so wenig Geräusche wie möglich zu verursachen. Doch bei aller Vorsicht konnte sie es nicht verhindern, dass hin und wieder ein trockener Ast knackte.
Einmal wurde Carla von einem plötzlichen Kreischen hoch über ihr aufgeschreckt. Sie befürchtete schon, von den Affen entdeckt worden zu sein. Doch danach waren wieder nur die üblichen Geräusche des Urwalds zu vernehmen, und Carla war sich nicht sicher, ob sie wirklich einen Affen gehört hatte oder ein anderes Tier.
Dann war das kleine Krokodil aus dem Gebüsch heraus. Carla stand am Rand einer Lichtung und blickte direkt auf den gewaltigen braunen Stamm eines Baumriesen. Kein Zweifel, dachte Carla, das muss der Mammutbaum sein. Einen Baumstamm mit so einem gigantischen Durchmesser hatte Carla noch nie gesehen. Der Stamm war mindestens so breit wie zwei ausgewachsene Elefanten, die sich hintereinanderstellten.
Carla blickte nach oben und versuchte, die Spitze des Baumes auszumachen, doch es gelang ihr nicht. Alles was sie sah, war eine Meer von Blättern und Geäst, ein riesiger Wald, der sich in den Himmel erstreckte – und der im Grunde nur aus einem einzigen Baum bestand.
Als Carlas Blick wieder am Fuß des Mammutbaumes angelangt war, fuhr ihr der Schreck in die Glieder: Direkt vor dem heiligen Baum, in der Mitte des Stammes, hockte ein Affe. Sollte sie etwa den Wachposten vorhin übersehen haben, oder war der Affe erst jetzt von irgendwoher aufgetaucht? Das kleine Krokodil hielt es jedenfalls für besser, schnell wieder im dichten Buschwerk zu verschwinden.
Carla wartete einen Augenblick, doch als alles ruhig blieb, beschloss sie, sich wieder soweit vorzuwagen, dass sie den Affen-Wächter und den Mammutbaum im Auge behalten konnte, ohne selbst gesehen zu werden. In eine kleine Mulde direkt am Rand des Gebüschs gepresst, lugte das Krokodil durch die Blätter und Zweige. Jetzt hatte sie zwar den Fuß des Baumes und den Affen im Blick, doch sie wollte noch mehr sehen.
Es ist wohl besser, ich suche mir einen geeigneteren Beobachtungsposten, von dem aus ich mehr vom Baum sehe, dachte Carla.
Unverzüglich begann sie mit ihre Suche. Vorsichtig schlich sie am Rand des Gestrüpps entlang, das die Lichtung wie ein Kreis umgab.
Als sie die Mammutbaum-Lichtung fast halb umrundet hatte, entdeckte Carla etwas, das ihr als Versteck und Beobachtungsposten ideal schien: ein umgestürzter, ausgehöhlter Baum, der mit einem Ende direkt auf den Mammut wies. Das Ende ragte zwar ein paar Zentimeter aus dem Gebüsch heraus, doch ein paar Grasbüschel vor der Stammöffnung waren eine gute Tarnung. Carla glaubte nicht, dass man von außen in die Röhre hereinschauen konnte.
Das kleine Krokodil probierte, ob sie in die Baumhöhle hineinpasste: Der Hohlraum war wie maßgeschneidert für Carla.
Sie kroch soweit nach vorne, dass ihr Kopf zwar halb aus der Röhre herausragte, aber hinter den Grasbüscheln gut verborgen war. Durch die Halme hindurch konnte sie besser sehen als erwartet. Da sie jetzt etwas weiter vom Mammutbaum entfernt war, hatte sie einen großen Teil des Baumes prima im Blick.
Carla bemerkte, dass sich zu dem Affenwächter ein Kollege gesellt hatte. Woher dieser gekommen war, hatte sie nicht gesehen. Ich muss jetzt besser aufpassen, dachte sie. Denn auch in ihrem neuen Versteck bestand die Gefahr, dass die Affen sie entdeckten.
Und doch fühlte Carla sich relativ sicher: Welcher Affe sollte auch schon auf die Idee kommen, dass hier im Gras ein hohler Baumstamm lag, in dem ein Krokodil steckte. Sogar wenn ein Wachposten aus Versehen über den Stamm stolpern sollte, dachte Carla, bedeutete das noch nicht unbedingt, dass ihr Versteck entdeckt wurde.
Carla war zufrieden. Sie war am Ziel. Jetzt galt es nur noch zu warten. Warten auf das Spektakel, das sie sich sehnlichst herbeiwünschte. Doch bei der Vorstellung, dass ganz in ihrer Nähe ein Blitz einschlagen würde, und dass dann vielleicht der riesige Baum auseinander brechen könnte und Teile davon auf sie stürzten würden, wurde ihr es doch ein wenig mulmig zumute.
Um so besser, dass ich in diesem dicken, hohlen Stamm liege, dachte Carla. Einen besseren Platz gibt es nicht. Und so wartete das kleine Krokodil gespannt darauf, dass etwas passierte.
Im Reich der Monsterwolken
Was sich anfangs nur als dünne, schwarze Linie am Horizont abzeichnete, hatte sich längst in ein dunkles Ungetüm verwandelt, das mehr und mehr den Himmel verdrängte. Der Anblick der gewaltigen Schwarzen Berge, die jetzt zum Greifen nah schienen, löste nicht nur bei Tomrik ein beklemmendes Gefühl aus: Alle Wolkenreiher fragten sich besorgt, was sie dort erwartete, und verspürten den Drang, auf der Stelle umzukehren. Alle, bis auf Frederik. Ausgerechnet der jüngste Reiher konnte es nicht abwarten, zu den dunklen Wolkentürmen, die dort oben an den zerklüfteten Berggipfeln klebten, aufzusteigen: so hoch, bis er die Monsterwolke mit seinem Schnabel berühren konnte.
Ruprik, der seine Begleiter nach einer kurzen, aber erholsamen Nacht am Ufer des Sumpfteichs schon bei Sonnenaufgang geweckt und sie zum sofortigen Weiterflug überredet hatte, fasste sich ein Herz. „Jetzt kommt es darauf an, Freunde“, rief er, „wir müssen höher steigen.“
Noch nie in seinem Leben war Roderik so hoch geflogen. Mittlerweile hatte er Mühe, die dunklen Berge von den nicht weniger dunklen Wolken, die sie bedeckten, zu unterscheiden.
Roderik atmete jetzt viel schneller. Das liegt bestimmt an der dünnen Luft hier oben, dachte der Wolkenreiher. Hoffentlich müssen wir nicht noch viel höher fliegen.
Ruprik, der noch viel mehr mit der sauerstoffarmen Höhenluft zu kämpfen hatte als Roderik, sah, dass sie jetzt ein ganzes Stück über der Spitze des ersten Berggipfels angelangt waren. Die riesige schwarze Wolke, deren Ende nicht auszumachen war, befand sich nur noch ein paar hundert Metern vor ihnen. Zumindest schätzte das Ruprik. Aber irgendwie hatte er das Gefühl, dass hier oben, im Reich der schwarzen, felsigen Berge und der noch schwärzeren Wolken Entfernungen keine Rolle spielten. Und dass ein paar Meter auch ein paar Kilometer sein konnten.
Je höher die Wolkenreiher stiegen, umso kälter wurde die Luft. Ein eisiger Wind fuhr den Vögeln durchs Federkleid. Viel kälter kann es am Nordpol auch nicht sein, dachte Tomrik.
Ruprik war sicher, dass sie jetzt handeln mussten. Jetzt oder nie, dachte er. Angesichts der widrigen Verhältnisse hier oben hielt er es für unverantwortlich, noch länger zu warten. Er hoffte, das sie die ideale Höhe erreicht hatten. Das Wolkenungeheuer ragte jetzt unmittelbar vor ihnen empor.
Vom Himmel war nichts mehr zu sehen. Wenn es eine Hölle gibt, schoss es dem ältesten Wolkenreiher durch den Kopf, dann muss sie genauso beschaffen sein wie diese Welt hier oben: weit und breit nichts als rabenschwarze Wolkentürme, die uns zu verschlingen drohen. Dazu ein unbarmherzig kalter Wind, der uns direkt in die furchterregenden schwarzen Massen hineintreibt.
Ruprik gab sich einen Ruck. „Formation bilden“, schrie er gegen den stürmischen Wind an, in der Hoffnung, seine Freunde würden es hören. Doch er musste noch mehrmals brüllen, bis er den Eindruck hatte, von allen Reihern verstanden worden zu sein. Bis auf Bollerik hatten auch alle das Kommando vernommen: mit Erleichterung, denn jeder der Gruppe war am Rande seiner Kräfte angelangt und heilfroh, nicht noch höher fliegen zu müssen.
Bollerik hatte ein wenig den Anschluss an die Gruppe verloren Als er jedoch sah, das seine Freunde sich zum Wolkentreiben formierten, reagierte er sofort. Mit ein paar kräftigen Flügelschlägen schloss er zu den anderen auf und nahm die Position in der Formation ein, die mit Ruprik abgesprochen war: Er bildete den rechten Flügel.
Um eine Wolke vor sich hertreiben oder zu einer Richtungsänderung bewegen zu können, war es erforderlich, das jeder der Reiher exakt den gleichen Abstand zum Nachbarn wahrte.
Bei diesen Windverhältnissen war es für die Wolkenreiher allerdings besonders schwierig, die Abstände korrekt einzuhalten. Immer wieder wurde der eine oder andere der Gruppe von einer Windbö nach hinten oder zur Seite gedrängt – und brauchte dann eine Weile, um sich wieder einzuordnen.
Ruprik befürchtete schon, ihr Unternehmen sei zum Scheitern verurteilt, als der Wind spürbar nachließ. Das war ihre Chance! Mit schnellen Blicken nach links und rechts vergewisserte er sich, das seine Kollegen nebeneinander und in ungefähr gleichem Abstand vom jeweiligen Nachbarn flogen – dann gab er das Kommando: „Wolkenreiher, singt!“
Natürlich konnten die Freunde nicht richtig singen. Doch im Gegensatz zu gewöhnlichen Reihern, aus deren Schnäbeln nur krächzende, würgende Laute drangen, waren Wolkenreiher in der Lage, einen hohen Ton zu erzeugen. Dieser Ton konnte sogar Glas zerspringen lassen. Wenn sie diesen Ton von sich gaben, und das taten sie nur während einer Wolkenjagd, nannten sie das „singen“.
Jetzt sangen die sechs Wolkenreiher so laut sie konnten. Ihre Stimmen vereinten sich zu einem alles durchdringenden, schrillen Pfeifen, gegen das kein Wind anzuheulen vermochte. Dabei – und das war für den Erfolg ihrer Aktion äußerst wichtig – schlugen die Vögel mit ihren Schwingen gleichmäßig im Takt und bewegten sich so auf die Wolke zu.
Durch den schwarzen Wolkenberg ging erst ein Zittern, dann verwandelte sich der bislang starre Wolkenrand in unzählige kleine Strudel und Wirbel, bis die komplette Außenschicht in Aufruhr war.
Die Reiher dachten schon, gleich würden ihre Schnäbel in die Wolke hineinstoßen, da setzte sich das ganze Wolkengebilde in Bewegung. Zunächst hob es ein Stück vom zerklüfteten Berggrad ab, um dann langsam und majestätisch vom Berg weg zu schweben.
Ruprik wusste, dass es geklappt hatte. Ihm war allerdings auch klar, dass erst der Anfang gemacht war. Jetzt kam es darauf an, dass seine Freunde die Disziplin bewahrten und – dass ihre Kräfte ausreichten. Das galt natürlich auch für ihn selbst.
Der erfahrene Reiher sah noch ein Problem. Sie konnten unmöglich das ganze, riesengroße Wolkengebilde bis zu Barakons Dschungelreich schieben. Und so hoffte Ruprik, dass passierte, was bei ihren bisherigen Manövern mit größeren Wolken bislang immer geschehen war: die Teilung der Wolke. Stück für Stück hatten sich kleinere Wolkenteile am Rand abgespalten – bis nur noch der überschaubare Wolkenkern übrig geblieben war. Um diese Restwolke vor sich her zu treiben, hatten die Reiher einen viel geringeren Kraftaufwand benötigt.
Ob dies bei einem derartig großen Wolkenmonster auch so funktionierte, konnte der Wolkenreiher-Älteste allerdings unmöglich vorhersagen. Mit so einer gigantischen Wolke hatten es die Reiher bislang noch nie zu tun gehabt. Ruprik hoffte einfach, dass es auch diesmal klappte.
Roderik fiel es schwer, den Flügelschlag-Takt einzuhalten. Immer wieder schielte er zu seinen Nachbarn, um zu überprüfen, ob er seine Schwingen noch im Gleichklang mit ihren bewegte.
Er war zwar erleichtert darüber, dass sie es geschafft hatten, die riesige Wolke in Bewegung zu versetzen, doch vom Singen hatte er bereits jetzt eine trockene Kehle. Ein erfrischender Schluck Flusswasser wäre genau das Richtige, dachte er. Vielleicht bin ich ja ein wenig aus der Übung, dass die Singerei mich so anstrengt. Und schon war er wieder aus dem Rhythmus gekommen und musste sich einen vorwurfsvollen Blick von Ruprik gefallen lassen, der rechts neben im flog.
Bollerik, der den linken Abschluss der Reiher-Formation bildete, fragte sich gerade, ob die Richtung überhaupt stimmte, in der sie flogen. Da sah er, wie ein großes Randstück der Wolke abplatzte, schnell zurückblieb und aus ihrem Blickfeld verschwand.
Die Reiher konnten jetzt beobachten, wie sich immer mehr Brocken von dem Wolkenberg, den sie singend vor sich her schoben, abteilten und zurückblieben. Ein kleineres Wolkenstück, das sich gerade gelöst hatte, wurde von einer Bö erfasst und schoss mit enormer Geschwindigkeit direkt auf die Reiher zu.
Für ein paar Sekunden waren die Vögel vollständig von nassen Wolkenschwaden eingehüllt. Sie konnten noch nicht mal mehr bis zu ihren Flügelspitzen sehen – und ihr eigener Gesang klang ihnen seltsam dumpf in den Ohren. Doch dann hatten sie wieder klare Sicht: Die kleine, prall mit Feuchtigkeit gefüllte Wolke, war hinter ihnen verschwunden. Doch sie hatte Wasserperlen auf ihren Federn hinterlassen. Die Perlen konnten dem Wind nicht mehr standhalten und sausten durch die Luft.
Die von den Reihern vorangetriebene Wolke hatte inzwischen ein überschaubares Maß angenommen. Ruprik, den die ganze Aktion wesentlich mehr anstrengte, als er es für möglich gehalten hatte, fühlte sich erleichtert. Er merkte deutlich, dass sie jetzt bei weitem nicht mehr so viel Kraft aufbringen mussten, um die Wolke vor sich her zu treiben.
Alle Wolkenreiher spürten die Verbesserung. Automatisch verlangsamte sich der Rhythmus ihrer Flügelschläge. Tomrik erinnerte sich an frühere Aktionen, wo es ihnen möglich gewesen war, das Singen zeitweise einzustellen. Voraussetzung für eine Singpause war, dass die Wolke eine bestimmte Geschwindigkeit erreicht hatte: Dann genügte es für ein paar Minuten, einfach nur in Formation zu fliegen. Hoffentlich klappt das auch diesmal, dachte Tomrik.
Der erfahrene Ruprik hatte natürlich längst an die Möglichkeit gedacht, ihre Stimmen zu schonen. Sein Gefühl sagte ihm, dass sie es jetzt probieren sollten. Das Tempo erschien ihm als ausreichend.
„Singen einstellen“, rief er so laut er konnte. Natürlich kamen alle Wolkenreiher seinem Befehl nur zu gern nach. Jeder hatte mittlerweile eine raue, trockene Kehle und freute sich über die Pause.
Ruprik, dessen Augen nicht mehr so gut in die Ferne sahen wie in jüngeren Jahren, was er allerdings seinen Freunden bislang verschwiegen hatte, wandte sich rufend an den Jüngsten aus der Gruppe. „Frederik, in welche Richtung fliegen wir? Liegen die höchsten Gipfel der Schwarzen Berge jetzt rechts von uns?“
Der schlaue Frederik wusste natürlich ganz genau, warum ihn Ruprik fragte. Doch er ließ sich nichts anmerken. „Nein,“ rief er zurück, „die Gipfel liegen rechts hinter uns.“
Augenblicklich veranlasste Ruprik die Gruppe zu einer Korrektur ihres Flugkurses. Nach ein paar Minuten, die Wolke war immer näher an ihre Schnäbel herangerückt, mussten die Reiher ihren Gesang wieder fortsetzen. Doch das bedrückte jetzt keinen mehr von ihnen. Jeder hatte das Gefühl, das sie es schaffen konnten. Und Bollerik war so fröhlich und entspannt, dass er an frische, knusprige Muschelküchlein dachte. Ja, er roch sie sogar schon.
Der König grollt
Missmutig ließ der Affenkönig seine Beine aus der Hängematte baumeln. Von Tag zu Tag wurde seine Laune schlechter. Das Dämmerlicht, in das sein Reich seit Beginn der Regenzeit getaucht war, verstärkte seine düstere Stimmung noch.
Barakon fragte sich, ob die Idee mit dem Schirmdach wirklich so genial war. Schließlich hatte es seit drei Tagen nicht mehr geregnet. Keinen einzigen Tropfen. Und das mitten in der Regenzeit. Nichts ist so, wie es sein soll, dachte Barakon. Auf seiner Stirn erschien eine neue, tiefe Sorgenfalte. Die Wut des Dschungelherrschers auf die Schlange erwachte zu neuem Leben. Barakon brach der Schweiß aus, und sein Magendrücken wurde so stark, dass er den Eindruck hatte, eine Kanonenkugel verschluckt zu haben.
Der König fluchte so laut, dass die beiden Diener am Fuß des Eukalyptusbaums befürchteten, gleich würde Majestät sie wieder mit einer besonders unangenehmen Aufgabe schikanieren. Erst gestern hatte Barakon ihnen und vier Kollegen befohlen, sämtliche Lianen im Umkreis von fünfzig Metern zu entfernen. Weil ihn das beim königlichen Denken störe, wenn er in der Hängematte im Eukalyptusbaum seinen Regierungsgeschäften nachginge, hatte der König gesagt.
Den halben Tag und die ganze Nacht hatten die Diener gebraucht, um die Nachbarbäume von Lianen zu befreien. Und jetzt mussten zwei von ihnen auch noch Wache schieben. Obwohl sie sich vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten konnten. Wer weiß, was dem König als nächstes einfiel, dachte der ältere der beiden Affenwachen. Vielleicht bekommen wir ja bald den Befehl, den ganzen Urwald zu roden. Er schloss nicht aus, dass der König langsam verrückt wurde. Oder es bereits war.
Vor gut einer Stunde hatte Barakon alle Spiele der Kokoskegel-Meisterschaften abgesagt. Darüberhinaus hatte er es jedem Affen seines Reiches bei Höchststrafe verboten, auch nur eine Kokosnuss anzurühren.
Barakon vermisste das beruhigende Geräusch, das die Regentropfen machten, wenn sie auf das Schirmdach prallten. Überhaupt fragte er sich, was diese Tausende von Schirmen, die über dem Wald schwebten, noch für einen Sinn hatten: jetzt, wo die Regenzeit anscheinend bereits zu Ende war.
Während der Affenkönig weiter grübelte, kam ihm auf einmal eine Idee, ein Gedanke, der ihm Angst einjagte. Was wäre, wenn die Schirme immer dort blieben, wo sie waren? Barakon stellte sich vor, dass kein Sonnenstrahl je wieder sein Dschungelreich erhellen würde. Bei dieser Vorstellung grauste es ihn.
Der König wusste, das nur Mera die Macht besaß, den Zauber aufzuheben und die Schirme wieder dorthin zurück zu schicken, wo sie hergekommen waren. Und sie natürlich nach Belieben wieder zurückzubeordern, etwa dann, wenn die nächste Regenzeit sich ankündigte. Barakon traute der boshaften, hinterlistigen Schlange durchaus zu, die Schirme den ganzen sonnigen Sommer lang über dem Wald schweben zu lassen – nur um ihn, den Herrscher, zu ärgern.
Es war ein großer Fehler, dachte der Affenkönig, der Schlange zu erlauben, sich im heiligen Baum einzunisten. Denn obwohl er versucht hatte, das vor seinem Volk geheim zu halten, war die Nachricht schon bald durchgesickert. Jetzt weiß es wahrscheinlich schon der dümmste Affe in meinem Reich, ärgerte sich Barakon. Noch mehr ärgerten ihn allerdings die Folgen: Weil seine Untertanen jetzt wussten, dass es jemanden gab, der mächtiger war als er selbst, begannen sie, den Respekt vor ihm zu verlieren. Es kam immer häufiger vor, dass Anordnungen nicht oder nicht zur Genüge befolgt wurden.
Ein Soldat seiner Leibwache hatte sich beim Herrscher persönlich darüber beklagt, das er zu wenig Sold bekäme und seine Familie deshalb hungern müsse. Als Barakon ihn in die tiefe Grube werfen lassen wollte, hatten sich die anderen Wachen geweigert, ihren Kollegen abzuführen. Ja, sie hatten sogar damit gedroht, den König zu verlassen und auf Nimmerwiedersehen im Dschungel zu verschwinden.
Zu allem Überfluss war Barakon zu Ohren gekommen, dass Affenkinder bereits Spottlieder über ihn singen würden: Lieder vom einst mächtigen Affenkönig, der jetzt einer Schlange diente und ihr jeden Wunsch von den Lippen ablas. Das ärgerte den Herrscher am allermeisten.
Fieberhaft überlegte Barakon, wie er die Schlange dazu überreden könnte, den Mammutbaum zu verlassen und den Schirm-Zauber aufzuheben. Nur so hatte er eine Chance, seine Autorität wieder herzustellen.
Am liebsten würde er Mera das Blaue vom Himmel versprechen, um sie loszuwerden. Aber die Schlange war schlau und voller Argwohn. Wahrscheinlich würde sie seine Absichten sofort durchschauen und erkennen, dass er ihr etwas verspräche, das er gar nicht halten könne.
Was habe ich ihr auch noch zu bieten, dachte Barakon. Sie residiert ja bereits hoch oben im heiligen Baum, in einem stattlichen Palast, wie ich ihn selbst nie bewohnt habe. Sie nascht stündlich von den verbotenen Früchten. Und sie demütigt mich, wo sie nur kann, und stellt mich vor meinen Untertanen bloß.
Ich muss eine List anwenden, dachte Barakon. Eine List, auf die selbst die clevere Mera hereinfällt. Doch dem König wollte und wollte nichts einfallen. Vor lauter Anstrengung, die ihm das intensive Nachdenken bereitete, fiel er in einen Schlummer.
Nach ein paar Minuten riss ihn etwas aus dem Schlaf: Und da war sie plötzlich – die Idee. Ja, genau, so könnte es funktionieren, dachte er, und seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Ich lasse den heiligen Mammutbaum fällen, ganz einfach fällen: mitsamt der Luxushütte und der widerlichen Schlange. Meinem Volk erzähle ich allerdings vorher, der heilige Baum sei durch die frevelhafte, gewaltsame Besetzung der Schlange entweiht worden. Und das habe die Geister des Waldes so erzürnt, dass sich ihre Gemüter erst wieder beruhigen würden, wenn der geschändete heilige Baum verschwunden sei.
Wie aber sollte er den gewaltigen Baum fällen lassen, ohne dass dies die Schlange merkte, fragte sich der König. Schließlich hatte der Stamm einen solchen Durchmesser, dass die Arbeit nicht in ein paar Minuten erledigt sein würde.
Doch auch da hatte Barakon eine Idee. Warum lasse ich der Schlange nicht ein kleines Geschenk in ihr Baumhaus bringen, dachte er. Eines, das sie nicht abschlagen kann. Einen süßen Mangowein zum Beispiel, den wird Mera sicherlich nicht zurückweisen. Dass der liebliche Wein ein starkes Schlafmittel enthielt, würde natürlich sein Geheimnis bleiben.
Und wenn die falsche Schlange dann friedlich vor sich hinträumt, sponn Barakon seinen Plan weiter, können meine Leute ungestört Hand an den Mammutbaum legen: Und wenn sie den ganzen Tag benötigen, um ihn umzuhauen.
Barakon war mehr als zufrieden mit sich. Ach, was bin ich doch für ein schlaues Kerlchen, dachte er. Er hielt seinen Plan für schlichtweg genial und war felsenfest davon überzeugt, das er gelingen würde. Diesmal zieht die Schlange den Kürzeren, dachte er. Und wäre vor lauter Freude fast aus der Hängematte gefallen.
Überraschung für Carla
Carla schreckte aus ihrem Schlaf hoch und ihr Kopf stieß gegen etwas Hartes. Einen Augenblick wusste sie nicht, wo sie war, bis ihr klar wurde, dass sie in dem hohlen Baum steckte, nur einen Steinwurf vom riesigen Mammutbaum entfernt.
Sie ärgerte sich, eingeschlafen zu sein, und hoffte, nichts Wichtiges verpasst zu haben. Plötzlich hörte sie laute Stimmen.
Carla kroch ein kleines Stück näher an die Baumstammöffnung heran, um besser sehen zu können, was da draußen vor sich ging.
Eine Gruppe von Affen hatte sich am Fuße des Mammutbaums versammelt. Die Affen redeten heftig aufeinander ein. Bei all dem Stimmengewirr konnte das kleine Krokodil nur ein paar Worte und Satzfetzen verstehen, die für sie keinen Sinn ergaben. „Befehl ist Befehl“, hörte sie, und „du bist der bessere Kletterer“. Dann beobachtete Carla, wie einer der Affen auf einen anderen losging, ihn zu Boden warf, und, bevor er sich auf den im Gras Liegenden stürzen konnte, von zwei anderen an den Armen gepackt und zurückgehalten wurde.
Wütend wandt sich der Zurückgehaltene in den Griffen der anderen und stieß wüste Beschimpfungen aus. Die ganze Gruppe, sie bestand aus vielleicht zehn oder elf Affen, begann jetzt wieder wild und laut durcheinander zu reden, bis ein besonders großer, kräftig aussehender Affe in ihren Kreis trat. Augenblicklich verstummten alle.
Carla sah, wie das Muskelpaket auf den Affen, der noch immer von seinen Kollegen festgehalten wurde, zuging, vor ihm halt machte und ihm einen Gegenstand entgegen streckte, der aussah wie eine Flasche oder ein Krug aus Holz.
„Du kletterst“, sagte der große Affe zu dem deutlich kleineren in tiefem Befehlston, und drückte ihm das Gefäß in die Hand. Als sei dies das vereinbarte Signal, löste sich die Gruppe auf – und nach wenigen Sekunden war nur noch der Affe mit der Holzflasche übrig: Wie versteinert stand er unter dem Mammutbaum.
So sah Carla ihn dort verharren, vielleicht fünf oder zehn Minuten lang. Sie hatte keine Erklärung dafür, warum er zwischendurch immer wieder nach oben schaute, so als suchten seine Blicke im dichten Geäst des riesigen Baumes etwas ganz Bestimmtes.
Auf einmal kam Bewegung in die Szene. Der Affe blickte in die Runde, ging zielsicher auf ein hohes Gebüsch zu und verschwand darin. Carla glaubte schon, er kehre nicht mehr zurück, da stand er plötzlich wieder am Stamm den Baums, außer der Flasche noch ein langes Lianenstück in Händen.
Carla beobachtete, wie der Affe geschickt die Liane um seinen Leib schlang und das hölzerne Gefäß am Lianengürtel befestigte.
Prüfend zog der Affe an der Flasche und war anscheinend zufrieden mit seinem Werk: Denn Carla konnte kaum so schnell schauen, wie er den Mammutbaumstamm hinaufkletterte und im Blattwerk verschwand.
Carla wusste nicht, was dies alles bedeutete. Doch sie stellte sich vor, der Affe habe vielleicht den Auftrag, die Flasche jemanden zu bringen, der sich hoch oben im Mammutbaum befand. Dieser jemand kann eigentlich nur der Affenkönig sein, dachte das kleine Krokodil. Dann wurden Carlas Gedanken von etwas abgelenkt, das ihr Herz schneller schlagen ließ. Urplötzlich war es dunkel geworden, das seltsame Dämmerlicht war einer unheimlichen Finsternis gewichen. Carla konnte kaum noch den Mammutbaumstamm erkennen.
Das kleine Krokodil war sicher, dass es noch viel zu früh für den Sonnenuntergang war. Dann gibt es eigentlich nur eine Erklärung für die plötzliche Verdunkelung, dachte Carla. Sie duckte sich in ihrer Baumhöhle zusammen und machte sich so klein wie möglich. Am liebsten wäre sie jetzt ganz weit weg gewesen …
Das Gewitter
Irgendetwas hatte Mera in ihrem Nachmittagsschläfchen gestört, doch die Schlange hatte keine Ahnung, was es gewesen war. Noch ein wenig benommen kroch sie aus ihrem bequemen Federnest und blickte sich auf der Veranda des Mammutbaumhauses um.
