1.
Inspektor Treiber war fassungslos – mehr noch über die Reaktion seiner Frau, mit der er soeben telefoniert hatte, als über die WhatsApp seines Assistenten Werner Lausig, obwohl dessen Handy-Nachricht absolut ärgerlich war, setzte sie doch Treiber über eine weitere, in der City gesprengte Gelbe Tonne in Kenntnis.
Es war schon die dritte Tonne mit Verpackungsmüll, die Unbekannte in die Luft gejagt hatten, und dieses Mal war ein Rentner, der kurz vor der Leerung schnell noch die Styropor-Verkleidung seines nagelneuen 65-Zoll-Fernsehers in den Behälter stopfen wollte, schwer verletzt worden.
Sanitäter und Kollegen von der Spurensicherung suchten immer noch nach der rechten Hand des zweiundsiebzigjährigen früheren Fliesenlegers, der in seinem wohlverdienten Ruhestand die Briefkästen und Zeitungsröhren seines Viertels mit diversen Werbeblättchen und Discounter-Prospekten füllte.
In einer weiteren WhatsApp informierte Lausig seinen Chef, dass der Rettungsarzt gerade notdürftig eine tiefe Schnittwunde am Hals des Rentners genäht habe. Wahrscheinlich sei die Verletzung vom scharfkantigen Deckel einer Sauerkrautdose verursacht worden.
Das Opfer habe viel Blut verloren, schrieb Lausig, und es stünde schlecht um den Rentner, da weder im Notarztwagen noch im Fahrzeug der Rettungssanitäter Beutel mit dem passenden Lebenssaft gefunden werden konnten.
Ärgerlich, dachte Treiber, doch noch ärgerlicher fand er es, dass Gattin Helga über seine dringende Empfehlung, dieses Mal die Gelbe Tonne nicht an die Straße zu stellen, gelacht hatte.
Er spinne doch, hatte sie ihm zu verstehen gegeben, die Tonne sei randvoll, und sie glaube nicht, dass er die zu Himmel stinkenden Fischkonserven, schimmeligen Joghurtbecher und schmierigen Frischhaltefolien zum Wertstoffhof bringen werde.
Das Zeug müsse weg, und zwar schnell, hatte sie gesagt, und außerdem könne Sie sich nicht vorstellen, dass ausgerechnet die Gelbe Tonne eines Kriminalbeamten gefährdet sei.
„Aber Helga, das sind Irre“, hatte der Inspektor versucht, seine Frau umzustimmen, „und wir wohnen doch auch in der Gegend, wo sie zuschlagen“. Aber Helga war stur geblieben.
Erst als Treiber ihr versprochen hatte, sie am nächsten Sonntag ins vietnamesische Restaurant „Ho-Chi-Minh“ zum Mittagessen auszuführen, wo man für fünfzehn Euro pro Magen das üppige Büffet bis zum Umfallen plündern konnte, hatte sie nachgegeben.
Dieser Deal stellte Treiber einigermaßen zufrieden, auch wenn er als Kartoffel-Fan mit klebrigen Reisnudeln, brauner Knoblauchsauce, gebratenem Tofu, gerösteten Erdnüssen und panierten Garnelen wenig anfangen konnte. Doch als ihm jetzt bewusst wurde, welche Konsequenzen es für ihn haben würde, die Gelbe Tonne nicht rauszustellen, geriet seine gute Laune ins Wanken.
Natürlich würde es seine Aufgabe sein, den grässlichen Müll aus der Tonne herauszufischen, ihn in irgendwelche Taschen, Klappkisten und Tüten zu stecken, das Ganze dann zum schlammigen Wertstoffhof zu fahren und den dreckigen Krempel vor den wachsamen Augen griesgrämiger Müll-Sheriffs in die passenden Container werfen zu müssen.
Wenn unsere Tonne gesprengt würde, schoss es Treiber durch den Kopf, dann bliebe mir das alles erspart. Allerdings befürchtete er, dass der pulverisierte Verpackungsmüll auch in seinem Vorgarten liegen würde, und diese Vorstellung behagte ihm überhaupt nicht. Genauso wenig wie die Annahme, der Bombenleger bekäme Lust, die Sprengkraft seines nächsten Knallbonbons deutlich zu erhöhen. Das könnte dann vielleicht bedeuten: Tschüss, geliebtes Eigenheim.
2.
Eine halbe Stunde und zwei Telefonanrufe später fühlte sich der Inspektor unter großem Druck und hielt es für angebracht, den ersten Magensäureblocker des Tages einzuwerfen. Im ersten Gespräch hatte ihm sein Boss, der Leiter des Morddezernats, Benno Lückenlos, mitgeteilt, dass die Angehörigen des Fliesenlegers im Ruhestand jetzt alle Vorbereitungen treffen könnten, ihren Anverwandten seiner letzten Ruhestätte zuzuführen. Bereits auf dem Weg ins Krankenhaus habe der Kachelmann das Atmen eingestellt.
Das bedeute jetzt natürlich, dass ein Inspektor namens Treiber ruckzuck den tonnensprengenden Mordbuben das Handwerk legen müsse. Anderenfalls sei seine Karriere bei der Mordkommission höchst gefährdet. Bei der Sitte sei gerade eine Stelle in der Asservatenkammer frei geworden.
Der zweite Anruf kam von Treibers Nachbarn, einem frühpensionierten, verwitweten Biologie- und Chemielehrer, von dem er wusste, dass er seit langer Zeit unter Schlaflosigkeit litt, nachts des öfteren ums Haus schlich und im Garten umherwanderte oder das halbe Dutzend Vogeltränken reinigte.
Aufgeregt teilte ihm der Nachbar mit, er habe heute früh im ersten Morgengrauen gesehen, wie sich eine verdächtige, dunkel gekleidete Gestalt an seiner am Straßenrand stehenden Gelben Tonne zu schaffen gemacht habe. Die Person hätte den Deckel der Tonne geöffnet und irgendetwas ganz behutsam hineingelegt. „Und dann hat sich die schwarze Gestalt geduckt wieder davongeschlichen“, fuhr der Ex-Lehrer im Flüsterton fort, „und ich bin sicher, sie hat so eine Corona-Schutzmaske im Gesicht getragen, denn da war so ein weiß leuchtender Fleck.“
Mit zitternder Stimme gestand er dem Inspektor noch, dass er zu viel Angst gehabte habe, um den Verdächtigen zu verfolgen. Außerdem habe er sich den ganzen Tag noch nicht aus dem Haus gewagt. Er habe die große Bitte, ob Treiber nicht mal jemanden schicken könne, der nach seiner Gelben Tonne schaute, er habe ja schließlich auch in den Lokalnachrichten von diesen schrecklichen Anschlägen erfahren.
Nachdem der Inspektor seinen Nachbarn eine wenig beruhigt hatte, schickte er in der Tat jemanden zu ihm. Und zwar die komplette Gang von der Bombenentschärfung.
3.
Am späten Nachmittag, bis dahin war das ganze Viertel gesperrt gewesen und die Bewohner waren aufgefordert worden, sich so lange in ihren Kellern aufzuhalten, gab der korpulente Leiter der Entschärfungstruppe Entwarnung. „Nichts Scharfes in der Tonne gefunden“, meinte er grinsend, „außer einer noch halb vollen Dose Chili con carne“.
Allerdings hätten sie eine ziemlich echt aussehende Bombenattrappe gefunden, ein kleines Kästchen, das eine verblüffende Ähnlichkeit mit so einem hochmodernen explosivem Ding habe, das man bequem mit einer getunten TV-Fernbedienung noch in einem Kilometer Entfernung zünden könne, das sich aber auch mit einer ganz leicht angebrachten Zeitschaltuhr zum Knallen bringen ließe.
„Hier muss irgendein Spaßvogel am Werk gewesen sein“, meinte der dicke Bombenspezialist grinsend, doch dem Inspektor machte die Sache überhaupt keinen Spaß.
Am Abend, obwohl er hundemüde war und sich völlig erschöpft fühlte, konnte Treiber lange nicht einschlafen. Auch der Konsum von vier Folgen „The Big Bang Theory“ und drei Gläsern Hagener Doppelwacholder verfehlten ihre Wirkung.
Erst nachdem er seine umfangreiche Rock-CD-Sammlung durchgezählt hatte und Helga ihm ein traditionelles, finnisches Schlaflied gesungen hatte, konnte das Sandmännchen Erfolg vermelden.
Doch mitten in der Nacht wurde Treiber von einem lauten Geräusch aus dem Schlaf gerissen. Kurze Zeit später erfuhr er, was ihn so unsanft geweckt hatte. Es war die Gelbe Tonne des übernächsten Nachbarn, die urplötzlich und besonders lautstark ihren Aggregatzustand gewechselt hatte.
Gottseidank war bei diesem Anschlag kein Mensch zu Schaden gekommen, allerdings erfuhr Treiber, dass ein schwarzer Kater namens „Propper“ seit dem Anschlag vermisst werde.
4.
Noch vor Sonnenaufgang und völlig übermüdet bemühte sich Treiber am nächsten Morgen im Büro, einen Plan zu schmieden, wie er die Bombenleger zur Strecke bringen könne.
Dass ihm der Zeitungsbote nicht nur das druckfrische regionale Käseblatt sondern auch ein Schreiben der Gelben Armee Fraktion in den Briefkasten gesteckt hatte, erleichterte ihm die Arbeit enorm. Denn gleich zu Beginn des Textes, der auf gräulichem Recyclingpapier augenscheinlich mit einer uralten Schreibmaschine getippt war, tauchte eine Information auf, bei der es in Treibers Kopf Klick machte.
„GAF = ABU + SMMET + AKL“ stand da in Großbuchstaben. Damit war gemeint, dass die Gelbe Armee Fraktion aus der Vereinigung des „Aktionsbündnis Unverpackt“ mit der „Stoppt die Müllmafia Einsatztruppe“ und der „Anti Kunststoff Legion“ entstanden war – und jetzt mit geballter Kraft den Kampf noch entschlossener und rigoroser führen wolle.
Der Inspektor freute sich wie ein Fünfjähriger, der endlich das Versteck gefunden hatte, wo Mama die Tüten mit den Gummibärchen aufbewahrte. Das „Aktionsbündnis Unverpackt“ war ihm nicht nur ein Begriff, sondern er kannte auch jemanden, der sich in dieser zwielichtigen Gruppe engagierte.
Dieser Jemand war der Sohn des Wirtes der Bowlingbahn-Gaststube „Zum Holzwurm“, in der Treiber sich nach dem lustigen Kugelwerfen im Kreis einiger Kollegen gern ein paar Bierchen und einen Chefsalat mit Putenbruststreifen oder einen Teller Spaghetti Camorra gönnte.
Soweit er wusste, war der muskelbepackte Jüngling, der regelmäßig in Papas Lokal als Kellner aushalf, ein Elektrotechnik-Student, der einen alten, zum Himmel stinkenden Zweitakt-Roller aus DDR-Fabrikation fuhr, bei jedem Wetter eine braune Wildlederjacke mit Fransen trug und viel Zeit im Fitness-Studio verbrachte.
Treiber erinnerte sich jetzt ganz genau, wie der Muckimann ihm vor ein paar Monaten beim Bezahlen ein Infoblatt neben das leere Bierglas gelegt hatte. Doch nachdem er die fett gedruckte Headline „Mach mit beim Aktionsbündnis Unverpackt“ gelesen hatte, war sein Interesse am Inhalt des Papiers auch schon wieder erloschen.
Dieser Student ist in hohem Maße tatverdächtig, stellte Treiber fest, befürchtete aber, dass es für einen Haftbefehl noch nicht reichen würde. Kein Problem, dachte er, dann werden wir ihn eben auf frischer Tat ertappen.
Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass der Fitness Freak wahrscheinlich ganz allein für die Anschläge verantwortlich war und diese irre Show solo abzog. Und die Geschichte vom Zusammenschluss dreier Organisationen zur Gelben Armee Fraktion hielt Treiber für ein Märchen, für die Fantasterei eines Spinners, der glaubt, sich als Weltretter aufspielen zu müssen. Dich hab ich bald im Schwitzkasten, Freundchen, freute sich Treiber.
Doch dann stürmte Lausig mit hochrotem Kopf und irrem Blick in sein Büro und wedelte ihm mit irgendeinem Papier hektisch vor der Nase herum.
5.
„Kannst du nicht anklopfen“, herrschte der Inspektor seinen Assistenten an, doch der stammelte nur „Ein Bek-bek-bekenner-dings, äh Schreiben. Lag in deinem Postfach. Zwischen Play-playboy und einer Ansichtskarte von deiner Mutter aus Bali.“
Treiber griff sich das gelb gefärbte Blatt, befahl Lausig, sich sofort in die Cafeteria zu begeben und dort einen Beruhigungstee zu trinken. Dann sah er sich das Stück Papier an.
Die drei fetten Großbuchstaben, die mit einem dicken Filzstift ganz oben auf das DIN-A-4-große Blatt hingeschmiert waren, kamen ihm natürlich bekannt vor. „GAF“ stand dort schwarz auf gelb. Treibers Puls nahm Fahrt auf, nervös knetete er sein rechtes Ohrläppchen.
„Die Zerstörung von Gelben Tonnen ist nur ein erster Schritt, eine Warnung sozusagen“, las der Inspektor im darauf folgendem, mit einer Schreibmaschine getippten Text. „Wenn unsere Forderung nicht innerhalb von 24 Stunden umgesetzt wird, folgt als nächster Schritt die Zündung einer hochexplosiven Bombe in einer der Gelben Tonnen des Innenstadtbereichs. Die Sprengkraft dieser Bombe wird hundertmal stärker sein als die der bisherigen Zündsätze. Die Bombe wird die Innenstadt völlig verwüsten und zahllose Menschenleben auslöschen.“
Treibers gute Laune und Gelassenheit waren wie weggeblasen. Er hatte das dumpfe Gefühl, die Sache spitze sich unerwartet zu. Und dann las er, was die Gelbe Armee Fraktion forderte.
„Wir fordern, dass der Bundeskanzler innerhalb der nächsten 24 Stunden live vor den Kameras aller großen Fernsehsender verkündet, die Bundesregierung habe den Notstand ausgerufen habe und werde folgende Maßnahmen ergreifen: Erstens werden sämtliche Müllverbrennungsanlagen in Deutschland außer Betrieb gesetzt und dauerhaft stillgelegt. Zweitens erhält die Bundeswehr den Befehl, bundesweit alle Gelben Tonnen und Verpackungsmüll-Container einzusammeln, nach Gorleben zu transportieren und im dortigen Salzstock unter strengster Bewachung einzulagern.“
Das kann doch nur ein Scherz sein, dachte Treiber, doch der Forderungskatalog war noch nicht zu Ende. „Drittens sollen Mitarbeiter/innen der Polizeidienststellen, der Ordnungsämter und des Zolls sicherstellen, dass bundesweit alle Geschäfte des Einzelhandels, sämtliche Supermärkte und Discounter ihre in Kunststoff verpackten Lebensmittel und Drogerieprodukte aus den Regalen räumen und sie in transportfähige Container packen lassen. Viertens werden Mitarbeiter/innen der Deutschen Bahn, des Technischen Hilfswerks, des Katastrophenschutzes und der Lufthansa diese Waren schnellstmöglich nach Afghanistan bringen. Dies alles habe unverzüglich zu geschehen.“
Die sind ja völlig irre, dachte Treiber. In welcher Welt lebten die eigentlich, fragte er sich. Und doch hielt er es für angebracht, die Sache ernst zu nehmen.
Dass diese Spinner mit Sprengstoff umgehen können, haben sie ja bereits bewiesen, dachte der Inspektor. Und wer weiß, ob sie nicht wirklich in der Lage sind, eine größere Bombe zu bauen. Allerdings glaubte er immer noch, dass hinter der sogenannte GAF und den Anschlägen nur eine einzelne Person steckte.
Natürlich war Treiber überzeugt davon, dass die Bundesregierung die Forderungen dieses Verrückten nie und nimmer erfüllen würde. Aber gerade deshalb, dachte er, musste der Bombenleger so schnell wie möglich aus dem Verkehr gezogen werden – auf jeden Fall, bevor er seine Drohung wahr machen konnte.
6.
Es bereite Treiber ein wenig Mühe, seinen Vorgesetzten Benno Lückenlos davon zu überzeugen, dass angesichts dieser bedrohlichen Situation die geballte Einsatzkraft des Dezernats gefordert sei – und er am besten geeignet sei, die erforderlichen Maßnahmen in leitender Funktion zu koordinieren – nicht zuletzt, weil er ja von Umweltkriminalität mehr als jeder andere verstehe.
Auch die Kolleginnen und Kollegen von Sitte, Betrug und Raub sollten ihn unterstützen, forderte er von seinem Chef, der nach einer kurzen Bedenkzeit sein Okay gab – allerdings war die Zustimmung mit einer Bedingung verknüpft. Treiber musste Lückenlos hoch und heilig versprechen, nie wieder seine Schuhe auszuziehen, wenn sich alle zur Dienstbesprechung in dem nicht klimatisierten, engen Raum versammelt hatten.
„Und wenn es noch so heiß sein sollte, die Schuhe bleiben an“, befahl Lückenlos, nicht ohne noch darauf hinzuweisen, dass der Griff des einzigen Fensters im Besprechungsraum seit Wochen defekt sei, so dass man nicht lüften könne. Der Hausmeister habe ihm mitgeteilt, dass er eine Reparatur für nicht möglich halte und er nicht wisse, wann der Ersatzgriff aus China eintreffen würde. Der Inspektor sah keine andere Wahl, als Lückenlos das Versprechen zu geben.
Bevor Treiber das Büro seines Chefs verließ, hatte dieser noch eine Frage. „Was meinst du Treiber, sollte ich den Polizeipräsidenten und den Bürgermeister von der kniffligen Angelegenheit in Kenntnis setzen und darum bitten, das betreffende Viertel evakuieren zu lassen?“
„Aber nein, Chef“, antwortete Treiber, „das ist absolut nicht notwendig. Wir haben die Sache vollkommen im Griff. Es wird keinen weiteren Anschlag geben, da können Sie Gift drauf nehmen, und der Verrückte sitzt schon so gut wie hinter Gittern, das versichere ich Ihnen.“
„Alles klar, Treiber, ich verlass mich ganz auf Sie.“ Lückenlos wirkte sichtlich erleichtert. „Aber wie kommen sie darauf, dass es sich nur um einen Täter handelt?“
Auf diese Frage war Treiber nicht vorbereitet, doch nach ein paar Räuspern und einem kleinen Hustenanfall, worauf ihm Lückenlos mit seiner Bärenpranke fürsorglich auf den Rücken klopfte, wusste er die Antwort.
„Das ist die ganz eindeutige Schlussfolgerung aus unseren aufwändigen Ermittlungen, Chef. Alle Indizien sprechen dafür, dass es sich um einen Einzeltäter handelt, einen skrupellosen, fehlgeleiteten, verbohrten und völlig verrückten Eiferer, der eine kranke One-Man-Show abzieht. Aber dem werde ich den Stecker ziehen.“
Lückenlos war mit dieser Erklärung zufrieden und forderte den Inspektor auf, sofort durchzustarten. „Dann viel Glück, Treiber, und immer schön die Dienstvorschriften einhalten.“
7.
Nachdem er von seinem Boss grünes Licht erhalten hatte, trommelte Treiber sofort die ganze Crew zusammen und informierte sie über das Nötigste. Dann wählte er die Kollegen Eisenbein und Degenhau aus, von denen er wusste, dass sie sich im Stadtzentrum gut auskannten, und trug ihnen auf, so schnell wie möglich einen Plan zu erstellen, aus dem ersichtlich wurde, welche Haushalte in der Innenstadt über eine Gelbe Tonne verfügten.
„Und wenn der Plan steht, weist ihr sofort jeder Tonne einen Kollegen zu“, forderte er, „damit dieser den Behälter bewacht. Natürlich so, dass der Täter davon nichts merkt.“
„Und weil bei uns Gleichberechtigung gilt“, fügte Treiber hinzu, „ist auch das weibliche Geschlecht mit von der Partie“. Er trug Eisenbein und Degenhau noch auf, darauf zu achten, dass jede Kollegin während des Einsatzes ihre Sommeruniform tragen solle.
„Das ist die mit den ultrakurzen Röcken“ erläuterte der Inspektor, „damit tun sich unsere Ladies bei einer möglichen Festnahme leichter. Man weiß ja nie, ob es zu einer Verfolgungsjagd über Zäune oder Hausdächer kommt – oder ob der Gangster erst mittels fernöstlicher Kampftechniken überwältigt werden muss. Im Mini sind unsere Kolleginnen einfach viel geiler, äh, ich meine natürlich agiler, Entschuldigung.“
Auf vielen männlichen Gesichtern leuchtete ein Grinsen auf, und zustimmender Applaus ertönte, doch der Inspektor dämpfte die losgelöste Stimmung gleich wieder, machte beschwichtigende Handbewegungen und rief zu verstärkter Konzentration auf.
„Sobald sich irgendein Verdächtiger einer Gelben Tonne nähert, muss unbedingt zugegriffen werden“, schärfte Treiber allen ein. „Und was ich jetzt sage, ich äußerst wichtig. Der Täter muss auf jeden Fall davon abhalten werden, etwas in die Tonne zu stecken, was keinen Grünen Punkt hat.“
Während die Kriminalbeamten sich mühsam das Lachen verkniffen, stellte der Inspektor klar, dass sich niemand um die Gelbe Tonne des Einsatzleiters kümmern müsse. „Auf meine eigene Tonne passe ich schon selbst auf“, sagte er und zauberte ein überheblich wirkendes Lächeln in sein Gesicht.
Dabei meldete sich sein Bauchgefühl wieder, und der Inspektor konnte es sich gerade noch verkneifen, nicht laut in die Runde zu rufen: „Wollen wir wetten, dass der irre Bombenlegerlümmel sich an meine Tonne heranmachen wird, und ich mir den Kerl dann so richtig vor die Brust nehmen werde?“
Treiber schluckte den Satz unausgesprochen wieder runter, doch er war überzeugt davon, dass es genau so kommen würde. Eigentlich kenne ich den Täter ja bereits, dachte er, und wenn dieser Bombenbauer wirklich der Sohn vom Wirt ist, kennt er mich natürlich auch – und weiß außerdem, dass ich bei der Kripo bin.
Also wäre es doch durchaus denkbar, sinnierte Treiber weiter, dass der Fitness-Boy sich für den nächsten Big Bang meine Gelbe Tonne aussucht. Damit würde sich der Gestörte bei seiner hirnverbrannten Aktion vielleicht einen zusätzlichen Kick verschaffen.
Bevor er die Versammlung auflöste, ermahnte Treiber alle Anwesenden noch, vor ihrem Einsatz unbedingt ihre Dienstwaffen zu reinigen und mit der passenden Munition zu bestücken. „Und keine Platzpatronen“, rief er, während er bereits zur Tür des Besprechungsraums eilte, um nachzusehen, wo eigentlich sein Assistent steckte.
8.
Lausig steckte noch in der Cafeteria – oder genauer gesagt, er schlief dort, den Kopf auf den Tisch gelegt, genau zwischen einem dauerverstopftem Zuckerstreuer und einer kleinen, weißen Vase mit gelben Plastikrosen, die einen ungesunden Geruch verströmten. Der Rest des Kamillentees aus der Tasse, die Lausig umgestoßen hatte, war mittlerweile von seinem dichten, schwarzen Haarschopf vollständig aufgesaugt worden.
Treiber weckte seinen Assistenten unsanft, indem er dessen Kopf ruckartig an beiden Ohren hochzog. Es dauerte einen Moment, bis Lausig begriffen hatte, was sein Chef von ihm wollte. Doch dann hatte er verstanden: Den Wohnort des Elektrotechnik-Studenten und Bowlingwirt-Sprösslings ausfindig machen und ihn festnehmen oder anderweitig aus dem Verkehr ziehen. Und das alles geräuschlos, unauffällig, ohne Haftbefehl und vollkommen außerhalb geltender Rechte.
„Wenn du ihn erwischt hast, fesselst du ihn mit Kabelbinder und sperrst ihn am besten erst einmal in dein Gartenhäuschen ein“, schlug Treiber vor. „Und nimm nicht deine Dienstwaffe mit, sondern deine private Kanone. Und vergiss nicht, dir vor dem Zugriff eine Strumpfmaske über den Kopf zu ziehen. Ich glaube, in meiner rechten Schreibtischschublade liegt noch eine, die könnte ich dir ausleihen, falls du selbst keine hast.“
„Woher weiß ich überhaupt, Boss, ob der Student wirklich der Bombenleger ist“, fragte Lausig. „Das sagt mir mein Magengeschwür, und das hat immer recht“, antwortete Treiber.
„Aber jetzt mach dich auf die Socken“, befahl er Lausig. „Die Eieruhr tickt. Wenn du den Halunken schnell zu fassen kriegst und ihn an seinem nächsten Anschlag hinderst, können wir die aufwändige Gelbe-Tonnen-Bewachungsaktion vielleicht abblasen, bevor sich dabei noch irgendein Kollege aus dem Betrugsdezernat selbst ins Knie schießt oder sich die Finger unter dem Tonnendeckel einklemmt. Und jetzt mach ´ne Fliege.“
Doch bevor Lausig die Cafeteria-Tür erreicht hatte, fiel dem Inspektor ein, was er seinen Assistenten eigentlich noch fragen wollte. „Sag mal, Lausig, wann genau ist der Wisch vom gelben Bomber eigentlich bei uns eingetrudelt? Bei der stündlichen Briefkastenleerung wird doch von unserem Praktikanten immer genau die Eingangszeit vermerkt, so dass jeder nachvollziehen kann, was wann eingeworfen wurde.“
„Ja genau, Chef“, antwortete Lausig und schaute kurz auf seine falsche Rolex, „es müsste jetzt etwa achtzehn Stunden her sein, das jemand den Zettel in den Kasten geschmissen hat.“
„Was?“, brüllte Treiber fassungslos, „da bleiben uns ja nur noch sechs Stunden Zeit, das Bürschchen zu fassen und den Supergau zu verhindern. Und wenn der Terrorist dir durch die Lappen gehen sollte, wird es zeitlich ja noch enger. Warum hast du mir das Schreiben erst so spät gebracht, Lausig?“
Sein Assistent konnte ihm allerdings nicht antworten, da er sich aufgrund eines dringenden dienstlichen Auftrags bereits auf dem Weg zum Parkdeck befand. Dort wartete sein betagter Fiat Punto auf eine wichtige Mission, einen dringenden Einsatz, bei dem es um Leben und Tod ging.
9.
Lausig holte aus dem schwachbrüstigen Motor seines italienischen Kleinwagens das Letzte raus, um noch vor der Mittagspause das Einwohnermeldeamt zu erreichen. Er war gezwungen, sich seine Information direkt vor Ort zu besorgen, analog sozusagen, denn ihm war eingefallen, dass die Dienst-PCs seines Dezernats nach einer fehlgeschlagenen Software-Aktualisierung immer noch nicht funktionierten.
Außerdem weilte das komplette IT-Support-Team im Urlaub auf Mallorca, und Lausig rechnete fest damit, dass sich alle drei Kollegen, wie in jedem Jahr, auch dieses Mal direkt nach ihrer Rückkehr aus den Sommerferien krank melden würden und frühestens nach vierzehn Tagen wieder gesundet und einsatzfähig wären.
Leider verweigerte die spindeldürre, rothaarige städtische Mitarbeiterin Lausig die gewünschte Auskunft, indem sie ihn grinsend auf die neuen EU-Datenschutzbestimmungen hinwies und ihm zudem klarmachte, dass er keinen Termin habe, und sie ihm deshalb sowieso nicht helfen könne, ganz egal, ob er von der Polizei sei oder von der Heilsarmee. Und es spiele da auch überhaupt keine Rolle, worum es ginge.
Lausig blieb nichts anderes übrig, als die renitente junge Lady mit vorgehaltener Waffe davon zu überzeugen, dass es ratsam sei, ihm die Adresse des Bowlingwirt-Sohnes schnellstmöglich herauszusuchen. Den Namen des Verdächtigen hatte er bereits von seinem Chef erfahren, doch er fragte sich immer noch, ob Klemens Klimakowski nicht ein Künstlername sei.
Jetzt wusste er immerhin, dass dieser Klimakowski in der Kleinodstraße 69 wohnte und einen WG-Mitbewohner hatte, der Klodwig Klotzholz hieß. Verrückte Welt, dachte Lausig, und legte der jetzt zitternden, leichenblassen Verwaltungsangestellten als Dankeschön ein kleines Tütchen Gummibärchen auf den Diensttresen.
Das Tütchen war eigentlich ein Beweisstück in einem Mordfall, denn auf ihm befanden sich höchstwahrscheinlich die blutigen Fingerabdrücke des Täters, doch Lausig, der als erster am Tatort war, hatte vergessen, es dem später eintreffenden Kollegen von der Spurensicherung auszuhändigen. Jetzt trug er die süßen Bärchen schon ein paar Wochen lang in seiner rechten Hosentasche mit sich herum.