Mera kroch ein paar Meter über die Brüstung der Veranda, von der aus sie einen ausgezeichneten Blick über das Schirmdach und den daran anschließenden, unbedeckten Dschungel hatte. Dann richtete sie sich auf, streckte ihren Kopf so hoch, wie es ihr möglich war, und sog mehrmals prüfend die schwüle Urwald-Luft ein.
So hat es hier oben noch nie gerochen, dachte die Schlange. Und das gefiel ihr überhaupt nicht. Irgendetwas liegt in der Luft, dachte Mera.
Ihr Blick fiel auf einen Gegenstand, der mitten auf der Veranda stand. Das Ding sieht aus wie eine Flasche aus Holz, dachte sie.
Es muss jemand hier gewesen sein, als ich geschlafen habe, schoss es der Schlange durch den Kopf. Sie ärgerte sich, es nicht bemerkt zu haben, wo sie sich doch sonst immer hundertprozentig auf ihre Sinne verlassen konnte – auch im Schlaf.
Vielleicht liegt es ja an dieser seltsamen Luft, dachte Mera. Doch dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die Flasche. Neugierig schnüffelte sie an der Öffnung: Es riecht wie Mangowein, dachte Mera. Mangowein und irgendetwas anderes, Bitteres.
Die Schlange musste grinsen. Das ist bestimmt ein Geschenk von Barakon, dachte sie. Aber warum sollte der Affenkönig mir etwas so Köstliches bringen lassen, wo ich ihm doch das Leben zur Hölle mache?
So gern die Schlange süßen Mangowein trank, so sicher war sie sich auch, diese Flasche nicht anzurühren. Nicht einen Tropfen werde ich trinken, dachte sie. Wer weiß, ob der oberschlaue Affe dem Wein nicht Gift beigemischt hat. Zuzutrauen wäre es ihm.
Ein leises Rascheln erfüllte plötzlich die Luft. Mera spürte, wie ein kühler Wind über ihre Haut strich. Der Schlange fiel auf, dass die Vögel ihr Nachmittagskonzert eingestellt hatten: Bis auf das Geräusch, das die aneinander reibenden Blätter des Mammutbaums machten, war nichts mehr zu hören. Die Blätter begannen zu tanzen: erst ganz behutsam, dann zunehmend wilder. Das Rascheln verwandelte sich in ein Rauschen, das immer bedrohlicher klang, und die Zweige und dünneren Äste des Baumes, die sich in der Nähe von Meras Hütte befanden, gerieten in heftige Bewegung und schlugen gegen die Wände.
Mera war beunruhigt. Irgendetwas ging vor in diesem Urwald. Mit einem Mal wurde es dunkel. Die Schlange kroch zu der Stelle auf der Verandabrüstung, von der sie einen freien Blick in den Himmel hatte, und schaute nach oben. Schwarze Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben. Mera hatte den Eindruck, als eilten die Wolkenmassen direkt auf ihr Baumhaus zu.
Ein Donnergrollen wälzte sich ohrenbetäubend über das Schirmdach. In Meras Ohren klang es wie eine Warnung. Doch wovor? Die Schlange merkte, wie das Geländer der Veranda vibrierte. Zwar hatte sie keine Angst, in die Tiefe zu fallen, doch instinktiv kroch sie herunter von ihrem Aussichtsposten, auf die große, ebene Fläche der Hütten-Veranda.
Der Wind war jetzt so stark, dass der Mammutbaum mitsamt der Hütte in seiner Krone hin und her schwankte. Mera spürte, wie die Böen an ihrem Heim mit aller Macht rüttelten und schüttelten. Der Veranda-Boden hatte sich in eine stürmische See verwandelt.
Ein Donnerschlag direkt über ihr ließ die Schlange zusammenzucken. Nein, es ist kein Traum, dachte sie. Es braut sich wirklich ein Gewitter zusammen, ach was, das Unwetter ist bereits direkt über mir. Und das, wo die Regenzeit doch vorbei zu sein scheint. Mera verstand die Welt nicht mehr. Sie hatte zwar keine Angst, aber es war ihr ein wenig unheimlich.
Während sie den ersten Blitz grell über den Himmel zucken sah, sagte sie laut, um sich selbst Mut zu machen: „In ein paar Minuten ist der ganze Spuk vorbei.“ Dann kroch sie ins Haus hinein, so schnell sie konnte. Den dicken, abgebrochenen Ast, den sie dabei überqueren musste, beachtete sie nicht: Zu sehr kreisten ihre Gedanken um die eine Frage: Was hat das alles zu bedeuten?
In ihrem Himmelbett zusammengerollt, hörte Mera, wie die ersten dicken Regentropfen aufs Hüttendach klatschten. Und dann setzte ein gewaltiges Rauschen ein, das sie zunächst überhaupt nicht einordnen konnte. Doch dann war ihr klar: Der mächtige Regen, der auf die Tausenden von Schirmen prasselte, die den Urwald rund um den alles überragenden Mammutbaum bedeckten, verursachte dieses Geräusch.
Wieder ein Blitz, dessen gleißendes Licht durchs Fenster zuckte. Mera beschloss, einfach abzuwarten, bis alles vorbei war …
Barakon in Not
Ein gewaltiger Donnerschlag riss Barakon aus seinem Nachmittagsschlaf. Einen Augenblick dachte der Affenherrscher, er befände sich auf den schwankenden Planken eines Schiffs, das mitten in tosender See verzweifelt gegen den Sturm kämpfte. Doch dann erkannte er, dass er in der königlichen Hängematte lag, die hoch oben im Eukalyptusbaum von heftigen Böen gepackt und hin und her geschleudert wurde.
Barakon gelang es, sich aufzurichten. Ängstlich klammerte er sich an den Rand der aus Büffelgras geflochtenen Matte, um nicht herauszufallen. Ein plötzliches Licht blendete ihn, so dass er für Sekunden die schmerzenden Augen schloss. Als er sie wieder öffnete, sah er schemenhaft, wie sich die Äste des Baumes in einem wilden Rhythmus hin und her bewegten. Wie ein fliegender Schatten schnellte ein besonders dicker Ast ganz nah an seinem Kopf vorbei. Erschrocken ließ Barakon sich in die schlingernde Matte zurückfallen
Wieder und wieder durchdrang die gleißende Helligkeit von Blitzen das Schirmdach. Donner auf Donner rollte über den Dschungel hinweg. Der Affenkönig presste seine Hände gegen die Ohren. Tatsächlich ein Gewitter, schoss es ihm durch den Kopf. Aber das ist doch nicht möglich!
Vielleicht ist alles nur ein böser Traum, dachte er. Aber der abgebrochene Zweig, den ein Windstoß ihm schmerzhaft ins Gesicht schleuderte, so dass er laut aufheulte, ließ ihn erkennen, dass er keineswegs träumte. Es war wirklich ein Gewitter, das war ihm jetzt klar, und zwar ein Gewitter, wie er es so noch nie erlebt hatte.
Und er, der König des Dschungels, steckte ungeschützt mitten drin. Barakon dachte auf einmal an das Schirmdach. Bei diesem Wind müssten eigentlich alle Schirme längst davongeweht worden sein, überlegte er. Und doch sagte ihm irgendetwas, dass sie noch da oben waren, über den Wipfeln der großen Urwaldbäume, dicht aneinandergereiht, so dass sich nicht die kleinste Lücke ergab. Ohne einen Millimeter zur Seite zu weichen schwebten sie da in der Luft. Das Schirmdach so standhaft wie ein Granitfels, dem auch der heftigste Sturm nichts anhaben konnte.
Barakon war sicher, dass Meras Schirmzauber durch ein Gewitter nicht zu erschüttern war. Die Schirme würden unversehrt bleiben, doch ob das auch für ihn galt, daran hatte er Zweifel. Große Zweifel.
Wütend und ängstlich zugleich brüllte Brarakon nach seinen Dienern, die die Aufgabe hatten, am Fuß des Eukalyptusbaums zu wachen und darauf zu warten, ihm einen Wunsch zu erfüllen oder einem seiner Befehle zu folgen. Doch wenn sie überhaupt noch dort unten ausharrten, woran der König jetzt zweifelte, so war es wohl recht unwahrscheinlich, dass sie seine Rufe bei diesem Getöse und Gebrause hören konnten.
Enttäuscht stellte Barakon sein Gebrüll ein. Es blieb ihm nichts anders übrig, als sich ohne die Hilfe seiner Untergebenen in Sicherheit zu bringen.
Barakon fingerte nach der Lianenleiter, die vorhin noch neben der Hängematte hing, doch sein Tasten blieb ohne Erfolg. Wahrscheinlich hatte der Wind sie in die Tiefe gerissen. Wenn ich noch länger warte, wird das auch mit mir passieren, dachte Barakon. Er wusste, das es jetzt höchste Zeit war zu handeln.
Im Licht eines weiteren Blitzes erkannte er, dass der Stamm eines benachbarten Gummibaumes nur wenige Meter entfernt war. Wenn er den richtigen Moment abwartete und die hin und her schaukelnde Hängematte gerade möglichst nah an diesem Baum angelangt war, hatte er eine Chance: Er musste einfach im richtigen Augenblick abspringen und versuchen, am Stamm des Baums Halt zu finden.
Barakon wusste, dass er sich auf ein gewagtes Manöver einließ. Der Stamm eines Gummibaums war alles andere als grifffest. Und doch musste er es darauf ankommen lassen.
Wenn ich mich nach dem Sprung in der Rinde festgekrallt habe, wird es mir schon gelingen, herunter zu klettern, machte er sich Mut. Wenn ich jedoch hier oben bleibe, ist es nur eine Frage der Zeit, wann der Sturm mich aus der Hängematte wirft oder eine der Lianen, an denen die Matte befestigt ist, reißt
Sprungbereit und in seiner Hockstellung mühsam das Gleichgewicht haltend wartete Barakon, bis der nächste kräftige Windstoß die Hängematte auf den Gummibaum zutrieb. Barakon kniff die Augen zusammen, um in der Finsternis überhaupt etwas erkennen zu können. Einem Blitz im richtigen Moment verdankte er es, den Baumstamm dicht vor sich auftauchen zu sehen.
Der Affenkönig nahm allen Mut zusammen und sprang. Mit Gesicht und Bauch prallte er schmerzhaft auf etwas Hartes. Sofort wollten sich Hände und Füße daran festklammern, doch der glatte Baumstamm bot keinen Halt. Barakon rutschte und rutschte, und seine Füße und Hände sowie sein Leib, der am Stamm entlang trieb, begannen höllisch zu brennen.
Es schien ihm wie eine Ewigkeit vorzukommen, bis ein dicker Ast die unbequeme Talfahrt abrupt beendete.
Als der Affenkönig auf dem Gummibaumast hockte, den Baumstamm mit allen Vieren umklammernd, war seine Wut viel größer als die Schmerzen, die seine Schürfwunden verursachten.
Barakon fragte sich, ob Mera für dieses Unwetter verantwortlich war. Wenn sie Regenschirme verzaubern kann, warum soll sie nicht auch Gewitter herbei befehlen können, dachte er. Doch dann musste er mit einem Mal grinsen. Sein zerschrammtes Gesicht an den Baumstamm gedrückt, hatte er einfach das Gefühl, dass er aus dieser Sache viel besser herauskommen würde, als die so mächtige Mera.
Und während Barakons Grinsen immer breiter und seine Laune immer besser wurde, merkte er nicht, wie der Wind noch an Stärke zunahm und sein Gummibaum immer bedrohlicher hin und her schwankte.
Am Ziel
Rodrik, den Ruprik als Kundschafter vorausgeschickt hatte, war sicher, den riesigen Mammutbaum entdeckt zu haben. Das muss der Heilige Baum sein, dachte er, als er schon von weitem sah, wie irgendetwas Großes deutlich aus dem bunten Meer von Schirmen herausragte.
Ruprik hatte ihn als Kundschafter vorausgeschickt. Zu sehr versperrte ihnen die dunkle Wolke, die die Reiher vor sich her dirigierten, die Sicht. Als sie erkannt hatten, dass sie längst den Teil des Dschungels überquerten, der von Meras Schirmdach überdeckt war, hielt der Reiher-Älteste es für besser, einen der ihren vorauszuschicken, damit sie ihr Ziel ja nicht verfehlten. Und so war Roderik mit einer Sonderaufgabe betraut worden.
Deutlich konnte er jetzt den Mammutbaum erkennen. Roderik hatte den Eindruck, als sei ein dunkelgrüner Megapilz mitten aus einer gigantischen Flickendecke gewachsen, die ein Riese über den Urwald gelegt hatte. Der Anblick war so überwältigend, dass Roderik einen Augenblick vergaß, was Ruprik ihm aufgetragen hatte. „Sobald du diesen komischen Baum siehst“, hatte er gesagt, „fliegst du augenblicklich wieder zu uns zurück.“ „Am besten unter der Wolke her“, hatte er noch hinzugefügt.
Rodrik war jetzt so nah an den Mammutbaum herangekommen, dass er, halb verdeckt von Zweigen und Blättern, Barakons Baumhaus erkennen konnte. Er hatte sich eher eine Hütte vorgestellt, aber jetzt sah er, dass der Affenkönig sich einen stattlichen Palast hatte bauen lassen. Vor lauter Neugierde wollte er noch näher heranfliegen, doch da fiel ihm Rupriks Auftrag ein. Augenblicklich machte er kehrt und steuerte, so schnell er konnte, auf die Unterseite der dunklen Wolke zu, die er mit seinem Erkundungsflug ein beträchtliches Stück hinter sich gelassen hatte.
Roderik segelte ganz dicht unter der dicken Regenwolke her. Es kam ihm so vor, als bewege nicht er sich, sondern nur die Wolke. In Windeseile sauste sie über ihn hinweg. Da werden Ruprik und die anderen besonders laut singen, vermutete er. Doch als er seine Freunde erreicht hatte, erkannte Roderik, dass sie gerade eine Singpause eingelegt hatten und ihre Flügel nur sehr langsam bewegten. Alle sahen ziemlich erschöpft aus.
Die Nachricht, das Ziel ihrer anstrengenden Reise liege unmittelbar vor ihnen, wurde von Roderiks Kollegen mit großem Hallo begrüßt. Ruprik forderte seine Wolkenreiher auf, noch einmal die letzten Kraftreserven frei zu machen. Dann erkundigte er sich bei Roderik, ob ihr Kurs noch stimme. „Zwei Flügelschläge nach West“, rief dieser, „dann müsste es passen.“
Während Roderik von seiner Kundschafter-Mission zurückgekehrt war, hatte er sich einen besonders großen, orangefarbenen Sonnenschirm mit giftgrünem Rand als Orientierungspunkt gemerkt. Wenn wir den erspähen, hatte er überlegt, müsste unsere Wolke eigentlich in der richtigen Position sein und sich ziemlich genau über dem Mammutbaum befinden.
Er war froh, daran gedacht zu haben, dass sie den Heiligen Baum ja gar nicht rechtzeitig sehen konnten. Schließlich flogen sie ja hinter der dicke Wolke, die ihnen die Sicht versperrte.
Jetzt galt es, nach dem orange-grünen Sonnenschirm Ausschau zu halten. Dann könnte das Spektakel losgehen.
Natürlich hatte er alle Kollegen informiert, und so sangen die Wolkenreiher nicht nur aus Leibeskräften, sondern hielten auch fleißig Ausschau nach besagtem Schirm.
Tomrik entdeckte als erster den großen, grellbunten Sonnenschirm, was allerdings nicht weiter schwierig war. Umringt von überwiegend grauen und schwarzen Regenschirmen, stachen die Farben des Schirms einfach ins Auge.
„Ich glaube, dort unten ist der Schirm“, rief Tomrik den anderen zu. Allerdings musste er nochmals rufen, bevor die singenden Kollegen ihn gehört hatten.
Mit einer eindeutigen Schnabelbewegung signalisierte Roderik seinen Freunden, dass Tomrik den richtigen Schirm entdeckt hatte. Jetzt konnte es endlich losgehen. Sie waren am Ziel.
Die Wolkenreiher stellten ihren Gesang sofort ein und flogen nun so langsam wie möglich. Jeder wusste, was jetzt zu tun war. Ruprik hatte seinen Freunden noch einmal die richtige Vorgehensweise in Erinnerung gerufen. Selbst Frederik, der jüngste Wolkenreiher, erinnerte sich genau daran, was sie unternehmen mussten, damit ein Gewitter losbrach. Nun warteten alle auf das Startsignal.
Als Ruprik wie vereinbart dreimal schnell hintereinander mit den Flügeln schlug, schoss Roderik als erster los, genau auf die Mitte der schwarzen Wolke zu. Dicht darauf folgten ihm Henrik, Tomrik, Bollerik, Frederik und schließlich Ruprik selbst. Alle flogen, so schnell sie konnten.
Wie ein Speer schnellte die Reiherformation in die düstere Wolkenmasse hinein. Bereits nach wenigen Sekunden hatte das Ungetüm die sechs Freunde vollständig verschluckt.
Als Roderik, den langen Schnabel gerade voraus, in die Wolke eindrang, schloss er seine Augen. Immer wenn er in eine Regenwolke hinein flog, hatte er ein merkwürdiges Gefühl.
Es war keine Angst, die er verspürte, eher ein Unbehagen, gemischt mit einer Spur Ungewissheit. Obwohl er wusste, dass jede Wolke, auch die schwärzeste, nur aus Wasserdampf bestand, war er immer darauf gefasst, irgendetwas Neuem, Seltsamen in ihr zu begegnen.
Er fühlte sich einfach wie in einer anderen, fremden Welt. Und irgendetwas sagte ihm, dass er ein unerwünschter Eindringling war, der hier überhaupt nichts verloren hatte.
Dieses Mal war das seltsame Gefühl besonders stark. Um sich davon abzulenken, öffnete er die Augen. Doch natürlich sah er nichts. Dafür spürte er etwas. Roderik merkte, wie ein feuchte Kälte unaufhaltsam durch seine Federn drang. So kalt war es bislang noch in keiner anderen Wolke gewesen, schoss es ihm durch den Kopf.
Roderik merkte, wie er an Geschwindigkeit verlor. Das Flügelschlagen fiel ihm plötzlich unendlich schwer. Es kam ihm so vor, als flöge er durch eine zähe, sirupartige Masse Roderik hoffte, die Wolkenmitte bald erreicht zu haben.
Ein Kribbeln in seiner Schnabelspitze signalisierte Roderik, dass es jetzt soweit war.
Diese Wolke ist wirklich etwas Besonderes, dachte er und fragte sich, ob seine Freunde noch hinter ihm flögen. Ihm war klar, dass sie sich, genau wie er, allein auf ihr Gefühl verlassen mussten, um im richtigen Moment mit dem Gewittertanz zu beginnen.
Für Roderik jedenfalls war dieser Moment jetzt da. Er bremste ab und begann mit seinem Tanz.
Beim Gewittertanz flogen Wolkenreiher wie Falken auf der Stelle. Diese besondere Fähigkeit war ihnen angeboren.
Kraftvoll bewegte Roderik seine Schwingen. Dabei hielt er sie in einem ganz bestimmten Winkel zum Körper. Die Folge war, dass er jetzt nicht mehr flog, sondern flügelschlagend mitten in der nasskalten, pechschwarzen Wolke schwebte, den immer noch stark kribbelnden Schnabel ein wenig nach oben gereckt. Er hoffte, dass seine Kollegen es ihm jetzt gleichtaten.
Wie lange ein Gewitterflug anhalten musste, um von Erfolg gekrönt zu sein, dafür gab es für einen erfahrenen Wolkenreiher sichere Anzeichen. Er merkte es einfach an der Stärke der Wirbel, die um ihn herum entstanden, wenn die Wolke bereit war. Am Grad der Unruhe, die sich im Zentrum der Wolke bemerkbar machte. An einem bestimmen Grummeln und Ächzen, das in der Wolke entstand. An einem Ziehen und Zerren der zähen Wasserdampfmassen, die ihn umschlangen. An einem Wechselbad von warmen und kalten Strömungen, in das er hineingezogen wurde. Und schließlich an einem bedrohlichen Zischen, ähnlich dem einer Giftschlange, die sich bedrängt fühlte. Nur dass dieses Zischen wesentlich dunkler und daher noch viel bedrohlicher klang.
Roderik spürte jetzt, wie es um ihn herum brodelte, wie sich mitten in der Wolke warme und kalte Luftmassen bildeten, die, von Feuchtigkeit durchdrungen, um die Vorherrschaft kämpfen.
Er hörte all die seltsamen Geräusche, die anzeigten, dass sich das Wolkenungetüm auf ein gewaltiges Unwetter vorbereitete. Und schließlich hörte er auch, wie das sonore Grummeln, das in seinen Ohren rumorte, in ein tosendes Zischen überging, so als stünde die ganze Wolke kurz davor zu explodieren.
Sofort startete Roderik los, immer dem Schnabel nach – und, wie er hoffte, dem Ende der aufgewühlten Wolke entgegen.
Meras Flucht
Der sintflutartige Regen suchte sich seinen Weg durch die Ritzen und winzigen Löcher des Baumhausdaches und tropfte kalt auf Meras Haut.
Noch immer lag die Schlange zusammengerollt in ihrem Himmelbett, doch das Bett hatte sich mittlerweile in einen feuchten Sumpf verwandelt.
Mera wurde es zu ungemütlich. Zudem war sie von einer seltsamen Unruhe befallen, so dass sie beschloss, die Hütte zu verlassen. Irgendein Gefühl, ja es war schon so etwas wie eine Vorahnung, veranlasste sie, über den nassen Holzboden auf die Veranda zu kriechen.
Draußen wälzten sich Wassermassen über den Verandaboden, so dass Mera Angst hatte, den Halt zu verlieren und weggespült zu werden. Doch sie traute sich nicht, auf die schwankende Brüstung hochzukriechen – erst recht nicht, als sie sah, dass ein Teil des Geländers bereits abgebrochen war.
Doch die Schlange wollte unbedingt von einer erhöhten Position aus einen Blick nach draußen werfen. Irgendein merkwürdiges Gefühl sagte ihr, dass mit den Schirmen etwas vor sich ging.
Mera kroch die Hüttenwand hoch und hatte dabei Mühe, nicht von dem Wasserfall, der vom Dach hinunterstürzte, mitgerissen zu werden.
Oben angekommen, sah Mera, dass das Hüttendach mit abgebrochen Zweigen und Ästen übersäht war. Sie kroch ein paar Meter weiter, bis zu einer Stelle, von der aus sie die beste Aussicht hatte.
Ein dicker Ast krachte neben ihr aufs Dach. Holzsplitter und Rindenstücke prasselten schmerzhaft auf sie nieder. Doch die Schlange achtete nicht darauf. Sie hatte jetzt nur eines im Sinn: zu sehen, was mit den Schirmen geschah.
Als ein Blitz für einen Moment die Welt im Umkreis des Mammutbaums hell erleuchtete, sah sie es – und gleichzeitig spürte sie es. Ein leichtes Beben ging durch die Schirmwand, die den Mammutbaum umschloss und den Urwald in weitem Rund bedeckte.
Trotz des unaufhörlichen Grollens und Brummelns des Gewitters, das immer noch über ihr tobte, drang ein seltsames Geräusch an Meras Ohren, ein Geräusch, das von den Tausenden und Abertausenden Schirmen ausging. Die Schirme wisperten und flüsterten. Mera wurde es unheimlich.
Und dann wusste sie es.
Eine eisige Kälte kroch durch Meras langen Körper. Niemals zuvor war ihr so kalt gewesen. Die Schlange hatte das Gefühl, als gefriere ihr Blut.
Mera wusste, dass sie ihre Zauberkraft verlieren würde. Und dass dies schon bald geschehen würde – sehr bald. Doch noch war es nicht soweit.
Die Schlange setzte all ihre Kräfte ein und konzentrierte sich, so stark sie konnte, damit das Bild, welches jetzt undeutlich vor ihren Augen auftauchte, schärfer wurde, an Konturen gewann.
Mera strengte sich an sich, bis ihr Kopf schmerzte. Die Kälte ihres Körpers verwandelte sich in eine höllische Hitze, die sich wie ein Lavastrom durch ihr Inneres wälzte.
Meras Anstrengung wurde belohnt. Mit ihrer noch verbliebenen Zauberkraft gelang es ihr, in die nahe Zukunft zu schauen. Sie hatte jetzt deutlich vor Augen, was in wenigen Minuten geschehen würde – mit dem Mammutbaum – und mit den Schirmen …
Entsetzen packte die Schlange. Plötzlich fühlte sie sich völlig kraftlos. Und doch musste sie handeln, sofort handeln.
Mera wusste, dass sie nur eine Chance hatte: So schnell wie möglich diesen Baum zu verlassen und das Weite zu suchen. Es blieb ihr nur die Flucht. Fliehen, um ihre Haut zu retten. Denn das, was kommen würde, sehr bald kommen, hatte die Macht, nicht nur ihre Zauberkraft zu zerstören, sondern auch ihr Leben.
So schnell sie konnte kroch Mera vom Baumhausdach herunter. Noch nie im Leben hatte sie es so eilig gehabt wie jetzt. Die unaufhörlich zuckenden Blitze wiesen ihr den Weg über die Veranda, dorthin wo sich ein kleiner Durchgang zum Hauptstamm des Mammutbaumes befand.
Halb kriechend und halb schwimmend erreichte die Schlange das Loch. Hinter sich hörte sie ein lautes Bersten und Splittern, doch Mera drehte sich nicht um. Ihr war egal, was hinter ihrem Rücken passierte. Für sie ging es jetzt nur noch darum, auf dem schnellsten Weg diesen Baum hinunter zu kriechen und sich in den Dschungel zu schlagen – so weit weg vom Mammutbaum wie möglich.
Eilig glitt Mera den nassen Stamm hinab. Angesichts der Bäche, die sich an der glatten Rinde entlang in die Tiefe stürzten, hatte sie Mühe, Halt zu finden.
Mera drängte den Gedanken zurück, wie riesig dieser Baum war. Sie konzentrierte sich ganz daran, nicht abzurutschen und schneller den Urwaldboden zu erreichen als ihr lieb war.
Unheimliche Begegnung
Carla hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Sie wusste nicht, wie lange das Gewitter schon tobte.
Sie hatte sich ganz in die Mitte des ausgehöhlten Baumstamms zurückgezogen und wagte sich nur hin und wieder, vor zu kriechen und einen Blick hinaus auf den Mammutbaum zu werfen.
Ein mulmiges Gefühl hatte Carla beschlichen. Allerdings freute sie sich auch, dass es Roderik und den anderen Wolkenreihern anscheinend gelungen war, ein mordsmäßiges Gewitter zu veranstalten. Gleichzeitig machte sie sich um ihre Freunde große Sorgen. Die Vorstellung, Roderik und die anderen flögen in diesen düsteren Wolkenmassen herum, zwischen all den schrecklichen Blitzen, ließ sie schaudern.
Da fühlte Carla sich in ihrem hohlen Baum schon viel besser aufgehoben. Nur eines beunruhigte sie allmählich: Seit dem Beginn des Gewitters wälzten sich unaufhörlich wahre Wassermassen den gewaltigen Stamm des Mammutbaums hinab. Unzählige kleine Wasserfälle stürzten im großen Umkreis des Stammes von den Zweigen und Blättern.
Der Waldboden verwandelte sich mehr und mehr in einen tiefgründigen See. Wie lang würde diese Sintflut noch andauern, fragte sich das kleine Krokodil.
Noch eine Weile, dachte Carla, und mein Baumversteck schwimmt mit mir auf und davon. Schon hatte sie den Eindruck, als bewege sich der hohle Baum ganz leicht hin und her. Sie beschloss, sich Gewissheit zu verschaffen, und kroch auf den Höhleneingang zu.
Carla hatte sich nicht getäuscht. Im Licht einer ganzen Serie von Blitzen erkannte sie, dass das Wasser bereits enorm gestiegen war. Kleinere Büsche waren von den Wassermassen bereits überspült worden. Und ihr hohler Baum hatte sich in ein Floß verwandelt: Denn der mächtige Stamm des Mammutbaums, der sich noch vor kurzem direkt vor ihrer Nase befand, war nun ein ganzes Stück nach rechts gerückt. Das bedeutete: Sie und ihr Baumheim hatten sich von der Stelle bewegt!
Carla überlegte, was sie tun solle. Natürlich hatte sie vor dem Wasser keine Angst. Schließlich war sie ein Krokodil. Und Krokodile konnten prima schwimmen und tauchen, dass wusste jedes Tier! Doch im hohlen Baum zu bleiben, bedeutete unter Umständen, vom Mammutbaum weg getrieben zu werden. Und das hieße, nicht länger an Ort und Stelle zu sein, wenn die Wolkenreiher ihren Plan vollenden würden.
Wenn sie es überhaupt noch schaffen, dachte das kleine Krokodil. Erste Zweifel erfüllten Carla, denn schließlich waren schon Tausende Blitze vom Himmel gefahren – und keiner von ihnen hatte den Heiligen Mammutbaum getroffen. Und ihn direkt zu treffen, darauf kam es schließlich an, das wusste Carla.
Während das kleine Krokodile hin und her überlegte und dabei auf die Wellen und Strudel starrte, die den Waldsee jetzt mehr und mehr in Unruhe versetzten, nahm es aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Etwas huschte am Mammutbaumstamm hinab.
Carla drehte ihren Kopf und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Hätte nicht gerade in diesem Augenblick ein ganzes Bündel greller Blitze für das nötige Licht gesorgt, wäre ihr wohl verborgen geblieben, wer da so eilig den Stamm hinabglitt. So konnte Carla allerdings deutlich erkennen, dass es sich um eine Schlange handelte. Eine Schlange von außergewöhnlicher Größe.
Das kleine Krokodil sah, wie die riesige Schlange, kurz bevor sie den Wasserspiegel am Fuß des Mammuts mit ihrem Kopf erreicht hatte, stoppte und wie erstarrt wartete. Carla kam es so vor, als sei die Schlage überrascht und überlege nun, was zu tun sei. Vielleicht hat sie nicht damit gerechnet, dass hier unten alles unter Wasser steht, dachte das Krokodil.
Als der nächste Blitz die Szenerie erleuchtete, war die Schlange verschwunden – und der Mammutbaum ein ganzes Stück weiter weg. Ich werde abgetrieben, schoss es Carla durch den Kopf. Wo aber ist bloß die Schlange geblieben?
Carla konnte sich nicht entschließen, irgendetwas zu tun. Denn jetzt war ihr der Gedanke gekommen, bei dieser riesigen Schlange könnte es sich um Mera handeln, die Schlange mit der Zauberkraft. Und diese Vorstellung behagte Carla ganz und gar nicht. Das kleine Krokodil war wie gelähmt.
Die Blitze hatten jetzt erstmals eine Pause von vielleicht einer Minute eingelegt. Carla erschien diese Zeitspanne wie eine Ewigkeit. Als es wieder blitzte, glaubte sie erst nicht, was sie sah. Nur ein paar Meter entfernt trieb ein dicker, abgebrochener Ast im dunklen Wasser. An diesen Ast klammerte es sich etwas. Es war die Schlange.
Sie hatte den hinteren Teil ihres Körpers um einen Zweig geschlungen, als suche sie so Halt, um nicht vom Stamm zu gleiten. Carla sah, wie die Schlange ihren Kopf, den sie nach vorne gestreckt hielt, ruckartig in ihre Richtung drehte.
Der Ast mit der Schlange hatte sich weiter Carlas Baumversteck genähert. Es muss hier unterschiedliche Strömungen geben, dachte das kleine Krokodil. Obwohl wieder eine Phase der Dunkelheit herrschte, hatte es das Gefühl, als starrten die Schlangenaugen sie unaufhörlich an.
Wieder ein Blitz. Sein gleißendes Licht ließ die schmalen Augen der Schlange bedrohlich grün aufleuchten. Carla war es unheimlich zumute. Immer noch blickte sie wie versteinert aus der Öffnung ihres schwimmenden Baumes.
Es blitzte erneut, doch diesen Blitz erlebte Carla als gewaltigen Schlag, der alles um sie herum in ein Meer aus Feuer verwandelte. Der Knall dröhnte laut in Carlas Ohren.
Carla merkte, wie der Baum, in dem sie steckte, von einer unbändigen Kraft empor gehoben und durch die Luft geschleudert wurde. Dann ein klatschender Aufprall – und, als sie mit dem Baum unter Wasser gedrückt wurde, Stille.
Carla hatte keine Ahnung, wie tief sie sich unter der Wasseroberfläche befand. Aber während sie sich aus ihrer Baumhöhle zwängte, um nach oben zu schwimmen und nachzuschauen, was sich ereignet hatte, wusste sie es im Grunde bereits.
Es gab nur eine Erklärung für das, was dort oben passiert war. Ihre Freunde hatten es geschafft: Endlich hatte einer ihrer Blitze den Mammutbaum getroffen.
Von dem Baumriesen dürfte jetzt eigentlich nicht mehr viel übrig sein, dachte das kleine Krokodil, und wollte sich gleich davon überzeugen. Doch als Carla auftauchte, erlebte sie eine faustdicke Überraschung.
Unfreiwilliges Bad
Der Affenkönig umschlang den Gummibaumstamm, als wolle er ihn zerquetschen. Es blitzte, heller als je zuvor – und noch in der selben Sekunde erfolgte der Donnerschlag, so laut, als würde die Erde zerbersten. Dann wurde Barakon wie eine reife Frucht vom Gummibaum geschüttelt. Er fiel und fiel – bis er in einem dichten, stacheligen Strauch landete.
Barakon fluchte. In seinem Fell steckten Dutzende von langen Dornen. Die Dornen verursachten solch stechende Schmerzen, dass der Affenkönig glaubte, sein Fell brenne lichterloh.
Stöhnend und fluchend versuchte Barakon, sich aus seiner ungemütlichen Lage zu befreien. Behutsam verlagerte er sein Gewicht, drehte sich etwas zur Seite – und fiel erneut. Doch diesmal nur etwa einen Meter: Aus dem Stachelstrauch plumpste der Affenkönig direkt in das kühle Nass des neuen Urwaldsees.
Prustend tauchte Barakon auf. Die Landung im Wasser hatte ihn dermaßen überrascht, dass er noch keinen klaren Gedanken fassen konnte. Der Dschungelherrscher hasste es, im Wasser zu sein. Im nassen Element fühlte er sich würdelos, unbeholfen und verletzlich.
Barakon wusste nicht, wie lange er schon hilflos in Wasser herum schwamm. Ihm war eiskalt, und seine Arme und Beine fühlten sich ganz taub an. Immer wieder tasteten seine Hände nach etwas, an dem er sich festhalten und vielleicht aus dem See ziehen konnte.
Plötzlich bekam der Affenkönig etwas zu fassen. Doch dieses Etwas zappelte, war glitschig und entzog sich seinem Händedruck.
Barakon wirbelte im Wasser herum und fingerte hektisch nach dem Gegenstand, den er für eine dicke Liane hielt. Da hatte er sie wieder! Während seine Beine im Wasser wild herumstrampelten, versuchten seine Hände, das Ding festzuhalten. Doch wieder entwand es sich ihm.
Barakon hatte Schwierigkeiten zu erkennen, was es wirklich war, nach dem er so verzweifelt langte. Er sah einen Schatten und packte mit aller Kraft zu: Na also, dachte er, jetzt entwischst du mir nicht mehr. Natürlich ist es eine Liane – und ein besonders dickes Exemplar noch dazu.
Er zog daran, so fest er konnte. Ich muss versuchen, mich an der Liane nach oben zu ziehen, dachte er. Denn wo eine Liane hängt, ist auch ein Baum. Und auf dem ist es viel gemütlicher, als hier unten.
Barakon zerrte mit aller Macht an der zappeligen Liane, und dann hörte er, wie die Luftwurzel ihn laut und ärgerlich anzischte.
Jetzt hatte Barakon das Ding ganz nah vor Augen, jetzt sah er es klar und deutlich – und bemerkte seinen Irrtum: Es war keine regennasse Liane, die er mit seinen kräftigen Händen umklammert hielt. Es war der Körper einer Schlange, die sich wütend in seinem Griff wandt und ihm ihren Kopf und ihr züngelndes Maul bedrohlich entgegenstreckte. Aber erst an den stechenden Augen, die ihn wütend anfunkelten, erkannte Barakon, wer diese Schlange war. Es war Mera.
Sofort ließ der Affenkönig los. Und dann packte ihn eine panische Angst. Barakon begann zu schwimmen. Er schwamm so schnell, wie er noch nie in seinem Leben geschwommen war. Er wich abgebrochenen Ästen aus, die im Wasser trieben, und umrundete stachelige Büsche, die aus dem Wasser ragten. Er schüttelte dünne Lianen ab, die sich in seinen Armen und Beinen verfangen hatten, und riss sich Farnbüschel vom Leib, die an seinem Bauchfell klebten.
Der Affenkönig wagte nicht, sich umzuschauen. Erst als er merkte, dass seine Kräfte schwanden, riskierte er einen Blick zurück. Doch er konnte Mera nirgends entdecken. Erst jetzt fiel ihm auf, dass es im Dschungel heller geworden war. Aber er war viel zu erschöpft, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Hauptsache, ich habe dieses Biest abgeschüttelt, dachte er.
Und dann sah Barakon den kleinen, mit Gras und Farnkraut bewachsenen Hügel, der wie eine Insel aus den Fluten ragte. Er beschloss, sich dort etwas auszuruhen. Und über all das nachzudenken, was in den letzten Minuten passiert war. Aber das war eigentlich viel mehr, als in seinem Kopf Platz hatte.
Der Bann ist gebrochen
Carla hatte die Wasseroberfläche erreicht. Sie steckte ihren Kopf nur so weit heraus, dass sie gut sehen konnte – doch das, was sie sah, konnte sie nicht glauben. Die Düsternis von vorhin, die das grelle Licht der Blitze immer nur für Sekundenbruchteile unterbrochen hatte, war einer schummrigen Helligkeit gewichen, einem unwirklichen Zwielicht.
Doch es war die Ursache für dieses neue Licht in Barakons Dschungel, die das Krokodil in ungläubiges Staunen versetzte: Als es es seinen Blick nach oben richtete, schaute es direkt auf einen Teil des Schirmdachs. Das Schirmdach hatte riesige Löcher bekommen und schien sich aufzulösen.
Ganze Schirmgruppen trudelten zur Seite und stießen mit anderen Schirmen zusammen. Einige Schirme schossen wie Raketen in die Höhe, andere sanken nach unten, als drücke sie ein kräftiger Fallwind in Richtung Urwaldboden. Mehrere kleinere Schirme verhedderten sich in einem großen Sonnenschirm. Und nicht wenige Schirme, darüber wunderte sich das kleine Krokodil am meisten, waren zugeklappt und sausten, die Schirmspitze wie ein Reiherschnabel voran, wild hin und her, als wüssten sie nicht, wohin.
Carla bemerkte die große Lücke im Urwald nicht, den die zerstörerische Kraft des Blitzes, der in den Mammutbaum gefahren war, geschaffen hatte. Es war ihr gar nicht klar, dass sie nur aufgrund dieser Dschungellichtung in den Himmel schauen konnte, dorthin, wo noch vor wenigen Minuten Tausende von Schirmen dicht an dicht über den Bäumen geschwebt waren.
Am Himmel herrschte ein heilloses Durcheinander. Immer mehr Schirme lösten sich aus der Formation und verschwanden aus Carlas Blickfeld.
Meras Zauber ist gebrochen, schoss es Carla durch den Kopf. Die Wolkenreiher haben es wirklich geschafft! Und während sie weiter in den Himmel starrte, von einem tiefen Gefühl der Freude erfüllt, fiel ihr wieder ein, was Roderik zu ihr gesagt hatte, bevor sie sich auf der Palmeninsel getrennt hatten: „Wenn unser Auftrag erledigt ist, treffen wir uns im Eukalyptuswäldchen.“
Mit einem Mal wurde Carla so stark von dem Wunsch erfüllt, ihren Freund wiederzusehen, dass ihr Herz wie wild zu klopfen begann. „Und ob der Auftrag erledigt ist“, sagte Carla laut zu sich selbst.
Ich werde dieses Eukalyptuswäldchen finden, dachte das kleine Krokodil. Auch wenn ich nicht die geringste Ahnung habe, in welche Richtung ich schwimmen muss. Vielleicht muss ich ja einfach nur meinem Gefühl folgen, dachte sie. Und so schwamm Carla voller Zuversicht der untergehenden Sonne entgegen.
Mera schmiedet Pläne
Der Ärger über die verpasste Gelegenheit, dem hilflos im Wasser herumstrampelnden Affen eine Lektion zu erteilen, saß tief. Mera konnte sich nicht verzeihen, dass sie Barakon entwischen ließ. Aber sie hatte einfach nicht damit gerechnet, dass der dicke Affe so schnell schwimmen konnte.
Egal, dachte sie. Mit Barakons Macht ist es ein für allemal vorbei. Die Schlange malte es sich bereits genüsslich aus, wie schnell sich im großen Urwald die Nachricht verbreiten würde: Barakon, der mächtige Herrscher des Dschungels, sei während eines Gewitters ins Wasser gefallen und treibe jetzt vielleicht schon im großen Fluss Richtung Meer.
Doch Meras Schadenfreude wurde getrübt durch einen Blick auf ihre eigene Lage: Denn die war alles andere als komfortabel. Ihr luxuriöses Heim war Opfer eines mächtigen Blitzschlags geworden. Statt in ihrer weichen Hängematte zu liegen und sich süßen Träumen hinzugeben, umschlang sie den Ast eines alten Baumes, dessen stachelige Rinde sich ihr schmerzhaft in die Haut drückte, und blickte in die trüben Fluten des Urwaldsees.
Mera wusste, dass sie eigentlich noch großes Glück gehabt hatte. Schließlich war es ihr gelungen, sich gerade noch rechtzeitig in Sicherheit zu bringen, bevor der Blitz aus dem Heiligen Baum samt Haus Kleinholz gemacht hatte.
Allerdings konnte die Schlange in der Tatsache, noch am Leben zu sein, wenig Trost finden. Zu sehr bedrückte sie der Verlust ihrer Zauberkraft. Dass es mit ihren magischen Fähigkeiten aus und vorbei war, hatte sie längst gemerkt. Trotz größter Anstrengung und höchster Konzentration war es ihr nicht gelungen, wenigstens einen einzigen Schirm daran zu hindern, seinen Platz im Schirmdach zu verlassen und auf und davon zu fliegen.
Mera wusste, dass ihr Plan gescheitert war. Sie sah keinen Grund mehr, noch länger in diesem Dschungel zu bleiben. Wenn erst mal das Wasser im Boden versickert und von der Sonne verdunstet ist, dachte sie, mache ich mich auf die Reise.
Schon vor langer Zeit hatte sich die Schlange vorgenommen, einmal einen Ausflug ins Grasland zu unternehmen. Es spricht eigentlich nichts dagegen, dachte sie jetzt, dass ich mir im Grasland ein gemütliches Plätzchen suche und mich dort häuslich niederlasse. Schließlich soll das Klima dort angenehm sei. Und das Wichtigste: weit und breit keine Affen. Erst recht kein dummer, aufgeblasener Affenkönig. Und während Meras Blut beim Gedanken an Barakon in Wallung geriet, brach der dicke, morsche Ast, an den sie sich geklammert hielt, mit lautem Krachen entzwei. Ehe die Schlange überhaupt begriff, was passiert war, schwamm sie bereits in der bräunlichen Urwaldbrühe.
Vermisst
Endlich war Roderik der Wolke entronnen. Er hatte schon fast die Hoffnung aufgegeben, ihr Ende zu erreichen. Das Zischen in seinen Ohren hatte sich in ein schmerzendes Tosen verwandelt. Geblendet vom gleißenden Licht, das ihn außerhalb der Wolke empfing, schloss Roderik die Augen.
Als seine Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten und er wieder etwas sehen konnte, hielt er sofort Ausschau nach seinen Kollegen. Roderik verlangsamte seinen Flug und drehte den Kopf suchend nach allen Seiten. Doch er konnte keinen seiner Freunde entdecken.
Hoffentlich ist ihnen nichts passiert, dachte er. Er sah jetzt, wie die schwarze Monsterwolke Blitz auf Blitz ausspuckte und in die Tiefe schleuderte. Der Anblick faszinierte Roderik so sehr, dass er gar nicht mehr an seine Freunde dachte. Um das eindrucksvolle Schauspiel noch besser beobachten zu können, flog er etwas tiefer und näherte sich wieder der dunklen Wolke, die er noch vor wenigen Minuten so eilig verlassen hatte. Doch ein Blitz, der nur ein paar Meter vor Roderiks Schnabel vorbei zuckte, ließ ihn augenblicklich kehrtmachen.
Aus sicherer Entfernung verfolgte der Wolkenreiher weiter das Spektakel. Roderik fiel auf, dass unzählige Blitze in das Schirmdach einschlugen. Allerdings traf keiner von ihnen den Mammutbaum, ja erreichte noch nicht einmal seine Nähe. Das war nicht schwer zu erkennen, denn der Mammutbaum ragte wie ein riesiger Pilz aus dem Schirmdach heraus, das von hier oben, immer wenn das Licht der Blitze die Szenerie beleuchtete, wie ein huckeliger Flickenteppich aussah.
Roderik bemerkte, dass häufig dort, wo Blitze ins Schirmdach einschlugen, kleine Brände entstanden und gelbe, lange Flammenzungen in die Höhe stießen. Doch die gewaltigen Regenmassen, die sich unaufhörlich aus der Wolke stürzten, sorgten in Sekundenschnelle dafür, dass diese Feuer gelöscht wurden.
Der Wolkenreiher konnte auch beobachten, wie die Kraft der Blitze große Löcher ins Schirmdach schlug und unzählige Schirme in Fetzen riss. An vielen Stellen im Schirmdach entdeckte Roderik seltsame rot leuchtende Punkte, von denen einige schnell erloschen, für die aber an anderer Stelle neue auftauchten.
Erst konnte er sich das überhaupt nicht erklären. Doch dann hatte Roderik eine Idee. Vielleicht sind es ja metallene Schirmspitzen, dachte er, die, nachdem ein Blitz eingeschlagen ist, eine Zeitlang rot glühen, bis der Regen die Kraft der Glut gebrochen hat.
Auf jeden Fall bot sich Roderik ein fantastischer Anblick, und er konnte sich gar nicht davon losreißen. Recht spät merkte der Reiher, dass er sich dem Schirmdach bedrohlich genähert hatte. Erschrocken bemühte sich Roderik, so schnell es ging, wieder an Höhe zu gewinnen.
Dann passierte es. Ein Blitz zuckte aus der Wolkenmitte, greller als alle anderen zuvor, und eilte schnurstracks auf den Mammutbaum zu. Roderik konnte zwar nicht sehen, wie er einschlug, denn instinktiv kniff er die Augen zu, aber er ahnte, dass es sich um den entscheidenden Blitzschlag handelte.
Als er die Augen wieder öffnete, sah er eine pechschwarze Rauchwolke über der Stelle im Schirmdach schweben, wo bislang der Heilige Baum gestanden hatte. Hellrote Flammen zuckten aus der dunklen Masse – dann erreichte der Knall des Einschlags Roderiks geplagte Ohren.
Dem Donnerhall folgte die Druckwelle. Sie fegte den Wolkenreiher zur Seite, als sei er ein Weidenblatt. Sie ließ ihn Purzelbäume schlagen und wirbelte ihn so sehr herum, dass er nicht mehr wusste, wo oben und unten war. Sie fuhr ihm so stark durchs Gefieder, dass er befürchtete, sein komplettes Federkleid zu verlieren. Die Kraft des Windes ließ Roderik mit einer solchen Geschwindigkeit durch die Luft sausen, dass es ihm angst und bange wurde. Und es hörte und hörte nicht
auf …
Eine Unendlichkeit später spürte Roderik, wie die Gewalt der Druckwelle nachließ. Allmählich verlangsamte sich seine unfreiwillige Reise durch die Lüfte. Als der wilde Himmelsritt ungefähr normale Reiher-Fluggeschwindigkeit erreicht hatte, breitete Roderik vorsichtig seine Schwingen aus, die er während des Sturmwirbels sicherheitshalber dicht an seinen Körper gepresst hatte.
Nach ein paar kraftlosen Flügelschlägen merkte er, dass er er sich nicht mehr im freien Fall befand, und versuchte, sich zu orientieren. Unter sich sah er nichts als die zahllosen Grüntöne der Urwaldbäume. Und die Wipfel der höchsten Bäume schienen gar nicht mehr so weit weg zu sein.
Erst nach längerer Suche entdeckte Roderik ganz in der Ferne eine dunkle Rauchsäule, die hoch in den Himmel ragte. Das muss die Stelle sein, wo der Blitz in den Mammutbaum eingeschlagen ist, schoss es ihm durch den Kopf. Ihm wurde bewusst, wie weit ihn die Druckwelle der Explosion weggetragen hatte.
Vom vielen Herumgewirbel war es Roderik ganz schwindelig geworden. Es bereitete ihm Mühe, oben und unten auseinander zu halten – und dementsprechend änderte sich seine Flugrichtung ständig. Allerdings war er auch noch gar nicht fähig, sich zu überlegen, wohin er jetzt überhaupt fliegen solle.
Roderik versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Ihm fiel das Eukalypuswäldchen ein. Doch was hatte es mit diesem Wäldchen auf sich? Angestrengt dachte er nach. In seinem Kopf war ein taubes Gefühl. Im Gleitflug schüttelte er sich, um die Benommenheit loszuwerden, doch alles was er verlor, waren ein paar Federn. In diesem Augenblick nahm er aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung wahr. Er steuerte ein wenig nach links. Da kam etwas angeflogen und hielt genau auf ihn zu.
Roderik war es unheimlich zumute. Er flog langsamer. Schnell kam das unbekannte Etwas auf ihn zu. Unvermindert hielt es direkten Kurs auf ihn. Roderik bereite sich für ein Ausweichmanöver vor. Er kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können.
Dann erkannte er es. Diese eigentümliche Art zu fliegen, diese typischen Bewegungen der Flügel, das war ihm mehr als vertraut. Roderik hatte jetzt keinen Zweifel mehr, dass es sich um einen Reiher handelte, der da so unbeirrt auf ihn zusteuerte. Um mit dem Vogel nicht zusammenzustoßen, korrigierte er vorsichthalber seinen Kurs. Doch der andere Reiher hatte wohl genau dieselbe Idee.
Und so prallten sie zwar nicht direkt aufeinander, doch ihre Schwingen streiften sich, so dass beide zur Seite trudelten. Nach einer Schrecksekunde konnte sich Roderik wieder fangen. Jetzt erkannte er auch, wer da unbedingt so schnell wie möglich mit ihm zusammentreffen wollte: Es war Henrik.
Roderiks Freude, seinen Freund wieder zu sehen, war riesig. Allerdings hatte er Henrik noch nie so zerzaust gesehen. Sein Federkleid war in einem jämmerlichen Zustand. Roderik wunderte sich, dass sein Freund überhaupt noch fliegen konnte. Doch egal, dachte Roderik, Hauptsache Henrik lebt.
Roderik bestürmte Henrik sofort mit Fragen über den Verbleib der anderen Wolkenreiher. Haben sie den Gewitterflug überstanden? Hast du sie gesehen? Sind sie der Monsterwolke entronnen? Doch bevor Henrik, der jetzt dicht an seiner Seite flog, antworten konnte, tauchten sie auf. Als ersten erkannte Roderik Ruprik, den ältesten Wolkenreiher. Dann entdeckte er die anderen. Tomrik, Bollerik, alle schwirrten jetzt um ihn herum. Alle – bis auf Frederik.
Nachdem die Freunde sich ausgiebig begrüßt hatten, bestätigte Ruprik mit trauriger Miene, dass sie Frederik verloren hatten. „Seit wir die schreckliche Gewitterwolke verlassen haben und wir vom Sturm so heftig herumgewirbelt worden sind, hat keiner von uns Frederik zu Gesicht bekommen“, erzählte Ruprik. Auch eine Suchaktion sei ohne Erfolg geblieben.
Es schien, als habe die Wolke ihren Freund verschluckt. Ruprik, der mindestens genauso erschüttert darüber war wie alle anderen, dass Frederik verschwunden war, mahnte seine Kollegen zum Aufbruch. „Ihr wisst doch, dass wir eine Verabredung haben“, rief er den anderen Wolkenreihern zu. „Wir haben dem Krokodil versprochen, es im Eukalyptuswäldchen zu treffen, wenn wir unsere Aufgabe erledigt haben. Und das haben wir, Freunde, und darauf können wir stolz sein. Außerdem“, fügte Ruprik hinzu und bemühte sich, möglichst zuversichtlich zu klingen, „wer weiß, vielleicht stößt Frederik ja auf dem Flug zum Wäldchen doch noch zu uns. Ich jedenfalls bin fest davon überzeugt, dass er noch lebt und uns nur noch nicht gefunden hat.“
Als Ruprik den zweifelnden Blick von Bollerik bemerkte, der rechts neben ihm flog, fügte er hinzu. „Ihr wisst doch Kollegen, Frederik ist schlau und mit allen Wassern gewaschen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich von einer Regenwolke oder einem bisschen Wind am Schnabel herumführen lässt.“
Dann gab Ruprik den Kurs vor. Und kein Wolkenreiher zweifelte daran, dass der alte, erfahrene Kollege genau wusste, wohin sie fliegen mussten. Auch wenn Roderik mit ein wenig Besorgnis feststellte, das sein Schnabel genau in die Richtung zeigte, aus der sie gekommen waren: auf die Rauchsäule hin, die sich höher und höher in den Himmel schraubte. Aber er hatte jetzt vor allem eines im Sinn, das ihn antrieb und das bange Gefühl, das in beschlichen hatte, zurückdrängte: Er wollte das kleine Krokodil wieder sehen.
Ganz egal, welche Gefahren noch da unten lauern, dachte Roderik, ich werde Carla im Eukalyptuswäldchen treffen. Und er ging felsenfest davon aus, dass seine Freundin das gigantische Gewitter im Dschungel gut überstanden hatte und bereits auf dem Weg zum Treffpunkt war.
In dieser zuversichtlichen Stimmung wanderten Roderiks Gedanken weiter, hin zu einem Gebirge frischgebackener, dampfender Muschelküchlein. Und das Grummeln und Brummen in seinem Magen erinnerte ihn daran, dass er seit einer Ewigkeit nichts mehr gegessen hatte.
Wiedersehen mit Fernando
Nur mühsam fanden die letzten Sonnenstrahlen des Tages ihren Weg durch das Dickicht des Dschungels. Carla hatte keine Ahnung, ob die Richtung, die sie eingeschlagen hatte, stimmte. Das sichere Gefühl, einfach ihrer Nase zu folgen, um zum Eukalyptuswäldchen zu gelangen, war verschwunden.
Das Schwimmen durch die trüben Urwaldfluten fiel ihr immer schwerer. Stellenweise gab es kaum noch ein Durchkommen für sie. Abgebrochene Äste und sogar ganze Bäume, die der Sturm umgerissen hatte, trieben im Wasser und versperrten ihr den Weg. Immer wieder musste sie unter Bergen von Treibholz hinweg tauchen, was sie besonders anstrengte.
Eine große Insel aus Zweigen und Ästen, die sich ineinander verhakt hatten, zwang Carla zu einem besonders langen Tauchgang. Prustend tauchte sie wieder auf und schnappte nach Luft. Da merkte sie, wie irgendetwas auf ihrem Rücken landete. Erschrocken schüttelte sie sich und tauchte vorsichtshalber wieder ein Stück unter.
Doch Carlas Neugier war groß: Natürlich wollte sie wissen, wer denn da die Frechheit besaß, sich einfach auf sie zu setzen. Und so kehrte sie wieder an die Wasseroberfläche zurück. Nur ihre Nasenlöcher und Augen ragten aus dem Wasser.
Als erstes hörte Carla ein lautes, erzürntes Krächzen: „So eine Unverschämtheit, um ein Haar wäre ich ertrunken. Ist das etwa der Dank für meine Hilfsbereitschaft? “
Carlas Blick schweifte suchend umher, bis das Krokodil auf einem Ast, der knapp über die Wasseroberfläche ragte, einen langschnabeligen Vogel sitzen sah, der ihr bekannt vorkam. „Das hätte auch schiefgehen können“, schimpfte der Vogel weiter, „schließlich kann ich nicht besonders gut schwimmen. Und außerdem ist diese braune Brühe Gift für mein wertvolles Federkleid. Kaum auszudenken, wenn ich da hinein geplumpst wäre.“
Jetzt erkannte Carla, wer da so heftig schimpfte. Natürlich, dachte sie, das ist doch dieser komische Fratzenkuckuck, der mir den Weg zum Mammutbaum gezeigt hatte. Aber wie heißt er bloß?
Carla wollte der Name des Vogels einfach nicht einfallen. Irgendetwas mit F., dachte sie, Friedrich oder Franz oder Felix …„Fernando“, krähte der Fratzenkuckuck von seinem Ast, als könne er die Gedanken des kleinen Krokodils lesen. „Mein Name ist Fernando, wenn du erlaubst, und ich glaube, wir sind uns in diesem Urwald schon einmal begegnet.“ Dann breitete er seine Schwingen aus und begann laut meckernd zu lachen.
Fernando lachte so sehr, dass es seinen ganzen Körper schüttelte. Carla befürchtete schon, gleich stürze der Kuckuck tatsächlich in die Fluten. Der Ast auf dem Fernando hockte, schwankte bereits bedrohlich hin und her, aber noch hielt der Kuckuck die Balance. Und er schien mit seinem Lachen gar nicht mehr aufhören zu wollen.
So ein verrückter Vogel, dachte Carla, und eh sie sich versah, war Fernando behend von seinem Ast herunter gehüpft und ein zweites Mal auf ihr gelandet.