Den ursprünglich des Mordes an seiner blinden Mutter verdächtigten Kioskbetreiber hatte man inzwischen aus Mangel an Beweisen wieder auf freien Fuß gesetzt.
Klemens Klimakowski wohnte im vierten Stock eines sanierten Altbaus mitten in der City. Lausig, der während der rasanten Fahrt zum Einsatzort zweimal ein Ampelrot missachtet hatte und mindestens einmal geblitzt worden war, parkte seinen Arme-Leute-Ferrari etwa fünfzig Meter vor dem Haus, direkt vor einem Juweliergeschäft im Halteverbot.
Er holte seine private Pistole aus dem Handschuhfach und legte dafür seine Dienstwaffe hinein. Dass die Knarre, die er in die rechte Tasche seiner blaubeerfarbenen norwegischen Outdoorjacke steckte, nur Schreckschusspatronen abfeuern konnte, hatte er seinem Chef verschwiegen.
Fast hätte Lausig die Maske vergessen. Da er keine professionelle Bankräuber-Strumpfmaske besaß, zog er sich den Nylonstrumpf von Lola über den Kopf, den er bei seinem letzten Besuch im Rotlichtviertel als Souvenir mitgenommen hatte.
Während Lausig noch damit beschäftigt war, den engen Fersenbereich des nach Enthaarungscreme riechenden Strumpfes passend auf seinem kantigen Kinn auszurichten, bemerkte er nicht, wie er bei seiner Maskierung vom Juwelier, der gerade sein Schaufenster neu dekorierte, argwöhnisch beäugt wurde.
10.
Der gelernte Goldschmied, der im Hinterzimmer seines Ladens ein illegales Wettbüro betrieb, hielt schon seine abgesägte Schrotflinte schussbereit in den Händen, als er sah, dass der Strumpfmann es gar nicht auf seine Klunker abgesehen hatte, sondern am Laden vorbeirannte.
Das sind schon seltsame Zeiten, murmelte der Juwelier, schüttelte den Kopf und stieß einen tiefen Seufzer aus. Er fand es jammerschade, dass er seine Waffe noch nicht ein einziges Mal hatte einsetzen können. Die Flinte war ein Weihnachtsgeschenk seiner Frau, die vor fünf Jahren bei einer Bergtour von einer fürsorglichen kanadischen Bärenmutter totgebissen und an ihren Nachwuchs verfüttert wurde.
Lausig hatte den Eingang zum Altbau erreicht. Die massive Holztür, die eine neue Lackierung verdient und eine Holzwurmkur nötig hätte, war verschlossen.
Neben einem der zahlreichen Klingelknöpfe las Lausig die Namen „Klimakowski“ und „Klotzholz“ auf dem zugehörigen Schildchen. Er wollte schon auf den Knopf drücken, überlegte es sich dann aber anders.
Ich muss auf Überraschung setzen, wie ich es im Taktik-Lehrgang der Ulrich-Wegener-Akademie gelernt habe, dachte er, und holte sein Schweizer Taschenmesser aus der Brusttasche, um mit irgendeinem der vielen Tools die Tür zu öffnen.
Er hatte bereits den Korkenzieher ausgeklappt, als die Tür plötzlich aufgestoßen wurde und ihn zu Boden warf. Während er auf dem kalten Steinboden lag, verspürte er einen stechenden Schmerz in seiner linken Hand, genau dort, wo sich die Spitze des Korkenzieherstahls hineingebohrt hatte.
Melanie Schöngeist, die im zweiten Stock wohnte und Lausig unfreiwillig zu Fall gebracht hatte, war spät dran war und hatte es furchtbar eilig, zum zwei Kilometer entfernten Fußpflege-Salon zu gelangen. Dort arbeitete sie als Halbtagskraft für einen Hungerlohn, den sie allerdings aufbesserte, indem sie an jedem zweiten Samstag die heruntergekommene Bungalow-Wohnung ihres glatzköpfigen Chefs putzte und ihn an jedem vierten Sonntag mit einer Ganzkörpermassage bei Laune hielt.
Als Melanie die bestrumpfte Gestalt auf dem Gehweg liegen sah, schrie sie so laut auf, dass sich eine frisch frisierte Seniorin, die gerade mit ihrem nagelneuen österreichischen E-Bike vorbeifuhr, folgenreich erschreckte. Die Radlerin verlor die Kontrolle über ihr Fahrzeug und ruinierte beim Sturz in einen städtischen Blumenkasten ihre teure Dauerwelle.
Ruiniert war auch ihr Fahrradhelm, dem die Konfrontation mit einer soliden Waschbetonkante nicht gut bekam.
Benommen rappelte Lausig sich auf und blickte einen Moment der wegrennenden Fußpflegerin hinterher. Dann überlegte wie, wie er jetzt weiter vorgehen solle. Er entschied sich, Plan B durchzuführen, und drückte auf den Klingelknopf, der sich unter dem von „Klimakowski“ und „Klotzholz“ befand und mit „Hans-Werner Sitzfleisch“ beschriftet war.
„Ja, wer ist da?“, schnarrte es aus dem kleinen Lautsprecher der Gegensprechanlage, die Lausig bisher nicht aufgefallen war. „Stadtwerke“, antwortete Lausig, „ich würde gern Ihren Stromzähler ablesen.“
„Schon wieder?“ schnarrte es zurück, „da war doch erst vor einer Woche ein Kollege da.“ „Ja tut mir wirklich leid“, erwiderte Lausig, „aber wegen eines Schwelbrandes in unserem zentralen Server sind alle Daten verloren gegangen, und deshalb müssen wir dir Zählerstände jetzt noch einmal ermitteln.“
„Na gut“, schnarrte es wieder aus dem kleinen Lautsprecher, „aber ich hoffe, es dauert nicht lange, denn ich muss gleich zum Senioren-Synchronschwimmen.“ „Das geht ruckzuck“, versprach Lausig und drückte die Tür auf, als der Summer ertönte.
11.
Seit er als Elfjähriger in einer engen Liftkabine einmal von einem vollbärtigem Heizungsmonteur bedrängt und befummelt worden war, während der Lift eine gefühlte Ewigkeit zwischen der fünften und sechsten Etage feststeckte, mied Lausig Fahrten mit einem Aufzug. Deshalb hechtete er jetzt die Treppe hinauf, die Schreckschusspistole in der rechten Hand.
Im Vorbeilaufen bemerkte er einen älteren Mann im weinroten Frotteebademantel und mit gelben Badelatschen an den nackten Füßen, der im dritten Stock vor seiner geöffneten Haustür stand und ihn mit einem stechenden Blick anstarrte. Lausig konnte nicht wissen, dass es sich um Herrn Sitzfleisch handelte.
In der vierten Etage stoppte Lausig, mittlerweile heftig schnaufend, vor der Tür zur Wohnung von Klemens Klimakowski und Klodwig Klotzholz. Lolas Nylonstrumpf erschwerte ihm das Atmen doch mehr, als er gedacht hatte.
Er steckte die Pistole in den Hosenbund und zog das von seinem Blut ganz klebrige Taschenmesser hervor. In seiner verletzten linken Hand pochte der Schmerz.
Lausig entschloss sich, das Türschloss auszubauen, und wollte gerade den Kreuzschlitz-Schraubenzieher seines Schweizer Messers ausklappen, als er einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf spürte. Er taumelte nach vorn und stieß mit der Stirn gegen das harte Holz der Wohnungstür. Dann brach er zusammen und verlor das Bewusstsein.
12.
Hans-Werner-Sitzfleisch war zwar schon 79 Jahre alt, hielt sich aber regelmäßig fit und war nicht auf den Kopf gefallen. Natürlich hatte er sofort spitz gekriegt, dass sich hier ein Einbrecher frisch ans Werk machen wollte, ein Gangster, der nicht nur am helllichten Tag seine schändliche Profession ausübte, sondern auch noch die Dreistigkeit besaß, in einer abstoßenden Halloween-Maskerade herumzulaufen.
Keinesfalls konnte der rüstige Senior es zulassen, dass dieser Kerl gewaltsam in die so geschmackvoll eingerichtete Wohnung des liebenswerten Junggesellenpaars eindrang und vielleicht etwas Wertvolles entwendete, zum Beispiel den riesigen Fernseher, auf dem er zusammen mit den beiden schon ein paar Champions-League-Spiele angeschaut und dazu ein paar Gläser süßen Erdbeersekt getrunken und frittierte Zwiebelringe gegessen hatte.
Dass die Jungs sich immer ein Küsschen gaben, wenn die deutsche Mannschaft ein Tor schoss, und die Hand des einen öfter mal im Schritt des anderen lag, störte ihn nicht. Er war ja tolerant.
Nur einmal, als das Paar nach einem Sieg von Bayern München über den spanischen Meister besonders viel Sekt getrunken hatte und nach dem Abpfiff gleich Händchen haltend und glückstrahlend im Schlafzimmer verschwunden war, während er noch auf dem harten Besucherstuhl saß und auf dem letzten, zähen Zwiebelring herumhaute, war er doch ein kleines bisschen verärgert gewesen.
Nachdem er dem Strumpfkopf-Ganoven mit dem gusseisernen Pokal niedergestreckt hatte – das schwere, rostige Ding hatte er vor vielen Jahren für den ersten Platz bei einem internationalen Hufeisenweitwurf-Wettbewerb im norditalienischen Hafling erhalten – fühlte er dem schachmatt gesetzten Strumpfbanditen den Puls.
Da der Mann noch lebte, zog Sitzfleisch sein altmodisches Klapphandy aus der Bademanteltasche. Allerdings rief er nicht seinen alten Kumpel Hartmut an, der mit 77 Jahren immer noch als Seniorchef ein Bestattungsunternehmen mit angeschlossenem Krematorium leitete und der sicherlich gewusst hätte, wie man am besten geräuschlos eine unliebsame Leiche verschwinden lässt, sondern wählte die 110.
13.
Klemens Klimakowski, der bereits seine frisch imprägnierte Wildjederjacke angezogen hatte und im Schränkchen der Flurgarderobe nach seiner schwarzen Lederkappe suchte, hörte, wie irgendetwas hart gegen die Wohnungstür schlug. Neugierig spähte durch den Türspion.
Er sah, wie der Alte von unten, den Klodwig und er ein paarmal zum Fußballschauen eingeladen hatten, im Bademantel eilig die Treppe hinabstieg und dabei etwas Großes, Schwarzes mit der rechten Hand umklammerte.
Klimakowski wollte wissen, was da vor sich ging, öffnete die Haustür und wäre fast über einen Menschen gestolpert, der direkt vor der Tür lag.
Die Gestalt sah männlich aus und hatte sich seltsamerweise etwas, das aussah wie ein Damenstrumpf, über den Kopf gezogen.
Klimakowski hatte keine Ahnung, was das bedeuten solle, er wusste auch nicht, ob dieser Typ noch lebte oder tot war. Auf jeden Fall hielt er es für besser, lieber nicht den Weg durchs Treppenhaus zu nehmen, wenn er durchstarten wollte, um das finale Feuerwerk zu veranstalten. Es gab ja noch eine Alternative!
Zu seinem Glück war vor ein paar Tagen an der Hauswand im Hinterhof ein Gerüst errichtet worden, damit die Fassade neu gestrichen werden konnte. Da die Maler, jetzt, wo bald die Abenddämmerung einsetzten würde, schon Feierabend gemacht hatten, brauchte er nur aus dem Schlafzimmerfenster zu steigen und nach unten zu klettern.
Im Hinterhof kannte er einen kleinen Durchschlupf, um relativ unbemerkt in eine kleine Gasse zu gelangen, die auf die Hauptstraße führte.
Da Klimakowski seine Lederkappe nicht finden konnte, setzte er sich die dunkelblaue Baskenmütze auf, die sein Lebensgefährte Klodwig Klotzholz ihm, zusammen mit einer Schachtel Edle Tropfen in Nuss, zum Valentinstag geschenkt hatte. Dann zog er seine braune Wildlederjacke an.
Gut dass ich alles Wichtige für den Einsatz bereits in meiner großen Sporttasche verstaut habe, dachte Klimakowski, jetzt sollte ich wirklich schnell durchstarten.
Es war ihm nicht schwer gefallen, seinen ursprünglichen Plan zu ändern. Er wollte mit der Mega-Action nicht warten, bis das 24-stündige Ultimatum abgelaufen war, sondern jetzt gleich zuschlagen.
Die verarschen mich doch bloß, dachte er, aber denen werde ich es zeigen. Das wird eine schöne Überraschung für sie sein, denn nie im Leben rechnen sie damit, dass ich die Bombe schon früher losgehen lasse.
Vielleicht glauben sie aber auch, ich bluffe nur, halten mich gar nicht für fähig, so ein dickes Ding zu bauen und damit das ganze Viertel in die Luft zu jagen.
Na, die werden sich wundern, freute er sich und befestigte den Tragegurt an seiner Sporttasche, damit er sie sich über die Schulter hängen konnte. Er merkte, dass die Tasche recht schwer war, und hoffte, dass sie ihn nicht zu sehr behindern würde, wenn er das Malergerüst herunterkletterte.
Bevor er das Schlafzimmerfenster öffnete, nahm er den kleinen Bilderrahmen mit dem Porträt-Foto von Klodwig Klotzholz von der Wand über seinem Nachttisch, drückte einen feuchten Kuss aufs Glas, seufzte laut und hängte den Rahmen wieder an den Nagel.
Klimakowski musste damit rechnen, dass er seinen geliebten Partner, der zur Zeit an einem Töpferkurs in der Toscana teilnahm, vielleicht nie mehr wiedersehen würde.
Trotz aller Vorfreude auf den anstehenden Superknaller löste das bei ihm ein beklemmendes Gefühl im Brustkorb aus. Dann machte er sich an den Abstieg in den Hinterhof, in dem das Tageslicht bereits vor der ersten Dämmerung zurückwich.
14.
Inspektor Treiber hatte alle Register gezogen, um für die Gelbe-Tonnen-Aktion soviel Personal wie möglich zu rekrutieren. Nicht nur Kollegen von der Sitte und vom Betrugsderzernat konnte er einspannen, sondern es gelang ihm sogar, drei junge Politessen zu überreden, je eine Tonne im Innenstadtbereich zu bewachen und – aus reinem Selbstschutz, wie er meinte – sich dabei mit einer Dose Pfefferspray und einem Gummiknüppel zu bewaffnen.
Bei den Strafzettel-Ladies ließ Treiber nicht nur seinen Charme spielen, sondern versprach ihnen auch, sie am kommenden Samstag in sein Wochenendhäuschen am Baggersee zum Abendessen einzuladen.
Er gab an, endlich einmal die vom Zoll beschlagnahmte Gulaschkanone einweihen zu wollen. Das unhandliche Gerät hatte er vor ein paar Wochen beim Kniffeln mit einigen Untersuchungshäftlingen gewonnen.
Anschließend könnten sie ja zusammen einen Film auf seinem Notebook anschauen, schlug er vor, vielleicht „Claires Knie“ oder die andere DVD von Eric Rohmer, die er erst kürzlich günstig bei Ebay erstanden hätte. Auch für ein gutes Glas Wein würde er sorgen, versicherte er, in der Hütte stünde noch ein voller Karton mit Retsina.
Mit seinem Organisationstalent und seiner Rekrutierungsfähigkeit hochzufrieden blickte Treiber auf einen großformatigen Plan des zentralen Innenstadtviertels. Dieser Plan, den eine vollschlanke Verehrerin, die bei der Verkehrspolizei in der Messgeräte-Ausgabe arbeitete, für den Inspektor gebastelt hatte, bedeckte den ganzen Metalltisch im Verhörzimmer. Auf ihm waren alle Daten von der Liste, die Eisenbein und Degenhau erstellt hatten, übersichtlich eingetragen.
Für den Inspektor schien alles zu passen. Einen genauen Blick warf er nur auf den Tonnenstandort Hindenburgstraße 33, von dieser Adresse wusste er, das dort seit kurzem sein geiziger Stiefbruder Friedhelm mit seiner gekauften Frau aus Laos in einer stattlichen Villa wohnte. Als er sah, dass der gehbehinderte Pförtner des Einbruchsdezernats für die Hausnummer 33 eingeteilt war, fand Treiber das vollkommen in Ordnung.
Bei jeder Gelben Tonne war ein Name vermerkt, stellte Treiber zufrieden fest. Allerdings wusste er nicht, dass dies keine große Bedeutung hatte. Eisenbein und Degenhau, die Beamten, die für die Planung verantwortlich zeichneten, hatten ein wenig geschummelt.
So waren nicht wenige Kollegen, die schnell noch einen Tag Urlaub beantragt hatten oder Überstunden abfeiern wollten, als Tonnenkontrolleure mit Zugriffsrechten auf der Liste eingetragen.
Außerdem gab eine ganze Reihe von plötzlichen Krankmeldungen, und als dann auch noch immer mehr Führungskräfte aus anderen Dezernaten beim Planungsduo anriefen und dringend darum baten, ihre Mitarbeiter aufgrund von unvorhergesehenen Notsituationen von der Teilnahme an der Gelben-Tonnen-Aktion zu befreien, wurde die Liste immer lückenhafter.
Also beschloss das Planungs-Team, die Liste ein bisschen aufzupeppen. Eisenbein und Degenhau hielten Treibers Vorhaben sowieso für ganz großen Mist und konnten nicht verstehen, warum der Big Boss solch einem Unsinn zugestimmt hatte.
Da tauchten dann Fantasienamen auf der Liste auf, auch auf Doppel- oder Dreifachnennungen wurde nicht verzichtet. Beide Augen wurden zugedrückt, wenn ein Kollege eingetragen war, von dem die Planer wussten, dass er zur Beerdigung der Großtante musste, einen wichtigen Termin beim Steuerberater hatte oder eine dringende Darmspiegelung auf ihn wartete.
Eisenbein und Degenhau waren davon überzeugt, dass Treiber diese Planungsliste nie kontrollieren würde, und so tricksten und mogelten sie auf Teufel komm raus.
Am Ende stimmte nichts. Offiziell war zwar jeder Tonne im Zentrum jemand zugeteilt, doch inoffiziell wurde nur eine einzige Tonne von einem Beamten wirklich bewacht. Das war die von Inspektor Treiber. Und der zuständige Bewacher war er selbst.
Treiber selbst hatte ja verlangt, dass bei der Adresse General- Wenck-Straße 45 sein Name eingetragen werden sollte. Er würde sich um seine eigene Gelbe Tonne gern persönlich kümmern und wolle unbedingt verhindern, dass der Bombenlümmel ein Ei ausgerechnet in den Verpackungsmüllbehälter des Einsatzleiters legte.
Der Inspektor war felsenfest davon überzeugt, dass er den Kerl schnappen würde. Er nahm sich vor, dem Halunken die Handschellen so fest anzulegen, dass die Blutzirkulation nur noch eingeschränkt funktionierte. Für den Transport des Ganoven ins Polizeipräsidium hielt er den Kofferraum seines Dienstwagens für den geeignetsten Ort.
Vielleicht sollte ich dann nicht den direktesten Weg nehmen, überlegte der Inspektor, er kannte ja ein paar schöne Feldwege außerhalb der Stadt, wo die Schlaglöcher so groß wie Bombentrichter waren.
Bei aller Vorfreude war Treiber klar, dass er den irren Bombenbauer zunächst einmal fassen musste, es sei denn, Lausig hätte ihn vorher erwischt – doch da waren seine Zweifel groß.
Gut wäre es auch, dachte er, wenn ich verhindern könnte, dass der Ökoterrorist seinen selbst gebastelten Superknaller zur Explosion bringt. Wahrscheinlich will er seinen fetten Knallfrosch in meiner Tonne direkt vor meinem Haus zünden – das noch nicht einmal zur Hälfte abbezahlt ist. Treiber war sich mittlerweile hundertprozentig sicher, dass der Gestörte ihn im Visier hatte.
Ihm blieb nicht mehr viel Zeit, um den Big Bang zu verhindern, und von Lausig hatte er noch nichts gehört. Mehrmals hatte Treiber bereits versucht, seinen Assistenten über dessen Diensthandy zu erreichen, doch jedes Mal, wenn er Lausig Nummer gewählt hatte, teilte ihm eine erotische Frauenstimme mit, dieser Anschluss sei vorübergehend nicht zu erreichen.
Je mehr Treiber darüber nachdachte, desto größer wurde seine Befürchtung, Lausig werde seinen Auftrag nicht erfolgreich durchführen und schaffe es nicht, den Kerl aus dem Verkehr zu ziehen.
15.
Der Inspektor hatte nicht vergessen, dass sein Assistent bei einigen wichtigen Aktionen versagt und durch sein stümperhaftes Verhalten Festnahmen von großkalibrigen Gangstern verhindert hatte.
Auch so manches Beweismittel hatte Lausig durch seine Ungeschicklichkeit und Gedankenlosigkeit unbrauchbar gemacht. So war ein bereits so gut wie überführter Mörder vor Gericht freigesprochen worden, weil sein Assistent das Tonband mit der Aufnahme des Geständnisses aus Versehen überspielt hatte.
Statt der detaillierten Beschreibung des Angeklagten, wie er seine minderjährige Stiefschwester im Hobbykeller mit diversen mechanischen und elektrischen Werkzeugen umgebracht und anschließend ihre Leiche Stück für Stück nachts an die Alligatoren und Warane im Zoo verfüttert hatte, war auf dem Band jetzt Grateful Dead zu hören, mit dem Mitschnitt ihres 1972er Konzertes in der Frankfurter Jahrhunderthalle.
Als man die Aufnahme vor Gericht abspielte, bekam der Staatsanwalt einen Tobsuchtsanfall, und der entnervte Richter schlug sich mit dem Hammer auf die Finger.
Der überglückliche Angeklagte leugnete natürlich sofort, jemals ein Geständnis abgelegt zu haben, und wurde nach seinem Freispruch ein Mitglied des Fanclubs der Band aus San Francisco, der legendären „Dead Heads“.
Er hat wirklich so einiges in den Sand gesetzt, dachte Treiber, und ich habe stets meine schützende Hand über diesen Amateur gehalten. Wahrscheinlich vermasselt er wieder alles – gut, dass ich für diesen Fall vorgesorgt und einen genialen Plan erstellt habe.
16.
Der Inspektor beschloss, dass es jetzt höchste Zeit sei, in den Action-Modus zu schalten. Er öffnete den großen Wandschrank, den er sich extra in seinem Büro hatte einbauen lassen, und zog einen der vielen Kartons heraus, die dort aufeinander gestapelt lagen.
Der Pappkarton seiner Wahl war grün und mit „Gärtner-Look“ beschriftet, er befand sich zwischen einem braunen Karton, auf dem „Kanalarbeiter-Kluft“ stand, und einem anderen, erdbeerfarbenen, auf dem „Eisverkäufer-Dress“ vermerkt war.
Treiber entledigte sich seiner Dienstkleidung und zog die Kleidungsstücke an, die sich in dem grünen Karton befanden: eine abgewetzte, olivfarbene Cordhose, ein rot-grau-kariertes Holzfällerhemd, eine braune Kunstlederweste und dunkelblaue Gummistiefel.
Auf den Kopf setzte er sich einen Strohhut, der ein wenig zu groß war, so dass Treiber befürchtete, er könne ihm beim Einsatz, in der Hitze des Gefechts über die Augen rutschen und den Erfolg der Aktion gefährden.
Vorsorglich entnahm er deshalb der untersten Schublade seines Schreibtisches, in dem er für ganz spezielle Situationen allerlei Nützliches aufbewahrte, eine Badekappe mit Blumendekor. Die Kappe steckte er in die rechte Außentasche der Weste, so dass sie, falls es nötig sein sollte, dem Strohhut einen festeren Halt verschaffen würde.
Frisch eingekleidet fuhr Inspektor Treiber mit dem Aufzug bis in die Tiefgarage, wo die Einsatzfahrzeuge parkten. Ganz am Ende des unterirdischen Fuhrparks standen die Gefährte für Sondereinsätze, und in einer Ecke war das entsprechende Zubehör zu finden.
Treiber entschied sich für den hochmodernen, knallroten Lasten-Dreiradtransporter mit Elektromotor, der erst vor ein paar Wochen angeschafft worden war.
Ein Kollege hatte sogar bereits mit Folie den Namen einer fiktiven Firma auf den Türen des Dreirads angebracht. „Hackevoll Gartenbau“ stand dort. Für den Inspektor war dieser Name nicht besonders glücklich gewählt.
In der Ecke, wo das Sondereinsatz-Zubehör nach Themen geordnet in Metallregalen verstaut war, fand Treiber im Gärtnerbereich einige passende Dinge, die er gleich auf die kleine Ladefläche des roten Lastenflitzers lud: eine Schubkarre, diverse Geräte wie Rosenschere, Spaten, Laubrechen, Löwenzahn-Ausstecher, Besen und Knieschoner sowie einen Sixpack Pilsener Urquell.
Den Schlauchwagen mit einhundertfünfzig Metern knickfreiem, schussfestem Gartenschlauch ließ er stehen, das Ungetüm war ihm einfach zu schwer.
Als Treiber losfuhr und das enorme Drehmoment des Elektromotors das leichtgewichtige Dreirad unvermittelt nach vorn katapultierte, rutschte ihm der Strohhut über die Augen. Um ein Haar hätte er das rote Lastengefährt gegen einen Betonpfeiler gelenkt.
Erschrocken trat er auf die Bremse. Bevor er seine Fahrt fortsetzte, hielt der Inspektor es für angebracht, die Badekappe in Gebrauch zu nehmen.
Treiber schaute auf sein betagtes Handy, mit dem er zwar nicht mehr telefonieren und surfen konnte, das aber immerhin noch die Zeit anzeigte und seine Lieblingssongs von Jefferson Airplane abspielte. Ihm blieben noch gute anderthalb Sunden bis zum Ablauf des Ultimatums, genügend Zeit also, um den Zugriff mental und praktisch vorzubereiten.
17.
Des Inspektors Ziel war das Einfamilienhaus seines Nachbarn zur Rechten, Benno Bohnenstroh. Seit seiner Scheidung lebte der bärtige Kernenergie-Techniker mit vier Zwerghamstern und zwei Zebrafinken in einer 7er-WG.
Treiber wusste, dass Bohnenstroh sich zur Zeit auf Montage im Iran befand. Perfekt als Gärtner getarnt wollte er sich im geräumigen Vorgarten des nachbarlichen Grundstücks auf die Lauer legen und den fehlgeleiteten Studenten aus dem Verkehr ziehen, sobald er sich der Gelben Tonne näherte.
Gerade als Treiber einfiel, dass er seine eigene Gelbe Tonne ja noch vors Haus stellen musste, machte sein Lastendreirad schlapp. Bis zum Ziel waren es bestimmt noch fünfhundert Meter, schätzte der Inspektor.
Ein Blick aufs Display bestätigte seine Vermutung, dass die Batterie leer war. Er fluchte und nahm sich vor, seinen Kollegen, der für die Wartung und Instandhaltung der Einsatzfahrzeuge zuständig war, demnächst gehörig den Kopf zu waschen. Vielleicht sollte ich ihm auch ein paar kräftige Elektroschocks verpassen, überlegte Treiber.
Ihm blieb nichts anderes übrig, als das saftlose Elektromobil unter einer raupenzerfressenen Kastanie am Straßenrand stehen zu lassen, das umfangreiche Gärtner-Equipment auf die Schubkarre zu laden und die schwere Karre, in derem abgefahrenem Reifen sich eindeutig zu wenig Luft befand, die restliche Strecke zu schieben.
Obwohl die Dämmerung bereits einsetzte und es sich merklich abgekühlt hatte, schwitzte Treiber aus allen Poren. Vor allem sein doppelt bedeckter Kopf sonderte salzhaltige Flüssigkeit ab, die ihm in kleinen Rinnsalen über die Stirn und in den Nacken lief.
Die Gedanken des Inspektors waren so stark auf seinen Plan, den Bombenleger zu fassen, fokussiert, dass ihm auf seinem mühsamen Weg die vielen unbewachten Gelben Tonnen in seiner Straße überhaupt nicht auffielen.
Einsam standen die Müllbehälter auf dem Bürgersteig, weit und breit war niemand zu sehen, der eigentlich ein Auge auf sie halten sollte – und auch auf den Attentäter, falls dieser auftauchte.
Wäre Treiber aufgefallen, dass kein einziger Kollege wie besprochen vor Ort war, weder im Halbdunkeln eines Hauseingangs lauernd, noch hinter einer rosenumrankten Pergola hockend, so wäre er wahrscheinlich vor Wut geplatzt.
Völlig erschöpft am Haus des Nachbarn angekommen, kostete es ihn einige Mühe und Geduld, das verschlossene Tor zur Garageneinfahrt mit seiner Rosenschere zu öffnen. Er parkte die Schubkarre vor dem Garagentor und ging dann zu seinem Haus, um die Gelbe Tonne rauszustellen.
Während er den Behälter auf dem schlampig gepflasterten, unebenen Vorgartenweg lautstark zum Bürgersteig rollte und ihn nah am Straßenrand abstellte, hoffte er inständig, dass Frau Fastenheimer, seine krankhaft neugierige und schrecklich schwatzhafte Nachbarin zur Linken, ihn nicht beobachtete.
Wenn die mich sieht, dachte Treiber, in dieser ungewohnten Gärtnerkleidung, und mich vielleicht gar nicht erkennt, glaubt sie vielleicht, ein als Gärtner getarnter Einbrecher wolle sich Zugang zu meinem Haus verschaffen – und ruft glatt die Polizei an.
Treiber bemerkte, dass es jetzt schnell dunkel wurde, und befürchtete, ein noch nach Einbruch der Dunkelheit arbeitender Gärtner könne bei Spaziergängern oder Nachbarn für Irritationen sorgen. Aber ihm war klar, dass es jetzt kein Zurück mehr gab und er die Sache durchziehen musste.
Er lief zur Schubkarre, steckte sich die Rasenkantenschere und den Unkrautstecher in den breiten Ledergürtel und schulterte den Laubrechen. Dann suchte er sich einen geeigneten Platz aus, der es ihm ermöglichte, seine am Straßenrand stehende Gelbe Tonne gut im Auge zu behalten, einen Ort, der ihn gleichzeitig vor Blicken schützte.
Eine Stelle am Rand des stattlichen Gartenteichs erschien ihm optimal. Hinter den Schilfrohren war er von der Straßenseite aus kaum zu sehen, er selbst konnte aber durch die Stengel hindurch die Tonne ganz gut erkennen.
Da der Behälter in unmittelbarer Nähe einer Straßenlaterne stand, die wahrscheinlich bald leuchten würde, war die Sicht auch bei Dunkelheit garantiert.
Während Treiber in gebückter Haltung durch das Schilf spähte, ärgerte er sich, nicht einen der kleinen Garten-Rollsitze mitgenommen zu haben. Schon jetzt tat ihm der Rücken weh.
Er überlegt, ob es nicht doch besser wäre, seine Strategie zu ändern. Sein Platz hinter dem Teich war ziemlich weit von der Tonne entfernt – und damit auch von dem voraussichtlichen Zugriffspunkt.
Vielleicht sollte er sein Versteck verlassen und mitten auf dem Rasen, der sich bis zum Gartenzaun erstreckte, auf den Halunken warten. Dort wäre er recht nah an der Tonne, und er könnte den harmlosen, pflichtbewussten Gärtner mimen, der noch spät am Abend gewissenhaft auf dem gepflegten englischen Rasen Laub zusammenharkt, damit die welken Blätter nicht während der Nacht vom Wind auf den Bürgersteig oder die Straße geweht würden.
Da fiel dem Inspektor auf, dass auf dem Rasen nicht ein einziges Blatt lag. Kein Wunder, dachte er, es ist ja erst Ende April. Also verwarf er seinen Plan wieder und blieb hinter dem Schilf hocken, aus dem mittlerweile Insekten der verschiedensten Gattungen geflogen kamen und neugierig den falschen Gärtner umkreisten.
18.
Weil Klemens Klimakowski seinen Schwalbe-Roller im Hof hinter der Bowlingbahn abgestellt hatte, musste er mit der schweren Sporttasche zu Fuß die anderthalb Kilometer zurücklegen. Den betagten Scooter per Kickstarter zum Leben zu erwecken, war Schwerstarbeit, und Klimakowski wollte bereits das Handtuch werfen, doch nach dem vielleicht zwanzigstens Startversuch ertönte ein ohrenbetäubendes Geknatter. Eine stinkende, graue Wolke drang aus dem rostigen Roller-Auspuff und hüllte den Hinterhof in dichten Nebel.
Während der Zweitakt-Motor sich spuckend und ratternd warm lief, klemmte Klimakowksi die Sporttasche auf den Gepäckträger, steckte die Baskenmütze in seine Wildlederjacke und setzte sich den zerkratzten Jet-Helm auf, der am Lenker hing. Dann betätigte er den Lichtschalter, denn die Dämmerung wich bereits der Dunkelheit, gab Gas und knatterte in Richtung Innenstadt.
19.
Inspektor Treiber hatte den Laubrechen auf den matschigen Boden gelegt, weil er sich so besser die Mücken vom Leib halten konnte. Die ausgehungerten Plagegeister attackierten ihn permanent und hatten ihm bereits einige höllisch juckende Stiche verabreicht.
Er hoffte, dass der Bombenleger bald auftauchen würde, auch weil vor einigen Minuten im Teich lebende Geschöpfe begonnen hatten, ohrenbetäubend zu quaken, und er in den nicht gefütterten Gummistiefeln langsam kalte Füße bekam. Ein weitere Versuch, Lausig per Handy zu erreichen, blieb erfolglos.
Treiber ärgerte sich auch über die Straßenlaterne vor seinem Haus, die hartnäckig ihren Dienst verweigerte, obwohl es längst dunkel war. So konnte er die Gelbe Tonne nur schemenhaft erkennen und fragte sich besorgt, ob er den Bombenleger rechtzeitig sehen würde, wenn er auftauchte.
20.
Klimakowski war fast am Ziel, hielt es aber für besser, nicht bis zum Haus des Bullen zu fahren, sondern seinen Roller am Kriegerdenkmal abzustellen, einer kantigen Reiterstatue aus verwittertem Marmor, das an die gefallenen Helden des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 erinnern sollte.
Die Entfernung zwischen Denkmal und Zielort schätzte Klimakowski auf höchstens zweihundert Meter, er hoffte daher, seine Sprengladung sei stark genug, um auch dieses hässliche Ding in den Orbit zu katapultieren.
Er tauschte den Helm gegen die Baskenmütze, steckte sich eins bereits etwas weich gewordenes Hustenbonbon, das er in der rechten Jackentasche gefunden hatte, in den Mund, schulterte die Sporttasche und machte sich auf den Weg.
Klimakowski bereute es, das Bonbon nicht in der Jackentasche gelassen zu haben, denn es schmeckte scheußlich. Außerdem fühlten sich seine Finger klebrig an, weil sich das wahrscheinlich steinalte Bonbon nur sehr schwer vom Einwickelpapier hatte lösen lassen.
Der mürbe Zuckerklumpen ließ sich nicht mehr lutschen, sondern nur noch kauen, und als Klimakowski merkte, dass er auch auf einem Stück Papier herum kaute, spuckte er die eklige Masse angewidert aus.
21.
Treiber hatte den Kampf gegen die Mücken aufgeben. Sein Gesicht und seine Hände waren völlig zerstochen, und es hatte ihn viel Kraft gekostet, sich ständig zu ohrfeigen und abwechseln auf die Hände zu schlagen. Es blieb ihm nur noch die Hoffnung, der Blutdurst der Biester würde bald gestillt sein.
Er schaute auf sein Handy. Noch 47 Minuten bis zum Ultimatum. Er wusste nicht, ob er unter diesen menschenwürdigen Zuständen noch solange durchhalten würde.
Hätte ich nur etwas Anständiges gelernt, dachte er, zum Beispiel Bademeister – oder Schaufensterdekorateur. Er hoffte jetzt, dass der irre Student bereits auftauchen würde, bevor das Ultimatum ablief.
Plötzlich hörte er ein Geräusch, das ihm bekannt vorkam. Es klang wie das Knattern eines Zweitaktmotors, doch dann war das Geräusch auch schon wieder verstummt.
Treiber meinte auch, ganz leicht den typischen Geruch der Abgase eines antiquierten Zweitaktantriebs wahrzunehmen. Schnuppernd hob er die von Mücken malträtierte, geschwollene Nase in die Luft, aber da hatte sich dieser Geruch bereits wieder verflüchtigt.
Vielleicht, weil der Wind plötzlich seine Richtung gewechselt hatte, dachte der Inspektor, auf jeden Fall war der Geruch durch einen anderen, nicht unbedingt angenehmeren ersetzt worden – den modrig-fauligen Duft eines ungepflegten Gartenteiches, der schon lange nicht mehr von Algen und anderen wuchernden Wasserpflanzen gereinigt worden war, und bei dem sich niemand die Mühe gemacht hatte, verstorbene Goldfische herauszunehmen.
22.
Neunundzwanzig Minuten vor Ablauf seines Ultimatums war Klemens Klimakowski am Zielort angelangt. Obwohl es vor dem Haus des Bullen relativ dunkel war, konnte er erkennen, dass die Gelbe Tonne wie erwartet am Straßenrand stand.
Er befand sich vielleicht zehn Meter vor der Tonne, als er bemerkte, wie auf der anderen Straßenseite eine ältere Frau ihren Yorkshire Terrier an der Leine hinter sich her zerrte und dabei mit schriller Stimme auf ihn einredete. Klimakowski blieb stehen, zog sein Handy aus der Jacke und tat so, als nehme er einen Anruf entgegen.
Als Frau und Hund außer Sicht waren und er sich unbeobachtete fühlte, steckte er sein Handy wieder ein und ging mit schnellen Schritten auf die Tonne zu. Er stellte seine Sporttasche vor dem Behälter auf den Boden, öffnete sie und holte ein kastenförmiges Ding heraus, das ungefähr die Größe eines Schlagbohrmaschinen-Koffers hatte, wie Profis ihn benutzten.
Auf der Oberfläche des Kastens befanden sich ein Fingersensor und eine beleuchte Tastatur. Daneben blinkte eine kleines, rotes LED-Licht.
Bevor Klimakowski den Kasten vor die Gelbe Tonne legte, schaute er sich noch einmal nach allen Seiten um, doch kein Mensch befand sich auf der Straße. Er kniete sich auf die kalten, harten Steinplatten des Bürgersteigs und versuchte den Schmerz auszublenden, der sich in sein rechtes Knie bohrte, wo ihm immer noch ein fetter Bluterguss zu schaffen machte, den er sich vor ein paar Tagen beim Training zugezogen hatte, als ihm eine Hantel aus der schwitzigen Hand gerutscht war.
Er biss die Zähne zusammen und berührte mit seinem rechten Zeigefinger den Sensor, wartete auf den Summton und gab dann die Ziffernfolge 12111934 in die Tastatur ein. Da es sich dabei um das Geburtsdatum von Charles Manson handelte, konnte er sich die acht Zahlen gut merken.
Nach einem abermaligen Summton blieb ihm nur noch, die Programmierung zu löschen, so dass die Bombe nicht zum eingegebenen Zeitpunkt explodieren würde, und auf Aktivierung per Smartphone umzustellen. So würde er selbst bestimmen können, wann das Teufelsding Tod und Verderben bringen würde.
Nach der entsprechenden Eingabe erfolgte diesmal kein bestätigendes Summen, sondern es ertönte ein sonores Brummen, wie es Hummeln von sich geben, wenn sie an der Glasscheibe eines geschlossen Fensters verzweifelt versuchen, einen Ausgang zu finden. Dann erlosch das rote Blinklicht auf der Kastenoberfläche, und stattdessen begann ein grünes Lämpchen dauerhaft zu leuchten.
Klimakowski war zufrieden. Bislang hatte alles reibungslos funktioniert, die Bombe war scharf und wartetet nur noch auf seinen Smartphone-Befehl. Und er würde natürlich dafür sorgen, dass sie schon vor Ablauf des Ultimatums losging. Jetzt musste er sie nur noch in die Tonne legen.
Er blickte noch einmal in alle Richtungen, doch die Luft war rein. Dann klappte er den Deckel der Gelben Tonne auf, aktivierte die Taschenlampen-Funktion seines Handys und leuchtete kurz hinein.
Die Tonne war zu Dreiviertel gefüllt, obenauf lagen eingedellte Pizzakartons, die einen penetranten Geruch von gammeligem Thunfisch und säuerlichen Oliven verströmten.
Klimakowski kämpfte gegen eine aufsteigende Übelkeit an und bettete den Bombenkasten behutsam auf den aufgeweichten, fettfleckigen Pizza-Kartons. Genauso behutsam wollte er die Gelbe Tonne wieder schließen, doch als er den Deckel am Griff packte und hochhob, rutsche ihm dieser aus der Hand und knallte lautstark auf den Rand des Hartplastikbehälters.
Er zuckte kurz zusammen und hielt es dann für angebracht, sich möglichst schnell aus dem Staub zu machen.
23.
Ein Knall weckte Treiber. Während er sich hinter dem Schilf hundemüde auf den Laubrechen gestützt hatte, war er kurz eingenickt.
Erschrocken ließ er das Gartengerät ins Gras fallen und versuchte, durch die Schilfrohre etwas zu erkennen. Es war ihm, als bewege sich in der Nähe der Gelben Tonne ein Schatten.
Das wird bestimmt der irre Bombenleger sein, durchfuhr es ihn. Ich darf ihn nicht entwischen lassen. Er zog den Löwenzahnausstecher aus dem Hosengürtel und lief los. Doch weit kam er nicht. Am schlammigen Teichrand rutschte er aus und fiel der Länge nach ins kalte Wasser.
An die ins Wasser ragende Wurzel einer Trauerweide geklammert zog sich der Inspektor mühsam ans Ufer. Wie ein Schal hatte sich ein Bündel Wasserpest um seinen Hals gelegt, und auf seiner Badekappe klebten schmierige Wasserlinsen.
Treibers Strohhut, der in die Mitte des Teiches getrieben war und einem übergewichtigen Frosch als Plattform diente, drohte unterzugehen.
Vor Kälte zitternd schüttete Treiber das Wasser aus den Gummistiefeln und entfernte einen Blutegel von seinem linken Handrücken.
Während die plötzlich zum Leben erwachte Straßenlaterne ein krankhaftes Flackern von sich gab und die Umgebung in hektischen Intervallen erhellte, rannte der patschnasse Inspektor über den Rasen, kletterte über den hölzernen Gartenzaun, wobei er einen Gummistiefel verlor und sich die Ferse des rechten Fußes schmerzhaft an einem rostigen, herausstehenden Nagel aufriss.
Fluchend humpelte Treiber auf dem Bürgersteig in Richtung Tonne, seinen Kopf immer noch mit der Badekappe bedeckt. Im Licht der übernächsten Straßenlaterne konnte er gerade noch erkennen, wie eine braun gekleidete Gestalt, die so etwas wie eine Baskenmütze auf dem Kopf trug und eine Tasche umgehängt hatte, in die nächste Nebenstraße abbog.
Nicht nur wegen seines Handicaps verzichtete der Inspektor auf eine Verfolgung, ihm war siedend heiß eingefallen, dass der Terrorist seine tödliche Mega-Sprengladung ja vielleicht schon in der Gelben Tonne deponiert haben könnte. Treiber musste sich sofort Gewissheit verschaffen.
Währen die defekte Straßenlaterne stroboskopartig Lichtblitze von sich schleuderte, öffnete Treiber vorsichtig die Klappe der Gelben Tonne. Vor lauter Aufregung spürte er keine Kälte mehr, stattdessen hatte sein Kopf zu glühen begonnen, so dass er sich die Badekappe vom Kopf riss und sie auf den Gehweg schleuderte.
Treiber beugte sich über die offene Tonne und schaute hinein. Das Innere des Behälters wurde von einem grünen Licht erleuchtet.
Bei näherem Hinsehen erkannte Treiber die Quelle dieses Lichtes: ein kleines Lämpchen, das auf einem schwarzen, metallisch aussehenden Kasten angebracht war. Der Inspektor zweifelte nicht daran, dass es sich bei dem eckigen Ding um eine Bombe handelte – und dass sie bereits aktiviert worden war.
Jetzt bloß nicht in Panik verfallen, dachte Treiber, erst einmal ganz in Ruhe überlegen, was jetzt zu tun ist. Doch wie sollte er, der von technischen Dingen wie einer hochmodernen Bombe mit Zeitzünder oder ferngesteuertem Aktivierungsmechanismus null Ahnung hatte, dieses höllische Gerät bloß abschalten?
Wenn ich unsere Jungs vom Entschärfungs-Team alarmiere, befürchtete Treiber, könnte es zu spät sein, wenn sie da sind. Verzweifelt überlegte er, wie dieses Problem zu lösen sei– und zwar möglichst schnell.
Immer noch in einem Gummistiefel vor der offenen Tonne stehend und ratlos auf ihren gefährlichen Inhalt blickend merkte der Inspektor, wie ihm Schweißperlen von der heißen Stirn auf den Rand des gelben Plastikbehälters tropften – und plötzlich hatte er eine Idee. Er wusste nicht ob sein Plan funktionieren würde, aber er sah keine andere Möglichkeit, als ihn auszuprobieren.
24.
Treiber merkte, wie ihm ein Adrenalinschub neue Energie verlieh. Er humpelte zum Gartentörchen, zielte mit seinem gesunden, im Gummistiefel steckenden Fuß auf das Schloss und trat mit aller Kraft zu.
Nach vier energischen Tritten gab das Schloss auf, und das Tor ließ sich öffnen. Allerdings hatte sein Fuß beim letzten Tritt ein merkwürdiges Geräusch von sich gegeben.
So schnell er konnte humpelte Treiber, dem jetzt beide Füße höllisch schmerzten, zu seiner Garage. Das Tor war verschlossen, doch der Inspektor erinnerte sich daran, dass seine Frau vor längerer Zeit für den Notfall einen Zweitschlüssel unter der steinernen Vogeltränke deponiert hatte.
Der Inspektor hob die Tränke an, unter der es vor Asseln und Tausendfüßlern nur so wimmelte, und entdeckte eine kleine Plastikdose, die in der Erde steckte. Mit vor Kälte steifen Fingern buddelte er sie aus, doch es gelang ihm nicht, ihren Deckel zu öffnen.
Der Inspektor bekam einen Wutanfall und trampelte mit seinen lädierten Füßen so lange auf der Plastikdose herum, bis sie in viele kleine Teile zersprang und einen rostigen Schlüssel frei gab.
Er öffnete das Tor der Doppelgarage, in dem nur das Cabrio seiner Frau parkte, betätigte den Lichtschalter und schlurfte in die Ecke mit den Gartengeräten. Dort schnappte er sich den Schlauchwagen, der nur noch über ein funktionstüchtiges Rad verfügte, und bugsierte das Gerät halb tragend und halb hinter sich her ziehend nach draußen.
Der Anschluss des Schlauchwagens an den Wasserhahn, der neben der Garage angebracht war, erwies sich für Treiber als elende Fummelei, die ihn wertvolle Minuten kostete und von derben Flüchen begleitet wurde. Für derartige Flüche hätte ihm sein Vater ein paar kräftige Ohrfeigen verpasst, wäre er nicht vor drei Jahren beim Reinigen der Dachrinne zu Tode gestürzt.
Treiber packte das Schlauchende und zog den Gartenschlauch Meter für Meter von der Rolle, während er sich dabei halb gebückt auf das Gartentor zu bewegte. Vom Tor aus waren es nur noch wenige Meter bis zum Standort der Gelben Tonne, und er hatte Glück, dass der Schlauch lang genug war.
Der Inspektor steckte das Schlauchende mit der angeschraubten Spritzdüse in die offene Tonne, in der immer noch das grüne Lämpchen leuchtete, humpelte zurück zum Wasseranschluss und drehte den Hahn bis zum Anschlag auf.
Fast gleichzeitig schaltete die Straßenlaterne vom Flacker- auf Dauerlichtmodus um und tauchte die Szenerie rund um die Gelbe Tonne in ein grelles Licht.
Als das durch den Schlauch fließende Wasser am Ausgang angelangt war, sich in der engen Düse verdichtete und dann mit hohem Druck herausgepresst wurde, sprang das Schlauchende aus der Tonne heraus und tanzte wie wild auf dem Gehweg herum, dabei nach allen Seiten einen harten Strahl kalten Leitungswassers um sich schießend.
Einige Sekunden lang verfolgte der Inspektor das Geschehen mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen, dann gab er sich einen Ruck und humpelte zur Straße. Als er bei Gelben Tonne angekommen war, gab die Straßenlaterne endgültig ihren Geist auf.
Vom spärlichen Licht aus der offenen Garage nur notdürftig beleuchtet, versuchte Treiber verzweifelt, das hin und her schlagende, permanent Wasser speiende Schlauchende zu fassen zu bekommen. Der harte, nach schnell wechselnden Rhythmen tanzende Gummischlauch schlug ihm gegen die Beine und klatschte ihm gegen sein rechtes Ohr.
Falls der Inspektor vorher noch nicht richtig nass geworden war, so wurde er es jetzt. Einmal hatte er das Schlauchende bereits gepackt, da rutschte es ihm wieder aus der Hand.
Der anmutige Wassertanz rund um die Gelbe Bombentonne fand erst ein Ende, nachdem Treiber sich der Wollsocke, die immer noch seinen linken, gummistiefellosen Fuß bedeckte, entledigt und sie sich wie einen Handschuh über die rechte Hand gezogen hatte.
Als er das Schlauchende das nächste Mal packen konnte, gelang es ihm, das wilde Ding mit Hilfe des Sockens fest zu halten und in die Tonnenöffnung zu drücken.
Erst als das Wasser schon über den Tonnenrand hinaus quoll und Treiber das Gefühl hatte, auf den Steinplatten des Fußweges festgefroren zu sein, entschloss er sich, den Hahn zu schließen.
Völlig erschöpft und ohne jegliches Gefühl im Körper stolperte er noch einmal zur Tonne, schaute hinein, sah, dass dort kein grünes Licht mehr leuchtete, stöhnte erleichtert auf und sank auf den frisch gereinigten Bürgersteig. Dort gönnte er sich eine kleine Pause vom bewussten Sein, bis er von seiner fassungslosen Gattin Hannelore energisch mit zwei Ohrfeigen und einem Tritt in die Nierengegend geweckt wurde.
25.
Hannelore hatte sich gerade eine neue Folge ihrer Lieblings-Arztserie im Fernsehen angeschaut und war auf dem Weg in den Vorratskeller, um sich eine neue Eierlikör-Flasche zu holen, als sie seltsame Geräusche vernahm, die von der Vorderseite des Hauses zu kommen schienen.
Nachdem sie ihren Mann total durchnässt und anscheinend auch vollkommen betrunken neben der Gelben Tonne liegend entdeckt hatte, war ihr aufgefallen, dass sich der gepflegte Vorgarten in einen Sumpf verwandelt hatte.
Heiße Wut stieg in ihr hoch. Bestimmt hat er wieder mal zu tief in die Doppelwacholder-Flasche geschaut, dachte sie und fragte sich einmal mehr, warum er sich nicht mit harmlosem Eierlikör zufrieden geben konnte, so wie sie es ja auch tat.
Ohne die Unterstützung seiner verärgerten Gattin hätte es der kraftlose Inspektor nicht bis ins Haus geschafft. Im Badezimmer setzte sie ihren vor Nässe triefenden Mann auf den Plastikhocker.
Während er ein seltsames Grinsen im Gesicht trug und sein Blick auf irgendetwas gerichtet war, das sich in weiter Ferne befinden musste, ließ er sich von seiner Frau widerstandslos die durchweichten Kleider ausziehen.
Beim Entkleiden ging Hannelore nicht gerade zimperlich mit ihren Angetrauten um, und beim Herunterreißen der wie angeklebt sitzenden Cordhose nahm sie keine Rücksicht auf seine lädierten Füße, doch Treiber nahm das kaum zur Kenntnis.
Nackt und zitternd hockte er auf dem harten Badezimmerschemel, bis seine Frau ihm verkündete, dass sie ihn jetzt zur Ausnüchterung in die Dusche stellen würde – und wegen seines schrecklichen Benehmens nur kaltes Wasser erlaubt sei.
Treiber hörte gar nicht zu, denn seine Gedanken kreisten allein um die Frage, ob das Wasser wirklich ausgereicht hatte, die Bombe in der Tonne unschädlich zu machen, oder ob es lediglich das grüne Lämpchen zum Erlöschen gebracht hatte. Und als er mit blauen Lippen unter der Dusche stand und kaltes Wasser über seinen malträtierten Körper strömte, rechnete er jeden Augenblick damit, mitsamt der Plexiglas-Kabine in Richtung Internationale Raumstation abzuheben.
26.
Als Lausig das Bewusstsein wiedererlangte, dröhnte ihm der Schädel gewaltig. Zu seiner Verwunderung stellte er fest, dass er in einem Treppenhaus lag, direkt vor einer geschlossenen Haustür. Er wusste nicht, wie er hier hingekommen war.
Mit Mühe gelang es ihm, sich aufzusetzen. Vor seinen Augen tanzten bunte Lichter. Erst jetzt fiel ihm auf auf, dass etwas Enges seinen Kopf umspannte und ihm das Atmen erschwerte.
Nach längeren Ziehen und Zerren konnte er sein schmerzendes Haupt von dem Ding, das wie ein Damenstrumpf aussahen, befreien. Er hatte keine Ahnung, wer ihm den Nylon übergezogen hatte – und warum.
Lausig griff sich an den pochenden Hinterkopf und ertastete dort eine riesengroße Beule, die sich glühend heiß anfühlte.
Allmählich wurde sein Blick wieder klar, und es gelang ihm aufzustehen. Noch ziemlich benommen starrte er auf das Klingelschild neben der Haustür. Klimakowski und Klotzholz las er– und da setzte sein Erinnerungsvermögen ein. Er wusste jetzt wieder, wo er sich befand und was er hier wollte.
Lausig fragte sich gerade, ob er diesem Klimakowski den Knock-Out zu verdanken hatte, da hörte er die Sirene eines Einsatzwagens.
Das typische Warngeräusch eines Wagens der Kollegen in Uniform wurde lauter, das Fahrzeug schien näher zu kommen.
Noch etwas wackelig auf den Beinen ging Lausig durch den Flur und warf einen Blick durch das Fenster, das zur Straße zeigte. Er sah, wie der Einsatzwagen direkt vor dem Haus hielt, zwei Kollegen ausstiegen, ihre Dienstwaffen zogen und zum Eingang eilten.
Mehr brauchte Lausig nicht zu sehen. Ihm war klar, dass man ihn hier nicht auffinden durfte, vor allem nicht mit der Schreckschusspistole, die immer noch in seinem Hosenbund steckte, und der Riesenbeule am Kopf.
Es würde mehr als schwierig werden, den Uniformierten zu erklären, was passiert und wie er in diese Lage gekommen war. Vor allem durften seine Kollegen von der Kripo nicht erfahren, dass er sich hier wie ein blutiger Anfänger hatte ausmanövrieren lassen. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie sie über ihn herziehen und ihn verspotten würden.
„Ich muss jetzt ganz schnell von hier verduften“, dachte Lausig, „aber besser nicht durch den Vordereingang“. Er entschied sich, es durch den Keller zu versuchen. Er hoffte, durch eine unverschlossene Kellertür in den Hinterhof zu gelangen, oder sich anderenfalls so lange im Keller verstecken zu können, bis die Luft wieder rein wäre.
Da er wusste, dass seine Kollegen in Uniform zu Bequemlichkeit neigten, fiel es ihm nicht schwer, sich für die Treppe zu entscheiden, um nach unten zu gelangen. Sollen die faulen Deppen doch ruhig den Aufzug nehmen, dachte er.
Er selbst mied Aufzüge, soweit das möglich war. Seitdem ihn im Alter von 10 Jahren in einer engen Liftkabine, die zwischen der vierten und fünften Etage stecken geblieben war, ein älterer, nach Knoblauch stinkender Heizungsmonteur bedrängt und befummelt hatte, hegte er gegen diese Art von vertikaler Fortbewegung eine tiefe Abneigung.
Es hatte damals eine gefühlte Ewigkeit gedauert, bis der Aufzug endlich seine Fahrt fortsetzte, sich im achten Stock die Tür öffnete und eine resolute Rentnerin ihn vor dem zudringlichen Kerl, der bereits seine Hose heruntergelassen hatte, rettete.
Zu Lausigs Freude hatte die Lady ihren Zorn auf den Sittenstrolch zum Ausdruck gebracht, indem sie eine volle Ladung Pfefferspray direkt in seine Schweinsäuglein abfeuerte und dem heulenden, auf die Knie gesunkenem Kerl ihre lederne Handtasche ein paar Mal um die Ohren knallte.
Lausig behielt Recht. Während die beiden Polizisten, ihre schussbereiten Knarren wie in einem billigen Mafia-Thriller auf die Lifttür gerichtet, mit dem altersschwachen Aufzug gemächlich nach oben ruckelten, eilte er die Treppe hinab.
27.
Als Klodwig Klotzholz den Taxifahrer bezahlt hatte, sich seinen bordeauxfarbenen Rollkoffer schnappte und in der Jackentasche nach dem Schlüsselbund suchte, hielt das Gefühl tiefster Enttäuschung immer noch an. Von dem Töpferkurs hatte er sich viel mehr versprochen. Vor allem, weil ihn der ganze Trip in die Toscana eine kleines Vermögen kostete.