„Und, kleines Krokodil“, begann der Fratzenkuckuck sofort zu krähen, „bist du auch froh darüber, dass es im Dschungel tagsüber jetzt wieder heller ist? Jaja, den Schirmen ist es wohl zu langweilig geworden, dort oben.“ Und während er mit seinem beachtlichen Schnabel Richtung Himmel zeigte, verfiel er wieder in sein meckerndes Lachen, mit dem er erst aufhörte, als er sich fast daran verschluckte.
Carla fragte Fernando, wie er das Unwetter überstanden und ob er gesehen habe, wie der Blitz in den Mammutbaum eingeschlagen sei. Doch der Kuckuck gab nur kichernd Antworten, die wenig Sinn machten: „Jaja, das Unwetter, das habe ich extra bestellt, damit der Urwald endlich mal wieder sauber wird und der Regen den schrecklichen Staub von den Blättern spült, hihi. Und als es dann so richtig losging, habe ich mich – zack – einfach unsichtbar gemacht. Der leichteste Trick der Welt! Da konnte mir selbst der stärkste Sturm nichts anhaben, schließlich war ich ja unsichtbar, hoho. Die Windböen fegten einfach so durch mich hindurch, und ich habe keine einzige Feder verloren, hähä. Und gefroren hab ich auch nicht. Jedenfalls nicht so sehr wie der Mammutbaum. Aber der hat es schließlich nicht anders verdient, nein das hat er nicht, auf gar keinen Fall.“
Carla war verwirrt und wusste nicht, was sie darauf erwidern solle. Sie fragte sich, ob der Vogel etwa den Verstand verloren habe. Allerdings fiel ihr ein, dass sich Fernando ja einmal als idealer Führer durch den Dschungel erwiesen hatte. Schließlich hatte er sie sicher zum Mammutbaum geführt. Vielleicht, dachte das kleine Krokodil, hat er sich diese Fähigkeit, im Urwald überall problemlos hin zu finden, ja noch bewahrt: auch wenn er im Kopf mittlerweile ziemlich durcheinander zu sein scheint.
Carla wollte es darauf ankommen lassen, schließlich blieb ihr keine Wahl. Es war fast dunkel, und sie hatte keine Ahnung wie sie zum Eukalypuswäldchen gelangen sollte. Sie beschloss, den Kuckuck einfach zu fragen. Mal sehen, was er antwortet, dachte sie. „Sag mal, Fernando“, begann sie ganz behutsam, „kennst du eigentlich das Eukalyptuswäldchen?“
„Ob ich das Eukalyptuswäldchen kenne? Was für eine Frage!“ Augenblicklich begann der Kuckuck wieder so heftig zu lachen, als habe Carla gerade einen zündenden Witz erzählt.
Das kleine Krokodil wartete, bis Fernando sich wieder beruhigt hatte, und wiederholte seine Frage. Diesmal reagierte der Fratzenkuckuck beleidigt. „Na hör mal, verehrtes Krokodil. Willst du mich ärgern? Natürlich kenne ich das Eukalyptuswäldchen, was denkst denn du?! Schließlich bin ich dort geboren.“
„Na dann ist es ja gut“, meinte Carla, ohne dass sie Fernandos Antwort überzeugt hätte. „Dann kennst du sicher auch den Weg dorthin.“ „Natürlich“, krähte Fernando, „keine Frage, diesen Weg kenne ich in und auswendig. Selbst mit verbundenen Augen würde ich ihn finden, mitten in der dunkelsten Neumondnacht, wenn die Sonnenfinsternis ihren Höhepunkt erreicht.“ Und als ob bei soviel Unsinn sein Schnabel zu jucken beginne, wetzte er ihn an Carlas dicker, schuppiger Rückenhaut hin und her und rauf und runter, bis es dem kleinen Krokodil zu viel wurde.
„Lass das, Kuckuck, du kratzt mir ja ein Loch in meine Haut. Sag mir lieber, ob du so lieb bist und mich zum Eukalyptuswäldchen führst? Du würdest mir damit einen riesigen Gefallen tun, ich habe dort nämlich eine wichtige Verabredung. Und für dich wäre das ja eine der leichtesten Übungen überhaupt. Schließlich bist du derjenige, der sich im ganzen Urwald am besten auskennt, oder irre ich mich etwa?“
Fernando hörte auf mit seinem Schnabelgekratze. „Nein nein, du irrst dich keineswegs, Krokodil“, erwiderte er und reckte sich dabei so sehr in die Höhe, das er um ein Haar das Gleichgewicht verloren hätte. „Einen besseren Führer wirst du nicht finden. Aber sag,“ und jetzt verfiel er in einen flüsternden, geheimnisvollen Ton, „sag, kleines Krokodil, wer ist es denn, mit dem du dich triffst? Oder ist es etwa ein Geheimnis?“
Carla spürte, wie neugierig Fernando war. Allerdings sah sie keinen Grund, ihm nicht die Wahrheit zu erzählen. Auch wenn es etwas mehr war als die Wahrheit, was sie ihm mitteilte: „Ich bin mit den Wolkenreihern verabredet. Sie wollen mir im Eukalyptuswäldchen einen großen Korb mit süßen Kirschen überreichen, den sie extra für mich aus dem Grasland geholt haben.“
„Kirschen?“, krächzte Fernando und flatterte wieder zurück auf den Ast, auf dem er vorher schon gesessen hatte. Ungläubig starrte er auf Carla herab, seinen Schnabel weit geöffnet. Doch dann verzog sich sein Gesicht zu einem Grinsen.
„Wirklich Kirschen?“ fragte er und dabei blickte ihm die nackte Gier aus den Augen. „Du machst keine Witze, Krokodil?“ „Nein nein, Fernando“, beeilte sich Carla zu erwidern und versuchte dabei, so aufrichtig wie nur möglich zu klingen. „Einen Riesenkorb voll dieser roten, zuckersüßen Früchte, die frisch von den Giraffen im Grasland geerntet wurden.“
Unruhig hüpfte der Fratzenkuckuck von einem Bein aufs andere. Er schien über das, was Carla gesagt hatte, nachzudenken. Doch plötzlich erhob Fernando sich, drehte zwei, drei schnelle Runden über Carlas Kopf und rief dabei aufgeregt krächzend: „Los los, lass uns keine Zeit verlieren. Krokodil. Bei diesem Dschungelklima weiß man nie, wie lange so herrliche Kirschen frisch bleiben.“ Dann setzte er sich wieder auf Carlas Rücken und begann Kommandos zu rufen: „Erst einmal geradeaus, auf den großen Gummibaum zu. Aber kurz davor dann scharf rechts.“.
Carla blieb nichts anderes übrig, als diesen Anweisungen zu folgen. Auch wenn sie immer noch große Zweifel daran hatte, dass dieser seltsame Vogel sie wirklich ans Ziel bringen würde, wollte sie ihn doch nicht unnötig in seinem Eifer bremsen.
Es war jetzt vollständig dunkel geworden, aber ein paar Strahlen des fast vollen Mondes gelang es, den allmählich lichter werdenden Urwald zu durchdringen: genug Licht für Carla, um die größten Hindernisse im Wasser zu umschiffen.
Der Urwaldsee verlor immer mehr an Tiefe. Schließlich war es unmöglich für Carla, weiter zu schwimmen. Aus dem See war längst ein Sumpf geworden.
Mühsam schob sich das kleine Krokodil durch zähen Schlamm. Die ganze Zeit hockte der Fratzenkuckuck wie ein General auf ihrem Rücken und krähte seine Befehle und Richtungsanweisungen. Als auch noch Heerscharen von Mücken wie aus dem Nichts auftauchten und sich auf Carlas Augen und Nasenlöcher stürzten, hatte Carla die Lust an diesem Ausflug vollständig verloren. Inständig hoffte sie, bald am Ziel zu sein.
Nach einer Weile hatte Carla wieder festen Boden unter den Füßen. Als sie immer häufiger kleine Urwald-Lichtungen durchquerten, die vom Mondlicht gut ausgeleuchtet waren, schöpfte Carla Hoffnung. Am Fuß eines Hanges rief ihr Begleiter: „Halt, Krokodil. Jetzt nur noch diesen sanften Hügel hinauf, und dann beginnt bereits das Eukalyptuswäldchen. Aber pass auf die dornigen Büsche auf, die den Hang bedecken, Verehrteste. Ich mach jetzt lieber einen Abflug. Denn die Baumbären dort oben im Wäldchen haben noch ein Hühnchen mit mir zu rupfen. Und ich bin nicht scharf darauf, ihnen zu begegnen. Erst recht nicht bei Mondschein, meine Liebe. Aber diese Geschichte will ich dir lieber ersparen.“
„Ja willst du denn gar nichts von den leckeren Kirschen probieren, lieber Kuckuck“, fragte Carla zutiefst erstaunt – und hoffnungsvoll zugleich. Schließlich war ja die Sache mit dem Kirschkorb nur eine Erfindung, ein Märchen, das sie Fernando aufgetischt hatte. Und sie verspürte wenig Lust zu erleben, was passierte, wenn ein Fratzenkuckuck sich übers Ohr gehauen fühlte.
„Ach ja, die Kirschen“, erwiderte Fernando seltsam gedankenverloren. „Na macht nichts, ich pflück mir unterwegs welche. Habe mir nämlich überlegt“, und jetzt verfiel er in einen fröhlichen Plauderton, „meinen guten Freund Sesam zu besuchen. Sesam, den Schmutzgeier, kennst du vielleicht, vielleicht ja auch nicht, egal. Jedenfalls lebt der im Marmorgebirge, hoch oben auf einem Felsplateau. Und bis zu diesem Gebirge ist es weit, ach was weit, weiter als weit, sage ich dir, meilenweit. Aber ich kenne da eine prima Abkürzung. Und die führt mich, was für ein Zufall, mitten durch einen riesigen Kirschbaumwald, ha, wer hätte das gedacht. Und dort werde ich mir die eine oder andere honigsüße Riesenkirsche genehmigen. Sozusagen im Vorbeifliegen. Na da staunst du, Krokodil, oder?“
Carla hatte es die Sprache verschlagen. Erneut drängte sich ihr der Eindruck auf, dieser Vogel habe Probleme mit seinem Kopf, oder besser, mit dem, was sich darin befindet. Aber egal, dachte sie, ich will ihm auf jeden Fall danken. Natürlich hoffte sie, dass Fernando sie nicht belogen hatte, und dass sie wirklich ganz nah am Eukalyptuswäldchen angelangt waren.
Bevor Carla sich beim Fratzenkuckuck bedanken und ihm eine gute Reise wünschen konnte, hatte dieser sich bereits in die Lüfte erhoben und flatterte in die Richtung, aus der sie gekommen waren. „Mach's gut, Fernando“, rief sie ihm hinterher, doch da war er schon nicht mehr zu sehen. Sie hörte ihn noch irgendetwas krächzen, was wie „Marmorkuchen“ oder „Murmeln suchen“ klang, konnte sich allerdings keinen Reim daraus machen.
Carla hatte so ein Gefühl, als ob der seltsame Vogel ihr irgendwann noch einmal über den Weg laufen werde. Jetzt aber wollte sie sehen, ob er sie richtig geführt hatte. Müde begann sie, den Hügel heraufzulaufen. Obwohl der Hang nicht sehr steil war, kam sie bereits nach wenigen Metern ins Schnaufen.
Immer wieder musste sie aufpassen, sich nicht in den großen Dornenbüschen, vor denen Fernando sie gewarnt hatte, zu verfangen. Wenn ich oben angelangt bin und sich dort wirklich das Eukalyptuswäldchen befindet, dachte sie, werde ich mir gleich ein gemütliches Plätzchen unter einem stattlichen Baum suchen und erst einmal schlafen. Und während sie weiter kletterte, stellte sie sich vor, wie sie am nächsten Morgen frisch und ausgeruht aufwachen würde, umreiht von allen sechs Wolkenreihern, die sie fröhlich begrüßten.
Im Eukalyptuswäldchen
„Wie weit ist es denn noch?“ Ruprik hatte diese Frage allmählich satt. „Ich habe doch gerade schon gesagt, dass wir bald da sein müssten“, rief er Tomrik, zu, der dicht hinter im flog. „Vom ständigen Fragen geht es auch nicht schneller.“
Ruprik hoffte, dass sie es wirklich bald geschafft hatten, denn er merkte, wie ihn langsam die Kräfte verließen und er dringend eine Ruhepause brauchte. Etwas zu essen und ein paar Stunden Schlaf würden mir jetzt gut tun, dachte er, schließlich bin ich nicht mehr der Jüngste.
Die Suche nach irgendeiner Veränderung im grünen Baumwipfelmeer, das sich unter ihnen erstreckte und dessen Anblick wenig Abwechslung bot, strengte seine Augen an. Ohnehin war seine Sehkraft nicht mehr die Beste. Doch Ruprik hoffte, dass sie noch ausreichen würde, um das Eukalyptuswäldchen von hier oben erkennen zu können. Wenn wir auf dem richtigen Kurs sind, dachte er. Da entdeckte er etwas, was seine Zweifel beiseite fegte.
Es war ein anderer Grünton, der ihm auffiel. Ein runder, hellgrüner Fleck war vor ihnen aufgetaucht. „Lasst uns tiefer gehen“, rief er den anderen Wolkenreihern zu, „das könnte es sein. Aber behaltet die Flugrichtung bei. Immer schön dem Schnabel nach.“
Schnell verlor die Reiher-Formation an Höhe. „Es sieht aus wie ein Hügel, der mitten aus dem Urwald ragt“, rief Roderik. Jetzt waren sie so nah herangeflogen, dass es alle erkennen konnten: Der Hügel war mit großen Bäumen bewachsen, an deren Äste länglich-schmale, hellgrüne Blätter saßen.
Bollerik nahm in einem der Baumwipfel eine Bewegung war. Noch etwas näher herangekommen meinte er, für einen Sekundenbruchteil im Blätterdickicht des Baumes eine Art zotteliges Wesen gesehen zu haben.
„Ja das ist es, Freunde“, rief Ruprik erleichtert. „Wir haben das Eukalyptuswäldchen gefunden.“ „Und wer sitzt da im Baum?“, fragte Bollerik. „Wieso“, erwiderte Ruprik, „hast du jemanden gesehen?“ „Ja, und dieser jemand ist recht groß und trägt Fell statt Federn.“ „Ach“, meinte Ruprik, „das ist bestimmt ein Baumbär. Vor Baumbären braucht ihr keine Angst zu haben, das sind ganz harmlose Gesellen. Die denken nur ans Fressen und Schlafen. Was anderes interessiert die nicht.“
Jetzt müssen wir noch eine geeignete Stelle finden, um sicher landen zu können, dachte Ruprik, doch da rief Henrik: „Hallo Freunde, direkt unter uns scheint eine kleine Lichtung zu sein. Wäre das nicht ein guter Landeplatz?“ „Ausgezeichnet, Bollerik“, antwortete Ruprik, „Lasst uns da runtergehen, Kollegen. Das ist der sicherste Weg. Dann stören wir auch die Baumbären bei ihrer Mahlzeit nicht.“
Ein paar Minuten später waren alle Reiher sicher gelandet. Aus den Bäumen, die die kleine Lichtung einrahmten, auf der sie jetzt erschöpft saßen, ertönte ein lautes Rascheln und ein noch lauteres Schmatzen. Die Baumbären schienen sich von den gerade eingetroffenen Besuchern beim Essen nicht stören zu lassen. Das ist auch gut so, dachte Ruprik, denn ob sie wirklich so harmlos waren, wie er vorgegeben hatte, wusste er nicht mit Sicherheit. Er fragte sich, ob die Pelzträger ihre Ankunft überhaupt bemerkt hatten.
„Wir sollten ein wenig schlafen, Kollegen“, schlug Ruprik, dem selbst fast die Augen zufielen, vor. „Und wenn wir ausgeruht sind, halten wir nach dem kleinen Krokodil Ausschau.“
Das ließen sich die Reiher nicht zweimal sagen. Schnell suchte sich jeder einen geeigneten Schlafast in einem der Eukalyptus-Bäume, die sich um die Lichtung gruppierten. Allerdings wählten sie Äste aus, die sich in Bodennähe befanden. Schließlich wollten sie den Baumbären nicht in die Quere kommen. Die zotteligen Gesellen hockten weiter oben und schlugen sich immer noch die Bäuche mit Eukalyptusblättern voll, wie jeder hören konnte.
Bald war jeder Wolkenreiher in tiefen Schlaf gesunken, nur Roderik hatte noch seine Augen geöffnet. Obwohl er die Müdigkeit bis in die Flügelspitzen spürte, gelang es ihm nicht einzuschlafen. Nicht weil ihn die Baumbären störten, die ziemlich laut raschelten und schmatzten – und außerdem häufig ein tiefes Brummen von sich gaben. Nein, es war die Sorge um seine Freundin, die ihn vom Schlaf abhielt. Hoffentlich hat Carla alles gut überstanden und findet den Weg in dieses Wäldchen, dachte er. Er hoffte auch, dass der verschollene Fredrik noch auftauchen würde. Dann siegte die Müdigkeit über seine Sorgen, und als ein dicker Baumbär durchs dichte Eukalyptuslaub nach unten lugte, um zu sehen, wer sich da in seinem Baum eingenistet hatte, befand sich Roderik längst im Reich der Träume.
Isidors Angebot
Als Carla aufwachte, wusste sie erst einmal nicht, wo sie war. Sie blickte nach oben und sah nichts als grüne Blätter. Grüne Blätter und zwei dunkle Augen, die sie aus einem runden, pelzigen Gesicht neugierig und ein wenig ängstlich anstarrten. Doch dann waren Augen und Kopf auch schon wieder verschwunden.
Carla kroch aus dem klebrigen Farnkraut, in dem sie gelegen hatte. Wie lange, wusste sie nicht. Auf jeden Fall ist es jetzt Tag, dachte sie und betrachtete die dünnen Lichtstrahlen, die das Blattwerk der Bäume durchdrangen und auf dem farnbedeckten Boden ein hübsches Muster aus hellen Punkten bildeten.
Das kleine Krokodil gähnte – und erinnerte sich schlagartig: Natürlich, ich bin im Eukalyptuswäldchen! Mit letzter Kraft hatte Carla in der vergangenen Nacht den Hügel erklommen und war nach wenigen Metern am Waldrand angelangt. Dann hatte sie sich unter einem der großen Bäume einen passenden Ruheplatz gesucht und war sofort eingeschlafen.
Der Fratzenkuckuck hat mich nicht belogen, dachte Carla und musste lächeln. So ein lieber Kerl, auch wenn er ein bisschen seltsam ist.
Carla fühlte sich ausgeruht, allerdings machte sich ihr leerer Magen wieder knurrrend bemerkbar. Ich muss unbedingt etwas essen, dachte sie und schaute sich suchend um. Ihr Blick blieb an einem Zweig voller länglicher, hellgrüner Blätter hängen, der unweit ihrer Nase hing. Die Blätter sehen recht appetitlich aus, dachte Carla, und schnüffelte vorsichtig an ihnen. Das kleine Krokodil fand, dass sie gut rochen, und beschloss, die Blätter zu probieren.
Carla packte den Zweig mit ihrem Maul, zog ihn etwas herunter, um so besser die Blätter mit den Zähnen abziehen zu können, da purzelte ein Vogel aus dem Baum, fing sich direkt vor ihrer Nase ab, und begann hektisch, um ihren Kopf herumzuflattern. Erschrocken ließ Carla den Zweig los, der nach oben schnellte.
„Bist du denn verrückt“, schimpfte der Vogel kreischend und flatterte weiter aufgebracht um das Krokodil herum. „Hast du nichts Besseres zu tun, als mich vom Ast zu schütteln und mich aus meinem wohlverdienten Vormittagsschläfchen zu reißen? Einfach nicht zu glauben!“
„Entschuldigung“, mehr konnte Carla zunächst nicht sagen, obwohl sie sich von dem ersten Schrecken bereits erholt hatte. „Ich weiß nicht, ob ich das entschuldigen kann“, schimpfte der Vogel. „Schließlich habe ich ein schwaches Herz und kann überhaupt keine Aufregung vertragen.“ Er kreischte, schnatterte und flötete noch eine ganze Weile aufgeregt. Dann setzte er sich auf den Zweig eines hohen Strauches und verstummte.
Für Carla war dies die Gelegenheit, sich den kleinen Kerl einmal genauer anzuschauen. Den kenn ich doch, schoss es ihr durch den Kopf, dem bin ich doch schon mal irgendwo begegnet. Aber natürlich, dachte das kleine Krokodil, das ist doch dieser Beo. Und dann fiel ihr sogar sein Name ein. „Sag mal, bist du nicht Isidor Hopps, und haben wir uns nicht mal am großen Fluss getroffen?“
Der Beo, der jetzt ein wenig erschöpft wirkte, blickte Carla misstrauisch an. Doch da erkannte er das Krokodil, und seine Augen blitzten schelmisch auf.
„Aber natürlich, klar doch, selbstverständlich“, plapperte er los, „am Fluss, ja genau, dort sind wir uns begegnet, und du hast mich um ein Haar ertränkt. Ja ja, das hast du, fast wäre ich in den reißenden Fluten umgekommen“, und Isidor Hopps bemühte sich, dem Krokodil einen möglichst finsteren Blick zuzuwerfen. Aber er merkte selbst, dass ihm das nicht sehr überzeugend gelang, und begann schnatternd zu lachen, als sei er eine Ente. Dann feixte er wie ein Schimpanse, um schließlich wie ein Urwaldschwein zu quieken.
Carla, der eingefallen war, dass Beos ausgezeichnet die Stimmen aller möglichen Tiere nachahmen konnten, bat Isidor Hopps, seinen Schnabel zu halten. „Ist ja gut, lieber Beo, ich merke schon, dass du ein wahres Stimmwunder bist, aber jetzt hast du wirklich genügend Kostproben von deiner Sangeskunst gegeben.“
Der Beo wirkte beleidigt. „Was weißt du schon was ich kann. Ich hatte ja gerade erst angefangen. Ich kann die Stimmen aller Tiere dieses Dschungels nachmachen, vom Kolibri bis zum Ameisenbär. Willst du vielleicht mal hören, wie der Große Hornvogel ruft, wenn er sich einsam fühlt?“
„Nein nein, lieber Isidor“, erwiderte Carla, „das ist wirklich nicht nötig, herzlichen Dank. Ich glaube dir ja, dass du zwitschern kannst wie ein Hornvogel und summen wie eine Honigbiene. Was ich viel lieber von dir erfahren würde: Hast du vielleicht meine Freunde, die Wolkenreiher gesehen? Ich habe mich nämlich mit ihnen hier in diesem Wäldchen verabredet. Einen der Reiher kennst du übrigens, Frederik, du erinnerst dich doch sicherlich an ihn.“
„Aber klar“, flötete Isidor, „das ist doch dieser faule Vogel mit den elend langen Beinen, der die ganze Zeit auf deinem Rücken gehockt hat. Jetzt treibt er sich ja wieder mit seinen Kumpeln herum.“
Carla war plötzlich ganz aufgeregt. „Ja dann hast du sie also gesehen? Sind sie hier im Eukalyptuswäldchen?“ Der Beo tat so, als habe er Carlas Frage überhört. „Haben übrigens ganze Arbeit geleistet, deine Freunde, herzlichen Glückwunsch. Barakon soll ja verschwunden sein, wie man sich im Urwald erzählt. Ein Faultier hat mir berichtet, es habe gehört, der Affenkönig sei bei der großen Gewitterflut ertrunken. Eine Bande Graupapageien will wiederum gesehen haben, wie er auf einem Baumstamm hockte und auf dem Großen Fluss Richtung Grasland paddelte. Keine Ahnung, was ich da jetzt glauben soll. Jedenfalls scheint seine Majestät wirklich auf und davon zu sein. Na ja, besser ist das.“ Und Isidor Hopps stieß das schrille Lachen eines Grünspechtes aus.
Carla verlor allmählich die Geduld. „Ich will wissen, ob du die Wolkenreiher gesehen hast, los erzähl endlich“, forderte sie Isidor mit scharfer Stimme auf.
Der Beo fing an zu glucksen wie eine Henne, die ein Ei gelegt hat, legte den Kopf schief und schaute das Krokodil belustigt an. „Immer mit der Ruhe, Frau Kroko“, erwiderte er und klang jetzt wie ein ausgewachsener Gorilla, „nicht gleich aufregen.“ Dann plusterte er sich erst einmal auf und schüttelte sich ausgiebig, bis sich eine dunkle Feder aus seinem Brustkleid löste, auf Carla zu schwebte und sich auf ihre Nase setzte, so dass sie heftig niesen musste.
„Gesundheit und ein langes Leben, meine Liebe“, zwitscherte Isidor Hopps, „doch nun zu deiner Frage: In der Tat habe ich die Wolkenreiher gesehen. Gar nicht weit von hier. Sie hockten in Eukalyptusbäumen, hatten ihre langen Schnäbel ins Gefieder gesteckt und schnarchten wie Flusspferde. Und sie wurden auch nicht wach, als Baumbären ärgerlich an ihren Schlafästen rüttelten. Fühlten sich wahrscheinlich beim Essen gestört, die Guten. Na ja, bei dem Geschnarche der Reiher auch kein Wunder.“
Carlas Herz machte einen Sprung. „Wo hast du sie gesehen“ fragte das kleine Krokodil aufgeregt, „in welche Richtung muss ich gehen?“ „Das findest du nicht“, meinte Isidor, „jedenfalls nicht ohne einen guten Führer.“
Carla ahnte, worauf der Beo hinauswollte. „Okay, Isidor Hopps. Ich hab schon verstanden. Sag mir einfach, was du haben willst, damit du mich zu meinen Freunden führst.“ „Ach weißt du, kleines Krokodil“, erwiderte der Beo und tat so, als sei ihm das Ganze äußerst unangenehm. „Haben will ich eigentlich gar nichts. Allerdings könntest du mir einen kleinen Gefallen tun, wirklich nur einen klitzekleinen.“ „Raus mit der Sprache“, forderte ihn Konnni auf, „Was ist es, das ich tun soll?“
„Naja, nicht direkt du, aber die Wolkenreiher könnten es tun.“ Carla blickte Isidor verständnislos an. „Sprich nicht länger in Rästeln mit mir, mein Freund“, sagte sie. „Spuck jetzt aus, was du von den Wolkenreihern willst.“ „Nun gut, äh, ja“, stotterte Isidor, „ich will es mal, will es mal so sagen. Die, äh, Wolkenreiher sollen mich einfach mal mitnehmen, ja genau, mitnehmen.“
„Mitnehmen wohin?“ Carlas Geduld war langsam am Ende. „Auf eine Tour natürlich,“ fuhr Isidor fort. „Wenn sie wieder mal los fliegen, um ein Mords-Gewitter herbeizuzaubern und für einen Wolkenbruch sorgen, der sich gewaschen hat. Da möchte ich für mein Leben gern einmal dabei sein.“
Carla war fassungslos, bemühte sich allerdings, es Isidor nicht zu zeigen. „Nun ja, mein lieber Beo“, erwiderte sie langsam, so als wähle sie jedes Wort mit Bedacht. „Wie soll ich sagen. Das ist schon ein recht ungewöhnlicher Wunsch, und ich kann natürlich nicht für meine Freunde sprechen. Nur sie allein können darüber entscheiden, ob sie dir diesen Gefallen tun. Aber natürlich kann ich mit ihnen sprechen und ein gutes Wort für dich einlegen. Das will ich wirklich gern tun.“
Isidor Hopps schien eine Weile zu überlegen, doch dann rief er „Alles klar“, flog vom Zweig und saß schon auf Carlas Rücken.
Carla seufzte. Es scheint mein Schicksal zu sein, dachte sie, dass ständig komische Vögel auf meinem Rücken thronen und mir Befehle erteilen. Doch diesmal irrte sich das kleine Krokodil. Mit den Worten „Ich flieg mal vor“, startete Isidor und flatterte geradewegs zwischen zwei Eukalyptusbaumstämmen hindurch.
„Folge mir einfach“, hörte Carla ihn rufen, doch da konnte sie ihn bereits nicht mehr sehen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als hinterher zu eilen. „Nicht so schnell, Isidor“, rief sie und dachte daran, dass sie immer noch nicht wusste, wie Eukalyptusblätter schmeckten. Nur eines wusste sie: Dass sie einen Riesenhunger hatte.
Vom Pech verfolgt
Wie lange Barakon schon auf dem Großen Fluss unterwegs war, wusste er nicht. Ihm taten sämtliche Knochen weh, und alle paar Minuten plagten ihn heftige Krämpfe in den Beinen. Stundenlang bäuchlings auf diesem unbequemen Baumstamm zu liegen und sich mit Händen und Füßen in der Rinde festzukrallen, um nicht herunterzuplumpsen, war für ihn die reinste Qual. Ich bin ja selbst Schuld, dachte er, wie bin ich bloß auf diese saublöde Idee gekommen.
Barakon konnte es nicht abwarten, endlich den Urwald hinter sich zu lassen. Aber die undurchdringlichen Büsche und Bäume des Regenwaldes, die den Fluss umgaben, zeigten ihm an, dass er das Grasland noch nicht erreicht hatte. Allerdings fiel ihm jetzt auf, dass die Bäume kleiner wurden und sich in der dichten Ufervegetation immer häufiger Lücken zeigten.