Die Seminargebühr war mehr als saftig ausgefallen, und was er für die dürftige Unterkunft und die erbärmliche Verpflegung hatte berappen müssen, war nicht nur eine Frechheit, sondern dreister Betrug.
Von wegen Luxusklasse, Fünf-Sterne-Komfort und Gourmet-Küche, wie der Hochglanz-Prospekt versprochen hatte – da korrespondierten Begriffe wie Saisonarbeiter-Standard, Betonromantik und Resteverwertung viel besser mit der Wirklichkeit. Und die Fahrkosten waren ja auch noch dazugekommen.
Doch das Schlimmste war der Kurs selbst. Und dann diese unsägliche Kursleiterin, eine Walküre mit ausgeprägtem Damenbart, die weder Italienerin war, noch international geläufiger Sprachen wie Englisch, Französisch oder Deutsch mächtig war – von Italienisch ganz zu schweigen.
Klotzholz glaubte, so etwas Ähnliches wie Usbekisch herauszuhören, wenn die stämmige Dame mit ihren klobigen Händen ungeschickt an der Töpferscheibe herumhantierte und ihre bellenden Erklärungen gab, die wahrscheinlich kein einziger Kursteilnehmer verstehen konnte.
Er selbst hatte als Erster der Gruppe vorzeitig die Segel gestrichen. Bereits nach drei Tagen war ihm gründlich die Lust vergangen, den unverständlichen Feldwebelton der Kursleiterin, den schlimmen Fraß, die pieksende Strohmatratze und die winzige, schimmelige Nasszelle noch länger zu erdulden, obwohl er ja für eine ganze Woche bezahlt hatte.
Und so hatte er einen teuren Rückflug gebucht, sich im Flieger einen steifen Nacken geholt, dem muffligen Taxifahrer für den unverschämten Fahrpreis auf sudanesisch „du alter Hurensohn“ hinterher gerufen – und sah sich jetzt mit dem Problem konfrontiert, dass der Schlüssel zur Haupteingangstür nicht mehr passte, so als sei in seiner Abwesenheit das Schloss ausgewechselt worden.
Klotzholz hielt es durchaus für möglich, dass der dürre Hausmeister, der sein rechtes Bein immer ein wenig nachzog und oft nach billigem Schnaps roch, in der Tür ein nagelneues Schloss eingebaut hatte, obwohl das alte noch voll funktionstüchtig war.
Er wusste, dass der schmierige Bruder des Suffkopps in der Nähe einen Schilderladen mit dazugehörigen Schlüsseldienst betrieb. Es würde ihn nicht wundern, wenn er in seinem Postkasten einen Brief dieser Firma finden würde, mit dem Angebot, passende Schlüssel für das neue Haustürschloss erwerben zu können – natürlich zu einem Wucherpreis.
Eigentlich hatte Klotzholz keine Lust, sich jetzt groß über diese Sache zu ärgern. Er wollte nur noch schnell eine warme Dusche nehmen und es sich dann unter seiner kuscheligen Daunendecke bequem machen.
Vielleicht war Klemens zu Hause und leistete ihm im King-Size-Bett Gesellschaft. Gut, dass er einen Weg wusste, um auch ohne Schlüssel ins Haus zu gelangen.
Von einem benachbarten Grundstück aus führte dieser Weg durch eine kleine, unscheinbare Gasse, die direkt in den großen Hinterhof seines Wohnhauses mündete. Dort hatte er einmal eine alte Holztür entdeckt, vor der dichte, immergrüne Büsche wuchsen.
Diese gut verborgene Tür führte in das Kellergeschoss und war nie abgeschlossen. Also steckte er den nutzlosen Schlüssel wieder ein und setzte seinen quietschenden Rollkoffer in Bewegung.
28.
Für die beiden dauergelangweilten Polizeibeamten ging ein Traum in Erfüllung. Endlich waren sie zu einem Einsatz geschickt worden, der gefährlich zu werden versprach, und bei dem sie vielleicht sogar von ihren Schusswaffen Gebrauch machen konnten.
Eine wilde Schießerei mit schwer bewaffneten Ganoven, die eine gebrechliche Rentnerin in ihrer Wohnung überfallen und an einen Heizkörper gefesselt hätten, das wäre ein Szenario ganz nach ihrem Geschmack.
Die brutalen Gangster rechtzeitig ins Jenseits zu befördern, bevor sie die arme Greisin unter Androhung, ihren Schoßhund zu erschießen, zwingen konnten, den Zahlencode ihres Safes zu verraten, auch dass würde ihnen Freunde bereiten.
Schließlich befand sich in dem kleinen Tresor, der hinter einem hässlichen Winterlandschafts-Ölbild über der Wohnzimmercouch verborgen war, alles Wertvolle, was die Rentnerin ihrem Sohn hinterlassen wollte: ein fettes Wirecard-Aktienpaket und der Totenkopf-Ring ihres Vaters, der seit April 1945 als verschollen galt.
Gefallen würde ihnen auch die Ausräucherung eines Meth-Labors in der Küche eines arbeitslosen Grafik-Designers, den sie während seines ungesetzlichen Kochens auf frischer Tat erwischen würden und der nicht schnell genug die Küchentisch-Schublade herausziehen könnte, um seine belgische 9-Millimeter-Kanone zum Einsatz zu bringen.
Labor kaputt, böser Bube mausetot – das wäre doch einmal eine wunderbare Erfolgsmeldung, stellte sich der Jüngere der beiden Polizisten vor.
Die Hoffnung, gleich etwas derartig Aufregendes zu erleben und ihrem Vorgesetzten einmal zeigen zu können, was wirklich in ihnen steckte, erhielt für die Uniformierten allerdings einen gehörigen Dämpfer, als sie mit ihren gezogen Knarren im dritten Stock aus dem Lift stürmten und einen zerknüllten Damenstrumpf entdeckten, der vor der Wohnungstür von Klimakowski und Klotzholz lag.
Auch von einer im Flur vor sich hin gammelnden Leiche, die laut Angabe des anonymen Anrufers die wöchentliche Treppenhausreinigung behindern würde, war nichts zu sehen.
Frische Einschusslöcher in der Tür konnten sie ebenfalls nicht entdecken. Als Falschmeldung erwiesen sich außerdem die angeblich blutbespritzten Flurwände. Sie waren lediglich mit wenig künstlerischen obszönen Zeichnungen verziert.
Frustriert steckten die Beamten ihre Dienstwaffen wieder ein. Für den Älteren des Duos sah es ganz danach aus, als habe sich hinter der unversehrten Tür einmal mehr eine dieser üblichen Beziehungstreitereien abgespielt, bei der sich die Kontrahenten, von denen meist einer zu krankhafter Eifersucht neigte, lautstark Schimpfwörter und vielleicht auch Vasen oder Aschenbecher an die Köpfe warfen.
Der erfahrene Polizist kannte das schon: Irgendein Nachbarn fühlte sich durch den Lärm gestört, der Genervte griff zum Telefon und wählte die 110 – und wenn er dann mit seinem Kollegen auftauchte, war das ganze Theater bereits vorbei.
Die Streitenden hatten sich wieder beruhigt, saßen eng umschlungen bei einem Gläschen Prosecco auf der Couch und schauten sich Fotos vom letzten gemeinsamen Gran-Canaria-Urlaub an, während aus der Stereoanlage die Schlagerpiloten dudelten und ein Räucherstäbchen chemischen Vanilleduft verströmte.
Die Beamten klingelten mehrmals, doch niemand öffnete. Damit ihr Einsatz doch noch einen Sinn machen würde, schlug Junior vor, die Wohnung nach verdächtigen Dingen oder Hinweisen auf kriminelle Machenschaften zu durchsuchen. Senior stimmte zu, gab aber zu bedenken, dass die Tür verschlossen sei und sie auf rechtlich wackeligem Boden stünden.
Junior, dem wichtige Inhalte seiner theoretischen Ausbildung noch in frischer Erinnerung waren, hatte eine Idee. Sie könnten sich doch Einlass verschaffen, indem sie das Türschloss mit ein paar gezielten Schüssen zerstörten, regte er an, und sich später, falls sie sich vor ihrem Vorgesetzten rechtfertigen müssten, auf Gefahr im Verzug berufen.
Der Senior-Polizist runzelte die Stirn und überlegte einen Moment, meinte dann aber, diese Idee sei gar nicht so schlecht. Auf diese Weise könnten sie ihre Knarren doch noch zum Einsatz bringen – und irgendetwas Illegales würden sie in der Wohnung bestimmt finden, wenn sie nur gründlich suchten.
Und so feuerten die Polizisten ihre Magazine leer, bis in der Tür, an der Stelle, wo sich vorher das Schloss befand, ein Pizzateller großes Loch mit gezacktem Rand klaffte, Holzsplitter den Flurboden bedeckten und dichte Pulverdampf-Schwaden durchs Treppenhaus zogen.
29.
Auf die nicht zu überhörende Knallerei reagierten die im Haus anwesenden Bewohner recht unterschiedlich. Während die meisten Mieter schutzsuchend unters Bett krochen, sich im Badezimmer einschlossen oder im Kleiderschrank versteckten, überlegten einige fieberhaft, wo sie den SchwarzmarktRevolver eigentlich deponiert hatten oder suchten verzweifelt nach der Munition für die vom Großvater geerbte Jagdflinte.
Nur Anton Scheinauge, ein pensionierter Realschullehrer, der bereits seit siebzehn Jahren seinen Ruhestand genoss, blieb ganz cool im Fernsehsessel sitzen, als die Detonationen der ersten Schüsse an seine Hörgeräte drangen. Entspannt lächelnd griff der Fan von blutigen Thrillern und deftigen Mafia-Serien nach der Flasche mit dem italienischen Kräuterlikör und schenkte sich noch ein Gläschen ein.
Der Pensionär war Realist und konnte sich sehr gut vorstellen, dass Killer eines mexikanischen Drogenkartells jetzt auch schon in seiner Stadt ihr Unwesen trieben – und vielleicht einen triftigen geschäftlichen Grund hatten, in diesem Haus ihre Duftmarke zu setzen.
Angst hatte Scheinauge vor solchen Gangstern keine. Ob er auf der Straße von einem Paketdienst-Lieferwagen überfahren, an Glassplittern in einer Dose Kidney-Bohnen krepieren oder ihm ein Auftragsmörder aus Tijuana zweimal in den Kopf schießen würde, weil er ihn mit jemandem anderen verwechselt hatte, war ihm egal.
Sterben musste er sowieso – und angesichts seines Alters und seines alles andere als gesunden Lebenswandels dauerte es bestimmt nicht mehr lange, bis der Sensemann an seiner Haustür klingeln würde.
Und so gönnte sich Anton Scheinauge noch eine Schokowaffel, bevor er seinen hochmodernen Relax-Sessel per Fernbedienung auf Schlummerposition umstellte und überlegte, wie die letzte Folge von „Sodom und Camorra“ eigentlich geendet hatte.
30.
Völlig außer Atem erreichte Lausig das Kellergeschoss. Mit Erschrecken musste er zur Kenntnis nehmen, dass seine Fitness auf einem erbärmlich niedrigen Level war.
Er öffnete eine Eisentür, die in einen spärlich erhellten, langen Gang führte. Rechts und links reihten sich schmale Kellerräume aneinander, die mit dem üblichen Gerümpel voll gestopft waren. Die fensterlosen Räume hatten altmodische Holzgittertüren, am denen Vorhängeschlösser hingen.
Vielleicht hatten die Mieter ja Angst, dachte Lausig, irgendjemand käme auf die Idee, ihre abgefahrenen Autoreifen, gammeligen Römertöpfe, fleckigen Matratzen und antennenlose Ghettoblaster zu klauen.
Erst am Ende des langen Ganges, den die Lichtstrahlen der schwachen Energiesparlampe nicht mehr erreichten, entdeckte Lausig hinter mehreren großen Stapeln Kartons und Holzkisten, die mit alten Zeitungen, Büchern, verrostetem Werkzeug und anderem Metall-Schrott gefüllt waren, eine Tür.
Er zwängte sich in den engen Raum zwischen den Kisten und der Holztür, wobei ihm aufgewirbelter Staub in der Nase kitzelte, und drückte die Türklinke herunter.
Die Tür war nicht verschlossen, Lausig war sicher, dass sie in den Hinterhof führte. Vorsichtig machte er einen Schritt nach draußen, hinein in die Dunkelheit, und dann noch einen, bis er mit dem Gesicht plötzlich in irgendeine Pflanze geraten war.
Sofort bewegte er sich wieder einen Schritt zurück und streckte prüfend die Arme aus. Seine Hände ertasteten Zweige von irgendeinem Baum oder Busch, der anscheinend keine Dornen oder Stacheln trug.
Da muss ich jetzt halt durch, dachte Lausig, der froh war, einen unverschlossen Ausgang aus dem Keller gefunden zu haben. Er hoffte natürlich, auch einen Weg aus diesem düsteren Hinterhof zu entdecken.
Die Augen geschlossen wühlte Lausig sich durch dichtes Buschwerk. Als er seine Augen wieder öffnete, konnte er dank des schwachen Lichts aus einigen erleuchteten, oberen Fenstern erahnen, wie groß dieser Hinterhof war.
Er wollte gerade mit der Suche nach einem Ausgang beginnen, als in zwei Fenstern über ihm fast gleichzeitig das Licht erlosch, er vor sich ein Geräusch hörte und einen Schatten auf sich zukommen sah.
Instinktiv zog er die Schreckschusspistole, die er immer noch bei sich trug, aus dem Hosenbund und richtete sie auf den Schatten. Doch der Schatten verwandelte sich urplötzlich in eine dunkle Gestalt, die ihm die Pistole aus der Hand schlug. Dann traf ihn etwas Schweres so heftig am rechten Bein, dass es ihn zu Boden riss.
31.
Klodwig Klotzholz hatte die enge Gasse, die in den Hinterhof führte, gleich wiedergefunden. Im Hof angelangt, blieb er, den Griff seines Rollkoffers fest umklammernd, einen Augenblick stehen, um sich im Dunkeln zu orientieren.
Am hintern Ende des länglichen Hofes glaubte er, die hohen Büsche auszumachen, hinter denen sich die Holztür befinden musste. Den Koffer neben sich her rollend bewegte er sich auf die Stelle zu.
Er hatte den Hof fast überquert, als er direkt vor den Büschen jemanden stehen sah. Im Gegensatz zu vielen anderen Menschen konnte Klotzholz im Dunkeln sehr gut sehen, weshalb es seine Wahrnehmung kaum beeinträchtigte, als in mehreren Zimmern zum Hof das Licht ausging.
Von Natur aus wenig ängstlich ging er weiter auf die Gestalt, die er jetzt für einen Mann hielt und die ihm irgendwie verdächtig erschien, zu. Er wollte diesen Typen zur Rede stellen. Plötzlich hatte der Mann eine Waffe in der Hand, die direkt auf ihn gerichtet war.
Für Klotzholz war es sofort klar, dass es sich nur um einen Einbrecher handeln konnte, und zwar um einen von der gefährlichen Sorte, der auf seinen Raubzügen neben seinen Spezialwerkzeugen auch eine Schusswaffe mitnahm.
Er beschloss, das Überraschungsmoment zu nutzen und diesen Typen sofort aus dem Verkehr zu ziehen. Zwar hatte er seine aktive Zeit als Taekwondo-Sportler schon vor mehr als zwei Jahren beendet, doch er hielt sich regelmäßig fit und hatte längst noch nicht alles verlernt.
Sein linker Arm schnellte vor – und schon hatte er den Kerl mit einem gezielten Schlag entwaffnet. Dann packte er mit der Rechten den Griff des Koffers, hob das schwere Gepäckstück an, holte kraftvoll aus und schleuderte es dem überraschten Mann gegen dessen rechtes Bein.
Er hatte den Einbrecher perfekt getroffen. Wie gefällt lag der Mann auf dem rissigen Betonplattenboden des Hinterhofs.
Klotzholz stellte den Rollkoffer ab, machte ein paare Schritte auf die Stelle zu, wo die Pistole lag, und kickte die Waffe mit seinem rechten Schuh unter die Büsche. Dann ging er zu dem Einbrecher zurück, der wie bewusstlos auf dem Rücken lag, um zu sehen, ob er sich beim Sturz verletzt hatte. Und das war ein Fehler.
32.
Als Lausig auf dem Boden aufgeschlagen war und sein Hinterkopf Bekanntschaft mit dem harten Beton gemacht hatte, wurde ihm schwarz vor Augen. Doch nach wenigen Sekunden holte ihn ein stechender Schmerz im rechten Knie ins Bewusstsein zurück.
In seinem Schädel dröhnte es, doch sein Verstand schien noch zu funktionierten. Er drehte den Kopf ein wenig zur Seite, um zu sehen, ob der Mann der ihn umgehauen hatte, noch da war. Schemenhaft konnte er erkennen, wie der Typ irgend etwas in die Richtung der Büsche kickte – und sich dann auf ihn zu bewegte.
Lausig überlegte kurz, welche Optionen er in dieser misslichen Lage hätte, und entschied sich dann dafür, sich erst einmal tot zu stellen. Er versuchte, sein schmerzendes Knie zu ignorieren und ganz ruhig und gleichmäßig zu atmen.
Er hörte, dass der Mann auf ihn zu kam, und schloss die Augen. Die Schritte auf dem Betonboden hallten durch den Hof. Plötzlich schien der Mann stehen geblieben zu sein.
Durch seine Augenschlitze konnte Lausig erkennen, dass er jetzt direkt neben ihm stand und ihn anstarrte. Dann bemerkte er, dass sich der Typ über ihn beugte. Auf diesen Augenblick hatte Lausig gewartet.
Während sein rechter Arm hoch schnellte, streckte er Zeige- und Ringfinger aus und stach dem Mann kräftig in die Augen. Dieser schrie auf, presste die Hände auf seine Augen, verlor in seiner gebückten Haltung das Gleichgewicht und kippte nach vorn.
Lausig konnte sich gerade noch zur Seite rollen, sonst wäre der Mann direkt auf ihn gestürzt.
Während der jetzt wimmernde, sich immer noch die Hände vors Gesicht haltende Mann mühsam versuchte aufzustehen, war Lausig bereits wieder auf den Bienen, stellte sich hinter ihn und verpasst ihm einen gezielten Handkantenschlag ins Genick. Der Mann sackte zusammen und gab keinen Mucks mehr von sich.
Den speziellen Schlag der US-Marines hatte Lausig sich anhand eines YouTube-Videos selbst beigebracht, wobei es natürlich immer nur Trockentraining war, wenn er auf die mit einem Filzstift markierte Stelle im Nacken der Sexpuppe gezielt hatte.
Dort, wo die Halsschlagader sich aufteilte, saß der für die Blutzufuhr ins Gehirn zuständige Barorezeptor, allerdings war Lausig sich durchaus bewusst, dass die Konstrukteure der äußerst stabilen und zuverlässigen Puppe darauf verzichtet hatten, mehr Körperteile einzubauen, als für den normalen, zweckbestimmten Gebrauch unbedingt erforderlich war.
Natürlich war er überglücklich, dass er seine Nahkampf-Technik jetzt, wo er aus dem Trainings- in den Kampfmodus gewechselt war, präzise hatte umsetzen können. Er gratulierte sich selbst dazu, den sensiblen Punkt im Genick so genau getroffen zu haben, auch wenn ihm inzwischen nicht nur zwei Finger schmerzten, sondern die ganze Hand höllisch weh tat.
Er wollte die Identität des Bewusstlosen feststellen und durchsuchte dessen Kleidung nach einer Brieftasche oder etwas Ähnlichem. Was er fand, war eine lederne Geldbörse, in dem eine Mitgliedskarte des Fitness-Centers „Hot Body“ steckte. Und auf dieser Karte stand der Name Klemens Klimakowski.
Lausig war völlig aus dem Häuschen. Er fand es einfach sensationell, dass es ihm gelungen war, den Bombenleger sozusagen vor seiner eigenen Haustür zu schnappen.
Was Lausig nicht wusste war, dass dieser Mann gar nicht Klemens Klimakowski war, sondern Klodwig Klotzholz, denn dieser hatte ein paar Tage vor seinem Trip in die Toscana die eigene Mitgliedskarte verloren und sich für ein letztes Fitness-Training vor der Abreise die Karte seines Freundes ausgeliehen – in der Annahme, dass es der unausgeschlafenen Schulpraktikantin am Empfang nicht auffallen würde, wenn er einmal unter falschem Namen Gewichte stemmte.
Klotzholz hatte sich nicht geirrt, mit der Mitgliedskarte des Freundes konnte er problemlos sein Fitness-Programm absolvieren. Allerdings vergaß er vor der Abreise in die Toscana, Klemens die Karte wieder zurückzugeben. Und so steckte sie immer noch in seinem Portemonnaie, als Lausig ihn wie ein US-Elitesoldat niederstreckte.
33.
Lausig überlegte fieberhaft, womit er den Terroristen fesseln konnte, bevor dieser aus seiner Bewusstlosigkeit erwachen würde. Sein Blick fiel auf seine staubbedeckten Trekking-Boots. Mit den Schnürsenkeln müsste es eigentlich gehen, dachte er.
Es dauerte eine Weile, bis er die endlos langen Schnüre aus den Löchern der hohen Boots herausgezogen hatte. Vor allem seine lädierte rechte Hand, deren Finger er kaum mehr bewegen konnte, bereitete ihm bei der Fummelei große Probleme.
Doch dann hatte Lausig es geschafft. Mit dem einen Schnürsenkel fesselte er dem immer noch wie tot auf dem Betonboden liegenden Bombenbauer die Hände auf dem Rücken. Die andere Schnur wickelte er fest um beide Knöchel und band so die Füße zusammen.
Lausig hoffte, dass seine Fesselungskünste ausreichten, um den Gangster so lange zu fixieren, bis er von seinen Kollegen abgeholt und hinter Gitter gebracht werden konnte. Doch erst einmal musste er im Präsidium anrufen und die Jungs über seinen dicken Fang in Kenntnis setzen. Vorher wollte er jedoch noch schnell bei seinem Chef anklingeln und ihm die frohe Botschaft überbringen. Allerdings stellte er fest, dass sein Handy gar nicht eingeschaltet war.
Kein Problem, dachte Lausig – und irrte sich. Denn ihm wollte partout nicht seine PIN-Nummer einfallen, was ihm das letzte Jahr vor vielen Jahren passiert war, als er nach einer durchzechten Nacht im Soho Club am nächsten Mittag völlig verkatert Giovannis Blitz-Lieferservice anrufen wollte, um eine Pizza Margherita mit doppelt Sardellen und Peperoni sowie drei Flaschen Mineralwasser zu bestellen.
Mit dem Zeigefinger seiner linken Hand tippte Lausig unbeholfen mögliche Zahlenkombinationen ein, doch nach drei erfolglosen Versuchen musste er erkennen, dass sein Handy gesperrt war. Wutentbrannt schleuderte er das Smartphone auf den Steinboden, wo es in tausend Stücke zersprang.
Lausig versuchte, sich zu beruhigen. Er atmete ein paarmal tief durch und überlegte, was er jetzt tun solle. Ihm blieb keine andere Wahl, als sich schnell ein anderes, funktionstüchtiges Handy zu besorgen. Und dann hatte er auf einmal einen Plan.
In seinen schnürsenkellosen Trekking-Boots eierte er zu den Büschen, die vor der Kellertür wuchsen. Er erinnerte sich, dass der Bombenleger vorhin mit seinem Schuh etwas in Richtung dieser Büsche gekickt hatte, und konnte sich gut vorstellen, dass es sich um seine Schreckschusspistole handelte.
Weil man in einigen Wohnungen inzwischen das Licht eingeschaltet hatte, war es im Hinterhof nicht mehr ganz so dunkel, so dass es für Lausig nicht allzu schwierig war, den Boden vor den Büschen nach der Waffe abzusuchen. Doch die Pistole war nirgends zu entdecken .
Vielleicht liegt sie ja im Gestrüpp, dachte Lausig. Und so blieb ihm nichts anderes übrig, als sich auf den kalten Boden zu legen, wie eine Garteneidechse in die Büsche zu kriechen und dort mit klammen Händen umher tastend nach der Schreckschusswaffe zu suchen.
Lausig hatte Glück. Neben benutzten Kondomen und einem vergammelten Duschvorhang fand er seine Knarre. Allerdings waren seine Finger klebrig, nachdem er zwei Nacktschnecken, die es sich auf dem Griff gemütlich gemacht hatten, von der Waffe entfernt hatte.
Als er aus den Büschen wieder herausgekrochen war und sich mühsam aufrichtete, erinnerte er sich an die schwärzesten Stunden seiner Bundeswehr-Grundausbildung, auch wenn das Robben durch gefrorenes Heidekraut mit anschließendem Durchwaten eines stinkenden Moors auf der Folterskala viel weiter oben anzusiedeln war – aber damals war er auch noch viel jünger gewesen.
Lausig musste jetzt Gas geben. Er war überzeugt davon, dass es irgendwo in diesem Hinterhof einen Durchschlupf gab, der zur Straße führte. Doch vorher schlurfte er noch einmal zu dem Bombenleger, der immer noch fest verschnürt und regungslos auf dem Betonboden lag.
Er zog seinen rechten Trekkingstiefel aus, bückte sich und hielt ihn prüfend neben einen modischen Slipper des Ganoven. Die Größe scheint zu passen, dachte er, löste die Fußfessel, zog dem Attentäter beide Schuhe aus und fesselte ihm wieder die Füße.
Dann probierte er die modischen Slipper an und stellte erfreut fest, dass sie passten. Seine schnürsenkellosen Boots warf er in die Büsche. Sollen die Treter doch dem im Gestrüpp lebenden Getier eine Heimstatt sein, dachte er.
Recht schnell hatte Lausig die enge Gasse entdeckt – und schon befand er sich auf einer schmalen Einbahnstraße, in der um diese Zeit kaum Verkehr herrschte.
Die Schreckschusspistole in der unverletzten, linken Hand haltend, stürmte er in seinen neuen, bequemen Schuhen auf die Straße und blieb dort in der Mitte stehen. Er wartete eine ganze Weile, bis sich endlich ein Auto näherte, und richtete die Waffe auf das entgegenkommende Fahrzeug.
34.
Silke Schwätzer, eine vierundzwanzigjährige Zahnarzthelferin, saß bestens gelaunt am Steuer ihres betagten koreanischen Kleinwagens und summte die Melodie eines alten Abba-Hits mit, der gerade im Autoradio lief. Das Ziel ihrer Fahrt war die städtische Volkshochschule, wo sie sich im Abendkurs „Zeichnen für Anfänger“ als Aktmodell ein paar Euro dazu verdiente.
Als die altersschwachen Autoscheinwerfer eine Gestalt sichtbar machten, die urplötzlich mitten auf der Fahrbahn auftauchte, reagierte Silke geistesgegenwärtig mit einer Vollbremsung.
Lausig hatte Glück, denn dem Wagen, der nur eine Armlänge vor ihm mit quietschenden Reifen zu stehen kam, waren erst vor ein paar Tagen neue Bremsbelege spendiert worden, damit er noch eine Chance hatte, die nahende TÜV-Prüfung zu bestehen.
Der Kripomann fackelte nicht lange. Er sprang neben die Fahrerseite, richtete die Waffe durch die Scheibe direkt auf den Kopf der mit schreckgeweiteten Augen schockstarr in ihrem Sitz versunkenen Dental-Assistentin. „Her mit deinem Handy“ brüllte er, „aber dalli.“
Silke war wie gelähmt. Erst als Lausig die Fahrertür aufriss, ihr den Pistolenlauf an die Schläfe drückte und ihr ins Ohr zischte „Gib mir sofort dein Handy und sag mir deinen PIN-Code, oder ich puste dir das Hirn raus“, reagierte sie.
Mit zitternder Hand hielt sie Lausig ihr pinkfarbenes Smartphone hin, der mit seiner schmerzenden rechten Hand hastig danach griff und es in die Außentasche seiner nassen, dreckverschmierten Outdoorjacke steckte.
Und die PIN-Nummer?“, forderte Lausig. „Eins, neun, sieben, zwei“, flüsterte Silke, gerade noch laut genug, dass Lausig es verstehen konnte. „1972?“, fragte er, „ist das nicht das Geburtsjahr von Jon Bon Jovi?“ „Keine Ahnung“, antwortete Silke. „Okay“, rief Lausig, „und jetzt mach dich vom Acker, Mädel, gib Gas, los.“
Während Silke Schwätzer vor lauter Panik einen Kavaliersstart hinlegte, ihr Kleinwagen sich für einen Augenblick in einen heißen Rennboliden verwandelte und nach vorn schoss, rief Lausig der traumatisierten Fahrerin hinterher: „Und denk dran, du bist mir nie begegnetet.“ Dann verließ er die Fahrbahn, trat in einen unbeleuchteten Hauseingang, gab den PIN-Code auf dem erbeuteten Handy ein und wählte die Nummer seines Chefs.
35.
Treibers Smartphone lag auf dem Nachtisch – und der Inspektor unter der dicken Steppdecke in seinem Teil des Ehebetts. Nachdem er fünf Minuten kalt geduscht und seine Frau ihn anschließend fast noch einmal so lange unter dem eisigen Wasserstrahl mit der Wurzelbürste von Kopf bis Fuß abgeschrubbt hatte, glaubte er ahnen zu können, wie man sich als Sträfling gefühlt haben musste, wenn man von Josef Stalin nach Workuta verbannt worden war.
Während ihm allmählich wieder warm wurde, war Treiber froh, Helgas Verhör unter der Dusche standgehalten zu haben. Denn während sie an ihm eine verschärfte Kneippsche Anwendung vollzogen hatte, war sie mit ihren Bemühungen, von ihm Antworten auf einige Fragen zu erhalten, gescheitert.
Wo er um Himmels Willen diese hässliche, billige Gärtnerkleidung her habe, hatte sie wissen wollen – und warum er die schrecklichen Klamotten überhaupt angezogen habe. Ob er sich nicht schämen würde, hatte sie noch ergänzt, und was die Nachbarn bloß denken sollten.
Das hartnäckige Schweigen ihres Gatten hatte zwar dazu geführt, dass Helga ihm nach Beendigung der Wasserfolter zum Abtrocknen nur ein winziges, dünnes Geschirrtuch über den Rand der Duschkabine gehängt hatte, doch jetzt, wo er den Tod durch Erfrieren gerade noch hatte abwenden können, freute Treiber sich, der Befragung getrotzt zu haben.
Dass seine verärgerte Angetraute ihm mindestens zwei Wochen lang in erotischer Hinsicht die kalte Schulter zeigen würde, war ihm klar. Doch angesichts der peinlichen Tatsache, dass ihm der Bombenleger entwischt war, hatte er andere Sorgen, auch wenn es ihm anscheinend gelungen war, den Big Bang zu verhindern.
Eine Mischung aus Müdigkeit und Zufriedenheit erfüllte den Inspektor, und wahrscheinlich wäre er in den nächsten Sekunden in einen tiefen Schlaf gefallen, hätte sein Handy nicht geklingelt.
Treiber hatte den Klingelton seines Smartphones auf volle Lautstärke gestellt, und da dieser Ton nicht einer dieser langweiligen, weit verbreiteten synthetischen Sounds war, sondern das schrille, kreischende Geräusch einer Junkers Ju 87 im Angriffsflug, riss es den Inspektor aus dem beginnenden Schlummer, so dass er mit klopfendem Herzen aufrecht im Bett saß.
Erst jetzt konnte er so richtig ermessen, welche große psychologische Wirkung die auch Jericho-Trompete genannte Fahrtwindsirene des gefürchteten Sturzkampfbombers der Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg auf feindliche Soldaten gehabt haben musste, wenn der Himmel eine dieser teuflisch heulenden Maschinen ausspuckte, so dass sie direkt auf sie zu raste.
Mit zitternden Händen griff Treiber nach seinem Smartphone und nahm den Anruf entgegen, obwohl ihm die Nummer unbekannt war. Es war Lausig, der ihm aufgeregt mitteilte, demTerror-Bomber das Handwerk gelegt zu haben. „Ich hab’ ihn wirklich geschnappt, Chef, es ist tatsächlich dieser Klimakowski, und er liegt gefesselt im Hinterhof seines Wohnhauses.“
Einen Moment lang war Treiber sprachlos, während er hörte, wie Lausig, als stünde er unter Strom, hastig weitersprach und irgendetwas von genialem Plan, Heldentat, Lebensgefahr, Beförderung und Orden faselte. Dann unterbrach er den Redestrom seines Assistenten.
„Bist du sicher, dass es Klimakowski ist, den du überwältigt hast?“ „Aber Klar, Chef“, plärrte Lausig aus dem kleinen Handy-Lautsprecher, wobei der Stolz in seiner Stimme nicht zu überhören war, „anhand seiner Papiere habe ich ihn eindeutig identifiziert, es gibt da gar keinen Zweifel. Aber jetzt sollten ein paar Jungs von unserer Truppe diesen Mordbuben einsammeln, bevor er Rost angesetzt hat, und ihn schleunigst hinter Schloss und Riegel bringen. Soll ich im Präsidium anrufen und den Abschleppdienst um Action bitten?“
„Nein, nein, Lausig“, kam Treibers Antwort wie aus der Pistole geschossen, „das ist überhaupt nicht nötig, ich kümmere mich selbst darum. Sieh du nur zu, dass du möglichst schnell ins Präsidium zurück kehrst und einen detaillierten Bericht über deinen erfolgreichen Einsatz schreibst. Gute Arbeit, Lausig, wir sehen uns dann.“
Damit beendete der Inspektor das Gespräch, schleuderte die Steppdecke mit seinen dünnen Beinen auf den Teppichboden, kletterte aus dem Bett, stellte sich nackt und mit Gänsehaut neben das Boxspring-Monstrum und brauchte einen Moment, bis ein plötzlich einsetzender, kleiner Schwindelanfall vorüber war.
Dann fiel ihm ein, dass er sich besser etwas anziehen sollte, bevor er sich auf den Weg machte, um den irren Terroristen höchstpersönlich einzukassieren. Denn eines wollte er keinesfalls erleben: Dass ein Trottel von einem Kriminalbeamten, der Lausig hieß, die Lorbeeren erntete, nur weil dieser Versager dieses Mal so viel Glück wie bei einem Sechser im Lotto gehabt hatte.
36.
Wie so häufig, konnte Mathilde Haubensturm auch heute nicht einschlafen, wenn sie sich abends noch einen Krimi im Fernsehen angeschaut hatte. Sie hatte schon überlegt, ob vielleicht die Tatsache, dass in TV-Krimis seit einiger Zeit immer mehr brutale und abstoßende Szenen gezeigt wurden, für ihr Problem verantwortlich sei, doch zu einem Verzicht auf diese spannende Unterhaltung angesichts ihres überwiegend tristen und langweiligem Lebens hatte sie sich bislang noch nicht durchringen können.
Schließlich erlebte eine alleinstehende Witwe im stattlichen Alter von 88 Jahren nicht mehr all zu viel. Lediglich Bineta, die junge Frau aus Mali, die einmal in der Woche ihre Wohnung reinigte und zweimal für sie einkaufte, war eine kleine Abwechslung, auch wenn Bintetas Deutsch noch nicht so gut war, dass sie immer alles verstand.
Nachdem Frau Haubensturm ein paar Seiten in Rosamunde Pilchers Muschelsucher-Roman gelesen hatte, sich aber immer noch keine Müdigkeit einstellen wollte, entschied sie sich, es mit einer Tasse Bockbier zu probieren, die sie in der Mikrowelle warm machen wollte.
Stöhnend hievte sie ihre gichtgeplagten Glieder aus dem Bett und zog sich ihren geblümten Morgenmantel über, dem letzten Weihnachtsgeschenk ihres verstorbenen Mannes, einem passionierten Jäger, der aufgrund einer tragischen Verwechslung in seinem Lieblingswald während der Morgendämmerung ums Leben kam.
Immer wenn Frau Haubensturm an ihren verblichenen Egon denken musste, fiel ihr ein, dass in ihrer Gefriertruhe noch ein paar Rehkeulen lagen. Doch irgendetwas hielt sie bislang davon ab, sie aus ihrer Kältestarre zu befreien.
Vielleicht war es die insgeheim Hoffnung, eines Tages stünde Egon doch wieder am Vormittag im Hausflur, hängte seinen grünen Anorak an die Garderobe, legte seinen wollenen Jägerhut auf das Schuhschränkchen, zöge sich ächzend die engen, braunen Jagdstiefel aus und fragte sie gut gelaunt, was es denn heute Leckeres zum Mittagessen gäbe.
Ach Egon, seufzte sie, schlüpfte in ihre Plüschpantoffeln und machte sich gemächlich auf den Weg zur Küche. Beim Schlafzimmerfenster blieb sie stehen, um einen Blick nach draußen zu werfen, denn sie erinnerte sich daran, dass sie während ihrer Lektüre im Bett ein paar seltsame Geräusche vernommen hatte, die vielleicht vom Hinterhof heraufgekommen waren.
Obwohl sie im fünften Stock wohnte, bekam sie es hier oben in der Regel akustisch sehr gut mit, wenn unten im Hof irgend etwas vor sich ging. Bei geöffnetem Fenster konnte sie sogar jedes Wort verstehen, wenn sich unten Mitbewohner unterhielten, auch wenn sie es leise taten.
Mathilde Haubensturm schob den Vorhang zur Seite und spähte nach unten. Natürlich war die defekte Lampe, die den Hof erhellen sollte, immer noch nicht repariert worden. Und doch glaubte sie, erkennen zu können, dass da irgendetwas auf dem Boden des Hinterhofes lag. Es sah aus wie ein Sack oder ein längliches Bündel.
Sie merkte, dass sie noch ihre Lesebrille auf der Nase hatte, und steckte sie in die rechte Tasche ihres Morgenmantels. Dann schaute sie wieder aus dem Fenster. Die Augen zusammengekniffen ergab sich für sie jetzt ein anderer Eindruck.
Frau Haubensturm zuckte zusammen. Sollte es sich wirklich um eine menschliche Gestalt handeln, die sich dort unten auf dem Boden befand – und wenn ja, was hatte das zu bedeuten?
Nichts Gutes, schoss es ihr durch den Kopf, während sie weiterhin nach unten starrte, und ihr Puls sich merklich beschleunigte. Das, was sie jetzt zu sehen glaubte, versetzte sie in helle Aufregung.
Sie hatte den Eindruck, der Mensch, der dort unten in einer sehr seltsamen Position lag und sich nicht bewegte, sei gefesselt worden. Und es sah so aus, als handele es sich bei dieser Person um einen Mann.
Mathilde Haubensturm merkte, wie heißes Adrenalin ihren Körper durchströmte, und fand es wunderbar. Vielleicht ist ja ein Mord geschehen, dachte sie, ausgerechnet in meinem Hinterhof – und ich bin eine wichtige Zeugin, auch wenn ich nur die Leiche entdeckt habe.
Sie fühlte sich auf einmal so lebendig, wie schon lange nicht mehr. Wenn ich Glück habe, dachte sie, werde ich auf die Polizeiwache eingeladen, um dort eine Aussage zu machen. Ein freundlicher Kriminalkommissar bietet mir eine Tasse Kaffee an und macht sich eifrig Notizen, während ich ihm ausführlich Bericht erstatte.
Zum Beispiel, dass ich zunächst schrille Schreie gehört habe, die eindeutig aus dem Hinterhof kamen, so dass ich mein Fenster geöffnet und gesehen habe, wie zwei Männer dort unten miteinander kämpften.
Der eine hat dann vor Schmerz laut aufgeschrieen und ist zu Boden gestürzt, während der andere, der einen breitkrempigen Hut auf dem Kopf hatte und einen weiten, dunklen Umhang trug, sich über ihn gebeugt und noch irgendetwas mit ihm gemacht hat, so dass er keinen Mucks mehr von sich gegeben hat.
Dann hat er ihn gefesselt, ihm noch ein paar Mal kräftig in den Rücken und einmal sogar seitlich an den Kopf getreten, und sich danach aus dem Staub gemacht. Das würde ich dem Hauptkommissar erzählen.
Ich könnte dem netten Beamten, der sich sogar die Mühe macht, Zucker für meinen Kaffee von einem Kollegen auszuleihen, auch mitteilen, dass ich, während der eine den anderen so schrecklich malträtiert hat, laut in den Hof gerufen habe, er solle sofort aufhören, sonst würde ich die Polizei rufen, doch dass der Gewalttäter mit seiner Hand nur eine obszöne Geste in meine Richtung gemacht hat – und mir außerdem noch ein schlimmes Schimpfwort an den Kopf geworfen hat, das ich hier nicht zu Protokoll geben möchte.
37.
Frau Haubensturm riss sich aus ihren Träumereien, denn ihr fiel ein, dass sie ja erst einmal die Polizei rufen musste. Und so schlurfte sie in ihren Pantoffeln ins kleine Wohnzimmer, wo das Telefon zwischen einer Porzellan-Vase mit gelben Plastik-Rosen und einem Elefanten aus Akazienholz auf dem Sideboard stand, und wählte die 110.
„Hallo, hier ist Mathilde Haubensturm“, meldete sie sich mit leicht zitternder Stimme, „ich wohne in der Kleinodstraße 69 im fünften Stock und möchte Ihnen einen Mord mitteilen. Mit wem spreche ich bitte?“
„Sie sprechen mit Polizeiobermeister Lagerstroh, Frau Haubensturm, und wir hatten bereits mehrfach das Vergnügen. Sie wollen mir also mitteilen, dass Sie gesehen haben, wie jemand ermordet worden ist?“
„Ja genau, Herr Oberförster, erst habe ich nur schreckliche Schreie gehört und verdächtige Schatten im Hof gesehen, die hin und her huschten, doch dann lag der eine auf einmal auf dem Boden, weil ihn der andere, der Größeres und Stärkere erschlagen hat, mit einer Axt, glaube ich. Sie müssen ganz schnell herkommen, Herr Oberwachtmeister, nicht dass der Mörder sich noch weitere Opfer bei uns im Haus sucht. Ich weiß nicht, ob meine Haustür standhält, wenn er von seiner Axt Gebrauch macht.“
Polizeiobermeister Lagerstroh brauchte ein paar Sekunden, um diese Informationen zu verarbeiten, und sagte dann in bemüht freundlichem Ton zu der Anruferin: „Liebe Frau Haubensturm, es ist ja schön längst Schlafenszeit für eine nicht mehr so ganz junge Lady, wie Sie es sind. Kann es möglich sein, dass Sie schon im Bett waren und tief geschlummert haben, dann aber aus einem schlimmen Traum aufgewacht sind und in ihrer Verwirrung hier angerufen haben?“
„Nein nein, Herr Ober, so war es nicht“, protestierte die Witwe, „ich habe das alles nicht geträumt, auf gar keinen Fall.“
„Also gut, Frau Haubensturm“, erwiderte der Polizeibeamte, jetzt hörbar entnervt, „dann wird es wahrscheinlich so gewesen sein, dass sie sich vor dem Zubettgehen noch einen Krimi im Fernsehen angeschaut haben und anschließend dachten, sie hätten das auf dem Bildschirm Dargebotene alles selbst erlebt.“
„Nein, da irren Sie sich aber gewaltig, Herr Jägermeister“, kam prompt die Antwort von der ärgerlich klingenden Frau Haubensturm, „ich sehe mir keine Krimis im Fernsehen ein, die sind so brutal geworden und regen mich viel zu sehr auf, das ist nicht gut für meinen Blutzucker.“
Vom Gesprächspartner war jetzt ein tiefes Seufzen zu vernehmen, dann meinte Polizeiobermeister Lagerstroh, seinen Tonfall auf behördlich-ernst umgestellt: „Also gut Frau Haubensturm, ich weiß, dass Sie hier schon häufig abends oder nachts angerufen haben, um uns ein Verbrechen zu melden, das habe ich hier ausgedruckt und detailliert vor mir liegen. Mal war es ein Mord, den sie angezeigt haben, mal eine Vergewaltigung, mal die Entführung eines Kinderwagens samt Baby, mal die vollständige Entblößung eines Schornsteinfegers vor einem zehnjährigem Mädchen. Und immer war es falscher Alarm, wenn ich es einmal sanft ausdrücken möchte.“
Man konnte hören, wie Lagerstroh um Fassung rang, während er ein paar Mal tief durchatmete, bevor er fortfuhr. „Ich rate Ihnen dringend, Frau Haubensturm, in Zukunft derartige Anrufe zu unterlassen, sonst werde ich persönlich dafür sorgen, dass der Hauseigentümer ihren Kabelanschluss sperrt und sie nur noch Schneegestöber auf dem Bildschirm sehen. Und wenn das nicht hilft, werde ich veranlassen, dass die Telekom einen Techniker schickt, der sie von der Telefonleitung abklemmt, so dass Sie noch nicht einmal mehr das Besetztzeichen hören. Und jetzt wünsche ich Ihnen eine gute Nacht, Frau Haubenlerche.“ Damit legte er auf.
Mathilde Haubensturm war völlig empört. Sie konnte sich nicht erinnern, dass jemand so mit ihr gesprochen hatte, so dreist und ohne jeglichen Respekt. Aber sie hatte schon eine Idee, wie Sie diesem Obermeister seine bodenlose Unverschämtheit heimzahlen könnte.
Mit einem Blick aus dem Schlafzimmerfenster vergewisserte sie sich, dass der gefesselte Mann immer noch regungslos unten im Hof lag. Im Flur entledigte sie sich ihrer Pantoffeln und schlüpfte in robuste Wildleder-Stiefeletten hinein. Sie tauschte den Morgenmantel gegen eine warme Steppjacke, setzte sich eine graue Wollmütze auf und ging in die Küche.
Dort holte sie ihr Nudelholz aus dem Schrank, dessen Rolle nicht aus Holz sondern aus Marmor bestand. Ihr verstorbener Gatte hatte es ihr vor langer Zeit einmal zum Valentinstag geschenkt, und das schwere Ding leistete ihr beim Ausrollen von Kuchen- oder Plätzchenteig immer noch gute Dienste.
Zusammen mit einer kleinen Taschenlampe steckte Frau Haubensturm das schwere Nudelholz in ihre stabile, kunstlederne Einkaufstasche, verließ ihre Wohnung und fuhr mit dem Aufzug ins Kellergeschoss.
Da sie schon seit über vierzig Jahren in diesem Haus wohnte, kannte sie natürlich die hinter mehreren Stapeln alter Holzkisten und Umzugskartons gut verborgene Kellertür, die in den Hinterhof führte.
Nur aus einem der oberen Fenster drang noch schwaches Licht in den Hof, so dass die Witwe ihre Taschenlampe einschaltete, als sie aus der Kellertür nach draußen trat. Während sie langsam in Richtung Hofmitte ging, huschte der schmale Lichtkegel der Batterieleuchte ein paar Mal suchend hin und her und blieb dann an einer auf dem Boden liegenden Gestalt hängen. Die Witwe sah, dass sich diese Gestalt heftig hin und her bewegte.
38.
Erst wenige Minuten zuvor war Klodwig Klotzholz aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht. Es hatte einen Moment gedauert, bis ihm klar wurde, wo er sich befand, und er begann sich zu erinnern, was passiert war.
Sein Nacken fühlte sich ganz steif an und schmerzte höllisch, so dass er sich besorgt fragte, ob er sich dort ernsthaft verletzt hatte. Aber angesichts der Tatsache, dass ihm saukalt war und er hier vielleicht schon seit Stunden gefesselt auf dem harten Boden lag, beschloss er, diesen Gedanken erst einmal beiseite zu schieben.
Für ihn war es jetzt das Wichtigste, sich von den Schnüren zu befreien, mit denen seine Hände und Füße zusammen gebunden waren. Deshalb hatte er gerade begonnen, sich ruckartig hin und her zu bewegen und wild zu zappeln, um so vielleicht die Fesseln lockern zu können, als er von einem grellen Lichtstrahl geblendet wurde. Erschrocken kniff er die Augen zusammen und stoppte seine Bewegungen.
39.
Na gut, dachte Frau Haubensturm, dann ist der Kerl halt wieder wach. Etwa zwei Meter vom Gefesselten entfernt legte sie die Taschenlampe so auf den Boden, dass der Strahl den Oberkörper des Mannes beleuchtete.
Der Oberförster wird sich wundern, freute sich die Witwe, und ein gehässiges Grinsen erschien in ihrem Gesicht, was Klotzholz, der vorsichtig seine Augen wieder geöffnet hatte, allerdings nicht sehen konnte. Alles was er erkannte, war eine dunkle Gestalt, die neben ihm aufgetaucht war.
Eigentlich wollte er diesen Menschen im Schatten sofort auf seine missliche Lage aufmerksam machen und ihn bitten, die Fesseln zu lösen, doch sein Mund war plötzlich wie zugeschnürt.
Eine unheimliche Angst erfüllte ihn so stark, wie er sie noch verspürt hatte, und dieser nicht zu erklärende Schrecken lähmte ihn. Er hatte das beklemmende Gefühl, dass gleich etwas Furchtbares geschehen würde – und konnte kaum noch atmen.
Mathilde Haubensturms Entschluss stand fest. Sie war überzeugt davon, dass dieser Mann ein übler Gangster war, dem Mitglieder einer rivalisierenden Bande eine Abreibung verpasst hatten.
Wahrscheinlich geht es um Drogengeschäfte, dachte die Witwe, und die Cosa Nostra kämpft gegen die Camorra, um dem Konkurrenten möglichst viele Kunden wegzuschnappen – und das auf deutschem Boden.
In den brutalen Krimis, die ständig im Fernsehen laufen, wird ja regelrecht vorgemacht, wie man Angst und Schrecken verbreitet, tötet und foltert. Vielleicht sind es auch die Albaner, die mit einem arabischem Clan noch ein Hühnchen zu rupfen haben, wer weiß das schon.
Ihrer TV-Krimi-Bildung verdankte Frau Haubensturm auch die Erkenntnis, dass sogar Chinesen rücksichtslos ihre verbrecherischen Machenschaften in Hamburg, am Rhein und sogar in Oberbayern ausübten – wobei ein Menschenleben nicht viel zählte.
Im Grunde war es ihr aber egal, wer hier wem an die Gurgel ging – in ihren Augen waren sie alle Halsabschneider, Mörder und Vergewaltiger. Deshalb war sie auch so überrascht, dass man den Gefesselten am Leben gelassen hatte.
Die Witwe holte das Nudelholz aus ihrer Tasche, stellte diese auf den Boden, machte ein paar Schritte und blieb neben dem hilflos auf dem Boden liegenden Mann stehen. Dann ließ sie sich leise stöhnend auf ihre arthrosegeplagten Knie nieder, das Küchengerät einsatzbereit in der rechten Hand haltend.
Trotz ihres hohen Alters hatte Mathilde Haubensturm noch viel Kraft in Armen und Händen, so dass sie keine Probleme damit hatte, den schweren Teig-Roller hochzuheben und ihn direkt auf die Stirn des sie mit vor Panik geweiteten Augen anstarrenden Mannes niedersinken zu lassen.
Um ganz sicher zu gehen, schlug sie noch ein paar Mal kräftig zu. Sich wieder aufzurichten, kostete sie einige Mühe, und als sie die blutbesudelte Nudelrolle wieder in ihre Einkaufstasche steckte, schwankte sie einen Moment, fiel aber nicht.
Ich werde langsam alt, dachte Frau Haubensturm, und ein verschmitztes Lächeln huschte über ihr Gesicht, ein Lächeln, wie es ihr verstorbener Mann früher so geliebt hatte.
Als sie sich bückte, um die Taschenlampe aufzuheben, spürte sie ein unangenehmes Ziehen im Rücken. Sie nahm sich vor, vor dem Schlafengehen noch ein heißes Kräuterbad zu nehmen, das hatte ihr bei Rückenbeschwerden bislang immer geholfen.
Bevor Frau Haubensturm sich auf den Weg zur verborgenen Kellertür machte, richtete sie den Strahl ihrer kleinen Taschenlampe noch einmal prüfend auf den Kopf des gefesselten Banditen. Das Bild, das sich ihr bot, erinnerte sie an ein Szene aus einem Zombie-Film, den sie sich vor einiger Zeit in Ermangelung eines akzeptablen Fernsehprogramms angeschaut hatte.
Die DVD mit dem schaurigen Streifen hatte Enkelsohn Michael ihr zum achtzigsten Geburtstag geschenkt. Das Abspielgerät hatte sie vor ein paar Jahren bei einem Preisausschreiben ihrer TV-Zeitschrift gewonnen, es aber selten genutzt, weil sie die Filme auf den DVDs ihres verblichenen Gatten Mannes, fast ausschließlich flache Komödien und öde Heimat-Schmonzetten aus den 50er und 60er Jahren, furchtbar langweilig fand.
Emotionslos stellte Frau Haubensturm fest, dass der Gefesselte eigentlich gar kein Gesicht mehr hatte. Worauf sie blickte, sah aus wie das, was vom Kopf des hünenhaften Anführers der Zombie-Bande aus dem DVD-Film übrig geblieben war, nachdem ihn ein selbsternannter Bürgerwehr-Sheriff mit einem Baseballschläger bearbeitet hatte.
Aber der Anblick des vielen Blutes, der Knochensplitter und der aus dem Schädel herausgeplatzten Gehirnmasse ließ die Witwe kalt. Und während sie ihre Taschenlampe ausschaltete und einsteckte, überlegte sie, wie sie ihre besudelte Marmor-Nudelrolle am besten reinigen sollte. Vor allem bei der Säuberung der Tropenholz-Griffe durfte sie nichts falsch machen.
40.
In ihren Gliedern spürte Frau Haubensturm jetzt eine große Mattigkeit, und die Schmerzen in ihrem Rücken hatten sich verstärkt. Stöhnend hängte sie sich die Einkaufstasche über die rechte Schulter und zwängte sich durch das dichte Buschwerk, um zur verborgenen Kellertür zu gelangen.
Sie drückte die Klinke herunter, doch die alte Holztür bewegte sich keinen Millimeter. Die rostige Metallklinke weiter fest umklammernd stemmte sie sich mit aller Kraft gegen die Tür – ohne Erfolg.
Das darf doch nicht wahr sein, dachte die Witwe, und stieß einen unchristlichen Fluch aus. Die ungewohnte Kraftanstrengung ließ das Herz der alten Dame rasen, sie rang nach Atem und ihr wurde schwindlig.
Ich darf jetzt hier nicht zusammenklappen, dachte Frau Haubensturm, und bemühte sich, möglichst tief und gleichmäßig durchzuatmen. Mit der linken Hand hielt sie sich an einem kräftigem Ast eines Busches fest und wartete, dass der Schwächeanfall vorüber ging.
Nach paar Minuten war zumindest der Schwindel weg, und die Witwe wollte noch nicht aufgeben. Vielleicht ist die Tür ja nur verklemmt, hoffte sie, und unter Aufbietung ihrer letzten Kraftreserven unternahm sie einen erneuten Versuch, die Tür aufzustoßen. Vergeblich.
Erschöpft kauerte sie sich vor die Tür. Sie hatte nur eine Erklärung für dieses Desaster. Irgendjemand musste dir Tür von innen abgesperrt haben. Aber wer bloß, um Himmels Willen, fragte sich Frau Haubensturm.
Ich muss mich zusammenreißen, dachte sie, und während sie sich ächzend aufrichtete, spürte sie, wie eine heftige Wut von ihr Besitz ergriff und eine bislang verborgene Energiereserve aktiv wurde.
Mathilde Haubensturm holte ihre Marmor-Nudelrolle aus der Einkaufstasche und schlug sie mit aller Kraft auf die Klinke, die sofort abbrach. Davon unbeirrt bearbeitete sie jetzt die Holztür selbst.
Nach drei Schlägen war der Zweite Holzgriff abgebrochen, was sich allerdings als praktisch erwies. Jetzt konnte die Witwe die Tür direkt mit dem Ende der Marmorrolle traktieren.
Ein Schlag nach dem anderen dröhnte durch den Hinterhof. Und so ging, eine halbe Stunde vor Mitternacht, in immer mehr Zimmern zum Hof das Licht an.
Die Witwe bekam davon nichts mit, und wenn, wäre es ihr egal gewesen. Wie durch ein Wunder fühlte sie sich stark und fit wie mit Fünfundzwanzig, als sie die Landesmeisterschaft im Zehnkampf gewonnen hatte.
Doch nach dem vielleicht zwanzigsten Schlag, in der Mitte der Tür hatte das Holz bereits splitternd nachgegeben und ein faustgroßes Loch war entstanden, da wurde es Mathilde Haubensturm plötzlich schwarz vor Augen.
41.
Weil Klimakowski den Weg bis zum Kriegerdenkmal im Sprint-Tempo zurückgelegt hatte, kam er bei der scheußlichen Reiterstatue, neben der er seinen Roller geparkt hatte, völlig außer Atem an. Während er seinen Helm aufsetzte, den er erfreulicherweise noch am Lenker des Zweirads vorfand, fiel ihm auf, dass er seine Baskenmütze verloren hatte.
Egal, dachte er, ich muss sehen, dass ich jetzt ganz schnell aus diesem Viertel herauskomme, um dann endlich in einem sicheren Abstand mein Bombenbaby knallen zu lassen.
Er klemmte seine leere Sporttasche auf den Gepäckträger, stieg auf, betätigte den Kickstarter und gab Gas.
Ohne sich um um das Tempolimit zu kümmern, knatterte er durch eine Dreißiger-Zone, raste durch eine Spielstraße, fuhr in einer Einbahnstraße ein ganzes Stück auf dem Bürgersteig und bog an einer Kreuzung bei spätem Ampelgelb rechts auf die Straße ab, die aus dem Zentrum heraus und bis an den Stadtrand führte.