Barakon schöpfte Hoffnung. Da hob sich urplötzlich das vordere Ende des Baumstammes, auf dem er lag, in die Höhe, der Affe verlor den Halt, rutschte nach hinten und fiel ins Wasser.
Es ging alles so schnell und kam so überraschend, dass Barakon sich fürchterlich erschreckte. Als er auftauchte und sich nach dem Baumstamm umschaute, hatte er reichlich Flusswasser geschluckt. Was zum Teufel war das, fragte er sich und sah seinen Baum ein ganzes Stück weiter flussabwärts treiben.
Die Strömung war hier sehr stark, so dass es Barakon große Mühe kostete, den Baumstamm wieder zu erreichen. Endlich schwamm er neben ihm. Seine Hände suchten Halt – und es gelang ihm gleich beim ersten Mal, sich am Stamm hochzuziehen. Erschöpft ließ Barakon sich auf den Baum plumpsen. Seine Hände und Füße baumelten schlaff im kühlen Wasser.
Auf einmal hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Barakon drehte seinen Kopf nach rechts. Tatsächlich! Unmittelbar über der Wasseroberfläche blickten ihn zwei Augen an, und Barakon erkannte auch Nasenlöcher und Ohren, die aus dem Wasser ragten. Nicht viel weiter entdeckte er ein weiteres Augenpaar – und die dazugehörigen Nasenlöcher und Ohren.
Das müssen Flusspferde sein, dachte Barakon, aber da waren Augen Nasenlöcher und Ohren auch schon wieder verschwunden. Der Affenkönig ahnte nichts Gutes – zu recht. Diesmal wurde das hintere Ende des Baumstammes hochgehoben, und erneut landete der Affe im Fluss. Doch nicht genug damit, dass er wieder unfreiwillig über Bord gegangen war: Unter Wasser stieß ihn etwas heftig hin und her. Barakon schlug Purzelbäume und drehte Pirouetten. Er wurde herumgewirbelte, bis er nicht mehr wusste, wo oben und unten war.
Als Barakon endlich wieder an der Wasseroberfläche angelangt war und gierig nach Luft schnappte, wurde er empor geschleudert und tauchte abermals unter. Sie spielen Wasserball mit mir, dachte Barakon, und wenn sie nicht sofort damit aufhören, werde ich elendig ertrinken.
Doch dazu sollte es nicht kommen. Denn die beiden verspielten Flusspferde, zu denen sich jetzt ein weiteres gesellte, das keine Lust mehr auf Nachmittagsschläfchen verspürte, hatten andere Pläne mit dem dicken Affen.
Barakon fühlte sich völlig erledigt. Alle Viere von sich gestreckt lag er im Ufergras der kleinen Insel, zu der ihn die Flusspferde geschleppt hatten. Er hatte so viel Wasser geschluckt, dass ihm der Bauch weh tat. Dort, wo ihn die Flusspferde mit ihren dicken Nasen geknufft und gestoßen hatten, und das mussten Dutzende von Stellen sein, schmerzte es höllisch. Das gibt wunderschöne blaue Flecken, dachte der Affenkönig und seufzte.
Er konnte es immer noch nicht fassen, in was er hier eigentlich hinein geraten war. Er, der Herrscher des Dschungels, war auf einmal ein Gefangener von verrückt gewordenen Flusspferden. Während seine Prellungen unangenehm pochten, kochte Barakon vor Wut.
Als er die Flusspferde darauf hingewiesen hatte, wer er eigentlich sei, hatten sie nur gelacht, und das dickste hatte hämisch gemeint, dass sie auf einen wie ihn nur gewartet hätten. Dann hatten sie ihm gesagt, er habe nicht den Hauch einer Chance, von der Insel zu entkommen, vor allem bei seinen Schwimmkünsten. Aber sie würden ihn gut verpflegen, wenn er das täte, was sie von ihm verlangten. Und das seien eigentlich nur ein paar kleine Gefälligkeiten.
„Dein Dienst beginnt erst am Mittag“, hatte ihm das dicke Flusspferd mitgeteilt. „Bis dahin kannst du dich ausruhen, Affe. Doch wenn die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hat, dann schnappst du dir den blauen Sonnenschirm, den der Wind vor ein paar Tagen zu uns geweht hat, und schützt damit unseren Chef vor einem Sonnenbrand, während er seinen Mittagsschlaf am Ufer hält. Unser Chef ist nämlich nicht mehr der Jüngste und hat eine sehr empfindliche Haut bekommen.“
Barakon hätte laut losheulen können – vor Wut und aus einem tiefen Gefühl absoluter Ohnmacht heraus. Aber er riss sich zusammen.
Ihn zum Schirmhalter des Flusspferd-Bosses machen zu wollen, fand er schon eine absolute Unverschämtheit, doch mehr noch regte er sich über die Rolle auf, welche die Bande ihm ab den späten Nachmittagsstunden zugedacht hatte: Er, der Urwald-Herrscher, sollte Spielball sein für das tägliche Vergnügen der jüngeren Flusspferd-Kolosse. Er, der berühmte Affenkönig, sollte sich stundenlang durchs Wasser jagen und hin und her werfen lassen, bis die fetten Flussmonster sich ausgetobt hatten.
„Keine Angst, Affe“, hatte das dicke Flusspferd zu ihm gesagt, „wir werden schon nicht zu hart mit dir umspringen.“ Und grinsend hatte es hinzugefügt: „Schließlich wollen wir ja möglichst lange Freude an dir haben.“ „Und wenn du prima mitspielst und dich nicht zu ungeschickt anstellst“, hatte ein anderes Flusspferd hinzugefügt, „dann spendieren wir dir einmal pro Woche Bananen. Ihr Affen esst doch Bananen so gern, oder hat man mir da etwas Falsches mitgeteilt?“
Dabei hatte das Flusspferd den Kopf so schräg gehalten und so ungläubig geschaut, als könne es sich nicht vorstellen, dass es außer Flusspferden noch andere Tiere auf der Welt gebe, für die heruntergefallenes Obst und speziell Bananen eine höchst willkommene Nahrungsergänzung waren.
Barakons lautes Protestieren hatte nichts genutzt. Wenn er nicht verhungern wolle, hatte ihn das dicke Flusspferd zurechtgewiesen, dann müsse er schon tun, was von ihm verlangt werde. „Außer dürrem Gras wächst nämlich auf dieser Insel nichts, was du essen könntest“, hatte es hinzugefügt. „Alles Lebensnotwendige bringen wir dir deshalb über den Fluss.“ „Aber das tun wir nur“, hatte das Flusspferd noch in scharfem Ton ergänzt, „wenn wir mit dir und deiner Leistung zufrieden sind.“
Während Barakon mit geschlossen Augen und total erschöpft im Ufergras lag und darüber nachdachte, wie er diesen Ungeheuern heimlich entkommen könnte, merkte er, wie ihn etwas Feuchtes unsanft in die Seite knuffte. Erschrocken öffnete Barakon die Augen. Es war das dicke Flusspferd, das ihm die Nase in den Leib gestoßen hatte und jetzt brüllte: „Aufwachen du fauler Affe. Schnapp dir den Schirm, aber ein bisschen plötzlich. Und nichts wie los. Oder soll sich unser Chef etwa wegen dir einen Sonnenstich holen?“
Carlas Geständnis
Kurz vor Sonnenaufgang riss ein lautes Klappern die Wolkenreiher unsanft aus ihren Träumen. Tomrik wäre vor Schreck fast von seinem Schlafast gefallen – doch er war der erste, der erkannte, wer hinter dem Gelärme steckte. Kein Geringerer als ihr so schmerzlich vermisster Freund Frederik hockte da auf einem benachbarten Eukalyptusbaum-Ast und ließ ein munteres Schnabelklappern ertönen.
Überrascht aber glücklich hatten sich alle Reiher bald um Frederik geschart. Sie waren jetzt hellwach – und natürlich neugierig wie junge Grünspechte.
Ihre Fragen prasselten nur so auf Frederik ein: Was mit ihm in der Wolke passiert sei, wollten sie wissen, wo er so lange geblieben sei – und wie er sie denn überhaupt gefunden habe …
Doch Frederik, der völlig zerzaust war und müde aussah, grinste nur und meinte: „Mir war es in der blöden Wolke einfach zu langweilig geworden. Da hab ich halt einen kleinen Ausflug unternommen.“
Die Wolkenreiher waren zunächst einmal sprachlos. Nach einer Weile hakte Henrik nach: „Was meinst du damit, Kollege, du hast einen Ausflug unternommen?“ „Ach“, antwortete Frederik gelangweilt, „ich hab halt ein paar alte Kumpels besucht, die kennt ihr nicht. Aber jetzt bin ich ja wieder da. Ihr werdet mich doch nicht etwa vermisst haben?“ Die letzten Worte wurden von einem frechen Grinsen begleitet.
Jeder von Frederiks Kumpanen wusste genau, dass ihr Freund ihnen ein Märchen erzählte. Doch so sehr sie sich auch bemühten, so hartnäckig sie auch nachfragten: Es gelang ihnen nicht, mehr aus Frederik herauszubekommen.
„Mehr gibt es da wirklich nicht zu berichten“, murmelte er und gähnte. „Außerdem muss ich jetzt erst mal ein Stündchen schlummern“, fügte er hinzu und schloss die Augen. Da gaben seine Freunde enttäuscht auf und beschlossen, sich auch noch ein bisschen Schlaf zu gönnen. Vielleicht erzählt er uns ja mehr, wenn er sich ausgeruht hat, hoffte Tomrik. Und Bollerik, der sich ziemlich veralbert fühlte, fragte sich, bevor ihm die Augen zufielen, ob Frederik wirklich die ganze Zeit verschwunden war. Oder ob er sie doch bis ins Eukalyptuswäldchen begleitet hatte – wie ein unsichtbarer Geist …
Rund drei Stunden später fühlten sich alle, bis auf Frederik, ausgeruht – und hatten sogar etwas Essbares zum Frühstück ausfindig gemacht. Zwar erwiesen sich die kleinen Hüpfer, die seit Sonnenaufgang zu Tausenden im hohen Gras unter den Eukalyptusbäumen um die Wette zirpten, nicht gerade als ausgesprochene Delikatesse. Doch da sie ein wenig nach Flusskrebsfleisch schmeckten, wie zumindest Frederik behauptete, und sie außerdem recht leicht zu fangen waren, hatten die Reiher mit den Grashüpfern ihren größten Hunger gestillt.
Tomrik, der sich beim Aufpicken der Insekten als der Geschickteste erwiesen hatte, klagte allerdings darüber, dass die kleinen Tiere in seinem Bauch noch herumkrabbelten wie eine Armee Ameisen. „Geschieht dir ganz recht, dass es jetzt in deinem Bauch rumort wie in einem Vulkan“, meinte Bollerik zu ihm. „Du kannst den Hals ja nie voll genug bekommen, du Nimmersatt.“
Er selbst hatte nur so viele Hüpfer heruntergewürgt, bis das leere Gefühl in seinem Magen verschwunden war. „Ich bin doch kein Storch“, hatte Bollerik gerufen und stolz den Schnabel in die Höhe gereckt. „Und außerdem“, hatte er hinzugefügt und sich dabei theatralisch geschüttelt, „schmeckt dieses Getier nicht nach Krebsfleisch, sondern nach alten, modrigen Asseln.“
„Und du hast den Verstand einer Assel“, hatte Tomrik geantwortet, worauf Bollerik nichts mehr eingefallen war und er Tomrik beleidigt den Rücken zugewandt hatte.
Seitdem die Wolkenreiher aufgewacht waren, hatten sie keinen Baumbären mehr zu Gesicht bekommen. Nur hin und wieder meinten die Freunde, so etwas wie ein entferntes Schnarchen zu hören, vielleicht von weit oben aus den Gipfeln der großen Eukalyptusbäume. Doch sicher waren sie sich da nicht.
Henrik hielt es für möglich, dass es nur das Knarren morscher Äste sei, und Roderik gab zu Bedenken, die Geräusche stammten wahrscheinlich vom Wind, der die Eukalyptusblätter so hin und her bewegte, dass sie aneinander rieben und dabei diesen Ton erzeugten. Allerdings glaubte er selbst nicht an das, was er sagte. Doch er wollte lieber daran glauben. Denn diese Baumbären waren Roderik irgendwie unheimlich. Und der Gedanke, die zotteligen Wesen seien über Nacht einfach verschwunden, wohin auch immer, war ihm deshalb sehr angenehm.
Am späten Vormittag hockten die Reiher schläfrig auf einem Bein im Gras und genossen den kühlen Schatten der hohen Bäume. Bei Bollerik, der sich längst wieder mit Tomrik vertragen hatte, begann der Bauch hungrig zu knurren. Aber bereits beim Gedanken an einen Grashüpfer schüttelte es ihn. Und so versuchte er, das Geknurre zu ignorieren.
Plötzlich schreckte die Reiherschar aus ihrem Schlummer hoch. Irgendetwas flatterte über ihren Köpfen herum. „Hier sind sie“ rief dieses Etwas laut krächzend mit der heiseren Stimme einer Krähe, um dann ohrenbetäubend schrill wie ein ausgewachsener Pfau fortzufahren: „Ich habe sie gefunden, ja ja, das müssen sie sein, deine komischen Freunde. Hierher, Krokodil, hierher!“
Roderik, der sich über Isidor Hopps Gelärme zu Tode erschreckt hatte, hob seinen Kopf und schnappte erbost mit seinem langen Schnabel nach dem Beo, der Anstalten machte, auf seinem Kopf zu landen. Tatsächlich streifte er den kleinen Vogel leicht am linken Flügel – doch das genügte anscheinend, um Isidor aus dem Gleichgewicht zu bringen. Wie eine betrunkene Hummel taumelte der Beo zu Boden.
Müde kroch Carla durchs hohe Gras und ärgerte sich, dass Isidor einfach so voraus geflogen war. Doch als sie ihn plötzlich „Hier sind sie“ rufen hörte, machte ihr Herz einen Sprung – und ihr Ärger war verflogen. Sollte der freche Beo ihre Freunde wirklich gefunden haben?
„Hierher", hört Carla den Beo jetzt kreischen, und das klang bereits ziemlich nah. Das kleine Krokodil lief so schnell es konnte – mitten durch ein dickes Spinnennetz, das sich klebrig um seine Nase wickelte. Doch das kümmerte Carla nicht. Obwohl sie sich normalerweise vor Spinnen ekelte. Und noch mehr vor ihren Netzen.
Jetzt war ihr das alles egal. Sie dachte nur daran, gleich bei Roderik und seinen Kumpanen zu sein. Das silbrige Spinnennetz wie einen Turban um den Kopf gewickelt trabte Carla voran – und musste scharf bremsen, um nicht in die Gruppe von Vögeln hineinzulaufen, die unvermittelt unter einem hohen Eukalyptusbaum vor ihren Augen auftauchte. Während des Bremsmanövers verfing sich das kleine Krokodil mit seinem rechten Vorderfuß in einer Baumwurzel und vollführte eine unfreiwillige seitliche Rolle, wobei es aber direkt wieder auf dem Bauch landete – mitten in einem stattlichen Ameisenhügel.
Die Wolkenreiher hatten nichts davon bemerkt, dass sie um ein Haar von einem Krokodil überrollt worden wären. Sie standen im Halbkreis um einen kleinen Vogel herum, der zitternd im Gras lag und mit der Stimme einer Graugans schimpfte, dass es in ihren Ohren schmerzte. „Undankbares Pack“, schnatterte Isidor, „Ich riskiere meine Leben, um euch am Ende der Welt aufzustöbern – und ihr habt nichts Besseres zu tun, als mich vom Himmel zu holen und zu Tode zu stürzen. Ich glaube, ich habe mir alle Flügel gebrochen“, Und dabei begann der Beo heulend zu jammern und zu klagen wie ein Coyote, der seit einer Woche keine Mahlzeit zu sich genommen hatte.
„War doch keine Absicht, Beo“, stammelte Roderik verlegen, dem es leid tat, dass er den Vogel anscheinend etwas unsanft ins Gras befördert hatte. „Es war nur der Schreck, da darfst du mir nicht böse sein.“
Und dann sollte Roderik erfahren, was ein richtiger Schreck ist, einer, der durch Mark und Bein geht, der bis in die Spitzen der Schwanzfedern zieht, so dass man glaubt, der Blitz habe einen getroffen. Und das glaubte der Wolkenreiher in der Tat, als das kleine Krokodil ihn von hinten mit seiner dicken Nase anstupste. Roderik dachte, sein Herz bliebe stehen.
Doch da steckte er bereits mit dem Drittel seines Schnabels im feuchten Grasboden, denn der kleine, unverhoffte Stupser des Krokodils hatte ausgereicht, um ein Federgewicht wie Roderik aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Roderik machte eine komische Figur: Seine Fußspitzen berührten gerade eben noch den Boden. Die langen, staksigen Beine waren ausgestreckt, während der schmale Körper irgendwie unnatürlich über dem Gras schwebte. Dabei wurde er ja durch den im Boden verankerten Schnabel abgestützt!
Roderik steckte da wie falsch eingepflanzt. Die Wolkenreiher brachen in ein schallendes Gelächter aus, wie es die Baumbären in ihrem Wäldchen noch nie gehört hatten. Auch der neugierige Isidor Hopps, der nach einer wunderhaften Blitzgenesung zwei Meter hoch geflattert war, um zu sehen, was dort Spannendes passierte, stimmte in das allgemeine Gelächter mit ein: Allerdings lachte er nicht wie ein Beo, sondern kicherte wie eine Hyäne in den Flegeljahren.
Nachdem die allgemeine Heiterkeit etwas abgeebbt war und Roderik sich mit Tomriks Hilfe aus seiner misslichen Lage befreit hatte, erkannte der Wolkenreiher, wer ihn da umgestoßen hatte. Sofort verwandelte sich sein Ärger in helle Freude. „Carla, du kleines Ungeheuer“, krähte Roderik, streckte den erdverschmierten Schnabel in die Luft und tanzte ausgelassen herum wie ein Honigbär, der versucht, einen Schwarm Bienen zu vertreiben.
Im Nu hatten Roderiks Fröhlichkeit und seine überschäumende Freude die anderen Wolkenreiher angesteckt. Schon bald tanzten alle wie wild unter den Eukalyptusbäumen. Die Grashüpfer dachten, die Welt ginge unter, und die Regenwürmer hielten es für angebracht, eine Etage tiefer zu ziehen.
Und Carla? Carla wälzte sich vor Glück, Roderik und seine Kumpanen wohlauf zu sehen, im Gras herum, dass die tanzenden Reiher höllisch aufpassen mussten, nicht von ihr überrollt zu werden. Und so wurde aus dem staksigen Reihertango ein wirbelnder Hüpf-, Stolper- und Flatterpogo. Dabei machten sich einige Wolkenreiher einen Spaß daraus, immer dann, wenn sie dem herumkullernden Krokodil ausweichen mussten, ein paar Meter vom Boden abzuheben und dicht unter den Ästen der Eukalyptusbäume so heftig mit den Flügel zu schlagen, dass es wie ein Wasserfall rauschte und die Blätter nur so durch die Luft wirbelten.
Isidor Hopps fand das alles längst nicht mehr lustig. Dem Beo war das allgemeine Herumgehopse und Umhergeflattere viel zu wild. Isidor fürchtete ernsthaft um seine Gesundheit.
Nachdem ihn bereits ein Schwingenschlag von Henrik so zur Seite geschleudert hatte, dass er nicht mehr wusste, wo oben und unten war, und er um ein Haar in einem Hornissennest gelandet wäre, zog er es vor, die Party aus sicherer Entfernung zu beobachten. Allerdings konnte er vom Wipfel des größten Eukalyptusbaums, auf den er sich geflüchtet hatte, so gut wie nichts sehen.
Auch egal, dachte Isidor, der sich mit einem Schlag hundemüde fühlte: Ein Beo muss schließlich wissen, wo seine Grenzen sind und wann der Spaß aufhört. Träge plusterte er sich auf, stieß noch leise das Trompeten eines müden Elefantenbabys aus und schlief – trotz des ohrenbetäubenden Lärms, den die Bande dreißig Meter unter ihm machte, ein.
Nach einer guten Viertelstunde waren die Tänzer mit ihrer Kraft am Ende. Ruprik war bereits kurz nach Beginn des spontanen Wiedersehen-Hüpfens vor Erschöpfung umgekippt und hockte seitdem im Gras, ein zufriedenes Lächeln im Gesicht. Henrik konnte sich nur noch auf den Beinen halten, weil er sich an den Stamm eines Eukalyptusbaumes lehnte. Und Grünschnabel Frederik, der zwar am wildesten herumgeflattert und -gesprungen war, aber, wie er selbst immer behauptete, über unerschöpfliche Energiereserven verfügte, war auf eine moosige Stelle gesunken. Er sah aus, als würde er gleich einnicken.
Die anderen Wolkenreiher hatten es sich ebenfalls auf dem Boden gemütlich gemacht. Es war ein friedliches Bild, wie sie sich unter den schattigen Bäumen ausruhten und dabei einen Halbkreis um das kleine Krokodil bildeten.
Carla war es von der Herumrollerei so heiß geworden, dass sie jetzt mit weit geöffnetem Maul schlapp im Gras lag und ihre messerscharfen Zähne zeigte: ein Anblick, der jeden Reiher oder anderen großen Vogel entweder vor Schreck gelähmt oder zu sofortiger Flucht veranlasst hätte. Natürlich nicht Roderik! Der kuschelte sich mit seinem Federkleid ganz dicht an den Bauch des kleinen Krokodils und war glücklich und zufrieden wie noch nie.
„Jetzt ein knuspriges Muschelküchlein,“ murmelte Bollerik plötzlich in die allgemeine Stille hinein. „Und dazu ein ordentlicher Schluck frisches Flusswasser.“ Er stieß einen so tiefen Seufzer aus, dass Frederik aus seinem Schlummer erwachte. „Hab' ich was verpasst?“ erkundigte er sich benommen. „Ja, mein Kleiner,“ erwiderte Ruprik, der sich wieder ein wenig erholt zu haben schien, „das letzte dicke Muschelküchlein hat gerade unser lieber Tomrik verspeist. Pech gehabt, du Schlafmütze.“
Frederik schaute zunächst verdutzt in die Runde, doch als sein Blick an Rupriks grinsendem Gesicht hängen blieb, erkannte er, dass er zum Narren gehalten wurde. „Ja wenn das so ist, Ruprik,“ erwiderte er, und es klang fast ein wenig beleidigt, „wenn das so ist, dann kann ich nur hoffen, dass die Muscheln verdorben waren“.
„Hört auf, Freunde, euch so anzugiften“, schaltete sich Roderik ein, „was ist denn bloß in euch gefahren?“
Eine ganze Zeit lang sagte keiner mehr etwas. Jeder schien sich ganz auf das Zirpen der Grillen und das leise Rauschen des Windes in den Eukalyptusbäumen zu konzentrieren. Bis Bollerik, der das dumme Gefühl hatte, irgendwie für diese beklommene Stimmung verantwortlich zu sein, losprustete: „Ja verflixt noch mal, ich hab doch nichts Falsches gesagt. Schließlich haben wir uns die Muschelküchlein jetzt doch redlich verdient, oder etwa nicht? Wer jetzt von euch behauptet, er verspüre keine Lust, ein paar von diesen leckeren Dingern zu verputzen, der lügt doch!“
„Wo er recht hat, hat er recht“, schaltete sich Tomrik ein. „Es wäre jetzt bald an der Zeit, dass wir den gerechten Lohn für unsere Arbeit erhalten. Schließlich haben wir unser Leben riskiert. Also her mit den zehn Riesenblechen voller saftiger Muschelküchlein von Tante, Tante… Na egal, wie sie heißt.“ Dann klapperte Tomrik mit dem Schnabel, wie um das eben Gesagte zu unterstreichen. Schon bald klapperte die ganze Reiherschar wie wild, als könne sie mit ihrem Gelärme die Muschelküchlein auf der Stelle herbeizaubern.
Isidor Hopps hatte das Geklapper der Reiher mitten aus einem Traum gerissen, einem nicht gerade angenehmen Traum – deshalb war der Beo auch nicht ärgerlich. Er hatte geträumt, er sei ein Pinguin und hocke auf einer kleinen Eisscholle, mitten in einem unbekannten, endlosen Ozean. Ein heftiger Hagelschauer prasselte auf ihn nieder, und kalte Windböen fuhren ihm unbarmherzig ins Gefieder. Gerade als er mitsamt seiner Eisscholle von einem riesigen Wal in die Höhe gehoben wurde und drohte, ins eisige Meerwasser zu stürzen, weckte ihn der Krach der Reiherschnäbel.
Isidor, noch völlig benommen und orientierungslos, wusste nicht, wo er war. Als er nach unten schauen wollte und sich dabei ein wenig nach vorne beugte, verlor er das Gleichgewicht, purzelte vom Ast und trudelte flatternd in die Tiefe. Erst kurz vor dem Boden gelang es ihm sich abzufangen: Seine Notlandung endete direkt auf Carlas Rücken!
Frederik war der erste Reiher, der aufhörte zu klappern – aber nur, weil ihm der Name der Tante vom kleinen Krokodil eingefallen war. „Ich hab's“, rief er mit heller Stimme – und augenblicklich erstarb das allgemeine Gelärme. „Ja genau, Lissi heißt die Krokodildame, die so gut backen können soll.“ Und frech fügte er hinzu: „Wird wirklich höchste Zeit, dass die gute Tante zeigt, was sie kann.“
Da wollte keiner der Wolkenreiher widersprechen – und erneut setzte ihre unmelodische Schnabelmusik ein, jetzt allerdings nicht mehr ganz so laut.
Carla wurde es plötzlich ganz mulmig zumute. Sie wusste, dass jetzt der Moment gekommen war, vor dem sie sich schon die ganze Zeit gefürchtet hatte. Sie musste ihren gefiederten Freunden endlich die Wahrheit sagen. Die Wahrheit über die Muschelküchlein – und über ihre Tante Lissi.
Sie wartete, bis die Wolkenreiher mit dem Klappern aufgehört hatten, und räusperte sich dann laut. „Liebe Freunde“, begann sie mit rauer Stimme, „äh, ich glaube, es gibt da etwas, was ich euch mitteilen muss“.
Alle Augenpaare waren jetzt erwartungsvoll auf Carla gerichtet. Sogar Isidor Hopps, der mittlerweile wieder wusste, wo er sich befand und was passiert war – und gerade richtig losschimpfen wollte, widmete seine ganze Aufmerksamkeit dem kleinen Krokodil. Er ahnte, dass er gleich etwas Wichtiges erfahren würde.
„Ich habe euch nicht die ganze Wahrheit gesagt, liebe Wolkenreiher“, fuhr Carla müde und zerknirscht fort. „Meine Tante Lissi, die Gute, ist nicht mehr die Jüngste – und deshalb inzwischen ein wenig vergesslich geworden. Und – nun ja – wie soll ich es sagen… Sie, sie weiß nicht mehr, wie das geht. Das Muschelküchlein-Backen, meine ich.“
Die Wolkenreiher konnten nicht glauben, was sie da hörten, und starrten das kleine Krokodil fassungslos an. Nur Ruprik hatte die Augen geschlossen. Auf seinem Gesicht lag ein seltsamer Ausdruck, ein verhaltenes Lächeln umspielte seinen Schnabel, so als überrasche ihn Carlas Mitteilung nicht wirklich.
Die anderen Reiher waren verblüfft, verblüfft und schockiert. Bevor einer von ihnen etwas sagen konnte, fuhr Carla fort. Doch jetzt war ihr Ton ein anderer. Sie sprach nun hastig – und klang überhaupt wieder völlig munter: „Aber das ist ja alles kein Problem, meine Lieben. Meine liebe Tante Lissi mag vielleicht das Muschelküchlein-Rezept nicht mehr hundertprozentig im Kopf haben: Aber dafür weiß sie noch ganz genau, wie man die herrlichsten, allerköstlichsten Frosch-Krapfen backt! Überhaupt sind die viel leckerer als Muschelküchlein. Meine Tante backt sie nach einem uralten Geheimrezept, das außer ihr im Grasland und in der restlichen Welt niemand mehr kennt. Ach ich sage euch, meine Freunde“, und jetzt klang Carla richtig schwärmerisch, ja direkt überschwänglich, „ich sage euch, nein, ich verspreche euch, ihr werdet begeistert sein von diesen Krapfen. Einfach himmlisch sind sie! So etwas Gutes habt ihr überhaupt noch nicht gefuttert, da bin ich ganz sicher.“
Die meisten Wolkenreiher wussten nicht, was sie von Carlas Worten halten sollten. Tomrik war völlig verwirrt und dachte erst, er habe etwas falsch verstanden. Frederik, der Jüngste, fragte sich, ob das kleine Krokodil ihn und die anderen wirklich an der Nase herumführt hatte, konnte sich eine solche Dreistigkeit aber auch nicht ernsthaft vorstellen. Sollte dieses Krokodil doch ein falsches Spiel mit uns spielen, dachte er, dann ist das allerdings ganz schön clever von ihm. Und wer weiß, überlegte Frederik, vielleicht existiert diese Tante Lissi ja überhaupt nicht.