Nach etwa zwei Kilometern durchquerte er eine verschlafene Vorstadtsiedlung und erreichte eine ländliche Gegend, in der Felder und Wiesen dominierten und an der Landstraße ab und zu ein Schild auf einen in der Nähe gelegen Bauernhof hinwies, der Eier, Kartoffeln oder andere landwirtschaftliche Produkte verkaufte. Hier ist wirklich der Hund begraben, dachte Klimakowski.
Doch in dieser einsamen Gegend kannte er eine Nebenstraße, oder besser, einen geschotterten Feldweg, der mitten durch einen Rübenacker zu einer alten, riesigen Eiche führte, unter der eine verwitterte Holzbank stand. An diesem idyllischen Plätzchen hatten Klodwig und er schon viele romantische Stunden verbracht, fernab von Hektik und unliebsamen Spannern.
An lauen Sommerabenden hatten sie es sich auf der Picknickdecke gemütlich gemacht, in der Kühltasche mitgebrachten Roséwein geschlürft und sich Klodwigs selbst zubereiteten Kartoffelsalat von Papptellern schmecken lassen.
Natürlich hatte es auch zärtliche Momente gegeben, bei einem wundervollen Sommeruntergang im Juli war es einmal besonders leidenschaftlich auf der bunt-karierten Wolldecke zugegangen, wie Klimakowski sich nur zu gern erinnerte.
Ihm war allerdings auch klar, dass der letzte gemeinsame Ausflug in die schöne Natur jetzt schon recht lange zurück lag, und dass die schlecht vorbereitete Landpartie zur alten Eiche bei seinem Partner zu einer wochenlangen Verstimmung geführt hatte.
Bei dieser Fahrt ins Grüne hatten sie nicht nur den Picknickkorn mit den Hähnchenkeulen, dem türkischen Fladenbrot und den vier Flaschen Doppelbockbier zu Hause vergessen, sondern auch nicht an die bequeme Picknickdecke gedacht, die sie aus der Reinigung hätten abholen müssen.
Da sie an diesem bezauberndem Frühsommertag gezwungen waren, ihre körperliche Zuneigung auf der harten Holzbank in die Praxis umzusetzen, und Klodwig nicht nur während der Aufwärmphase von einer Biene in den Fuß gestochen wurde, sondern sich ihm kurz vor dem Höhepunkt auch noch ein Holzsplitter ins nackte Gesäß bohrte, gab er Klemens die Schuld an dem verpatztem Ausflug, schmollte wochenlang und wehrte jeden Annäherungsversuch seines Freundes rigoros ab.
Klemens Klimakowski war natürlich froh, dass sein Partner sich nach einiger Zeit wieder beruhigt hatte und er selbst nicht länger auf der Wohnzimmercouch schlafen musste. Auch Klodwigs Vorschlag, demnächst doch wieder einmal einen spannenden Ausflug in die sinnliche Natur zu unternehmen, dieses Mal vielleicht besser organisiert, hörte er gern.
Leider hatten sie das Vorhaben bislang noch nicht umgesetzt. Und wenn er jetzt am späten Abend in der Dunkelheit mit seinem Roller zur Eiche fuhr, war er nicht nur allein unterwegs, sondern hatte auch etwas anderes im Sinn, als sich an diesem idyllischen Ort zu entspannen und an erotische Abenteuer zu denken.
Allerdings betrachtete er es durchaus als Vergnügen, unter dem Blätterdach dieses starken, stattlichen Baums per Handy die fette Bombe zu zünden, die er eine paar Kilometer entfernt in der Gelben Tonne des Bullen deponiert hatte.
Klimakowski fiel auf, dass auf dem Feldweg kaum noch Schottersteine lagen und ein Schlagloch aufs Nächste folgte. Vorsichtshalber drosselte er das Tempo, denn seine Schwalbe war kein Geländemotorrad und die Reifen wiesen kaum noch Profil auf.
Während der schwache Scheinwerfer des Rollers den Weg gerade so gut ausleuchtete, dass Klimakowski den tiefsten Löchern ausweichen konnte, stellte er fest, dass der Bauer auf seinem Feld keine Rüben mehr anbaute, sondern stattdessen Mais gepflanzt hatte.
Eine unachtsame Sekunde genügte, um mit den schmalen Rollerrädern in eine schlammige Fahrrinne zu geraten, die wahrscheinlich vom Traktor des Landwirtes stammte. Das Zweirad schlingerte ein paar Sekunden lang bedrohlich hin und her, doch dann gelang es Klimakowski, die Rinne zu verlassen und einen Sturz zu vermeiden.
Vorsichtshalber schaltete er in den ersten Gang und fuhr ganz langsam weiter, sich dabei am rechten Feldwegrand orientierend, damit er mit seinem Roller nicht wieder in die tückische, glitschige Fahrspur geriet.
Ab und zu streifte der rechte Ärmel seiner Wildlederjacke Blätter von Maispflanzen, doch davon ließ er sich aus der Ruhe bringen.
Inzwischen war der fast volle Mond hinter einer Wolkenwand aufgetaucht und sorgte mit seinem gelben Licht für bessere Sicht. Dann hatte er sein Ziel erreicht.
42.
Klimakowski sah, dass sowohl die alte Eiche als auch die Bank noch da waren, und fühlte eine große Erleichterung. Seit er das letzte Mal hier war, hätte ja auch einiges passiert sein können, dachte er. Er hievte er seinen Roller neben dem Baum auf den Ständer und setzte sich auf die Bank.
Einen Moment lang lauschte er der Stille, atmetet ein paar Mal tief durch und holte sein Handy aus der Jackentasche.
Klodwigs Cousin Erwin, ein versierter IT-Spezialist, der sich auch mit Smartphones sehr gut auskannte, hatte ihm auf sein Handy eine selbstentwickelte App aufgespielt, so dass er nur eine bestimmte Nummer wählen musste, um mit dem Empfangsteil der Bombe Kontakt aufzunehmen – und schon ging die geballte Ladung los. Per Anruf Explosion sozusagen, dachte Klimakowski, und eine kindliche Freude erfüllte ihn.
Zufrieden stellt er fest, dass er hier draußen einen guten Mobilfunk-Empfang hatte, und startete die spezielle App. Er fand es lustig, dass Erwin seiner Erfindung den schönen Namen „Blow Up“ gegeben hatte.
Wolken hatten sich wieder vor den Mond geschoben, doch Klimakowski, der hoffte, nach Zündung der Bombe auch in dieser Entfernung ein feuriges, visuelles Spektakel erleben zu können, dachte, dass er im Dunkeln die in den Himmel schießenden Feuerzungen so viel besser sehen würde.
Den Knall der Detonation würde er in jedem Fall deutlich hören, da war er sicher. Er erwartete einen gewaltigen Donnerschlag, und weil es gleich so weit war, verzog sich seine Mundpartie zu einem Grinsen, das ein Beobachter wahrscheinlich als irre bezeichnet hätte.
Klimakowski selbst hätte zu irre vielleicht noch ein glücklich ergänzt, denn genauso fühlte er sich jetzt, Sekunden vor dem heiß ersehnten Showdown: irre glücklich.
Die „Blow-Up“-App war aktiv. Klimakowski musste nur noch eine achtstellige Ziffernfolge eintippen und mit einem Finger auf das angezeigte, grün leuchtende Bombensymbol drücken – dann würde der Höllenspaß beginnen.
Seine Hände zitterten ein wenig, als er in das Tastenfeld des Handy-Displays die Nummernfolge 09111923 eingab. Einen Augenblick zögerte er, als gäbe es noch etwas zu überlegen oder als sei er doch noch nicht hundertprozentig entschlossen, dann aber tippte er mit dem Zeigefinger auf das Bombensymbol.
Erwartungsvoll schaute er in die Richtung, in der er die Explosion vermutete. Ihm fiel ein, dass Lichtgeschwindigkeit ja schneller als Schallgeschwindigkeit war, deshalb würde er zunächst etwas vom Big Bang sehen können – und erst danach den Knall hören.
Klimakowski, der auf die verwitterte Holzbank gestiegen war, konnte weder etwas sehen noch etwas hören. Er war fassungslos.
Das darf nicht wahr sein, dachte er, ein absoluter Fehlschlag, irgendetwas hat da nicht funktioniert. Zur bitteren Enttäuschung gesellte sich eine enorme Wut, und die richtete sich ganz auf Erwin.
Klimakowski war sicher, ein technisches Problem sei für dieses Desaster verantwortlich und die von Erwin entwickelte App spiele dabei eine Rolle. Da hat der Kerl, den ich für einen Profi gehalten habe, wohl ein bisschen zu viel versprochen, dachte er zornerfüllt. Von wegen Blow Up, du blutiger Anfänger, eher Crash Down.
Wütend schleuderte Klimakowski sein Smartphone ins Maisfeld und sprang von der Bank. Ihm war völlig klar, dass seine Mission auf ganzer Linie gescheitert war.
Natürlich hatte er nie ernsthaft daran geglaubt, die Regierung würde auf seine Forderungen im Rahmen des Ultimatums eingehen, auch wenn er anfangs durchaus eine Chance gesehen hatte, sich als Gelbe Armee Fraktion und mit den ersten Tonnen-Sprengungen Respekt zu verschaffen – und vielleicht sogar ein wenig Panik auszulösen.
Das ist mir wohl nicht gelungen, dachte er. Aber zumindest wollte ich mit der Zündung der Megabombe ein überdeutliches Zeichen gegen diesen Wohlstandsmüll-Wahnsinn setzen. Und das hat nur deshalb nicht funktioniert, weil ein Aufschneider, der sich für einen Elektronik-Gott hält, im Grunde ein erbärmlicherVersager ist, der seine Technik nicht im Griff hat.
Klimakowski verspürte große Lust, es diesem Erwin heimzuzahlen. Er ärgerte sich , nicht doch etwas mehr Zeit investiert zu haben, um selbst eine einfachere Methode zu entwickeln, die Bombe aus der Ferne per Funk zünden zu können.
Er hätte es unbedingt versuchen sollen. Aber von der Idee mit der Smartphone-App war er leider total begeistert gewesen, was er jetzt zutiefst bereute.
Klimakowski gab sich einen Ruck. Es brachte nichts, der misslungenen Aktion hinterher zu weinen und hier Wurzeln zu schlagen. Er machte sich klar, dass es jetzt am Wichtigsten war, eine Zeitlang von der Bildfläche zu verschwinden, auch wenn sein Vorhaben sich als Fehlschlag erwiesen hatte.
Keinesfalls wollte er riskieren, dass Experten der Bullen bei der Untersuchung der nicht explodierten Bombenkonstruktion irgendetwas entdeckten, was sie in Verbindung mit Erwin bringen könnten. Denn dann würde es wahrscheinlich nicht lange dauern, bis sie ihn selbst im Visier hätten.
Deshalb hatte er vor, gleich in die City fahren, den Roller ein paar Straßen von seinem Wohnhaus entfernt abzustellen und sich zu Fuß auf den Weg zu seiner Wohnung zu machen.
Über den Hinterhof und die verborgene Kellertür würde er ins Haus gelangen und sich in seiner Wohnung die fertig gepackte Reisetasche schnappen, die er unter dem Bett versteckt hatte.
Und dann würde er sich aus dem Haus schleichen, am Theaterplatz in ein Taxi steigen, sich zum Hauptbahnhof fahren lassen und am Fahrkartenschalter ein Ticket für den nächsten Zug nach Budapest kaufen.
In der ungarischen Hauptstadt lebte ein reicher Onkel von ihm, der in den Budaer Bergen eine komfortable Jagdhütte besaß, wo er die ersten Wochen unterkommen könnte.
43.
Inspektor Treiber zog sich schnell das an, was ihm als Erstes in die Finger kam, und so gesellten sich zur orangefarbenen Jogginghose, die um zwei Größen geschrumpft zu sein schien, Wollsocken im Norweger-Design, ein zitronengelbes Viskose-Hemd und eine verwaschenes Jeansweste mit Perlmuttknöpfen.
Wäre Hannelore ihm jetzt über den Weg gelaufen, hätte sie ihn wahrscheinlich gefragt, ob er zum Karnevalsball wolle. Doch seine Gattin war wie so oft vor dem Fernseher eingeschlafen und schnarchte leise, so dass Treiber auf Zehenspitzen unbemerkt das Haus verlassen konnte.
Allerdings musste er noch einmal zurückkehren, da er auf den groben, kalten Waschbetonplatten vor der Garage festgestellt hatte, dass er keine Schuhe trug.
Obwohl Treiber wusste, dass ihm das neuen Ärger mit seiner Frau einbringen würde, lieh er sich ihr spritziges Cabrio aus. Glücklicherweise hatte er einmal zufällig gesehen, wo sie den Autoschlüssel vor ihm versteckte – und in derTat befand sich dieser wieder auf dem Boden ihres Nähkorbs, den sie, soweit er sich erinnern konnte, noch nie für seinen eigentlich Zweck benutzt hatte.
Immer wenn sich von einer seiner Hosen oder Hemden ein Knopf gelöst hatte, war er gezwungen, selbst Hand anzulegen. Angesichts seiner ausgeprägten Ungeschicklichkeit bei filigranen Arbeiten dauerte es dann immer eine halbe Ewigkeit, bis er den Knopf angenäht hatte.
Inspektor Treibers linker Fuß suchte vergeblich nach dem Kupplungspedal, da fiel ihm wieder ein, dass der sportliche Wagen seiner Frau ein Automatikgetriebe hatte. Immerhin war das Gaspedal da, wo es hingehörte, und so machte er während der Fahrt von diesem Pedal kräftig Gebrauch. Nach kurzer Überlegung war ihm klar, wie er am schnellsten zur Kleinodstraße gelangen konnte.
Weil es schon auf Mitternacht zuging, herrschte an diesem Werktag auf den Straßen wenig Verkehr, und bereits nach zehn Minuten hatte Treiber das Viertel am Stadtrand, in dem Klimakowski wohnte, erreicht.
Der Inspektor erinnerte sich, dass es in diesem Bezirk noch zahlreiche alte, im Krieg nicht zerstörte mehrgeschossige Wohnhäuser gab, die sich um einen Hinterhof gruppierten.
Einige von den Mietshäusern, deren Wohnungen man nicht renoviert hatte und die leer standen, waren eine Zeit lang besetzt gewesen, bis die Polizei mit ihren schärfsten Hunden hart durchgegriffen hatte. Andere Häuser waren komplett saniert und mit Aufzügen versehen worden, allerdings hatte das auch die Mietpreise in die Höhe getrieben.
Treiber war in die Kleinodstraße eingebogen und drosselte die Geschwindigkeit, um auf die Hausnummern zu achten. Als er das Schild mit der Nummer 69 erblickte, bremste er abrupt, so dass der Kleintransporter eines Pizzalieferanten fast auffuhr.
Der Fahrer des verbeulten Suzuki Wagon, ein arbeitsloser Kaufhausdetektiv, der für „Potzblitz-Pizza“ als freier Mitarbeiter auf Stücklohnbasis arbeitete, hatte Feierabend und befand sich auf dem Heimweg.
Er war gerade dabei auszurechnen, wie viel er heute mit seinen ausgelieferten zwölf normalen, sieben Familien- und vier Party-Pizzen verdient hatte, als das pinkfarbene Cabrio vor ihm plötzlich bremste. Seinem schnellen Reaktionsvermögen war es zu verdanken, dass nach einer Vollbremsung noch ein handbreiter Abstand zwischen den Stoßstangen blieb.
Der Pizzabote war sauer und wollte schon aussteigen, um dem schwulen Cabriofahrer von Angesicht zu Angesicht die Meinung zu geigen. Falls der Typ ihm blöd käme, überlegte er, könnte er ihm auch einen Nasenstüber verpassen oder, noch besser, mit dem Flaschenöffner, den er in der Tasche seiner Cargohose immer bei sich trug, ein nettes Phallus-Symbol in den Lack des Angeber-Autos kratzen.
Doch als er sah, dass der Kerl, der am Steuer saß, ihm mit dem linken Arm winkend zu verstehen gab, er solle einfach weiterfahren, und er außerdem den Eindruck hatte, das Ding, das der Typ beim Winken in der Hand hielt, wie eine Pistole aussehe, überlegte er es sich anders.
Er setzte ruckartig zurück, schaltete krachend in den ersten Gang und gab Gas. Während er an dem Cabriolet mit der unmöglichen Farbe vorbeisauste, versuchte er zu ergründen, warum die Mafia-Bosse oder Chefs einer anderen Gang der organisierten Kriminalität es heutzutage zuließen, dass man als warmer Bruder und noch dazu mit solch einem schwulen Auto für sie arbeiten durfte.
Existierten denn in einer ehrenwerten Gesellschaft überhaupt gar keine Anstands- und Outfit-Regeln mehr, fragte sich der Pizzabote und schaltete das Autoradio ein. Zu den wenig erbaulichen Klängen von „Mad World“ gab er sich selbst halblaut die Antwort: „Anscheinend nicht.“
44.
Inspektor Treiber freute sich wie ein Schneekönig, dass der Fahrer des Pizzataxis auf das deutliche Signal, das er ihm mit seiner Dienstpistole gebeten hatte, gleich erkannt und umnehmend das Weite gesucht hatte.
Um ein Haar hätte der Blödmann Helgas Wagen gerammt, dachte er – und war natürlich froh, dass es nicht soweit gekommen war. Wie hätte er seiner Frau ein eingedrücktes Heck ihres geliebten rosa Schlittens bloß erklären sollen?
Nicht auszudenken, dachte Treiber, wie Hannelore auf solch ein Malheur reagieren würde. Vielleicht wäre sie ja so sauer auf mich, dass sie von mir verlangt, in die Garage zu ziehen. Oder sie würde den Wäschedienst fristlos kündigen und sich weigern, mir zu erklären, wie die Waschmaschine funktioniert.
Eigentlich habe ich ja noch mal Glück gehabt, dachte der Inspektor und parkte Helgas Cabrio in der Feuerwehrzufahrt. Er steckte seine Dienstwaffe in den Bund seiner Feincordhose, stieg aus und ging die paar Meter bis zur Tür des Hauses mit der Nummer 69.
Wie er erwartet hatte, handelte es sich bei dem Türschloss um ein uraltes Fabrikat, das ihm keinen großen Widerstand entgegen bringen würde. Gottseidank habe ich erst vor ein paar Wochen den Online-Fortbildungskurs „Sesam öffne dich“ absolviert, dachte er und zog die Stricknadel, die er aus Helgas Nähkörbchen genommen hatte, aus der Gesäßtasche.
Treiber konnte sich noch genau daran erinnern, wie ein Einbruchs-Spezialist des Landeskriminalamtes im Kurs eine Methode gezeigt hatte, mit der man spielend leicht ältere Türschlosser öffnen konnte und dazu nur eine Stricknadel benötigte. Deshalb machte er sich jetzt voller Optimismus ans Werk.
Beim ersten Versuch brach ihm der vordere Teil der Nadel ab. Doch das war anscheinend sein Glück, denn mit dem Rest der Stricknadel gelang es ihm dann recht schnell, das Schloss zu knacken. Allerdings wäre er nicht in der Lage gewesen, jemandem zu erklären, wie er dieses Kunststück fertiggebracht hatte.
Auf müden Beinen durchquerte Treiber den Hausflur, in dem es nach kalten Bratkartoffeln und feuchten Wollsocken roch. Er fühlte sich, als hätte er acht Runden lang einen erbitterten Boxkampf geführt und befürchte, in der nächsten Runde von seinem zähen Gegner auf die Bretter geschickt zu werden.
Hinter den Briefkästen entdeckte er eine Tür. Die führt bestimmt in den Keller, dachte er, öffnete sie und sah, dass er richtig lag.
Wäre er noch ein paar Meter weiter gegangen und hätte nach links geschaut, wäre ihm eine weitere Tür aufgefallen, die Aufzugtür, von der bereits teilweise der rotbraune Lack abgeblättert war. Höchstwahrscheinlich hätte sich der erschöpfte Inspektor dann dafür entschieden, das Risiko einzugehen, mit dem vielleicht vor Jahrzehnten das letzte Mal gewarteten Lift eine Etage tiefer zu fahren.
Vorsichtig stieg Treiber die schmalen Stufen der Kellertreppe hinab. Unten angekommen durchquerte er einen mittelgroßen Raum, an dessen rechter Wand sich ein gutes Dutzend Stromzählerkästen aneinanderreihte, und stieß auf eine Eisentür.
Die Tür war nicht verschlossen, er öffnete sie und und fand sich in einem langen Gang mit kleineren Kellerräumen auf beiden Seiten wieder. Treiber fiel auf , dass die Türen der Räume alle aus einer Art hölzernem Gitter bestanden. Wahrscheinlich sind sie uralt, dachte er.
Er hatte jetzt fast das Ende des nur sehr schwach erleuchteten Ganges erreicht. Plötzlich ging es nicht weiter. Vor ihm türmte sich ein regelrechter Müllberg auf.
Als sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, erkannte er ein Sammelsurium aus Zeitungen, zerdrückten Pappkartons, rostigen Eisenstangen, Motorteilen, Autoreifen, Blechkanistern und Holzbrettern. Es sah so aus, als seien hier schwer beladene, bis zur Decke aufeinander gestapelte Kisten und Pappkartons umgestürzt.
Treiber war irritiert. Er hatte erwartet, hier im Keller eine Tür vorzufinden, die nach draußen in den Hinterhof führte. Doch die einzigen Türen, die er bislang zu Gesicht bekommen hatte, waren mit Holzgittern versehen und führten in die kleinen, gleichmäßig abgeteilten Räume auf beiden Seiten des Ganges. Und von diesen Räumen aus geht es nie und nimmer in den Hinterhof, dachte er.
Ratlos stand er vor dem Papier- und Schrotthaufen. Da drang ein dröhnender Schlag an seine Ohren. Und noch einer. Und ein dritter, diesmal klang es, als würde Holz splittern. Und wieder einer. Die Geräusche schienen mitten aus dem Müllhaufen zu kommen.
Während weitere Schläge ertönten, diesmal von etwas längeren Pausen unterbrochen, ging dem Inspektor ein Licht auf. Die Tür, die er suchte, befand sich genau hinter den umgestürzten Kisten, und irgendjemand schien von außen an diese Tür zu hämmern. Dem Klang nach zu urteilen benutzte dieser Jemand einen schweren Gegenstand.
Treiber war auf einmal völlig aufgeregt. War es möglich, dass Klimakowski sich von seinen Fesseln befreit hatte und versuchte, ins Haus zu gelangen?
Es wäre durchaus typisch für Lausig, dachte er, dass er beim Fesseln des Kerls schlampig vorgegangen ist. Andererseits macht es wenig Sinn, dass der Bombenleger, nachdem er seine Fesseln gelöst hat, sich unbedingt Zugang zum Keller verschaffen will – und das noch dazu mit Gewalt und äußerst lautstark.
Und wenn es gar nicht Klimakowski ist? Treiber war verwirrt. Es nutzt nichts, dachte er, ich muss es herausfinden. Er sah ein, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als den Müll beiseite zu räumen, um an die Tür zu gelangen.
Und während er den ersten, noch halbwegs intakten Karton mit vergilbten Zeitungen hochhob und damit den Müllberg in Bewegung brachte, wurde ihm bewusst, dass die dröhnenden Schläge aufgehört hatten.
Etwas Schweres fiel Treiber schmerzhaft auf den Fuß. Fassungslos erkannt er, dass es sich um eine verbogene Kurbelwelle handelte. Warum entsorgt man so ein Ding nicht auf dem Schrottplatz oder bringt es zum Wertstoffhof, fragte er sich – und wusste natürlich selbst die Antwort. So eine faule, asoziale Bande, entfuhr es ihm.
Der Inspektor hoffte, dass er sich nur nur eine Prellung zugezogen hatte. Da hab’ ich vielleicht noch einmal Glück gehabt, dachte er und schluckte seinen Zorn herunter.
Er versuchte, den pochenden Schmerz im Mittelfuß zu ignorieren, und wühlte sich weiter durch. Dabei stieß er einen Kanister um, dessen Verschlusskappe nur lose aufgesetzt war, und ein Schwall stinkender Flüssigkeit ergoss sich auf seine Schuhe und Hosenbeine.
Treiber fluchte und rümpfte angewidert die Nase. Das Zeug riecht wie das Backofenreiniger-Spray, das Helga manchmal benutzte, dachte er.
Schwitzend arbeitete Treiber sich weiter vor und räumte so viel Müll zur Seite, bis er ein Stück der Tür erkennen konnte. Er war heilfroh, sich nicht geirrt zu haben. Es dauerte nun nicht mehr lange, dann hatte er genügend Freiraum geschaffen, um die Holztür öffnen zu können.
Das mitten in der stabil wirkenden Tür ein großes Loch klaffte und Holzsplitter den Boden bedeckten, wunderte den Inspektor nicht, er hatte sich schon den richtigen Reim auf die lauten Schläge gemacht.
Er war darauf gefasst, dass die Tür verschlossen war und er erneut seine jüngst erlernten Fertigkeiten anwenden musste, doch als er die Klinge herunter drückte, ließ sich die Tür öffnen.
Als er in den Hof hinaustrat, die Dienstwaffe vorsichtshalber aus dem Hosenbund gezogen und entsichert, wäre der Inspektor fast über einen Körper gestolpert, der auf dem Boden lag. Da mittlerweile in vielen Räumen, die Fenster zum Hinterhof hatten, das Licht eingeschaltet worden war, konnte der Inspektor mühelos erkennen, dass es sich bei der reglos vor seinen Füßen liegenden Person um eine alte Frau handelte.
Treiber war völlig verwirrt. Er hatte damit gerechnet, Klimakowski hier vorzufinden, entweder gefesselt oder von seinen Fesseln befreit im Hof herumspringend, einen Vorschlaghammer oder eine Axt schwingend. Doch da lag jetzt diese alte Frau. Treiber fragte sich, ob sie überhaupt noch lebte.
Er kniete sich neben die Seniorin, fühlte ihren Puls und stellte fest, dass die Frau mausetot war. Sein Blick fiel auf etwas, das ihre rechte Hand noch im Tod fest umklammert hielt. Das Ding sah aus wie ein Nudelholz, allerdings schien es nicht aus Holz zu sein, sonder eher aus Stein.
Sollte etwa diese Greisin, fragte sich der Inspektor, bevor sie sich in die ewigen Jagdgründe verabschiedet hatte, mit diesem Nudelholz auf die Kellertür eingeschlagen haben? Er konnte es kaum glauben.
45.
Während Treiber ratlos neben der Leiche stand, waren mindestens ein Dutzend Augenpaare hinter hell erleuchteten Fenstern auf ihn gerichtet.
Einige Mieter, die am nächsten Morgen sehr früh aufstehen mussten, waren vom Lärm der Schläge aus dem Schlaf gerissen worden, andere, die sich per Streaming-Dienst einen Film oder eine Serien-Folge auf ihrem Smart-TV anschauten, fühlten sich von den lauten Geräuschen gestört.
Jetzt standen sie am Fenster und glotzten hinaus, aus reiner Neugier, aus Empörung oder, als sie merkten, dass da unten vielleicht etwas Ungesetzliches oder gar Gewalttätiges vor sich ging, aus Sensationsgeilheit – und vielleicht auch auch aus Furcht.
Der Ängstlichste von ihnen war Konrad Geistwein, ein frühpensionierter Berufsschullehrer, der unter Bluthochdruck und einer Hopfenallergie litt.
Seit über einem Jahr hatte er seine Wohnung nicht mehr verlassen, weil er befürchtete, gekidnappt zu werden und sicher war, sein steinreicher, aber geiziger Sohn würde niemals das von den Entführern geforderte Lösegeld für ihn zahlen.
Die dröhnenden Schläge drangen an Geistweins Ohren, als der fromme Ex-Lehrer gerade im Schlafzimmer vor seinem selbstgebauten Marien-Altar kniete und das Nachtgebet sprach. Ein Blick aus dem Fenster genügte ihm, um zu erkennen, dass da unten im Hof Satan persönlich sein Unwesen trieb. Sofort sprintete er ins Wohnzimmer, schnappte sich das Telefon und wählte die Nummer des Polizeinotrufs.
Seine atemlos vorgetragenen, eindringlichen und äußerst drastischen Schilderungen machten einen gehörigen Eindruck auf den Beamten am anderen Ende der Leitung. Nachdem der Polizeiobermeister auf seinem Notizblock unter dem Namen und der Adresse des Anrufers die Begriffe „Vergewaltigung“, „Messerstecherei“, „Schießerei“ sowie „viele Tote und Schwerverletzte“ notiert hatte, sah er keine andere Möglichkeit, als sofort einen Einsatzwagen loszuschicken und den Kollegen zu empfehlen, schwere Artillerie mitzunehmen.
46.
Treiber bekam nicht mit, dass er unter Beobachtung stand. Ihm war gerade Klimakowski eingefallen. Während er sich fragte, ob der angeblich von Lausig gefesselte Terrorbomber überhaupt noch hier im Hinterhof war, kämpfte er sich durch ein dichtes Gebüsch, das den schmalen Raum vor der Kellertür vom offenen Hof trennte.
Nachdem er ein paar Kletten von seiner Jeansweste entfernt hatte, entdeckte er eine Gestalt, die in etwa zehn Metern Entfernung auf dem Betonboden lag.
Treiber Herz schlug wie wild. Vorsichtig näherte er sich dem reglos im Dreck liegenden Menschen, die Pistole schussbereit in der Hand. Er war sicher, dass es sich nur um den Bombenleger handeln konnte.
Klimakowski, du Wahnsinniger, dachte er, jetzt habe ich dich endlich, doch seine Euphorie wurde sofort gebremst, als er sah, in welchem Zustand sich der Kopf des Verbrechers befand – ein Zustand, der eindeutig darauf hinwies, dass dem Mann nicht mehr zu helfen war.
Wirklich jammerschade, dachte der Inspektor, ich hätte den Kerl nur zu gern lebend im Präsidium abgeliefert, zumindest gerade noch so lebend.
Wegen des völlig zerstörten Gesichtes war es für Treiber allerdings nicht möglich zu erkennen, ob es sich bei dem Mann wirklich um Klimakowski handelte. Trotzdem hielt der Inspektor den Gesichtslosen für den kriminellen Elektrotechnik-Studenten, denn der Tote war, wie er jetzt feststellte, an Händen und Füßen gefesselt.
Diese Tatsache jagte Treiber einen gehörigen Schrecken ein, und so entging ihm, dass im Hinterhof der unverwechselbare Sound eines Martinshorns zu hören war, eine nicht von jedem willkommen geheißene Musik, die von Sekunde zu Sekunde lauter erklang, so dass die Gaffer an den Fenstern ihre fettigen Nasen noch fester an die Scheiben drückten und sich die Hälse verrenkten, um ja nichts zu verpassen.
Für die sensationslüsternen Mieter deutete alles darauf hin, dass es bald zum Showdown kommen würde, und nicht wenige erwarteten eine heiße Ballerei.
Währenddessen stand Treiber schockstarr vor dem Mann, dem nicht nur der Schädel eingeschlagen worden war, sondern dem man auch das Gesicht zermatscht hatte,. Und weil der Inspektor diesen gefesselten, übel zugerichteten Kerl für Klimakowski hielt, war es für ihn nur logisch, dass nur sein Assistent für den Zustand des Bombenlegers verantwortlich sein konnte.
Aber warum um Himmmelswillen, fragte er sich, hatte Lausig das nur getan? Treiber war fassungslos und hatte keine Ahnung, was er jetzt machen solle.
In diesem Moment brüllte hinter ihm jemand in barschem Feldwebelton „Polizei, Waffe fallen lassen und Hände über den Kopf“. Treiber zuckte zusammen, drehte sich dann aber langsam um, die Pistole immer noch in der rechten Hand haltend, die Mündung auf den Boden gerichtet.
Er sah, wie ein uniformierter Polizist, der vor dem Gebüsch stand, die Waffe auf ihn richtete und, fast schon hysterisch, schrie „Sofort die Waffe weg und die Hände hoch, und nicht mehr bewegen“.
Während Treiber die Pistole fallen ließ und die Arme in die Höhe streckte, registrierte er, dass sich das dichte Buschwerk bewegte und einen zweiten Uniformierten ausspuckte, der über eine Wurzel stolperte und fast stürzte.
Wieder im Gleichgewicht richtete auch Nummer Zwei seine Waffe auf ihn, allerdings bemerkte der Inspektor, dass die Hand des noch sehr jung aussehenden Schutzpolizisten zitterte und er ein hochrotes Gesicht hatte.
„Nicht schießen, Jungs“, sagte Treiber ruhig, „ihr könnt eure Kanonen wieder einstecken. Ich bin Inspektor Treiber von der Mordkommission, und ihr haltet mich gerade davon ab, einen Tatort zu sichern und einen Terroristen festzunehmen. Es wäre am besten, wenn ihr einfach wieder auf Streife geht und Verkehrssünder verfolgt oder in Pornokinos Ausweise kontrolliert und die Minderjährigen heim zu Mama und Papa schickt.“
Der ältere Polizist hatte plötzlich ein süffisantes Grinsen ihm Gesicht. „Ein Inspektor von der Kripo, soso“, sagte er in spöttischem Ton, „ich glaube, du tischst mir hier ein schönes Märchen auf. Aber wenn du wirklich ein Kollege bist, dann zeig mir doch einmal deinen Dienstausweis. Dafür darfst du deine Hände natürlich wieder runter nehmen, aber alles ganz langsam und keine plötzlichen Bewegungen, denn mein Finger am Abzug ist äußerst sensibel.“
In Zeitlupentempo senkte der Inspektor seine Arme. Mit der rechten Hand wollte er seinen Dienstausweis aus der Innentasche des Sakkos holen, doch da er eine Jeansweste trug, die über keine derartige Tasche verfügte, wurde ihm klar, dass er den Ausweis zu Hause gelassen und jetzt ein Problem hatte.
„Ich befürchte, ich hab meinen Dienstausweis bei er wilden Verfolgung des Mörders verloren“, sagte er zu dem Uniformierten, der seine Waffe um keinen Millimeter gesenkt hatte.
„Das ist möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich“, entgegnete der Polizist sichtlich amüsiert, „und deshalb werden wir dir jetzt erst einmal Handschellen anlegen, und auf dem Weg ins Präsidium kannst du uns ja erzählen, was es mit der alten Frau auf sich hat, die mausetot vor der Kellertür liegt. Und vielleicht erfahren wir auch, warum du dich überhaupt zu dieser späten Stunde in diesem gottverlassenen Hinterhof rumtreibst.“
Treiber war stinksauer. „Ihr macht gerade einen großen Fehler, Kollegen, das wird euch noch mal leid tun“, fuhr er die Uniformierten an. „Und übrigens, falls ihr es noch nicht bemerkt haben solltet, da hinten liegt noch ein Opfer des Terroristen, der mir jetzt wahrscheinlich nur wegen euch entwischt ist.“
Jetzt musste auch der Nachwuchspolizist grinsen, während das überhebliche Lächeln aus dem Gesicht des Seniors verschwand und einem ärgerlichem Ausdruck Platz machte.
„Leg dem Kerl ganz schnell Handschellen an, Kevin“, zischte er seinem Kollegen zu, und – an Treiber gewandt – „und dann werden wir uns mal anschauen, wen du noch auf dem Gewissen hast. Jetzt aber die Hände auf den Rücken, und zwar dalli“.
Der Inspektor dachte nicht daran, dieser Aufforderung Folge zu leisten, rief den Polizisten „ihr blöden Arschgesichter“ zu, machte mit seinem rechten Mittelfinger eine eindeutige Geste in Richtung der beiden und spuckte dem Senior-Sheriff vor die Füße.
Obwohl die beiden Beamten erst seit einem Vierteljahr zusammen arbeiteten, funktionierte ihre non verbale Kommunikation ausgezeichnet. Ein kurzer Blickkontakt und ein leichtes, gegenseitiges Zunicken genügten, um zu wissen, was jetzt zu tun sei. Was sie dann taten, erwies sich für den Inspektor als recht schmerzhaft.
47.
Die Gaffer hinter den Fenstern waren enttäuscht. Zwar hatten sie gesehen, wie zwei Polizisten in Uniform einem merkwürdig gekleideten Typen, wahrscheinlich dem Mörder, ein paar Ohrfeigen verpasst, ihm ihre Gummiknüppel in die Kniebeugen geschlagen und ihm dann, während er stöhnend im Dreck lag, Handschellen angelegt hatten, aber es war kein einziger Schuss gefallen, und der Verhaftete hatte sich auch überhaupt nicht zur Wehr gesetzt oder wenigstens einen Fluchtversuch unternommen.
Wie ein erlegtes Beutetier hatte er sich von den Uniformierten durch die Büsche ziehen und, vorbei an der reglos auf dem Boden liegenden, höchstwahrscheinlich ermordeten alten Dame, unsanft durch die Kellertür stoßen lassen.
Dann war die ganze Sache auch schon vorbei – und die andere Leiche lag weiterhin mutterseelenallein in der Mitte des Hofes und hatte bereits das Interesse einer hungrigen Krähe geweckt.
Wie langweilig, da ist ja jeder ZDF-Krimi spannender, dachte Helga Abendsommer, eine 26-jährige Stangentänzerin, die erst vor zwei Tagen ihren Job in der „Pretty Flamingo Pole Dance Bar“ gekündigt hatte, um in zwei Wochen ein viel besser bezahltes Engagement auf dem Luxus-Kreuzfahrtschiff „Kaiser Wilhelm II“ anzutreten.
Ihre Aufgabe würde es sein, während der mitternächtlichen Pool-Parties, zu der ausschließlich Passagiere der Rolex-Klasse geladen waren, als Goldfinger-Girl den sich im Becken tummelnden Gästen Champagner nachzuschenken sowie betagten und gebrechlichen Herren aus ihren Bademänteln zu helfen und ihnen, falls gewünscht, nach dem Planschvergnügen in der Umkleidekabine zur Hand zu gehen.
Nachdem Senior und Junior den widerspenstigen Inspektor, dessen Gesicht von Wildrosendornen zerkratzt war, die Kellertreppe hinauf gezerrt und durch den Flur geschleift hatten, ließ sich der vermeintliche Mörder vor der Haustür auf dieSteinfließen fallen und plärrte: „Ich gehe keinen Schritt weiter, ihr müsst mich schon tragen, ihr verdammten Hurensöhne.“
Dir sensiblen Polizeibeamten fassten dies als Beleidigung auf und reagierten, indem sie Treiber an den großen Segelohren packten und seinen Hinterkopf mehrmals auf den harten Steinboden schlugen, bis dessen Hirn auf Pausenfunktion schaltete.
Während die Uniformierten ihren bewusstlosen Gefangenen auf den Rücksitz ihres Streifenwagens bugsierten, fragte sich ein leicht schwankender Finanzbeamter, der in seiner Stammkneipe „Zum feuchten Eck“ einen Absacker zu viel getrunken hatte und sich auf dem Heimweg befand, ob schlecht bezahlte Polizeibeamte im mittleren Dienst mittlerweile auch für den Leichentransport zuständig waren.
Demnächst müssen die armen Schweine vielleicht ja auch noch in Notwehr erschossene Geldautomatenknacker und durch einen Querschläger versehentlich tödlich getroffene Eisverkäufer selbst beerdigen und die Grabrede halten, dachte er und rief den Polizisten im Vorbeischlurfen ein leicht vernuscheltes „Schönen guten Abend“ zu, bevor er sich wieder auf die gefährlichen Laternenpfähle und die tückische Bordsteigkante konzentrierte.
Die Polizeibeamten achteten nicht auf den späten Zecher, sie widmeten ihre ganze Aufmerksamkeit den jetzt vordringlich zu erledigenden Aufgaben.
Senior versuchte per Diensthandy, die spielsüchtige Truppe von der Kripo-Spurensicherung zu bewegen, ihre Konsolen abzuschalten, sich schleunigst in ihren klapprigen VW-Bus zu setzen und hierher zu brausen, um im Hinterhof eine Frauenleiche und eine weitere eventuell verstorbene Person unbekannten Geschlechts und Alters näher unter die Lupe zu nehmen. Sie sollten nicht wieder vergessen, ihre Digitalkameras mitzunehmen, gab er ihnen noch mit auf den Weg.
Doch der Leiter der Spürhunde, ein passionierter Jäger, der von seinen Kollegen nur Mr. Boone genannt wurde, gab Senior am Telefon unmissverständlich zu verstehen, dass er sich von einem einfachen Streifenpolizisten keine Aufträge erteilen lasse, worauf dieser wütend sein Smartphone gegen das Seitenfenster schlug und auf dem Glas ein Gebilde feiner Risse erzeugte, das an ein Spinnennetz erinnerte.
Derweil war Junior damit beschäftigt, dem auf der Rückbank liegenden angeblichen Kripo-Kollegen ein Jutesäckchen über den Kopf zu ziehen, damit die erst kürzlich gereinigten Polster nicht beschmutzt würden, falls dem Kerl wegen seines lädierten Schädels schlecht werden würde und er sich erbrechen müsste. Sicherheitshalber wickelte er noch eine Warnweste um den Kopf im Sack.
Weil Senior auf der Fahrt ins Präsidium ordentlich Gas gab und der aus seiner Bewusstlosigkeit erwachte Inspektor hin und her geschleudert und durchgeschüttelt wurde, konnte dieser in der Tat den Inhalt seines Magens nicht bei sich behalten.
Es grenzte an ein Wunder, dass Treiber nicht erstickte, doch sein nicht zu überhörendes Röcheln und Würgen sowie die verzweifelten, gurgelnden Atemversuche ließen die Polizisten kalt.
Was sie störte, war der üble Geruch, der sich im Wagen verbreitete. Zudem machten sie sich Sorgen, der doppelte Kopfschutz, dem sie dem falschen Kripomann verpasst hatten, sei vielleicht nicht dicht genug.
Als die Polizisten etwa die halbe Strecke bis zum Präsidium in einem Mordstempo zurückgelegt hatten, beschloss Senior, per Funk die Kollegen darüber zu informieren, dass sie einen dicken Fisch gefangen hätten und ihn bald abliefern würden.
„In ungefähr zehn Minuten sind wir da“, verkündete stolz, „das Empfangskomitee soll sich schon mal auf den Gangster des Jahres vorbereiten, die Sträflingskleidung frisch gebügelt zurecht legen und den frisch aufgeladenen Elektroschocker in den Verhörraum legen.“
Und er konnte es nicht lassen, noch hinzuzufügen: „Das ausgerechnet wir Straßen-Cops wieder mal die Arbeit der Kripo machen mussten, war ja klar. Aber diese hochnäsigen Typen haben halt nicht den Mumm, sich in die Höhle des Löwen zu wagen und ihren Job zu erledigen ,wenn es mal brenzlig wird und sie sich ein paar blaue Flecken holen könnten.“
Der junge Kollege im Präsidium, der Nachtschichten hasste und den seit Tagen ein unangenehm juckender Ausschlag in den rasierten Achselhöhlen plagte, konnte die alte Leier von den faulen, unfähigen Kollegen in Zivil schon lange nicht mehr hören. Er gähnte ausgiebig und meinte dann in schläfrigem Ton: „Okay, du Held, aber verrate mir doch bitte mal, weshalb ihr diesen oberbösen Buben eigentlich festgenommen habt.“
„Das kann ich dir genau sagen, werter Kollege“, antwortete Senior, jetzt ein bisschen genervt, während er wieder das Martinshorn einschaltete und bei Rot über eine Kreuzung raste. „Wegen Beamtenbeleidigung, Trunkenheit, Erregung öffentlichen Ärgernisses, unerlaubten Waffenbesitzes, Hochstapelei und Widerstands gegen die Staatsgewalt. Außerdem steht er unter dringendem Mordverdacht“.
Weil von seinem Funkpartner nicht gleich eine Reaktion kam, wahrscheinlich hatte die geballte Aufzählung der Delikte ihm die Sprache verschlagen, nutzte Senior die Gelegenheit, noch ein paar Wünsche zu äußern – Wünsche, die eher wie Befehle klangen.
Man solle den stinkenden, besoffenen Verbrecher am besten draußen im Hof unbekleidet mit dem Wasserschlauch abspritzen und ihn dann in die Ausnüchterungszelle stecken. Vorher aber müssten ihm die besudelte Warnweste und der eklige Sack vom Kopf entfernt werden, das könne am besten der junge Spargeltarzan erledigen, der letzte Woche angefangen habe.
„Das ist doch genau die richtige Aufgabe für einen Frischling“, meinte Senior grinsend, „da kann er früh genug lernen, dass Polizeiarbeit kein reines Zuckerschlecken ist und man sich ab und zu auch mal die Hände schmutzig machen muss.“
Der Kollege am anderen Ende der Polizeifunk-Verbindung fand, dass jetzt der ideale Zeitpunkt gekommen war, um sich einen Kaffee zu holen, und sagte: „Alles klar Herr Kommissar, over and out.“ Dann drückte er die Stop-Taste.
48.
Klimakowski hatte fast das kleine Gässchen erreicht, von dem aus er relativ unbemerkt in den Hinterhof schlüpfen konnte, als er eine Polizeisirene hörte. Der Streifenwagen schien nicht weit entfernt zu sein und hatte wohl sein Ziel erreicht, denn das durchdringende Geräusch änderte seine Richtung nicht mehr.
Klimakowski schätzte, dass der Einsatzwagen höchstens zwei Straßen weiter stehen geblieben war. Wenn er die Richtung, aus der das immer noch heulende Martinshorn erklang, berücksichtigte, hielt er es für möglich, dass die Polizisten in der Kleinodstraße angehalten hatten.
Dieser Gedanke beunruhigte ihn, deshalb drehte er um. Ich muss der Sache auf den Grund gehen, dachte er, und herausfinden, was die Bullen vorhaben, wenn sie sich wirklich in meiner Straße herumtreiben.
Einige Minuten später hockte er auf der gegenüberliegenden Straßenseite hinter einem am Laternenpfahl befestigten Wahlplakat der „Liberalen Jünger Jesu“ und beobachtete, wie zwei Polizisten einen Mann aus der Eingangstür seines Wohnhauses schleppten und ihn unsanft auf der hinteren Sitzbank ihres Dienstwagens verstauten.
Er hatte keine Ahnung, wer dieser Typ war und was die Aktion bedeutete, doch sein Bauchgefühl sagte ihm, dass es allerhöchste Zeit sei, eine Biege zu machen.
Allerdings brauchte er unbedingt seine Reisetasche, in die er bereits alles Wichtige gepackt hatte, was er für seinen Trip über die Grenze benötigte: genügend Bargeld für die ersten Wochen, sein himmelblauer Frottee-Schlafanzug, ein abgegriffenes Exemplar seines Lieblingsromans, „Der Mann mit der Ledertasche“ von Charles Bukowski, ein Sarazenendolch, den er vor Jahren bei einem Besuch im Archäologischen Museum von Granada hatte mitgehen lassen, sowie ein kleiner Bilderrahmen mit einem Porträt-Foto von Klodwig.
Bei dem Gedanken an seinen Lebenspartner wurde Klemens Klimakowski von einem plötzlichen Abschiedschmerz übermannt, und während er dabei zusah, wie die Polizisten ihren auf der Rückback liegenden Passagier aufrichteten, ihm irgendetwas über den Kopf zogen und noch etwas anderes, Knallgelbes darüber wickelten, kullerten ein paar Tränen über seine unrasierten Wangen, und er spürte einen dicken Kloß im Hals.
Auf einmal wurde Klimakowski von einer schrecklichen Angst erfüllt. Könnte es sich bei dem Mann, mit dem die Bullen so grob umgingen und der jetzt, den Kopf doppelt umhüllt, auf der Rücksitzbank leblos zusammengesunken war, etwa um seinen geliebten Klodwig handeln?
In seinem Kopf schwirrte und summte es vor möglichen Erklärungen. Falls es wirklich sein Liebhaber war, den sie einkassiert hatten, überlegte er, dann war es den Beamten wahrscheinlich gelungen, herauszufinden, wer hinter den Anschlägen steckte und wo er wohnte. Damit wäre ich also entlarvt, dachte er.
Beim Versuch, mich zu Hause zu verhaften, setzte er den Gedanken fort, haben sie allerdings nicht mich angetroffen, sondern Klodwig, und den armen Kerl dann als möglichen Mittäter oder zumindest Mitwisser verhaftet, um ihm im Präsidium die Daumenschrauben anzulegen und alles aus ihm herauszupressen, was er wüsste.
Eine andere Möglichkeit wäre es, überlegte Klimakowski, dass die Bullen Klodwig für ihn hielten, in ihm also den gesuchten, verhassten Bombenleger sahen, der es verdiente, rau angepackt zu werden.
Klimakowski war klar, dass – egal, welche Variante jetzt der Wirklichkeit entsprach – es immer einer Katastrophe gleichkam, falls der Mann im Fond des Polizeiautos wirklich Klodwig war.
Würde sein Freund streng verhört werden, dachte er, wäre es nur eine Frage von Minuten, bis die Polizei die Gewissheit hätte, dass der Mann, der hinter der Gelben Armee Fraktion steckte, wirklich Klemens Klimakowski hieß – und dass es keine Mittäter gab. Und dann wäre er auch in Budapest nicht mehr sicher.
Falls die Bullen allerdings glauben sollten oder es zumindest für möglich hielten, der Geschasste sei er selbst, dann, so befürchtete Klimakowsi, würden sie ohne weiteres Mittel und Wege finden, Klodwig die Anschläge in die Schuhe zu schieben, um ihn für den Rest seines Leben in ein gemütliches Hochsicherheitsgefängnis zu stecken.
Was ihn allerdings irritierte, war die Tatsache, dass nicht ein ganzes Rudel Greifer von der Kripo oder ein komplettes Sondereinsatzkommando in schusssicheren Westen mit Sturmgewehren und Blendgranaten aufgetaucht war, um einen blutrünstigen Terroristen aus dem Verkehr zu ziehen, sondern hier lediglich zwei ganz normale Streifenpolizisten zu Werke gingen, und das höchstwahrscheinlich rechtlich nicht ganz einwandfrei.
Klimakowski wusste nicht mehr , was er glauben sollte. Doch als er bemerkte, dass der jüngere der beiden Streifenbullen seine halb gerauchte Zigarette mit dem Absatz seines Funktionsschuhes auf dem Bürgersteigpflaster austrat, auf der Beifahrerseite des Streifenwagen einstieg und sich den Sicherheitsgurt anlegte, wurde ihm klar, dass die Polypen drauf und dran waren, mit ihrer Beute abzubrausen.
Er sah nur eine Möglichkeit. Er musste unbedingt verhindern, dass sie mit Klodwig das Präsidium erreichten. Und er hatte auch schon einen Plan.
49.
Klimakowski hatte seinen Roller nur ein paar Straßen weiter vor einem Tattoo-Studio abgestellt. Er wusste, dass sich nur dann eine Chance bot, den Polizeiwagen noch vor Erreichen des Präsidiums abzufangen, wenn er eine Abkürzung benutzte, die nur wenigen bekannt war –und wenn er sich beeilte. Deshalb rannte er so schnell er konnte durch die jetzt menschenleeren Straßen.
Am Tattooladen angelangt war er völlig außer Atem. Er betätigte den Kickstarter des Scooters, freute sich, dass der Motor sofort ansprang, setzte seinen Helm auf und fuhr los.
Die Route, die er sich ausgedachte hatte, führte durch eine Einbahnstraße, auf der er entgegen der vorgeschriebenen Fahrtrichtung viel schneller als erlaubt lang bretterte, durch einen kleinen Park mit sandigen Wegen sowie eine schmale, dunkle Gasse, deren Kopfsteinpflaster ihn auf seinem schlecht gefederten Roller ordentlich durchschüttelte.
Als er in die Bismarckallee einbog, eine ehemals noble Straße, in der sich vor stattlichen, jetzt aber meist verfallenen Villen aus dem späten neunzehnten Jahrhundert große, alte Linden und Kastanien in die Höhe reckten, war er sicher, dass die Polizisten auf ihrem Weg zum Präsidium auch hier entlang fahren würden.
Nach etwas zweihundert Metern bremste er abrupt ab und hielt vor der Einfahrt zu einem Villengrundstück, dessen Zugang von einem riesigen, verwitterten Eisentor gesichert wurde. Im Rückspiegel seines Rollers hatte er einen blauen, flackernden Lichtschein gesehen, und jetzt hörte er, wie sich der unverkennbare Sound eines Martinshorns näherte.
Erleichtert atmete Klimakowski ein paar Mal tief ein und aus. Bis hierhin hat mein Plan funktioniert, freute er sich, die Bullen haben das Präsidium noch nicht erreicht, und dank meiner Abkürzung befinde ich jetzt vor ihnen.
Ihm war klar, dass er jetzt schnell handeln musste. Er hatte wahrscheinlich nur noch wenige Sekunden Zeit. Er stellte den Motor seiner Schwalbe ab, schob den Roller bis zur Straßenmitte, löste seine Hände vom Lenker, sprang zurück und ließ das Zweirad scheppernd auf die linke Seite fallen.
Während des Aufpralls brach die Halterung des Rückspiegels ab, und im gelbweißem Licht der in der Nähe stehenden Straßenlaterne konnte Klimakowski sehen, wie der verchromte Spiegel auf den Bürgersteig geschleudert wurde.
Er öffnete den Reißverschluss seiner Wildlederjacke, zog seine handliche Glock 43 aus der inneren Jackentasche, überprüfte, ob das Magazin vollständig geladen war, entsicherte die Pistole und steckte sie vorsichtig in den vorderen Hosenbund. Dann entfernte er sich vier Schritte von seinem Roller und legte sich auf die Straße.
In Seitenlage, die Beine leicht angewinkelt, hatte er seine linke Hand unter den Helm geschoben, während sein rechter Arm in leicht verdrehter Haltung ausgestreckt war.
Und dann waren sie da. Junior bemerkte als Erster den mitten auf der Straße liegenden Motorroller und rief seinem Partner zu: „Pass auf, da scheint’s einen Unfall gegeben zu haben.“ „Seh´ ich selbst“, antwortete Senior, drosselte das Tempo und bremste gemächlich ab, bis der Streifenwagen etwa zehn Meter vor dem Scooter zu stehen kam.
„Da liegt einer“, rief Junior aufgeregt und zeigte mit dem Finger auf eine Person, die einen schwarzen Integralhelm trug und vielleicht drei Meter neben dem Roller regungslos unweit der Bordsteinkante hingestreckt war.
„Ganz ruhig, Partner“, erwiderte Senior, „das ist bestimmt der Rollerfahrer, den hat’s halt aus dem Sattel gehauen, ist wahrscheinlich zu schnell gefahren und ins Schleudern geraten. Vielleicht ist er ja auch ausgerutscht. Hat bestimmt so ein alter Laster aus Rumänien wieder Öl verloren. Man sollte diese alten Karren aus dem Verkehr ziehen, und ihre korrupten Piloten gleich mit.“
„Und was machen wir jetzt?“, fragte Junior. Senior musste grinsen. „Du machst jetzt was, Partner. Und zwei steigst du aus, schaust nach, was mit dem Mofarocker los ist, und leistest, wenn es wirklich nötig sein sollte, Erste Hilfe.“
Junior protestierte. „Aber mein Erste-Hilfe-Kurs ist schon lange her, und als die letzte Auffrischung war, habe ich doch mit einer Mandelentzündung im Bett gelegen.“
Doch Senior kannte kein Pardon. „Jetzt quatsch nicht rum, Kollege, sonst gibt der Typ noch seinen Löffel ab, bevor du seinen Puls gefühlt hast. Los, nun gib schon Gas“.
Murrend öffnete Junior die Beifahrertür, stieg aus, ging zum Heck des Fahrzeugs, öffnete die Klappe, schnappte sich den Erste-Hilfe-Kasten und machte sich auf den Weg zum Unfallopfer.
Klimakowski hatte sich so hingelegt, dass er in Richtung des stehen geblieben Polizeiwagens schauen konnte. Mit einem halb geöffneten Auge erkannte er durch das Visier seines Helmes, dass einer der Polizisten ausgestiegen war, etwas auf dem Kofferraum holte und, das kastenähnliche Ding in der rechten Hand haltend, jetzt langsam auf ihn zu kam.
Er hatte sich entschieden, das Überraschungsmoment zu nutzen und keine Rücksicht auf die Ordnungshüter zu nehmen. Als der Polizist mit dem Kästchen vielleicht noch drei Meter von ihm entfernt war, sprang er auf, zückte gleichzeitig seine Waffe, zielte auf die Brust des Uniformierten und feuerte zwei Kugeln schnell hintereinander ab.
Das erste Geschoss durchschlug des Hals des Polizisten, so dass ein dünner Blutstrahl auf die Straße schoss. Das zweite 9-Millimeter-Projektil zertrümmerte den Erste-Hilfe-Kasten und zerfetzte die Hand, die ihn hielt.
Mit seiner linken Hand fasste sich Junior an den verletzten Hals, doch das aus der Wunde heraus spritzende Blut konnte er nicht stoppen. Ein paar Sekunden lang stand er noch schwankend und röchelnd auf der Straße, dann fiel er um.
Während Junior ausgestiegen war, hatte Senior dem stöhnenden und irgendetwas Unverständliches brabbelnden Gefangenen auf dem Rücksitz mit der großen Stabtaschenlampe ein paar Mal auf den Kopf geschlagen und gebrüllt, er solle endlich einmal still sein, um dann sein privates Smartphone aus der Hosentasche zu holen und seinem Kumpel vom Zoll per WhatsApp mitzuteilen, dass er morgen am späten Nachmittag vorbei käme, um die drei Kartons beschlagnahmten ukrainischen Wodka abzuholen und ihm den ausgeliehenen Pokerkoffer zurückzubringen.