Gesehen hatte er sie schließlich noch nie, und auch von seinen Kollegen hatte er noch nie gehört, dass sie der Krokodildame einmal begegnet wären. Aber er beschloss, diesen Gedanken erst einmal für sich zu behalten.
Frederik wollte lieber abwarten, wie Roderik auf Carlas Geständnis reagierte. Schließlich war er ja mit dem Krokodil dick befreundet und hatte sich für Carlas Anliegen eingesetzt – und überhaupt für die ganze Gewitter-Aktion ziemlich stark gemacht. Erst mal sehen, was der meint, dachte Frederik.
Es war jetzt völlig still im Eukalyptuswald. Von den Baumbären war nichts mehr zu hören, noch nicht einmal eine leises Brummen oder Rascheln in den Ästen. Sogar der Wind hatte eine Pause eingelegt. Und die gesamte Vogelwelt, die sonst so eifrig im Wäldchen zwitscherte, schnarrte und pfiff, schien ausgewandert oder in einen tiefen Dornröschenschlaf gefallen zu sein.
Roderik war die ungewöhnliche Stille nicht aufgefallen. Er fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen. Sollte seine beste Freundin ihn und seine Kumpanen wirklich so hereingelegt haben? Er schluckte – und hatte ein ganz trockenes Gefühl im Schnabel. In seinem Bauch grummelte es lautstark. Belogen hat Carla uns auf jeden Fall, dachte Roderik. Und die Geschichte mit den Froschkrapfen als Ersatz für die versprochenen Muschelküchlein, die konnte und wollte er nicht glauben.
Roderik seufzte. Ja, er war sich jetzt sicher: Das kleine Krokodil hatte zu einer List gegriffen, um ihn und seine Freunde zu überreden, noch einmal die Gewittermacher zu spielen. Roderik erkannte auf einmal, wie enorm wichtig die Schirme für Carla waren und wie sehr ihr ihre Leib- und Magenspeise fehlen musste, wenn sie einen solchen Trick anwandte. Ein ziemlich gemeiner Trick, fand Roderik, doch sollte er deshalb wirklich die tiefe Freundschaft, die ihn mit dem kleinen Krokodil verband, aufkündigen? Schließlich war keiner seiner Freunde bei dem Wolkenmanöver zu Schaden gekommen, dachte er, auch wenn es manchmal ganz schön brenzlig gewesen war.
Roderik mochte das kleine Krokodil viel zu gern, um richtig böse zu sein. Verärgert war er, das schon, und auch ein bisschen enttäuscht, schließlich hatte er mit einer derartigen List nie gerechnet. Doch direkt wütend war er nicht, und er bewunderte Carlas Mut sogar ein wenig – und ihre Schläue. Da gehört schon etwas dazu, dachte er, uns alle so hereinzulegen! Auf jeden Fall haben wir bei Carla etwas gut.
Auf einmal fand Roderik die ganze Angelegenheit gar nicht mehr so dramatisch. Ihm taten hauptsächlich seine Kollegen leid, die jetzt auf die versprochenen Köstlichkeiten verzichten mussten, auch wenn sie das vielleicht noch nicht so recht begriffen. Aber wenn sie es begriffen, wie würden sie reagieren?
Roderik machte sich plötzlich Sorgen. Andererseits: Was sollten sie schon unternehmen, noch dazu gegen ein Krokodil? Sauer werden sie sein, dachte Roderik, stinksauer. In die Hölle werden sie Carla wünschen. Doch da war plötzlich noch ein Gedanke in seinem Kopf: Wenn seine Kollegen auf die Idee kämen, er stecke mit Carla unter einer Decke? Nicht auszudenken, erschrak Roderik – und ihm wurde auf einmal ganz heiß.
„Stimmt das auch, Krokodil“, platzte Bollerik in die seltsame Stille hinein, die sich nach Carlas überraschender Mitteilung über den schattigen Platz unter den Eukalyptusbäumen gesenkt hatte. „Das mit den Froschkrapfen, meine ich. Oder ist das auch wieder nur ein Versuch von dir, uns hereinzulegen?“
Carla senkte den Blick. Die Situation war ihr jetzt so peinlich, dass sie sich wünschte, auf der Stelle vom Erdboden verschluckt zu werden. Sie hatte absolut keine Ahnung, was sie noch erwidern solle. Jetzt war alles aus. Die Reiher hatten sie durchschaut.
Da erhob Roderik die Stimme. „Natürlich stimmt das, lieber Bollerik“, sagte er, hüpfte einen Meter vor und blickte seinen Kollegen streng an. „Was denkst denn du? Die Froschkrapfen von Carlas Tante sind wirklich das Leckerste, was du dir vorstellen kannst. Muschelküchlein sind nichts dagegen. Und überhaupt, was glaubt ihr denn eigentlich?“ Roderik ließ einen ernsten Blick in die Runde schweifen, wobei er jedem Reiherkollegen kurz in die Augen schaute. „Denkt ihr wirklich, Carla hätte uns absichtlich betrogen? Ist doch Quatsch! Sie hat da einfach was verwechselt, kann ja mal vorkommen, oder? Muschelküchlein, Froschkrapfen, Schneckenmuffins, Forellentaler, Krebstaschen … Da kann doch schon mal etwas durcheinander geraten, meint ihr nicht?…“
Die Wolkenreiher wussten nicht, was sie davon halten sollten. Skeptisch wechselten ihre Blicke zwischen Roderik und Carla hin und her. Nur Ruprik hielt weiterhin die Augen geschlossen, immer noch dieses merkwürdige Lächeln um den Schnabel. Carla starrte auf die Grasbüschel und hütetet sich, ein Wort zu sagen.
„Carla hat sich einfach nicht getraut“, fuhr Roderik fort, „sie hat Angst davor gehabt, euch ihren Irrtum mitzuteilen. Das kann man doch verstehen oder? Schließlich ist es ihr erst recht spät bewusst geworden, dass sie da etwas verwechselt hat. Und da waren wir bereits längst auf dem Weg zu den Schwarzen Bergen!“
Carla warf Roderik einen verstohlenen Blick zu, einen Blick voller Dankbarkeit. Sie sah jetzt ihre Chance, heil aus der ganzen Sache herauszukommen, und diese Chance wollte sie nutzen. „Roderik hat recht“, sagte sie, „ich habe mich davor gefürchtet, euch meinen Irrtum zu gestehen. Und ich schäme mich wirklich dafür, euch nicht die Wahrheit gesagt zu haben, dass müsst ihr mir glauben, liebe Freunde. Aber ich werde meinen Fehler wieder gut machen, das verspreche ich euch. Ehrenwort!“
Wie um den Wahrheitsgehalt von Carlas Worten zu bestätigen, meldete sich in diesem Augenblick der Wind zurück: Rauschend wogte das Blätterdach über den Gefährten hin und her, und ein paar Dutzend welke Blätter segelten gen Boden.
Als ein gelbliches Eukalyptusblatt Rupriks Schnabel streifte, öffnete der Reiher-Älteste die Augen und ergriff das Wort. Das Lächeln in seinem Gesicht war verschwunden. Rupriks Miene war ernst, doch seine Augen strahlten eine tiefe Zufriedenheit aus. „Also gut, Krokodil“, sagte er ruhig. „Wir nehmen dich beim Wort und tragen dir deinen Fehler nicht weiter nach. Doch verrat uns bitte, was genau du damit meinst, alles wieder gut machen zu wollen?“
Carla brauchte mit einer Antwort nicht zu zögern, denn sie hatte sich bereits einen Plan zurecht gelegt, wie sie die Wolkenreiher zufrieden stellen konnte. „Ich danke dir herzlich für dein Verständnis, lieber Ruprik“, sagte sie jetzt gutgelaunt, „und ich hoffe, dass deine Kollegen auch so denken.“
Und dann holte das kleine Krokodil tief Luft und fuhr aufgeregt fort. „Ich will euch sagen, liebe Freunde, wie ich alles wieder gut mache. Gleich morgen früh brechen wir alle zusammen auf. Unser Ziel wird das Grasland sein. Treffpunkt ist der Laden von Nadja, der Nilpferddame. Ihr wisst doch, Nadjas Laden liegt direkt am großen Fluss, oder genauer gesagt, im großen Fluss. Dort seid ihr alle zu einem großen Fest eingeladen. Auf der großen Holzveranda vor dem Laden können wir wunderbar feiern, direkt über dem kühlen Flusswasser.
Und es wird euch dort an nichts fehlen, liebe Freunde, das verspreche ich euch. Die köstlichsten Speisen und die frischesten Getränke sollen euch für die Strapazen des Gewitterflugs entschädigen. Es soll ein Fest werden, wie ihr es noch nie erlebt habt.“
Carlas Augen blitzten vor Unternehmungslust und Vorfreude.„Na, was sagt ihr?“
Die Wolkenreiher waren sprachlos, sogar Roderik. Bei Frederik hielt die Sprachlosigkeit allerdings nicht lange an. „Das hört sich alles ja ganz prima an, Krokodil. Aber sag: Gibt es auf deinem tollen Fest auch Froschkrapfen zu futtern?“ Carlas Miene verfinsterte sich, aber ehe sie antworten konnte, meldete sich Roderik zu Wort.
„Halt doch einfach mal deinen frechen Schnabel, Frederik. Ich finde Carlas Vorschlag grandios. Und ich bin sicher, jeder von uns wird auf diesem Fest auf seine Kosten kommen. Carla hat uns gesagt, wie leid ihr die ganze Angelegenheit tut – und lädt uns nun – als Wiedergutmachung sozusagen – zu einer Riesenparty mit allem drum und dran ein: Was gibt's dagegen einzuwenden? Ich denke, damit sollte alles erledigt sein – und jeder von uns sollte sich jetzt einfach auf die Feier freuen.“
Bis auf Frederik klapperten alle Wolkenreiher zustimmend mit dem Schnabel. Jeder war froh, dass die gedrückte Stimmung endlich verflogen war, schließlich waren Wolkenreiher ein lustiges, friedliches Völkchen, das Streitereien verabscheute und Auseinandersetzungen aus dem Weg ging, sofern das irgendwie möglich war. Und so sahen sich die meisten bereits auf dem Fest bei der Nilpferddame, und jeder stellte sich vor, was dort wohl Köstliches aufgetischt werden würde.
Henrik wusste, dass die gute alte Nadja im Hinterzimmer ihres Ladens ganz besondere Delikatessen verborgen hielt, die sie dort für bestimmte Stammkunden aufbewahrte. Natürlich hoffte er, dass Carla die geschäftstüchtige Nilpferd-Lady überreden würde, zu diesem außergewöhnlichen Anlass ein paar von den speziellen Leckereien zu servieren. Bollerik hingegen wünschte sich, dass es auch Musik gab und man vergnügt das Tanzbein schwingen konnte. Und Tomrik fragte sich, ob auch daran gedacht war, sich mit dem ein oder anderen lustigen Spiel zu vergnügen. Dabei hatte er natürlich vor allem sein Lieblingsspiel im Sinn: das Heuschrecken-Wettessen.
Selbst Roderik, der überlegte, wie Carla wohl dieses Fest auf die Schnelle und aus der Ferne organisieren wolle und ob Nadja wirklich mitspielte und ihren Laden zur Verfügung stellte, sah sich schon auf der Veranda hocken: auf dem Tisch, direkt vor seinem Schnabel einen riesigen Teller knackiger Honigschnecken, die Nadja frisch aus dem großen Holzbottich geholt hatte, der neben dem Ladeneingang stand. Unter ihm gluckste vergnügt das grüne Flusswasser – und auf dem Holztisch thronte, gleich neben seinem Teller, ein Riesenkrug, randgefüllt mit kühlem, süffigem Büffelgrasbier. Roderik hatte auf einmal einen höllischen Durst.
Die Freunde einigten sich darauf, gleich bei Morgendämmerung aufzubrechen. Carla wies darauf hin, dass ihre Reise länger dauern würde, doch die Reiher versprachen, langsam zu fliegen und öfter Pausen einzulegen, damit sie nicht zu früh am großen Fluss eintrafen. Und falls sie doch ein wenig früher als das Krokodil am Ziel sein sollten, bemerkte Ruprik augenzwinkernd, würden sie halt mit dem Feiern solange warten, bis das Fußvolk eintreffe. „Es sei denn,“, ergänzte Henrik, „Nadja meint, wir sollen schon mal anfangen, bevor das Bier warm wird und die Fliegen die Fischtörtchen gefressen haben“, worauf die ganze Reiherschar in ein schallendes Gelächter ausbrach.
Das Paradies ruft
Es war immer noch hellster Nachmittag, als die Wolkenreiher bereits nach geeigneten Schlafplätzen Ausschau hielten. Die ganze Aufregung hatte sie ziemlich erschöpft, außerdem wollten sie morgen früh ausgeruht die Reise zum großen Fluss antreten. Natürlich dachte keiner der Reiher ernsthaft daran, aus Rücksichtnahme auf Carla besonders langsam zu Nadjas Laden zu fliegen, geschweige denn, längere Pausen einzulegen. Jeder wollte so schnell wie möglich am Ziel sein. Schließlich konnten sie mit der Party ja schon mal beginnnen, auch wenn das kleine Krokodil noch unterwegs war. Und je eher sie bei der Nilpferdame ankamen, umso eher konnten sie sich über die Leckereien hermachen und sich Nadjas berühmtes Bier schmecken lassen.
Also hieß es jetzt für sie: Schlafen gehen – und morgen bei Sonnenaufgang mit frischen Kräften und gutgelaunt durchstarten – ganz nach dem Motto: Wenn das Paradies ruft, folgen wir seinem Ruf, so schnell wir können!
Bevor die Wolkenreiher sich auf ihre Schlafplätze in den Bäumen zurückzogen, verspeisten sie noch lustlos ein paar Grashüpfer, die ihnen um die Füße sprangen, damit sie überhaupt etwas im Magen hatten. Doch bei all den Delikatessen, die ihnen durch den Kopf geisterten, wollten sie ihre Bäuche vor der Party nicht unnötig füllen. Insgeheim hoffte jeder der Reiher, bereits am Abend des nächsten Tages gemütlich an Nadjas reich gedeckter Festtafel zu hocken. Dass dies nur möglich war, wenn sie schnell genug flögen, war ihnen klar.
Als Carla sicher war, dass die Wolkenreiher schliefen, kroch sie leise zu dem dichten Busch, in den sich Isidor Hopps zurückgezogen hatte. Sie musste unbedingt mit dem Beo reden, denn ohne seine Mithilfe wäre der ganze schöne Plan zum Scheitern verurteilt, davon war sie überzeugt,
Mit ihrer Nase raschelte Carla vorsichtig im Buschwerk, in dem Isidor hockte, um ihn ganz sanft zu wecken. Doch der Beo schrak abrupt aus seinem Schlaf hoch, als habe ihn eine Hornisse gestochen. Er wollte schon losschimpfen wie ein Blesshuhn, da erkannte er die Stimme, die eindringlich flüsterte. „Pssst, Isodor, leise, ich bin es doch nur, pssst!“
„Was ist los, Krokodil“, maulte der Beo, „warum weckst du mich mitten in der Nacht, noch dazu, wenn ich gerade träume, ich wäre ein Kondor und flöge hinauf zu den höchsten Berggipfeln der Welt.“ „Es tut mit leid, Isidor“, flüsterte Carla, „aber ich muss dringend mit dir sprechen, äußerst dringend sogar. Und sprich bitte nicht so laut, du weckst ja alle Wolkenreiher auf.“
Isidor Hopps fühlte sich zwar noch etwas benommen, aber seine Neugier war bereits völlig wach. „Ja worum geht es denn, bei allen Schneehühnern dieser Welt, was gibt es denn so Wichtiges?“, fragte er.
Mit leiser Stimme berichtete Carla ihm in allen Einzelheiten, was sie vorhatte, und auch, welch entscheidende Rolle er bei diesem Plan spielen sollte. „Ohne dich, lieber Isidor“, raunte sie dem Beo zu, das große Maul so nah wie möglich an seinem Ohr, „ohne dich bin ich verloren. Das Fest kann nicht stattfinden, und meine Freunde, die Wolkenreiher, werden stinksauer auf mich sein und mich auf den Mond wünschen.“
„Der Mond ist vielleicht gar kein so schlechter Platz“, meinte Isidor und grinste, doch als er Carlas ernsten Gesichtsausdruck bemerkte, sagte er schnell, „Schon gut, schon gut, verehrtes Krokodil, alles in Ordnung, kein Grund zur Panik, lass mich nur nur einen Moment nachdenken, nur einen klitzekleinen Augenblick“.
Obwohl sie vor Ungeduld fast platzte, ließ Carla den Beo nachdenken. Doch als Isidor endlich sprach, erschien es ihr, als sei eine halbe Ewigkeit vergangen – und kein Augenblick. „Bist du wirklich sicher, Krokodil,“ meinte der Beo, „dass die Schirme wieder dorthin zurückgeflogen sind, wo sie hergekommen waren? Dass also auch die Schirme, die der Nilpferddame ausgebüchst waren, brav in ihren Laden zurückgekehrt sind?“
Carla versuchte, so überzeugend wie nur möglich zu klingen. „Da bin ich ganz sicher, lieber Isidor. Der Zauber ist gebrochen. Ich hab ja mit eigenen Augen gesehen, wie sich das Schirmdach über dem Dschungel aufgelöst hat und die Schirme davon gesaust sind. Natürlich sind sie dorthin zurückgeflogen, wo sie hergekommen sind. Und auch Nadja hat ihre Schirmsammlung wieder.“
Isodor schwieg, was Carla als Zustimmung nahm. Sie hatte das Gefühl, ihn so gut wie überredet zu haben. „Du musst Nadja aber unbedingt darauf aufmerksam machen“, fuhr das kleine Krokodil fort, „dass sie es mir zu verdanken hat, dass die Schirme in ihren Laden zurückgeflogen sind“.
„Aber ich denke, die Wolkenreiher haben den Zauber der bösen Schlange zerstört“, wandte Isidor Hopps ein. „Ist doch ganz egal“, meinte Carla mit Nachdruck, „Hauptsache Nadja ist davon überzeugt, dass ich für die Befreiung der Schirme verantwortlich bin und dass sie mir dafür etwas schuldet.“ „Ach so,“ gurrte Isidor Hopps und machte ein Gesicht, als sei ihm soeben ein Licht aufgegangen. „Langsam verstehe ich, Krokodil, ganz schön schlau, Hut ab, Verehrteste, nicht gerade dumm, nein nein, das ist direkt schon clever, ja ja“, und der Beo begann zu glucksen wie eine Henne, die gerade ein Ei gelegt hat. „Still Isodor“, ermahnte ihn Carla, „du weckst ja alle auf“.
„Also, Isidor“, sagte Carla, als der Beo sich beruhigt hatte, „was ist nun? Kann ich mit deiner Hilfe rechnen? Wenn du mich jetzt nicht im Stich lässt, werde ich dir das nie vergessen!“
Der Beo plusterte sich auf, als sei es urplötzlich eiskalt geworden, und antwortete gelassen: „Okay, okay, Krokodil. Ich seh' schon, ohne mich läuft wieder mal überhaupt nichts. Na gut, dann wird halt wieder mal Isidor Hopps die Kastanien aus dem Feuer holen. Wer denn sonst? Was du für ein Glück hast, Krokodil-Lady, dass dir für diesen schwierigen Spezialauftrag ausgerechnet der schnellste Beo der Welt zur Verfügung steht.“
„Du bist ein Schatz, Isidor“, bedankte sich Carla, der ein Stein vom Herzen fiel. „Ich wusste, das du mich nicht im Stich lassen würdest. Aber…“, und nun klang sie ein wenig zweifelnd, „aber bist du wirklich sicher, lieber Isidor, dass du vor den Wolkenreihern am Ziel sein wirst?“
„Na klar“, antwortete der Beo stolz, „klar wie Froschbrühe, Fräulein Kroko, alles kein Problem. Gegen mich sind die Reiher lahme Enten. Kein Chance haben die gegen einen durchtrainierten Kondor, äh ich meine natürlich Beo wie mich.“
„Aber dir ist schon klar, Isidor“, flüsterte Carla, „dass du jetzt gleich los fliegen musst?“ Der Beo erstarrte auf seinem Ast und sagte erst einmal gar nichts. Dann nach einer kleinen Ewigkeit und von einem tiefen Seufzer begleitet: „Wenn es sich nicht vermeiden lässt, Krokodil, dann starte ich eben auch mitten in der Nacht durch.“ Und, für Carlas Ohren unhörbar: „Mit mir kann man es ja machen.“
„Nicht irgendwann heute Nacht“, sagte Carla, „wenn alles klappen soll, Ididor, musst du jetzt sofort losfliegen. Sonst schaffst du es nicht. Ich will gern glauben, dass du der schnellste Beo von allen bist. Aber vergiss nicht: Wolkenreiher haben nun mal längere Flügel. Viel längere.“
Isidor seufzte erneut. „Ich seh' schon“, klagte er, „du bist unerbittlich. Na schön, dann heb' ich halt gleich ab, auch kein Problem, hab' sowieso nichts Besseres vor heute Nacht. Und außerdem: Im Dunkeln finde ich mich viel besser zurecht als am hellichten Tag.“
Carla bedankte sich noch einmal überschwänglich beim Beo und wünschte ihm dann einen guten Flug. Bevor Isidor startete, schärfte sie ihm noch einmal ein, was genau er der Nilpferddame sagen solle, damit sie auch wirklich bereit war, alle Vorbereitungen zu treffen, die für ein Festgelage nötig waren. „Und vergiss nicht, lieber Beo“, ergänzte Carla, „vergiss bloß nicht, Nadja zu versichern, dass ich ihr den ganzen nächsten Sommer lang in ihrem Laden helfen werde. Und dass ich ihr alle Schirme abkaufen werde. Alle, hörst du?!“
Isidor knurrte etwas, das wie eine Zustimmung klang, dann bahnte er sich flatternd einen Weg aus dem Busch heraus – und verschwand in der dunklen Nacht.
Nadja wird aktiv
Der Beo flog die ganze Nacht hindurch, immer dicht über den Wipfeln der Urwaldriesen. Ein leichter Rückenwind sorgte dafür, dass ihn das Fliegen kaum anstrengte. Vielleicht kann ich mir ja eine Pause sparen, dachte Isidor. Er hoffte, spätestens am Mittag des nächsten Tages sein Ziel erreicht zu haben.
Auch im Dunkeln wusste der Beo stets, dass er sich auf dem richtigen Kurs befand. Er wusste es einfach. Er hatte die Super-Orientierung, den siebten Sinn. Immer und überall. Isidor hatte sich noch nie verflogen. Warum das so war, darüber machte er sich keine Gedanken.
Als die Morgendämmerung einsetzte, fühlte sich Isidor ein wenig schläfrig. Aber mit dem Sonnenaufgang und den ersten Sonnenstrahlen, die sein Gefieder wohlig wärmten, war die Müdigkeit wie weggeblasen. Nur noch ein paar Stunden, dachte Isidor, dann ist es geschafft. Dann werde ich der dicken Nilpferd-Lady eine schöne Geschichte erzählen. Und seiner blendenden Laune konnte auch der Wind nichts anhaben, der sich gedreht hatte und jetzt kräftig von vorn blies.
Isidor Hopps hatte gerade beschlossen, doch ein kleine Pause einzulegen, da erblickte er in der Ferne das glitzernde Band des großen Flusses. Über dem Grasland war der Wind noch stärker geworden, so dass den Beo das Fliegen jetzt ziemlich anstrengte. Deshalb war er froh, fast am Ziel zu sein.
Isidor flog jetzt über den Fluss und folgte der Strömung. Nur noch diese eine Flussbiegung, dachte er, dann müsste ich den Laden des dicken Nilpferdes eigentlich schon sehen. Es muss schon eine Ewigkeit her sein, dass ich diesem komischen Haus auf Stelzen einen Besuch abgestattet habe.
Isidor erinnerte sich dunkel daran, dass er damals kein willkommener Gast gewesen war. Hoffentlich erkennt Nadja mich nicht wieder, dachte er. Denn ihm war gerade wieder eingefallen, wie er in den großen Bierkrug gefallen war. Die Wirtin war darüber so erbost gewesen, dass sie ihm Lokalverbot erteilt hatte – und er mit knurrendem Magen und bierverklebtem Gefieder mühsam flatternd das Weite suchen musste. „Lass dich hier nie wieder blicken, du Tölpel von einem Raben“, hatte sie ihm noch mit vor Zorn bebender Stimme nachgerufen, „das gute Bier kann ich jetzt in den Fluss kippen.“ Isidor hoffte inständig, dass das Erinnerungsvermögen der in die Jahre gekommenen Nilpferddame nicht mehr das Beste war. Dass sie ihn damals einen Raben genannt hatte, ärgerte ihn heute noch.
Nadja schwitzte. Angesichts der sengend heißen Mittagssonne, die sich in ihre Haut brannte, würde die dicke Nilpferddame jetzt viel lieber ein erfrischendes Bad im Fluss nehmen, als dieses schwere Fass Büffelgrasbier aufzurichten, dass sie gerade über die Veranda ihres Kramladens gerollt hatte. Doch die Bande von Pelikanen, die sich per Wellensittichpost erst vor ein paar Minuten zum Mittagsimbiss angemeldet hatte, war für ihren Durst und ihre Trinkfestigkeit im ganzen Grasland berühmt. So blieb Nadja nichts anderes übrig, als noch schnell dafür zu sorgen, dass auch genügend Bier bereitstand, wenn die Schluckspechte gleich landeten.
Immer so kurzfristig, grummelte die Nilpferd-Dame, als das Fass endlich neben der Eingangstür stand, in unmittelbarer Nachbarschaft eines stattlichen Haufens wild übereinander gestapelter Schirme aller Arten und Größen. Immer dasselbe mit diesen Pelikanen, dachte Nadja, und der Schweiß tropfte ihr vom Bauch und lief ihr die stämmigen Beine hinab, so dass sich bereits große Pfützen auf den Verandabrettern bildeten.
Am liebsten würde sie den Imbissbetrieb ihres Laden wieder einstellen. Das würde ihr viel Arbeit und Ärger ersparen. Aber Nadja wusste genau: Nur mit dem Verkauf von eingelegten Muscheln, Schilfrohrflöten, Regenschirmen und anderen Dingen des täglichen Bedarfs kam nicht genug in die Kasse. Gut, dass die Schirme wieder zurückgekehrt sind, dachte die Nilpferddame und seufzte laut. Leider hatte sie seit deren wundersamer Heimkehr kein einziges Exemplar mehr verkauft.
„Zapf mir doch gleich mal einen ordentlichen Krug von deinem goldgelben Bier, schöne Wirtin. Aber nicht so viel Schaum, wenn ich bitten darf.“ Nadja zuckte zusammen. Wer war es, der sie da so erschreckte? „Und zum Bier hätte ich gern eine Riesenschüssel superfrischen Fruchtsalat. Aber die Kokosraspeln nicht vergessen!“
Jetzt sah Nadja, woher die schrille, freche Stimme kam. Auf dem Rand des Fasses, dessen Transport ihr soviel Schweiß gekostet hatte, saß ein kleiner dunkler Vogel, der jetzt dreist wie eine Spottdrossel weiter plärrte: „Oder denkst du etwa, ich hätte mir eine kleine Stärkung nicht redlich verdient, Königin des Flusses?“
Nadja hatte ihre Fassung wiedergefunden und gab dem Bierfass einen Tritt, so dass der Beo um ein Haar mit dem harten Bretterboden Bekanntschaft geschlossen hätte. Sicherheitshalber flog er eine Etage höher und nahm auf der Dachkante von Nadjas Laden Platz.
„Unverschämter Vogel,“ schimpfte die Nilpferd-Dame. „Was fällt die eigentlich ein, mich so zu erschrecken. Mein Herz ist schließlich nicht mehr das jüngste! Verschwinde, ich habe zu tun. Außerdem ist mein Imbisslokal überhaupt noch nicht geöffnet.“ „War doch nur ein kleines Späßchen, Gnädigste“, flötetet der Beo mit der Stimme eines Kanarienvogels, froh darüber, dass Nadja ihn nicht wieder erkannt hatte. „Kein Grund, sich aufzuregen, Verehrteste. Aber ich habe interessante Neuigkeiten für dich. Etwas, das du wirklich wissen solltest.“
Zornig blickte Nadja zum Beo hinauf. Irgendwo war ihr dieser freche Vogel schon einmal über den Weg gelaufen, doch sie konnte sich nicht erinnern, wo und wann. „Sieh zu, dass du verschwindest, du Spaßvogel. Ich erwarte Gäste und habe keine Zeit, um mit dir zu plaudern. Außerdem interessieren mich die Geschichten eines Papageis nicht.“
Den Papagei wollte Isidor nicht auf sich sitzen lassen. „Diese Geschichte wird dich interessieren, Lady Walross“, antwortete er scharf, „oder solltest du vielleicht ein Krokodil namens Carla gar nicht kennen?“
Nadja spitze die Ohren. Was wusste dieser unverschämte Vogel denn über Carla? Doch jetzt war sie neugierig geworden, und ihre Stimme klang fast freundlich, als sie zum Beo sprach. „Okay, Vogel, erzähl mir, was du über Carla weißt. Dann spendier ich dir vielleicht einen Fingerhut Bier – und danach machst du dich schnell wieder aus dem Staub, ist das klar?“
Isidor Hopps seufzte. „Die Welt ist einfach ungerecht. Ich verhelfe dir dazu, dass du das Geschäft deines Lebens machst, und du behandelst mich wie eine diebische Elster. Hör einfach zu, meine Liebe, und du wirst mir die Füße küssen und mir alle meine Lieblingsspeisen kochen, wenn ich fertig bin.“
Und der Beo, dem die unzähligen Schirme auf der Veranda natürlich nicht verborgen geblieben waren, erzählte der Nilpferddame alles, was das kleine Krokodil ihm ausgetragen hatte zu berichten – oder, um bei der Wahrheit zu bleiben, fast alles. Einiges ließ er weg, anderes fügte er hinzu. Isidor hatte seine Gründe dafür.
Als er seinen Bericht abgeschlossen hatte, war die Nilpferddame über das Wesentliche informiert. Nachdem ihr vor Staunen das Maul eine Minute lang offen gestanden hatte, fasste sie sich und überschlug sich förmlich, dem Beo mitzuteilen, das mit ihrem Einsatz felsenfest zu rechnen sei.
Natürlich erklärte sie sich bereit dazu, für Carla und die Wolkenreiher ein Fest zu veranstalten, wie es das Grasland noch nicht gesehen hatte. Selbstverständlich würde sie die Pelikane augenblicklich wieder wegschicken, wenn sie eintrudelten. „Dann ist heute halt Ruhetag“, posaunte Nadja fröhlich. Gar keine Frage, dass sie ihre feinsten Spezialitäten und edelsten Getränke auftischen würde.
An die guten Sachen aus dem geheimen Fach in der Vorratskammer dachte sie dabei allerdings nicht. Getrocknete Flussalgen-Klößchen und gefüllte Seerosenblätter-Taschen wusste das gefiederte Volk sowieso nicht zu schätzen, davon war Nadja überzeugt.
Als sie Isidor Hopps einen Krug mit frisch gezapftem Bier vor den Schnabel stellte, konnte sie immer noch nicht so recht fassen, was der freche Vogel ihr da erzählt hatte. Sie fand es einfach fantastisch, dass es Carla und den Wolkenreihern gelungen war, Mera zu überreden, ihre Zauberkraft in Zukunft für das Wohl des Graslandes einzusetzen.
Wirklich toll, freute sich Nadja, dass Mera extra mit den anderen den weiten Weg bis zu meinem Laden auf sich nimmt, um sich persönlich von meinen Kochkünsten zu überzeugen. Noch mehr freute sie sich allerdings darüber, dass die geläuterte Schlange sich bereit erklärt hatte, die Griffe aller zwischenzeitlich entführten Schirme in pures Gold zu verwandeln. Als kleine Wiedergutmachung sozusagen.
Die füllige Nilpferddame träumte bereits davon, vom Erlös der goldenen Schirme ihren kleinen Kramladen mit Imbiss in ein riesiges, zweistöckiges Spezialitäten-Restaurant umzubauen. Einen Feinschmecker-Palast, zu dem die Gäste selbst aus den entferntesten Urwaldorten strömten. Vielleicht mit Hotelbetrieb, dachte Nadja, und ihre Augen begannen zu glänzen. Eine Luxusherberge mitten auf dem Wasser, mit Sonnendeck und Badestegen, Sprungbrettern und Cocktailbar. Und auf einer kleinen, künstlichen Insel, so stellte sie sich vor, in unmittelbarer Nähe zum schwimmenden Gourmet-Restaurant könnte sie eine gediegene Muschelbar einrichten, mit Prickelkokosmilch-Theke, wo man sich einen kleinen Appetithappen genehmigte und sich eine erste Erfrischung reichen ließ …
Isidors Stimme riss Nadja unsanft aus ihren Träumen. „Ich denke, werte Fluss-Lady, du solltest vielleicht allmählich mal mit den Vorbereitungen für das Festmahl beginnen. Es wird bestimmt nicht mehr lange dauern, bis die Wolkenreiher da sind. Und was die falsche Schlange betrifft, ehem … “– Isidor räusperte sich, „ich meine natürlich die fabelhafte Schlange, die dürfte allerdings ein wenig mehr Zeit für die Reise als die Wolkenreiher benötigen: Schließlich hat sie keine Flügel.“
„Aber sie verfügt doch über Zauberkräfte“, wandte Nadja ein. „Nun ja“, entgegnete der Beo, „das stimmt schon. Aber Mera will ja ihre volle Zauberkraft dafür einsetzen, um möglichst viele von deinen Schirmen in Gold zu verwandeln. Und da wäre es doch ausgesprochen dumm von ihr, vorher unnötige Energie für Nebensächlichkeiten zu verschwenden, oder?“
Das leuchtete Nadja ein. Die Nilpferddame wurde plötzlich von einer großen Unruhe befallen – und von einem vorher nie gespürten Tatendrang. „Ich muss jetzt sofort in meine Küche, mein lieber Kuckuck“, rief sie Isidor zu und war bereits im Holzhaus verschwunden. Kuckuck hin, Kuckuck her, dachte der Beo, alles piepegal, ich lasse mir jetzt mein Bier schmecken. Und während er seinen Hals so tief hinunter beugte wie nur möglich, dass sein Kopf bereits ganz im Bierkrug verschwunden war, war es ihm auf einmal ein wenig mulmig zumute.
Hoffentlich geht das gut, dachte Isidor. Hoffentlich machen mir die Wolkenreiher, wenn sie angekommen sind, keinen Strich durch die Rechnung. Niemand darf das Wort Schlange in den Mund nehmen! Und wenn doch irgendjemand auf die Schlange zu sprechen käme, überlegte der Beo, falls sich etwa das neugierige Nilpferd nach Mera erkundigen sollte, dann würde er halt sofort in ein schallendes Gelächter ausbrechen und rufen: „Die Zauberschlange kommt etwas später, das habe ich doch bereits gesagt.“
Isidor war begeistert von seiner Idee. Wusste er doch, dass Wolkenreiher einen ausgeprägten Sinn für Humor hatten und Späße liebten, erst recht, wenn sie in gemütlicher Runde beim Bier hockten, Und so ging er einfach davon aus, dass sie über den vermeintlichen Scherz lauthals mitlachen würden. Und dass damit das Thema erledigt sei.
Vielleicht ist Nadja ja auch so sehr mit Kochen und Auftischen beschäftigt, dass sie gar keine Zeit hat, Fragen zu stellen, dachte der Beo. Was soll's, irgendwie wird es schon klappen. Und wenn nicht, und dabei nahm er einen tiefen Schluck aus dem Krug, wobei er höllisch aufpassen musste, nicht das Gleichgewicht zu verlieren und ins Bier zu fallen, wenn nicht, dann mach ich mich halt blitzschnell aus dem Staub. Tschüss und ade. Auf Nimmerwiedersehen!
Dass es soweit kommen würde, konnte sich Isidor allerdings nicht recht vorstellen. Völlig entspannt gönnte er sich noch ein paar volle Schnäbel von dem erfrischenden Bier und wurde dann schrecklich müde. Isidor schaffte es gerade noch, zur Wäscheleine zu flattern. Von zwei frisch gewaschenen Schilfdeckchen umrahmt, die Nadja zum Trocknen aufgehängt hatte, hockte er auf der Grasleine, den Kopf tief vornüber gebeugt, die Flügel schlapp herunterhängend – und fiel in einen tiefen Schlaf.
Der Beo verschlief den Rest des Tages und auch die kommende Nacht. Weder das emsige Geklappere von Nadja, die die ganze Zeit in der Küche beschäftig war, noch das frühmorgendliche Gelärme der jungen Papageien, die rund um Nadjas Laden Fangen spielten, weckte ihn auf. Erst ein lautes Platschen im Wasser und ein noch lauteres Rufen rissen ihn aus dem Schlaf.
Benommen öffnete Isidor die Augen. Zunächst blendete ihn das grelle Tageslicht, doch dann erkannte er, wie sich der stattliche Kopf eines Krokodils über den Verandarand schob. „Hallo Isidor“, rief eine ihm bekannte Stimme, „da staunst du, das ich schon da bin, was?“
Und wie Isidor staunte! Und sich gleichzeitig erschreckte, denn an das kleine Krokodil hatte er einfach überhaupt nicht mehr gedacht. „Ich bin so schnell geschwommen wie der weiße Hai“, meinte Carla gutgelaunt und kletterte auf die Veranda. „Wollte nicht riskieren, dass für mich kein einziger Bissen mehr übrig ist, wenn ich eintreffe.“ Doch dann stutzte sie. „Aber sag, Isidor, sind denn Roderik und die anderen etwa noch gar nicht da?“
„Noch nicht aufgetaucht“, antwortete Isidor, dessen Kopf sich anfühlte, als sei er mit ihm gegen einen Felsen geprallt. „Hoffentlich ist ihnen nichts zugestoßen“, sagte Carla, „sie müssten eigentlich schon längst hier sein, schließlich haben sie Flügel.“ „Jaja, Flügel, Flügel“, schnatterte Isidor aufgeregt und blickte schnell zur Tür, um zu sehen, ob Nadja im Haus war. „Hör zu, liebes Krokodil“, und jetzt hatte die Stimme des Beos etwas Verschwörerisches, „tu mir bitte einen Gefallen: Sprich um Himmelswillen zum Nilpferd kein Wort über die Schlange, hörst du, kein Sterbenswörtchen über Mera, okay? Die Nilpferddame ist nervlich in keiner guten Verfassung, nein, das ist sie wirklich nicht. Der ganze Vorbereitungsstress, du verstehst … Da wären Geschichten über Schlangen das reinste Gift für ihre Gesundheit, das reinste Schlangengift. Außerdem ekelt die Lady sich vor Schlangen und bekommt einen Ausschlag, wenn man nur von ihnen spricht.“
Carla, die jetzt einen Riesenhunger spürte und merkte, wie müde sie war, schaute verständnislos zu Isidor, der jetzt ganz nah vor ihrer Nase nervös von einem Bein aufs andere hüpfte. „Dass Nadja sich vor Schlangen ekelt, ist mir neu. Und normalerweise sind ihre Nerven so stark wie die dicksten Dschungel-Lianen.“
„Mag ja sein“ flüsterte der Beo eindringlich, dabei immer wieder verstohlen zur Tür blickend, „aber wegen des Spiels, das Nadja und ich uns ausgedacht haben, ist sie halt besonders aufgeregt. Ist ja alles ganz geheim. Sogar dir darf ich nichts darüber verraten. Soll schließlich eine Überraschung für alle Gäste sein, oder?“
„Ach so“, meinte Carla, der das Denken inzwischen ziemliche Mühe bereitete. Sie öffnete ihr großes Maul und gähnte, wobei der Beo, der eine gute Aussicht auf ein ganzes Arsenal mörderisch spitzer Krokodilzähne hatte, sicherheitshalber ein Stück zurückhüpfte. „Um ehrlich zu sein“, sagte Carla, die auf einmal ganz kleine Augen hatte und alles andere als gefährlich aussah, „interessiert mich euer Spiel im Augenblick herzlich wenig. Ich bin jetzt einfach nur hungrig und durstig – und ganz ganz schrecklich müde.“
„Mach doch erst mal ein kleines Nickerchen“ schlug Isidor vor, froh darüber, dass Carla nicht mehr über das Spiel wissen wollte, denn er hatte das Gefühl, dass ihm so langsam die Energie und Fantasie ausgingen, immer neue Lügengeschichten zu erfinden. „Die anderen Partygäste sind sowieso noch nicht da. Außerdem ist Madame Nilpferd noch nicht ganz fertig in der Küche. Und wenn alle Köstlichkeiten aufgetischt sind, bist du ausgeruht und kannst tüchtig zulangen.“
Carla fand das eine ausgezeichnete Idee. Sie machte es sich auf den Holzbohlen vor Nadjas Imbiss-Kramladen bequem – und schon bald ertönte ihr sonores Schnarchen weit über den Fluss. Isidor, der mittlerweile das Gefühl hatte, die ganze Sache gerate ihm aus dem Ruder, versuchte derweil, seine Aufregung mit einem Schlückchen Morgenbier zu dämpfen. Denn so einen Stress hatte er schon lange nicht mehr gehabt. Sehr, sehr lange nicht!
Mit Verspätung
Das war Ruprik noch nie passiert. Noch nie hatte er sich verflogen. Er ärgerte sich, dass er vor vielen Stunden auf Frederiks Frage, ob ihre Flugrichtung überhaupt noch stimme, so unwirsch reagiert hatte. „Was verstehst du denn davon, Grünschnabel“, hatte er den Jüngsten der Gruppe angefahren. „Ich habe alles im Griff. Natürlich sind wir noch auf dem richtigen Kurs.“ Wäre er bloß nicht so selbstsicher gewesen.
O, wie war ihm das peinlich. Ausgerechnet er, der Älteste und Erfahrenste von allen, hatte sich im Kurs geirrt. Er, der sie bisher so sicher geführt hatte. Wahrscheinlich werde ich wirklich langsam alt, dachte Ruprik und fühlte sich ganz elend.
Bis auf Frederik, der sich nicht mehr traute, etwas zu sagen, hatte bislang keiner der Reiher gemerkt, dass sie sich verflogen hatten. Umso ärgerlicher waren sie, als ihnen Ruprik jetzt gestand, ihm sei ein Navigationsfehler unterlaufen. „Soll das etwa heißen, wir verpassen vielleicht das Fest?“, fragte Tomrik, worauf Henrik meinte, „wenn das Bierfass schon leer ist, stecken wir halt Ruprik rein“.
Ruprik, der sich normalerweise eine derartige Respektlosigkeit nicht hätte gefallen lassen, antwortete kleinlaut. „Es tut mir ja aufrichtig leid, meine Freunde. Natürlich hoffe ich, dass wir trotzdem noch rechtzeitig ankommen. Ich weiß auch nicht, wie mir das passieren konnte. Vielleicht ist es besser, wenn Roderik das Kommando übernimmt und uns zum Nilpferd-Laden führt.“
Auf einmal tat Ruprik allen Wolkenreihern leid, allen, bis auf Frederik, der immer noch sauer wegen der Zurechtweisung durch den Ältesten war. Und so konnte er sich nicht verkneifen zu bemerken, „Hab' ich gleich gesagt“, worauf er allerdings bitterböse Blicke von seinen Kollegen erntete.
„Passiert ist halt passiert“, meldete sich Roderik zu Wort, „Wenn Ruprik es wünscht und niemand von euch etwas dagegen hat, werde ich euch jetzt den Weg weisen“.
Natürlich waren alle einverstanden. Roderik, der bislang nicht sonderlich auf den Weg geachtet und sich die ganze Zeit über ausgemalt hatte, was auf der großen Flussparty alles geboten würde, sah jetzt, dass sie viel zu weit nach Westen geflogen waren. Das wird uns mindestens einen halben Tag kosten, dachte er, doch behielt diese Erkenntnis lieber für sich. Hauptsache, sie waren jetzt auf dem richtigen Kurs.
Die Nachmittagssonne im Rücken bemerkte Roderik nach ein paar Stunden, wie in der Ferne das dunkle Grün des Dschungels in das helle, leuchtende Grün des Graslands überging. Ihm fiel ein Stein von Herzen. Die Flugrichtung stimmte wieder. Wenn wir Glück haben, dachte Roderik, dann sind wir noch vor Einbruch der Dunkelheit am Ziel. Doch seinen Kollegen rief er lediglich zu, dass sie wieder auf Kurs waren und den Urwald bald hinter sich lassen würden. Er wollte keine Hoffnungen wecken, die sich dann doch nicht erfüllten.
Roderik war jetzt ganz leicht ums Herz. Ohne es zu merken, erhöhte er als Anführer der Reiherformation das Tempo, so dass auch seine Freunde schneller fliegen mussten. Keinem machte das etwas aus, ja noch nicht einmal Frederik merkte, dass ihre Fluggeschwindigkeit zugenommen hatte. Nur Ruprik, der sich seit seinem Irrtum fürchterlich alt und müde fühlte, fluchte leise vor sich hin. Er hatte plötzlich Angst, seine Kräfte könnten nicht reichen, um es bis zum Nilpferd-Laden zu schaffen.
Als hätte Bollerik, der direkt hinter Ruprik flog, dessen Gedanken erraten, rief er ihm zu: „Schnabel hoch, Kollege, wir schaffen das. Und rechtzeitig noch dazu. Wenn's um Schlemmen geht, ist auf die Wolkenreiher immer hundertprozentig Verlass, bei allen Muschelküchlein dieser Welt.“
Ruprik war Bollerik dankbar für die Aufmunterung. Seine Stimmung hellte sich auf – und auch das Fliegen fiel ihm nicht mehr so schwer. Trotzdem konnte er das Gefühl nicht ganz abschütteln, dass dies seine letzte große Reise war. Sein letzter Einsatz zusammen mit den Kollegen. Und das stimmte ihn ein wenig traurig.
Die Party beginnt
Nadja war froh – und fühlte sich zugleich völlig erledigt. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie ohne eine einzige Pause in der Küche gearbeitet hatte. Doch jetzt war es geschafft. Auf dem großen Veranda-Tisch warteten tausendundeine Köstlichkeiten darauf, probiert zu werden. Alles war appetitlich angerichtet und hübsch dekoriert, so dass jedem Gast beim Anblick der Speisen das Wasser im Maul zusammenlaufen musste.
Aber wie stand es überhaupt um die Gäste? Die zwei, die schon da sind, dachte die Nilpferddame, schlafen wie Dornröschen, und die anderen Festgäste lassen auf sich warten. Auch der wichtigste Gast war noch nicht da. Das war für Nadja natürlich die Schlange. Allein die Vorstellung, wie sich dank Meras Zauberkraft die hölzernen Griffe ihrer Schirme in pures Gold verwandelten, trieb Nadjas Puls in die Höhe.
Ihr Herz schlug mindestens so schnell wie vor ein paar Stunden: Da hatte sich das gute alte Nilpferd fürchterlich aufgeregt. Denn die sieben Pelikane, die bei Nadja zum Mittagessen angemeldet waren, wollten sich mit der Erklärung, heute sei Ruhetag, es müsse sich um ein Missverständnis handeln, einfach nicht abspeisen lassen.
Nadja hatte viel Mühe, sie wegzujagen, und musste schlimme Beschimpfungen über sich ergehen lassen. „Ich will euch hier nie wieder sehen, elendes Pelikanpack“ hatte sie den Vögeln zugerufen, die immer wieder über ihren Laden gekreist waren und ihrer Empörung lauthals Luft gemacht hatten. „Auf dein Fischfutter können wir verzichten,“ hatte einer geschrieen. Und ein anderer: „Iss doch deinen Schlangenfraß selbst, du fette Kuh.“
Als die Pelikane endlich verschwunden waren, hatte Nadja vor lauter Aufregung vergessen, die Aalplätzchen rechtzeitig aus dem Backofen zu nehmen. So hatte sie die verkohlten Leckereien den nimmersatten Fischottern überlassen müssen. Die ewig hungrigen Gesellen streunten ständig um ihren Imbiss-Laden herum, immer in der Hoffnung, ihnen fielen irgendwelche Reste aus Nadjas Küche vor die gefräßigen Schnäuzchen. „Unglaublich, die futtern einfach alles“, stellte Nadja einmal mehr fest, während sie den geschickten Schwimmern dabei zuschaute, wie sie sich im Fluss wild um die halb verbrannten Plätzchen balgten.
Nadja fiel ein, dass sie den Krebs-Pudding in der Küche vergessen hatte. Sie holte eine große, bis zum Rand gefüllte Schüssel aus dem Haus und stellte sie auf den letzten freien Platz der Festtafel. Als sie ein paar Schritte rückwärts ging, um alles noch einmal komplett begutachten zu können, stolperte sie über einen Regenschirm und fiel donnernd der Länge nach hin.
Carla wachte auf. Das erste was sie sah, war ein verbogener, knallgelber Regenschirm. „Bitte keine Schirme“, stöhnte das kleine Krokodil, halb schlafend, halb wach, „Ich mag keine Schirme mehr.“
Nadja, die sich mühsam wieder aufgerappelt hatte, machte große Augen. „Was hör ich da, Krokodil? Du magst keine Schirme mehr? Deine Leib- und Magenspeise?“ Fassungslos starrte sie Carla an, die selbst über das, was sie da gerade gesagt hatte, erstaunt zu sein schien. „Ich sage nur die Wahrheit, Nadja. Bei der Vorstellung, einen Schirm verspeisen zu müssen, ekelt es mich, ehrlich.“
Nadja konnte es nicht glauben. Sie hatte fest damit gerechnet, einen Teil ihrer Schirme, die ja nur darauf warten, vergoldet zu werden, im ursprünglichen Zustand an das Krokodil abtreten zu müssen. Damit es die Schirme verschlingen konnte natürlich, gegen Bezahlung versteht sich, denn zu Verschenken hatte die Nilpferddame nach wie vor nichts. Nadja hatte sich bereits vorgestellt, wie das kleine Krokodil sich gleich nach seiner Ankunft gierig über die Regen- und Sonnenschirme hermachen würde, und sie hatte sich fest vorgenommen, Carla notfalls mit sanfter Gewalt daran zu hindern, sämtliche Schirme weg zu futtern. Sicherheitshalber hatte sie außerdem ein Dutzend Schirme in der Vorratskammer versteckt, als goldene Reserve sozusagen.
Jetzt verstand Nadja die Welt nicht mehr. Carla ekelte sich vor Schirmen. Das war doch nicht möglich! Doch da erkannte Nadja den Vorteil, der sich für sie ergab, wenn Carla keine Schirme mehr mochte. Vor Freude wurde ihr ganz heiß. Da muss ich auf keinen einzigen Schirm verzichten, dachte sie. Jeder einzelne wird vergoldet! Doch wo bleibt überhaupt diese Zauberschlange? Nadja schaute in den Himmel. Von den Wolkenreihern war auch noch nichts zu sehen!
Die Nilpferddame machte sich auf einmal Sorgen, dass sie sich die ganze Arbeit umsonst gemacht hatte. Wenn keiner mehr kommt, dachte sie, bleibe ich auf meinen Delikatessen sitzen. Wer weiß, auf was das Krokodil überhaupt noch Appetit hat. Und der freche, kleine Vogel ist bestimmt schon nach den ersten Bissen satt, wenn er überhaupt jemals wieder aufwacht.
Die schlimmste Vorstellung war allerdings für sie, dass die Zauberschlange nicht käme. Gar nicht auszudenken für Nadja, dass sie auf goldene Schirme verzichten sollte und sie mit ihren erlesenen Speisen die Otter füttern müsste. Nein, dachte Nadja, das darf einfach nicht passieren.
In diesem Augenblick erfüllte ein wildes Flattern und Rufen die frühabendliche Luft über Nadjas Laden. Die Wolkenreiher waren da! „Her mit den Regenwurmwaffeln!“, rief einer, „Sind die Krüge schon gefüllt?“, schrie ein anderer, und ein dritter Reiher, der direkt auf Nadjas Rücken gelandet war, trompetete der Nilpferddame ins Ohr „Ich hoffe, gnädige Frau, es gibt Forelleneis zum Nachtisch“.
Nadja schüttelte den Wolkenreiher von ihrem Rücken, so dass er mit dem rechten Bein in einen Bierkrug geriet, doch das machte Frederik nichts aus. Statt sein Bein herauszuheben, steckte er seinen Schnabel auch noch in den Krug und probierte erst einmal ausgiebig das gute, goldgelbe Büffelgrasbier.
Bis auf Roderik hatten sich alle Wolkenreiher gleich nach ihrer Landung gutgelaunt um die Festtafel geschart, allerdings rührte noch keiner von ihnen etwas von den Speisen an. Alle waren schier überwältigt von dem riesigen Angebot an Köstlichkeiten, die den Tisch füllten. Tomrik überlegte fieberhaft, was er als erstes probieren solle. Henrik hatte sich bereits einen Plan ausgedacht, nach dem er vorgehen würde. Ich fang einfach am rechten Tischende an, nahm er sich vor, und höre am linken auf. Bollerik hatte nur Augen für die große Schüssel, die direkt vor seinem Schnabel stand. Das muss Krebspudding sein, dachte er glücklich und beschloss, heute ausnahmsweise einmal mit der Nachspeise zu beginnen.
Roderik waren die unzähligen Leckerein zunächst piepegal. Er musste natürlich zuerst seine beste Freundin begrüßen. Die Wiedersehensfreude war so groß, dass Carla wie wild mit ihrem Schwanz hin und her schlug und dabei zwei Bierkrüge umwarf. Roderik, der zwei Meter über Carla flatterte, traute sich nicht, auf dem Rücken des kleinen Krokodils zu landen und nahm stattdessen auf dem Bierfass Platz, das in der Nähe stand. Dabei übersah er Isidor Hopps, der auf dem Rand des Fasses hockte und seinen Rausch ausschlief. Ohne Absicht streifte der Wolkenreiher den Beo mit einem Fuß, so dass Isidor das Gleichgewicht verlor und auf den Bretterboden plumpste.
Augenblicklich begann Isidor so laut zu krähen, dass es allen Festgästen in den Ohren schmerzte. Der Beo, noch ganz in einem Traum gefangen, glaubte, er sei hoch am Himmel gegen eine versteinerte Wolke geflogen, habe sich die Flügel gebrochen und den Schabel verstaucht – und stürze nun unaufhaltsam auf die Erde zu. Als Isidor erkannte, wo er sich befand und wer da so besorgt auf ihn herabblickte, entfuhr ihm krächzend zunächst nur ein Wort: „Wolkenreiher!“ Doch dann brach eine wahre Schimpfkanonade los.
Während Nadja dem unablässig vor sich hinfluchenden Beo zur Linderung seiner angeblich schrecklichen Schmerzen eine mit Büffelgrasbier frisch gefüllte Kokosnuss-Schale hinstellte, damit er endlich Ruhe gab, begannen Carla und Roderik, sich gegenseitig zu erzählen, was sie erlebt hatten.
Inzwischen hatten die Wolkenreiher das kleine Krokodil dreimal lautstark hoch leben lassen und dann, ohne länger auf ein Zeichen von der Wirtin zu warten, begonnen, über das Büfett herzufallen.
Schon nach wenigen Minuten waren die ersten Teller und Schüsseln geleert, und erste Rufe erschallten, die nach mehr verlangten. Nadja, die staunte, wie schnell Vögel solche Riesenmengen in sich hineinschlingen konnten, musste ständig in die Küche laufen, um Nachschub zu holen. „Ist noch was von der Flossencreme da, liebste Wirtin“, riefen ihre Gäste, oder „Die Schüssel mit dem Nacktschneckensalat ist leer. Und der Froschauflauf ist auch gleich alle.“ Schwitzend versuchte sie, die Wünsche der hungrigen Reiher zu erfüllen, allerdings musste sie immer öfter brüllen, „Davon ist nichts mehr da“, oder „Aus, so glaubt mir doch, das ist aus.“
„Aber Bier ist bestimmt noch da“, rief Frederik. „Versoffene Bande“, murmelte Nadja, schnappte sich einen leeren Krug und trottete zum Fass. Da fiel ihr wieder Mera ein, die immer noch nicht aufgetaucht war. „Warum ist die Zauberschlange eigentlich noch nicht da?“ posaunte sie mit all ihrer Stimmgewalt, während schäumend Bier in den Krug schoss. „Kann mir das mal jemand sagen?“
Isidor Hopps, der sich mit einer Mango stärkte, erstarrte, den Schnabel noch in der Frucht. Die Wolkenreiher, die soeben ein fröhliches Trinklied angestimmt hatten, verstummten und schauten sich belustigt an. „Ja warum, bei allen Froschkrapfen dieser Welt, ist die Schlange eigentlich nicht da, hoho“, rief Bollerik – und seine Freunde antworteten mit schallendem Gelächter. „Weil sie nicht fliegen kann“, rief Tomrik und prustete los wie ein Lama. „Und weil sie wasserscheu ist“, ergänzte Henrik, was einen wahren Heiterkeitssturm zur Folge hatte. Die Wolkenreiher grölten und hüpften auf ihren stelzigen Beinen um den Tisch herum, dass der Holzbohlen-Boden dröhnte, als fegte eine Herde Elefanten darüber hinweg.
Dies war der Augenblick, den Isidor Hopps nutzte, um sich aus dem Staub zu machen. Er schüttelte die Mangofrucht vom Schnabel und schwang sich in die Abendluft.
Noch etwas benommen vom vielen Bier trudelte er ein paar Sekunden über Nadjas Ladendach hin und her, doch dann hatte er sich in der Dämmerung orientiert. Geradewegs flog er zum Ostufer des Flusses.
Ich brauche unbedingt ein paar Tage Dschungel-Urlaub, dachte der Beo, während ihm eine kühle Brise um die Ohren strich.
Der Überraschungsgast
Niemand hatte Isidors Flucht bemerkt. Auch Nadja nicht, die sich den Kopf darüber zerbrach, worüber die Reiher sich bloß so sehr amüsierten. Es musste etwas mit der Schlange zu tun haben, dass war ihr schon klar, aber trotzdem konnte sie sich keinen Reim auf das Ganze machen. Was soll das denn bedeuten, dachte sie, die Schlange kann nicht fliegen – und sie ist wasserscheu? So ein Blödsinn!
Nadja war jetzt misstrauisch. Sollte man vielleicht ein Spiel mit ihr spielen? Erlaubte sich jemand einen Spaß mit ihr? Das werde ich herausbekommen, dachte Nadja – und merkte, wie sich der letzte Rest ihrer guten Laune verflüchtigte.
Carla, die gerade mit Roderik besprochen hatte, sich jetzt auch am Festschmaus zu beteiligen, bemerkte Nadjas finsteren Gesichtsausdruck. In der Annahme, die Nilpferddame sei einfach nur gestresst, weil sie so viel Arbeit hatte, sagte sie zu ihr: „Nun mach mal eine Pause, mein Liebe. Gönn dir auch ein paar Bissen und eine Erfrischung. Ich glaube, deine Gäste sind jetzt bestens versorgt. Komm doch mit uns an den Tisch und leiste uns ein wenig Gesellschaft.“
Nadja schaute das Krokodil erstaunt an. „Dass du hungrig bist, kann ich verstehen, kleines Krokodil. Aber verrat mir doch bitte, worauf du überhaupt Appetit hast, jetzt, wo du doch gar keine Schirme mehr magst?“ fragte Nadja. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass Carla es mit ihrer plötzlichen Abneigung gegenüber Schirmen ernst meinte.
Carla machte ein verdutztes Gesicht. „Eine gute Frage, Nadja“, antwortete sie ,„ja was will ich denn essen?“ Ratlos blickte sie Roderik an, der unsicher grinste und vorschlug: „Vielleicht Fischkopfsülze?“ Carla schüttelte den Kopf. Doch dann erhellte ein Lächeln ihr Gesicht. „Ich weiß, worauf ich Appetit habe“, sage sie und ihre Augen begannen zu leuchten. „Ich würde jetzt am liebsten Bananen essen.“
Roderik und Nadja sahen das kleine Krokodil an, als habe es sich plötzlich in ein Gespenst verwandelt. „Ba-Bananen?“, stammelte Nadja, „habe ich da richtig gehört?“ Und Roderik fragte besorgt, „Ist dir nicht gut, Carla?“ Doch Carla war auf einmal ganz aufgeregt – und fürchterlich ungeduldig. „Ich hab solch einen Heißhunger auf Bananen und muss jetzt unbedingt welche essen“, rief sie. „Bitte bitte, liebstes Nilpferd, bring mir sofort Bananen. Am besten gleich hundert, oder doch lieber zweihundert. Ach, ich könnte sterben für Bananen.“
„Ich glaube, Carla ist krank“, flüsterte Roderik der Nilpferddame zu. Doch Nadja schnaubte nur, „und ich glaube jetzt überhaupt nichts mehr“. Dann drehte sie sich um, um in die Küche zu stapfen. Dort wollte sie ungestört einen Moment nachdenken, um wieder einen halbwegs klaren Kopf zu bekommen. Dieser Trubel machte sie allmählich ganz verrückt.
Nadja hatte gerade zwei Schritte gemacht, als irgendetwas auf ihrem Schädel landete und in einem seltsamen Singsang losplapperte: „Ja ja, doch doch, Bananen sind schon etwas Feines, ganz etwas Feines. Die würd' ich jederzeit gegen alles Gold dieser Welt eintauschen, keine Frage. Ach, Verzeihung, meine Lieben, ich vergaß mich vorzustellen, falls ihr mich gar nicht kennen solltest, was ich allerdings völlig ausschließe – mich gar nicht kennen, nein, nein, das kann eigentlich nicht sein, oder doch? Nun gut, könnte ja schon mal vorkommen, wer weiß das schon. Gestatten also, mein Name ist Fernando. Und ich bin, falls ihr dass in diesem dämmrigen Licht nicht richtig erkennen könnt, ein Fratzenkuckuck, ja das bin ich. Und wenn ihr euch fragen solltet, was ich hier zu suchen habe, so könnte ich euch antworten: Nun ja, direkt suchen tu ich eigentlich nichts. Aber etwas mitteilen könnt ich euch, ja da hätt‘ ich etwas wirklich Interessantes für euch, eine brandneue Neuigkeit sozusagen.“
Und dann musste Fernando, den Carla natürlich sofort erkannt hatte, erst einmal tüchtig Luft holen.
„Was gibt es denn so Wichtiges mitzuteilen, dass du extra die weite Reise zu uns unternommen hast, Fernando?“ fragte Carla. „Ach, was heißt denn hier weite Reise, liebstes Krokodil“, antwortete der Fratzenkuckuck. „Für mich ist das doch nur ein kleiner Ausflug. Außerdem wollte ich schon immer mal wissen, wie es sich am großen Fluss so lebt. Und wie ich sehe“, und dabei zeigte er mit seinem Schnabel zum Tisch hinüber, wo die Wolkenreiher sich immer noch fleißig die Bäuche füllten, „so lebt es sich hier gar nicht schlecht, nein das kann man wirklich nicht behaupten, nicht schlecht, Herr Specht.“
„Jetzt rede nicht um den heißen Brei herum, Kuckuck“, meinte Roderik, den die Neugier gepackt hatte. „Erzähl schon, was du uns erzählen willst, los doch!“ „Immer ungeduldig, diese Reiher“, erwiderte Fernando und kicherte. „Nie haben sie Zeit. Aber gut, ich will euch nicht länger auf die Folter spannen. “ Aber ehe er weiterreden konnte, mischte sich Nadja ein. „Willst du uns etwa mitteilen, dass die Schlange gar nicht kommt, du komischer Vogel? Los, raus mit der Sprache, sag die Wahrheit!“
Fernando schaute die Nilpferddame verständnislos an. „Ich habe keine Ahnung, von welcher Schlange du redest, Flusspferd. Ich kenne nur eine Schlange, und die heißt Mera. Doch die ist, wie ich gehört habe, bei einem schrecklichen Unwetter ums Leben gekommen. Vom Blitz erschlagen, sagen die einen. Ertrunken, sagen die anderen. Was weiß ich. Aber was ich weiß, das verrate ich euch jetzt, Freunde. Ich weiß, dass es im ganzen Dschungel keine Banane mehr gibt. Keine einzige, auch nicht eine klitzekleine. Einfach weg, futsch, verschwunden. Über Nacht sozusagen. Als hätten sich die leckeren Früchte in Luft aufgelöst. Oder sich verabredet, auf große Weltreise zu gehen. Vielleicht konnten sie ja auch plötzlich fliegen, hoho. Wie die gelben Kanarienvögel, hehe. Na, da staunt ihr, oder?“
Carla und Roderik staunten in der Tat. Roderik fragte sich allerdings, warum der Fratzenkuckuck so weit geflogen war, um ihnen eine derart unwichtige Neuigkeit zu überbringen. Carla wiederum reagierte auf Fernandos Nachricht mit Entsetzen. Bedeutete das etwa, dass es auch hier am Fluss keine Bananen mehr gab? Wo sie doch so einen Heißhunger auf die gelben Früchte hatte! Das wäre ja schrecklich, dachte das kleine Krokodil.
Nadja war einfach nur enttäuscht über die Worte des Fratzenkuckucks. Enttäuscht und wütend. Sie war jetzt felsenfest davon überzeugt, dass man sie hereingelegt hatte. Von wegen Zauberschlange, die Schirme in Gold verwandelt, dachte sie grimmig. Wie konnte ich nur so dumm sein, auf dieses Märchen hereinzufallen? Die Nilpferddame ärgerte sich wahnsinnig, auch über sich selbst. Wenn ich diesen Rabenvogel erwische, dachte sie, dann geht's ihm schlecht. Wo steckt bloß dieser Isidor?
„Ach ja“, fuhr der Fratzenkuckuck fort, „fast hätte ich es vergessen, meine Lieben. In Paviankreisen erzählt man sich, die Bananen seien verzaubert worden – und verfügten plötzlich über die Fähigkeit, herumzufliegen wie wilde Hummeln. Mitten in der Nacht seien sie dann auch wirklich davon gesaust, alle miteinander. Ins ferne Silbergebirge sollen sie gedüst sein, dort, wo die Berggorillas wohnen. Und wo es so kalt ist, dass Bananenbäume keine Überlebenschance haben. Sie gehen dort ein wie die Primeln, so eisbärenkalt ist es.“
Fernando klapperte mit dem Schnabel, und Carla fröstelte es. Die armen Bananenbäumchen, dachte sie, da fuhr der Kuckuck auch schon fort. „Man munkelt, Zauberkräfte seien im Spiel. Agathur, der alte Gorillakönig, soll sich mit einem Chamäleon verbündet haben, dass über magische Energien verfügt. Jaja, das erzählt man sich im Urwald, meine Freunde. Aber was ich noch gehört habe“, und jetzt senkte Fernando seine Stimme, als wolle er seinen Zuhörern ein Geheimnis anvertrauen, „sobald am Baum eine Banane reif ist, erhebt sie sich auch schon in die Lüfte. Und ruckzuck fliegt sie in die Silberberge, wo Agathur sie natürlich mit offenen Armen empfängt. Na, was sagt ihr jetzt?“
Roderik, der die ganze Geschichte für ein Märchen hielt, meinte nur: „Ich hab' jetzt Hunger auf was Deftiges.“ Nadja hatte die letzten Sätze des Fratzenkuckucks gar nicht mitbekommen, da sie verzweifelt damit begonnen hatte, überall nach dem Beo zu suchen. Und Carla?
Carla war völlig aufgeregt. „Und du meinst wirklich“, sagte sie mit zitternder Stimme zu Fernando, „dass alle Bananen ins Gebirge zu den Gorillas fliegen?“ „So hat man es mir jedenfalls berichtet, Krokodil“, antwortete der Fratzenkuckuck. „Was ich meine oder nicht meine, ist ja im Übrigen schnurzegal. Aber eins meine ich doch: Wenn es fliegende Schirme gibt, ja warum zum Kuckuck soll es nicht auch fliegende Bananen geben? Und weshalb sollen sie nicht schnurstracks den gierigen Berggorillas in die Mäuler fliegen? In der heutigen Welt scheint nichts mehr unmöglich zu sein – und man darf sich über nichts mehr wundern, nein nein, das darf man wirklich nicht.“
Doch kaum hatte er den Satz ausgesprochen, da musste sich Fernando wundern. Denn er bemerkte auf einmal, dass ihm die Zuhörer abhanden gekommen waren. Roderik hatte es sich an der Festtafel gemütlich gemacht und ließ sich schmecken, was seine Kollegen übrig gelassen hatten. Nadja, die ihre Suche nach Isidor Hopps aufgegeben hatte, nahm ein Bad im Fluss, in der Hoffnung, dass die kühlen Fluten ihren Ärger und ihre Enttäuschung ein wenig milderten. Und Carla durchsuchte jeden Winkel von Nadjas Küche und ihrer Vorratskammer, ob nicht doch noch irgendwo eine Banane versteckt war.
Der Fratzenkuckuck war beleidigt. So etwas hatte er noch nicht erlebt. Schimpfend erhob er sich in die milde Abendluft und flatterte davon. Wohin, war ihm im Moment egal. Hauptsache, weg von hier, dachte er, weg von diesen schrecklichen, unhöflichen Gesellen. „Besitzt denn heute niemand mehr ein bisschen Anstand?“, krähte Fernando in die Dunkelheit hinaus.
Natürlich erhielt er keine Antwort, wenn man von dem unablässigen Quaken der Kröten am Flussufer einmal absah. Dafür kreuzte ein dicker Nachfalter seine Flugbahn, so dass Fernando sich fürchterlich erschreckte, als die fette Motte seitlich gegen seinen Schnabel klatschte. Der laute Fluch des Fratzenkuckucks ließ sogar die Uferkröten für ein paar Sekunden verstummen.
Abenteuerlust
Carla hatte ihre Suche nach Bananen aufgegeben und sich zu Roderik gesellt, dessen Schnabel tief in einem Bierkrug steckte. „Der Kuckuck hat recht“, sagte sie traurig, „es ist wirklich keine einzige Banane mehr da. Und dabei hat Nadja sonst immer einen Extra-Bananenvorrat für die Papageien. Doch die große Holzkiste, wo sie ihre Früchte immer lagert, ist leer. Und das, wo ich so einen Hunger habe“, seufzte sie.
Roderik schüttelte den Bierschaum von seinem Schnabel. „Warum probierst du nicht mal von den gegrillten Zimtfröschen“, schlug er vor. „Die sind superknusprig und schmecken ausgezeichnet.“
„Nein danke“, meinte Carla nur knapp, während ihr Magen so laut knurrte, dass Bollerik, der neben ihr hockte und ein Verdauungsschläfchen hielt, aufwachte und fragte: „Sind Wölfe an Bord?“ „Keine Wölfe, du alte Schlafmütze“, plärrte Tomrik vom anderen Ende des Tisches herüber. „Aber Schluckspechte. Oder was meinst du, wer immer meinen Krug leert, wenn ich mir ein paar muntere Fischchen aus der Meeresfrüchte-Bowle angle oder einen kandierten Kartoffelkäfer von Henriks Teller entführe?“ Henrik, der sich mehr als reichlich am süffigen Büffelgrasbier gelabt hatte und seinen prallen Bauch am Tischrand abstützte, grunzte nur.
Die anderen Wolkenreiher kicherten. Die Mägen so gefüllt, dass kein Regenwurm mehr Platz gehabt hätte, ließen sie sich jetzt nur noch das gute Bier schmecken. Allerdings schnappten sie ab und zu nach einem der vielen Glühwürmchen, die um ihre verklebten Schnäbel schwirrten.
„Darf ich dich mal etwas fragen, Roderik?“ Carla, die so dicht wie möglich an ihren Freund herangerückt war, legte so viel Charme und Freundlichkeit in ihre Stimme, wie in ihrem hungrigen Zustand möglich war. „Na klar, Carla“ antwortete Roderik mit vollem Schnabel, „frag mich einfach.“ „Und du versprichst mir, nicht böse zu sein, wenn ich dich um einen klitzekleinen Gefallen bitte“, fuhr Carla fort. „Was redest du da, Carla, ich könnte nie ernsthaft böse auf dich sein“, meinte Roderik und spülte die Grillenpastete mit einem Schluck Bier herunter. Genießerisch schloss er die Augen und murmelte, „Ah, das tat gut. Aber sag mir doch einfach, was ich für dich tun kann.“
Als Carla nicht gleich antwortete, drehte Roderik seinen Kopf und schaute sie an. Der Mond spiegelte sich in Carlas Augen, und Roderik war plötzlich ein wenig misstrauisch. Er hatte so ein Gefühl, als könne der Gefallen, um den ihn das kleine Krokodil bat, doch ein wenig größer sein als klitzeklein. „Los Carla, heraus mit der Sprache! Um was geht es?“
Carla räusperte sich. Sie drehte ihre Frage in paar Mal im Maul herum – und spuckte sie dann aus. „Würdest du mich ins Silbergebirge begleiten, Roderik?“ Der Wolkenreiher glaubte, sich verhört zu haben. „Wohin, Carla?“, fragte Roderik verstört, doch Carlas Blick verriet ihm, dass seine Ohren ihn nicht getäuscht hatten.
„Du und ich, und unsere Freunde“, ergänzte Carla, „ach, das wäre wieder ein Abenteuer!“
„Ein Abenteuer!“, stammelte Roderik fassungslos. „Wir sollen bis zum Silbergebirge fliegen, und das nennst du ein Abenteuer? Warum nicht gleich bis zum Mond, Carla? Na, da hol mich doch der Gänsegeier! Und was sollen wir denn um Himmelswillen im Silbergebirge? Weißt du überhaupt, wie weit das ist?“
Roderik war jetzt wieder völlig nüchtern. „Na wegen der Bananen natürlich“, meinte Carla, „was denkst denn du!?“ „Wegen der Bananen?“ rief Roderik so laut, dass seine Reiherkollegen aufschreckten. „Ja natürlich“, erwiderte Carla, jetzt ein wenig ärgerlich, „die verzauberten Bananen, von denen uns Fernando erzählt hat. Die brauchen doch Hilfe. Unsere Hilfe! Meine Hilfe und deine. Und natürlich die Hilfe der anderen Wolkenreiher.“
Roderik glaubte, er träume. Dass muss einfach ein Traum sein, dachte er. Die Worte des kleinen Krokodils klangen auf einmal, als habe der Wind sie aus sehr weiter Entfernung zu ihm getragen. „Wie müssen den Zauber zerstören“, säuselte Carla ihm in die Ohren. „Damit die Bananen wieder frei sind – und sie in ihre Heimat zurückkehren können.“
Wenn er nicht überzeugt davon gewesen wäre, er befände sich in einem seltsamen Traum, hätte Roderik dies alles für totalen Unsinn gehalten, für die Worte einer Verrückten. Doch jetzt musste er lächeln – und er sah sich plötzlich über silbrig glitzernde Berggipfel gleiten, dicht hinter ihm seine Reiherkollegen, die ihm treu folgten. Und am Horizont die milden, orangefarbenen Strahlen der untergehenden Sonne … Dabei mag ich gar keine Bananen, dachte Roderik. Und musste plötzlich lachen. Er lachte so laut und herzerfrischend, dass alle um ihn herum von seinem Lachen angesteckt wurden. Und bald lachten alle aus vollem Hals, dass der Tisch wackelte und die Holzbohlen vibrierten – und Nadja, die immer noch dösend im Fluss trieb, aufhorchte und sich fragte, ob man etwa über sie lache.
Mitten im allgemeinen Gelächter, das weit über den Fluss und das Grasland schallte, so dass die schläfrigen Giraffen ihre Ohren spitzten, platzte Roderik mit einer Frage heraus, die die Heiterkeit noch steigern sollte. „Und was versprichst du uns dafür, Carla,“ gackerte er, dabei heftig um Luft ringend, „etwa Muschelküchlein?“ „Aber ja“, rief Frederik, der natürlich überhaupt nicht wusste, wovon eigentlich die Rede war, „die guten Muschelküchlein von Carlas Tante. Wo bleiben die überhaupt?“ „Die hat doch die Schlange verzaubert, dieses Biest“, prustete Henrik und vollführte dabei mit seinem langen Hals schlängelnde Bewegungen, „verzaubert in kleine Taschenschirme aus Schokolade.“
Die Wolkenreiher lachten, bis sie nicht mehr konnten. „Lachen macht durstig“, krächzte Tomrik, und das fanden auch seine Freunde, denn drei Sekunden später hatte jeder Reiher seinen Schnabel tief in einen Bierkrug gesteckt.
Carla, die immer noch auf eine Antwort von Roderik wartete und schon ein wenig ärgerlich war, beschloss, in die Offensive zu gehen. „Was ist, Wolkenreiher“, rief sie in die Runde, „seid ihr dabei, wenn Roderik und ich dem Ruf des Abenteuers folgen?“ Die mittlerweile vom vielen Bier trüb gewordenen Augen der Reiher blickten Carla verständnislos an. „Abenteuer klingt gut“ stammelte Frederik, und ein Grinsen machte sich in seinem Gesicht breit. „Wo hat es sich denn versteckt, dein Abenteuer?“ „Im Silbergebirge, lieber Frederik“, antwortete Carla, „dort hat es sich versteckt – und es wartet nur darauf, dass wir es aufspüren.“
Bollerik begann zu kichern. „Verstecken spielen, ja das macht Spaß“, sagte er „das ist ein tolles Abenteuer, hihi.“ „Verstecken spielen im Silbergebirge?“, rief Tomrik, „ja warum eigentlich nicht! Das klingt mir nach Vergnügen, Vergnügen und Abenteuer.“ Plötzlich waren die Wolkenreiher wieder putzmunter. „.A-ben-teuer“, riefen sie ausgelassen im Chor, „wir wollen A-ben-teuer“.
„Danke, danke, meine Freunde“, rief Carla und hatte Mühe sich bei den Reihern Gehör zu verschaffen, „ich habe gewusst, dass ihr mich nicht im Stich lasst. Also auf zum Silbergebirge!“ „Jawohl“, rief Tomrik fröhlich, „auf zum Silbergebirge!“ Und alle Reiher stimmten laut zu und riefen wild durcheinander: „Klar“, „Nichts wie weg“, „Holen wir uns das Silber“, „Juhu“, „Wir sind schon unterwegs“ und vieles andere. Nur Frederik, der die lauteste Stimme von allen hatte, übertönte die anderen. „Und was ist unsere Belohnung, wenn wir dich ins Silbergebirge begleiten?“ rief er – worauf seine Kollegen verstummten.
Eure Belohnung“ fragte Carla unsicher. „Ja, kleines Krokodil“, wiederholte Frederik. „unsere Belohnung!“ „Na Bananen eben“, antwortete Carla völlig ernst, „was denkt ihr denn.“
Die Reiher glotzten das kleine Krokodil an, als betrachteten sie einen Geist. Niemand sagte etwas. Bis Henrik plötzlich loslachte. „Natürlich Bananen“ prustete er „habt ihr denn etwas anderes erwartet, Kollegen, als Bananen?“ „Nein, nein“, schrieen die anderen. „Bananen, Bananen, wir wollen Bananen“, und jeder Wolkenreiher hatte auf einmal neue Kraft, um in ein gewaltiges Gelächter einzustimmen, wie ihn das Grasland noch nicht gehört hatte.
Im allgemeinen Gelächter ertönte immer wieder das eine Wort, mal aus dem einen Schnabel, mal aus dem anderen: „Bananen, Bananen“, dröhnte es über den Fluss, dass die Affen sich in ihren Baumnestern aufrichteten, die verschlafenen Augen rieben und rätselten, was das zu bedeuten habe.
Die Wolkenreiher lachten und ließen die Banane hochleben, bis sie so erschöpft waren, dass ihre Schnäbel auf die Tischplatte sanken – und ein Vogel nach dem anderen in einen tiefen Schlaf fiel. Und Carla?
Das kleine Krokodil hatte es sich unter dem Tisch gemütlich gemacht und war ebenfalls eingeschlummert. Carla träumte, dass sie im großen Fluss schwamm und sich eine Banane nach der anderen schmecken ließ. Die Bananen waren einen Meter lang, hatten Flügel und sausten über das Wasser wie fliegende Fische. Carla brauchte nur das Maul zu öffnen und zuzuschnappen – schwupps, hatte sie wieder eine der geflügelten Bananen erwischt.
Carla erwachte erst aus ihrem Traum, als Nadja mit ihrer gewaltigen Stimme brüllte: „Die Party ist vorbei, Freunde. Seht zu, dass ihr euch auf den Heimweg macht. Und eines solltet ihr euch hinter die Ohren schreiben, hört ihr! Ich will nie wieder etwas von Bananen hören, nie wieder. Und von Schirmen und Schlangen auch nicht. Habt ihr mich verstanden?“
Die Wolkenreiher waren noch viel zu müde, um irgendetwas zu verstehen. Aber eines begriffen sie doch: Dass sie hier nicht mehr erwünscht waren. „Los Kollegen“, sagte Ruprik matt zu den anderen, „ich glaube, es ist Zeit für uns, aufzubrechen.“ „Wohin“ fragte Frederik, noch ziemlich benommen, „etwa ins Silbergebirge?“ „Nein, du Grünschnabel“, erwiderte Ruprik, „nach Hause!“ „Ach so“, meinte Frederik, und Carla hatte den Eindruck, dass in den Worten des jüngsten Wolkenreihers eine kleine Enttäuschung mitschwang.
Wenn die Wolkenreiher wirklich nach Hause fliegen, dachte Carla, dann sollte ich mich vielleicht auch auf den Heimweg machen. Das kleine Krokodil sehnte sich auf einmal nach seinem gemütlichen Lieblingsplatz am Fluss, mitten im hohen Ufergras, wo man das süßliche Flusswasser riechen und die Frösche in die Fluten hüpfen hören konnte. Carla fand es einfach wunderbar, dass sie es gar nicht weit bis zu dieser Stelle hatte, ja dass sie von Nadjas Laden aus keine Viertelstunde schwimmen musste, um wieder zu Hause zu sein.
Die Abenteuer werden mir schon nicht weglaufen, dachte das kleine Krokodil, und meinen Freunden sollte ich vielleicht besser eine längere Ruhepause gönnen. Nur die Vorstellung, dass in ihrer Vorratshöhle an der Uferböschung gähnende Leere herrschte, trübte die Vorfreude auf ihr Zuhause ein wenig.
„Was ist jetzt“, dröhnte Nadjas Stimme plötzlich, „seid ihr endlich fertig zum Abflug?“ Die Wolkenreiher murrten, denn das fröhliche Gelage steckte noch in ihren Federn, und Bollerik knurrte, „kein Grund zur Aufregung, Lady Nilpferd, wir sind schon so gut wie weg.“ „Dann Adieu, Geflügel“, rief Nadja, und, etwas freundlicher, an Carla gewandt: „Und was ist mit dir, Krokodil, willst du mir nicht doch ein paar Schirme abkaufen, oder ist dir wirklich für immer der Appetit vergangen?“
Ein paar Schirme, dachte Carla, ja warum eigentlich nicht? Das kleine Krokodil hatte das Gefühl, als könnte es sich wieder mit dem Geschmack von knackigen, kleinen Taschenschirmen und großen, bunten Sonnenschirmen mit dicken Holzstielen anfreunden. Und bei dem Gedanken an die Schirme begann es in seinem Bauch zustimmend zu knurren. „Okay, Nadja“, rief Carla, „ich nehme erst mal zwei Dutzend von den Knirpsen und fünf von den großen Sonnenschirmen. Ich denke, dass ich sie gleich hier an Ort und Stelle verspeisen werde, wenn es dir nichts ausmacht, meine Liebe.“
Natürlich machte das Nadja nichts aus, und ihre schlechte Laune war wie weggeblasen. Während die Wolkenreiher sich gähnend von Carla verabschiedeten und sie und das Krokodil sich gegenseitig versicherten, nach einer angemessenen Ruhepause unbedingt gemeinsam in Richtung Silbergebirge aufzubrechen, um neue Abenteuer zu erleben, schleppte Nadja einen Schirm nach dem anderen herbei. Bald hatte sie die Schirme zu einem riesigen Haufen aufgetürmt. „Aber die Preise sind natürlich gestiegen, nach allem was passiert ist, das sage ich dir gleich“, grummelte die Nilpferddame während ihrer Arbeit, doch niemand hörte ihr zu.
Im fahlen Licht des frühen Morgens starrten alle auf etwas, das nur ein paar Meter von Nadjas Ladenveranda entfernt im Fluss trieb. Tomrik hatte es als erster bemerkt und gleich aufgeregt seine Reiherkollegen und auch Carla darauf aufmerksam gemacht. Jetzt konnten sieben Augenpaare nicht glauben, was sie da von der trägen Flussströmung angetrieben vorbei schwimmen sahen.
Es handelte sich um einen langen, dicken, knorrigen Ast, dessen vorderes Ende ein wenig in die Höhe ragte. „Der Ast sieht uns an“, sagte Roderik, mehr zu sich selbst als zu den anderen, doch dann fiel es jedem auf: Es waren die Augen eines Tieres, die sie anstarrten. Das Tier hatte sich eng um den Ast geschlungen und hielt seinen schlanken Kopf in die Höhe, wie die Galionsfigur am Bug eines großen Segelschiffes. Und seine Augen funkelten böse zu den sechs Wolkenreihern und dem Krokodil herüber.
Es war Carla, die das Tier erkannte. Eiskalte Schauer liefen über ihre dicke, schuppige Haut. Eine Schlange musterte sie so überaus giftig, und diese Schlange hatte einen Namen: Mera! Während das kleine Krokodil mehr überrascht als erschrocken rief „Mein Gott, ich glaube es ist Mera!“ und die Wolkenreiher die Welt nicht mehr verstanden, war der Ast mit dem unwillkommenen Passagier bereits an Nadjas Imbissladen vorbei getrieben.
„Bist du wirklich sicher, dass es sich bei der Schlange um Mera handelt?“ fragte Ruprik das kleine Krokodil. Statt zu antworten, blickte Carla stumm dem Ast mit der Schlange hinterher, der bald nur noch als kleiner Punkt auf dem Fluss zu erkennen war. Dann war auch der Punkt verschwunden, doch alle starten immer noch auf den großen Fluss, dorthin, wo der Himmel das Wasser berührte.
Keiner sagte etwas. Plötzlich brach Nadjas gewaltige Stimme in die Stille hinein: „Es ist angerichtet, Krokodil“, brüllte die Nilpferddame. Da drehte sich Carla zu ihren Freunden um und sagte: „Vielleicht habe ich mich ja auch geirrt.“
ENDE
Tag der Veröffentlichung: 05.11.2022
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