Als er die Schüsse hörte, zuckte er zusammen, so dass sein Handy auf die mit Kekskrümeln und Kartoffelchips-Fragmenten bedeckte Velour-Fußmatte fiel. Durch die verschmierte Windschutzscheibe starrend sah er, wie sein junger Kollege, eine Hand an den Hals gepresst, umkippte und auf dem Asphalt aufschlug.
Mit Entsetzen stellte er fest, dass Junior, der verzweifelt versuchte, sich aufzurichten, keine rechte Hand mehr hatte. Der zerfledderte Ärmelbund seiner Uniformjacke war blutgetränkt.
Dann fiel Seniors Blick auf einen Mann, der ein paar Schritte hinter seinem sich auf dem Boden von Krämpfen geschüttelten Partner stand. Der Mann trug einen Motorradhelm und hielt eine Pistole in der Hand.
Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitzschlag: Das ist doch der verunglückte Rollerfahrer, der eben noch wie tot neben seinem Fahrzeug gelegen hat! Wir Idioten sind in eine Falle getappt.
Eine plötzliche aufkommende Wut bewirkte, dass Senior sich aus seiner Schockstarre lösen konnte. Er zog seine Dienstwaffe aus dem Holster, entsicherte sie, öffnete die Fahrertür bis zum Anschlag und hockte sich dahinter.
Er zählte bis drei, schnellte hoch und gab drei Schüsse in die Richtung ab, wo eben noch der Rollerfahrer gestanden hatte, doch der hatte sich mittlerweile neben den mittlerweile leblosen Junior auf die Straße gelegt und hielt seine kleine Pistole auf das Polizeifahrzeug gerichtet.
Senior erkannte die gefährliche Situation und duckte sich wieder hinter die vermeintlich sichere, stabile Autotür, doch er konnte nicht wissen, dass der Helmträger auf seine Schuhe zielte, die ungeschützt waren.
Die erste Kugel verfehlte knapp ihr Ziel und ließ Steinsplitter umherfliegen, doch das zweite Geschoss traf Seniors linken Fuß und zerstörte das Sprunggelenk. Der Polizist schrie auf und kippte zur Seite, so dass Kopf und Oberkörper sich jetzt im freien Schussfeld befanden..
Klimakowski sah seine Chance, sprang auf und machte, die Pistole im Anschlag, ein paar Schritte auf den verletzten, laut stöhnenden Polizisten zu. In seltsam gekrümmter Haltung hockte Senior auf dem Boden und streckte seinen rechten Arm aus, um an seine Pistole zu gelangen, die ihm, als die Kugel seinen Fuß erwischte hatte, aus der Hand gefallen war.
Seine zitternde Hand bekam die Waffe zu fassen, doch es war zu spät. Klimakowski stand jetzt zwei Meter vor ihm, und bevor es Senior gelang, den Arm zu heben und seine Waffe auf den Angreifer zu richten, jagte dieser ihm eine Kugel mitten zwischen die Augen.
50.
Während der Schießerei hatten mehrere in ihrer Nachtruhe gestörte Villenbesitzer die Polizei-Notrufnummer gewählt und versucht, die Ordnungshüter zu alarmieren, doch eine unterkühlte weiblich klingende Computerstimme hatte ihnen lediglich mitgeteilt, wegen eines Wechsels des Telefonanbieters und einer planmäßigen Überprüfung der Netzstärke könne es zu einer temporären Leistungsminderung kommen.
Allerdings war es einem hartnäckigen Oberstudienrat gelungen, bei der Hotline der Freiwilligen Feuerwehr durchzukommen und ein heißes Feuergefecht mit Motorrad-Rockern zum melden, worauf der Oberbrandmeister nicht nur einen ganzen Löschzug losgeschickt, sondern auch ein Fax an die Polizeiwache gesandt hatte, mit der Bitte, in Anbetracht heftigster Jugendkrawalle und brennender Zweiräder ihren Einsatz tatkräftig zu unterstützen und die riskanten Löscharbeiten mit schwer bewaffneten Kollegen zu sichern.
Aus diesen Grund hörte Klimakowski, während er den toten, übergewichtigen Polizisten an den Schulterklappen seiner Uniformjacke packte und den schweren Körper schnaufend vom Auto weg zum Straßenrand schleifte, wie sich aus allen Himmelsrichtungen der Sound von Martinshörnern näherte.
Eigentlich hatte er vorgehabt, den armen Klodwig, der regungslos auf der Rücksitzbank lag, von seiner Vermummung und den Handschellen zu befreien, und dann mit ihm auf dem Roller das Weite zu suchen, doch jetzt, wo anscheinend die Bullen der ganzen Stadt im Anmarsch waren und jede Sekunde hier eintreffen konnten, hielt er es für besser, sich schnellstens ans Steuer des Einsatzwagens zu setzen und Gas zu geben.
Er hatte bereits den ersten Gang eingelegt, da fiel ihm seine Reisetasche ein. Ohne die kann ich unmöglich die Biege machen, dachte er, schaltete wieder in den Leerlauf, sprang aus dem Auto und rannte los.
In der Eile sah er keine andere Möglichkeit, als das Wohnhaus durch die vordere Eingangstür zu betreten. Er hastete die Treppe hoch, spürte an jeder Haustür, an der er vorbei stürmte, wie er durch den Türspion argwöhnisch beobachtet wurde, brach beim Öffnen seiner Wohnungstür im vierten Stock fast den Schlüssel ab, schnappte sich die Tasche und war schon wieder auf dem Weg nach unten.
Als Klimakowski atemlos aus der Eingangstür im Erdgeschoss stürmte und auf den Polizeiwagen zulief, waren die Sirenen bereits so laut zu hören, dass er keine Sekunde mehr zu verlieren hatte. Um ein Haar wäre er über den am Bordsteinrand liegenden toten Polizisten gestolpert.
Er schleuderte die Reisetasche auf den Beifahrersitz und stieg ein. Bevor er losfuhr, drehte er sich noch einmal um und warf einen Blick auf seinen Freund. Erleichtert stellte er fest, dass Klodwig noch atmete. Er schien bewusstlos zu sein, aber Klimakowski konnte deutlich erkennen, dass sich der Brustkorb hob und senkte.
Während Klimakowski auf der Bismarck-Allee in Richtung Graf-von-Luckner-Ring brauste, bemerkte er im Rückspiegel das Blaulicht eines Polizeifahrzeugs. Vorsichtshalber bog er in eine kleine Nebenstraße ein und überlegte, wie er am besten zum Hauptbahnhof gelangen könnte, ohne dass ihm Einsatzwagen in die Quere kämen.
Da fiel ihm ein, dass er ja selbst in einem Polizeiauto saß, und er musste grinsen. Ich werde einfach das Blaulicht und die Sirene einschalten, dachte er, und habe so vielleicht die beste Chance, ohne Probleme den Bahnhof zu erreichen.
Es war ihm allerdings auch bewusst, dass, falls ihm ein Polizeiwagen entgegen kommen würde, die Beamten eventuell erkennen könnten, dass es nicht um einen ihrer Kollegen handelte, der am Steuer saß.
Klimakowski ärgerte sich, nicht eine der Mützen genommen und sich aufgesetzt zu haben, nachdem er die beiden Bullen aus dem Weg geräumt hatte. Doch das ist jetzt leider nicht mehr zu ändern, dachte er – und während sein immer noch gefesselter Freund im Fond des Wagens leise stöhnte und röchelnde Geräusche von sich gab, fiel ihm ein, wie er am schnellstens zum Hauptbahnhof gelangen könnte. Mit quietschen Reifen bog er links auf die Straße ab, die direkt zum Volksfestplatz führte.
Ihm war klar, dass die Einfahrt zu dem großen, umzäunten Platz, auf dem noch vor zwei Wochen zahlreiche Buden, Fahrgeschäfte und ein Bierzelt Vergnügungssüchtige angelockt hatte, von einer Schranke versperrt war, doch soweit er sich erinnern konnte, war diese Schranke nur ein recht dünnes, in geringer Höhe angebrachtes Rohr. Er zweifelte nicht daran, das er mit dem solide gebauten Polizei-SUV keine Mühe haben würde, mit dem nötigen Tempo dieses Hindernis zu durchbrechen.
Falls sich bei dieser Aktion um weit nach Mitternacht hier noch heimatlose Herumtreiber oder anderes lichtscheues Gesindel aufhalten sollten, überlegte er, so würde ihnen sicherlich ein mit eingeschalteten Blaulicht und Martinshorn auf dem leeren Rummelplatz herumrasendes Polizeiauto einen gehörigen Schrecken einjagen, so dass sie sich ganz schnell in die dunkelste Ecke verkriechen würden.
51.
Klimakowski hatte den Volksfestplatz erreicht. Er steuerte auf die unbeleuchtete Einfahrt zu und beschleunigte noch einmal. Krachend durchbrach der Wagen die Schranke, und während sich der Sicherheitsgurt beim Aufprall ruckartig und schmerzhaft in Klimakowskis Brustkorb grub, so dass er befürchtete, sich ein paar Rippen verletzt zu haben, wurde sein Mitfahrer im Heck hoch geschleudert und landete unsanft im Fußraum zwischen den Vordersitzen und der hinteren Sitzbank.
Treiber stöhnte laut auf und gab danach ein paar gurgelnde Laute von sich, während Klimakowski den SUV über den Rummelplatz jagte und dabei Staub, Dreck und Schotter aufwirbelte.
Der Inspektor war jetzt wieder wach, aber völlig verwirrt und orientierungslos, schließlich konnte er nichts sehen. Er stammelte etwas unter seiner Maske, das klang, als spräche er mit heißem Brei im Mund.
Klimakowski meinte, aus dem Gebrabbel so etwas wie „Wohin fahren wir?“ herauszuhören, und antwortete: „Ganz ruhig, Klodwig, ich bringe dich dorthin, wo du sicher bist. Nur noch ein wenig Geduld, dann bist du deine Fesseln los.“ Aus dem anschließenden Würgen und Husten konnte er nicht schließen, ob sein Mitfahrer sich beruhigt fühlte.
Er gab wieder Gas, wich einem Laternenmast aus und raste durch eine große Pfütze, so dass Dreckwasser hochspritzte, ihm für einen Moment die Sicht durch die Windschutzscheibe nahm, und er den Scheibenwischer betätigen musste.
Dann tauchte urplötzlich, wie aus der Nichts, eine dunkle Gestalt vor ihm auf. Ihm blieb nur eine Vollbremsung, doch bevor der Wagen zu stehen kam, erwischte er die Gestalt frontal, so dass sie hochgeschleudert wurde, schräg gegen die Windschutzscheibe prallte und dann zur Seite fiel.
Als der Wagen stand, blieb Klimakowski wie gelähmt noch mindestens eine Minute lang sitzen, bevor er mit zitternden Knien ausstieg. Er verspürte stechende Schmerzen in der Brust, und sein Kopf dröhnte.
Ihm fiel auf, dass sowohl das Martinshorn als auch das Blaulicht den Dienst eingestellt hatten. Wahrscheinlich hatte die Elektronik durch den Aufprall einen Schaden erlitten, dachte er.
Sein Blick fiel auf Klemens, der seltsam verrenkt im hinteren Fußraum lag und anscheinend wieder das Bewusstsein verloren hatte. Doch er konnte sich jetzt nicht um seinen Freund kümmern.
Er machte ein paar Schritte hinter das Auto, wo das rötliche Licht der Rückleuchten den grauen Schotter, der den Boden bedeckte, schwach erhellte. Dann entdeckte er den Menschen, den er umgefahren hatte.
Soweit er erkennen konnte, handelte es sich bei der auf dem Bauch liegenden, mit einem grauen Mantel bekleideten Person um einen Mann. Er trug zerkratzte Gummistiefel, in denen die Hosenbeine einer löchrigen Jeans steckten.
Klimakowskis Blick fiel auf eine große Kunststoff-Einkaufstasche, die etwa zwei Meter entfernt lag. Um sie herum waren Getränkedosen und Plastikflaschen verstreut, die höchstwahrscheinlich noch vor wenigen Minuten die Supermarkt-Tasche gefüllt hatten.
Sein Herz schlug schneller, als er sich bückte, um den leblosen Mann auf den Rücken zu drehen. Er zog sein Gasfeuerzeug aus der Hosentasche, machte es an und beleuchtete mit der kleinen Flamme das Gesicht des Überfahrenen.
Er blickte in das bärtige, zerfurchte Gesicht eines alten Mannes, auf dessen Stirn sich eine große Platzwunde befand, deren Blut den verfilzten Haarschopf und den wuchernden, grau melierten Bart getränkt hatte. Die stahlblauen Augen des Mannes blickten starr ins Leere.
Klimakowski bemerkte, dass der Mann nicht mehr atmete. Als er im flackernden Licht der Feuerzeugflamme sah, wie aus dem rechten Ohr des Mannes ein schmales, rotes Rinnsal auf den Boden floss, war er sicher, dass der Kerl tot war.
Er hatte genug gesehen und verspürte kein Bedauern darüber, dass der Mann nicht mehr lebte. Im Grunde habe ich ihm zu einem schnellen Tod verholfen, dachte er. Ein lausiger Penner weniger auf der Welt!
Er machte sein Feuerzeug aus und richtete sich auf. Der Schmerz im Rippenbereich ließ ihn aufstöhnen.
Im Hintergrund, ungefähr dort wo er die Schranke durchbrochen hatte und auf den Platz gefahren war, registrierte er einen blauen, flackernden Lichtschein. Höchste Zeit, weiterzufahren, dachte er und stieg wieder ins Polizeiauto, dessen Motor immer noch lief.
Er hatte das andere Ende des Volksfestplatzes erreicht. Er wusste, dass es hier keinen zweiten Eingang gab, allerdings kannte er eine Stelle, wo er es für möglich hielt, den Platz mit dem Auto zu verlassen, auf jeden Fall musste er es probieren.
Weil er sich als Jungendlicher mit Freunden häufig hier herumgetrieben hatte, gern auch, wenn kein Zirkuszelt oder Riesenrad aufgebaut war, kannte er jede Ecke des Platzes ganz genau.
Er erinnerte sich daran, dass drei oder vier Meter vor dem roten Backsteingebäude, in dem das öffentliche WC untergebracht war, der Metallgitterzaun endete, und danach nur noch niedrige Büsche den Platz von dem dahinter liegenden Weg abgrenzten.
Fall sich daran nichts geändert haben sollte, wollte er versuchen, dort durchzufahren. Er hoffte, dass die Bodenfreiheit des Polizei-SUVs ausreichen würde, um nicht steckenzubleiben.
Im Scheinwerferlicht konnte er erkennen, dass die Büsche zwar höher waren, als er es in Erinnerung hatte, aber er hoffte, dass sie kein großes Hindernis darstellen würden, wenn er nur reichlich Gas gäbe. Im Grunde war er froh, dass die Lücke im Zaun immer noch nicht geschlossen worden war, sonst hätte er jetzt ein Riesenproblem.
Er beschleunigte den Wagen bis auf vierzig Stundenkilometer und fuhr direkt in die Büsche hinein. Da das Gesträuch mindestens so hoch wie der Wagen war, wurde ihm die Sicht versperrt. Während das Fahrzeug bockte und rockte, so dass es ihn kräftig durchschüttelte, konnte er hören, wie Dornen und spitze Äste am Lack entlang kratzten.
Als er bereits glaubte, es hindurch geschafft zu haben, blieb das Fahrwerk plötzlich mit einem Ruck an irgendetwas hängen, so dass der Gurt den Schmerz in seiner Brust wieder aufflammen ließ.
Ich hätte damit rechnen müssen, dachte Klimakowski, dass aus der schmalen Reihe niedriger Büsche im Lauf der Jahre ein kleiner, dichter Wald geworden ist.
Er stellte fest, dass er den Motor abgewürgt hatte, und startete ihn wieder. Dann gab er vorsichtig Gas und ließ die Kupplung ganz langsam kommen.
Das Fahrzeug bewegte sich ein kleines Stück nach vor, dann aber wieder zurück. Erst nach mehreren Versuchen löste sich der Wagen von dem Hindernis, wahrscheinlich handelte es sich um eine dicke Wurzel, dachte Klimakowski – und endlich war er aus den Büschen raus.
Er hatte den sandigen Weg erreicht, der in vielleicht hundert Metern Entfernung parallel zu den Eisenbahnschienen verlief. In östlicher Richtung führten die Schienen zum Hauptbahnhof.
Für einen Moment beleuchteten die Scheinwerfer das steinige, brach liegende Ackerland und den mitten drin stehenden, ausgebrannten Bauwagen, der das Bild von Trostlosigkeit noch verstärkte.
Klimakowski fuhr jetzt langsam, auch, weil er hörte, wie sein Freund im Rückraum stöhnte und unartikulierte Laute von sich gab. Er wusste, dass der Feldweg in eine Straße mündete, die direkt zum Parkplatz führte. Dieser befand sich hinter dem Bahnhof, dessen Halle nur durch eine kaum beleuchtete Fußgänger-Unterführung zu erreichen war.
Im Gegensatz zum gebührenpflichtigen, großen Parkplatz vor dem Bahnhofsgebäude stellten in der Regel nur wenige Zugreisende ihr Fahrzeug auf diesem Platz ab. Im Winter, wenn es geschneit hatte, wurde der Platz nicht geräumt, und sein Asphalt wies große Löcher und breite Risse auf.
52.
Als Klimakowski auf den ungepflegten Parkplatz fuhr, der von den wenigen, in großen Abständen errichteten Laternen in ein schwaches, gelblich-fahles Licht getaucht wurde, bemerkte er, dass auf dem Gelände bis auf einem ganz am rechten Rand stehende Pickup und einen etwas weiter vorn abgestellten älterem Polo keine Fahrzeuge parkten.
Er überquerte den Platz und hielt in der Nähe des Treppenabgangs, der hinab zum Tunnel führte, über den man die Bahnhofshalle zu Fuß erreichen konnte.
Er stellte den Motor ab, stieg aus und atmete gierig die frische Nachtluft ein. Dann öffnete er die hintere Tür, sah, dass Klodwig immer noch zusammengekrümmt im Fußraum vor der Rücksitzbank lag, die Hände auf dem Rücken mit Handschellen gefesselt und durch den Kopfüberzug sichtbar mühsam atmend.
Ihm fiel auf, dass die gelbe Weste, die noch um den Beutel oder Sack, den man seinem Freund über den Kopf gezogen hatte, gewickelt war, inzwischen abgefallen war. Die noch vorhandene Hülle war eng an Klodwigs Gesicht gepresst und sah feucht und fleckig aus.
Klimakowski konnte sehen, wie sich der Beutel bei jeden Atemzug, den Klodwig machte, über seinem Mund ein wenig aufblähte und dann wieder zusammenzog.
Von dem verschmierten Ding ging ein übler Geruch aus, und Klimakowski wollte seinen Partner unbedingt schnell davon befreien. Er packte ihn unter den Achseln und wuchtete ihn auf die Rückbank.
Ihm fiel auf, dass Klodwig äußerst seltsam gekleidet war. Er konnte sich nicht erinnern, dass er jemals eine schlabberige, orangefarbene Jogginghose getragen hatte. Und dann noch eine Jeansweste über einem knallgelben Hemd! Noch nicht einmal im Karneval hätte er Klodwig zugetraut, sich für solch ein schrilles Outfit zu entscheiden.
Behutsam versuchte er, Klodwig den besudelten Beutel vom Kopf zum ziehen, doch der schien am Gesicht fest zu kleben.
Er zerrte etwas stärker, was bei Klodwig, der wieder bei Bewusstsein zu sein schien, ein Stöhnen und abwehrende Bewegungen der Hände auslöste. Doch Klimakowski hatte jetzt keine Geduld mehr, auch, weil der Gestank des Beutels einen Anflug von Übelkeit bei ihm auslöste.
Er packte den Rand des Beutels in Klodwigs Nacken, zog ihn ruckartig mit aller Kraft hoch, riss seinem Freund dabei ein festklebendes Haarbüschel aus, was diesen veranlasste, sich aufzubäumen und einen erstickten Schrei auszustoßen.
Klimakowski ließ sich davon nicht beeindrucken, denn er wollte die Sache jetzt erfolgreich beenden. Mit der anderen Hand umklammerte er unterhalb von Klodwigs Kinn den Beutel, und mit beiden Händen gleichzeitig kräftig ziehend gelang es ihm endlich, die eklige Tüte vom Kopf seines jammernden Freundes zu entfernen.
„Geschafft , Kumpel“, stieß Klimakowski erleichtert aus, doch als er seinem Freund ins verschmierte, aufgedunsene Gesicht schaute, bekam er einen Schock. Dieser Mann war nicht Klodwig!
Die hervorquellenden, grauen Augen, die ihn erschöpft anstarrten, gehörten nicht zu seinem Lebensgefährten. Klodwig hatte hellblaue Augen, und eine so große Nase trug er auch nicht im Gesicht.
Doch irgendwie kam ihm dieses Gesicht bekannt vor. Und dann traf ihn ihn die jähe Erkenntnis wie ein Schlag.
Es war dieser dämliche Bulle und Bowling-Bruder, der Typ, dem er die Bombe in die Tonne gelegt hatte. Es war dieser verdammte Treiber!
Klimakowski war verwirrt. Warum in Gottes Namen, fragte er sich, haben die Streifenbullen einem Kripomann Handschellen angelegt, ihm eine Tüte über den Kopf gezogen und ihn äußerst unsanft in ihr Auto verfrachtet? Und wo ist eigentlich Klodwig?
Er merkte, dass Treiber ihn immer noch anstarrte – sein Blick jetzt aber deutlicher wacher wirkte. Und dann erkannte er an Treibers Gesichtsausdruck und an der Veränderung in seinen Augen, dass Treiber wusste, wen er vor sich hatte.
„Wo bin ich?“, fragte Treiber und versuchte, sich aufrichten, doch Klimakowski stieß ihn zurück. „Halt die Schnauze, Bulle“, herrschte er ihn an. „Verrat’ mir lieber, was ihr mit meinem Freund gemacht habt.“
Treiber hustete, und ein Speichelfaden hing ihm an der Unterlippe. „Einem Terroristen und Mörder wie dir verrate ich überhaupt nichts“, erklärte er mit rauer Stimme, „und außerdem weiß ich nicht, von wem du überhaupt redest.“
„Na von Klodwig Klotzholz natürlich“, schrie Klimakowsi und verpasste dem Inspektor eine heftige Ohrfeige.
„Ich kenne niemanden, der so heißt“, erwiderte Treiber, worauf ihm Klimakowski mit der Faust auf die Nase schlug, so dass Blut heraus spritzte.
Der Inspektor stöhnte laut auf, dann sank sein Kopf auf die Brust und sein Körper kippte zur Seite. Der markiert doch nur, dachte Klimakowski wütend und gab ihm noch eine Ohrfeige, doch Treiber rührte sich nicht mehr.
Egal, dachte Klimakowski, dein letztes Stündlein hat sowieso bald geschlagen. Er wusste nur noch nicht, ob er ihn hier gleich kalt machen und im Auto liegen lassen sollte, oder ob es vielleicht klüger wäre, ihm irgendwo anders eine Kugel zu verpassen, an einem Ort, wo man seine Leiche nicht gleich finden würde.
Ihm war allerdings auch klar, dass ihm dafür die Zeit fehlte. Ich muss sehen, dachte er, dass ich möglichst schnell in den Bahnhof komme. Dort gibt es reichlich Möglichkeiten, um unauffällig den Rest der Nacht zu verbringen, bis das Service Center morgen früh um sieben Uhr öffnet und ich mir ein Ticket kaufen kann.
Er wusste aber auch, dass dieser Plan kaum umzusetzen sein würde, wenn man vorher auf dem Parkplatz einen Polizeiwagen mit einer Leiche an Bord gefunden hätte. Und wer weiß, überlegte er, ob ein Bullenwagen ohne Bullen nicht auch für Irritationen führen könnte.
Am besten wäre es vielleicht, dachte er, das Auto samt totem Polypen irgendwo anders gut getarnt abzustellen. Doch wo bloß?
Noch länger in der Gegend herum zu fahren, das erschien ihm viel zu riskant zu sein. Und wenn er die Karre wirklich irgendwo außerhalb der Stadt stehen lassen würde, an einer Stelle, wo man sie nicht gleich entdecken würde, müsste er zu Fuß zurück zum Bahnhof laufen. Keine gute Idee, dachte er.
Andererseits würde es ihn auch nicht wundern, wenn die Bullen nachts regelmäßig diesen alten Bahnhofsparkplatz nach Dealern, Strichern und von zu Hause abgehauenen Minderjährigen durchforsteten.
Mittlerweile müssten sie ja längst spitz gekriegt haben, dachte er, dass der Einsatzwagen zweier toter Kollegen verschwunden war. Er war überzeugt davon, dass sie alles versuchen würden, um die Karre zu finden und den bösen Buben zu schnappen.
Beim Gedanken an die abgeknallten Hilfssheriffs musste er kurz grinsen, doch dann gewann der Ernst der Lage, in der sich momentan befand, wieder die Oberhand – und er drehte sich langsam im Kreis, um zu überprüfen, ob irgendwo schon ein blauer, flackernder Lichtschein zu sehen war. Aber er konnte nichts erkennen.
Dass auch nicht der Hauch von einem Martinshorn zu hören war, fand er zunächst sehr befremdlich. Als er allerdings einige Sekunden lang darüber nachgedacht hatte, erschien es ihm irgendwie logisch. Sie wollen sich heranschleichen, wie der Tiger an seine Beute, dacht er. Obwohl die Nachluft mild war, fröstelte es ihn plötzlich und er musste an Klodwig denken.
Er merkte, dass die Sorge um seinen Lebensgefährten ihm das Denken erschwerte. Ihn quälte vor allem die Frage, ob man Klodwig verhaftet hatte und ihn jetzt vielleicht sogar misshandelte.
Klimakowski versuchte, diese dunklen Gedanken beiseite zu schieben und sich auf das zu konzentrieren, was jetzt am Wichtigsten war. Und dann hatte er eine Idee.
Ihm fiel ein, dass es in der Unterführung eine öffentliche Toilette gab, die auch nachts geöffnet war. Dieses Klo suchte selten jemand auf, da es nur alle Jubeljahre gereinigt wurde und Klopapier dort in der Regel Mangelware war.
Das wäre kein schlechter Ort, dachte er, um den Bullen alle zu machen und seine Leiche zu deponieren.
53.
Klimakowski holte den Erste-Hilfe-Kasten aus dem Kofferraum, öffnete ihn und entnahm ihm eine Mullbinde, eine Schere und eine Rolle Heftpflaster. Während er aus der Mullbinde einen Knebel bastelte und ein längeres Stück vom Pflaster abschnitt, sah er, wie Treiber versuchte, über die Vordersitze zu klettern.
„Willst wohl türmen, mein Freund“, rief er, beugte sich ins Wageninnere und schlug dem Inspektor auf die geschwollene Nase, so dass dieser laut aufschrie und wieder nach hinten fiel.
„Du gottverdammter Mörder“, stammelte Treiber, während ihm Tränen übers Gesicht liefen und Blut aus der lädierten Nase tropfte.
„Versuch das nie wieder“, zischte Klimakowski, „das nächste Mal schieß' ich dir ins Knie. Und jetzt stopf’ ich dir dein freches Maul“.
Als Treiber sah, was Klimakowski vorhatte, schüttelte er den Kopf hin und her, zappelte auf dem Rücksitz wild herum und stieß wüste Beschimpfungen aus, doch es war zwecklos. Nach einigen saftigen Ohrfeigen war sein Widerstand gebrochen und Klimakowski hatte keine Mühe, ihm den Knebel in den Mund zu stopfen und mit dem Heftpflasterstreifen zu fixieren.
Sein Blick fiel auf die Reisetasche, die immer noch auf demBeifahrersitz lag. Vielleicht wäre es besser, die schwere Tasche nicht weiter mit mir herum zu schleppen, überlegte er. Neue Klamotten, Rasierzeug und eine Zahnbürste kann ich mir überall kaufen.
Er holte seine Brieftasche mit den diversen Kreditkarten und gefälschten Ausweispapieren sowie den dicken Umschlag mit den hundert-Euro-Scheinen aus der Tasche und verstaute alles in seiner Jacke. Dann zerrte er den Inspektor aus dem Auto, bis dieser mit wackligen Beinen neben der Beifahrertür stand, und knurrte: „Los jetzt, beweg’ deinen Arsch.“
Er zeigte zum Treppenabgang, stieß Treiber in den Rücken, so dass er einen Moment schwankte, aber nicht fiel, weil Klimakowski ihn rechtzeitig am linken Hemdsärmel festhielt. „Mach mir bloß nicht schlapp, Bulle“, murmelte er und dirigierte Treiber weiter in Richtung Treppe, den kraftlosen Kripomann dabei weiterhin stützend.
Während Klimakowski mit dem geknebelten und mit Handschellen auf dem Rücken gefesselten Inspektor langsam die Treppe zur Unterführung hinunter ging, dabei einen Arm um Treibers Schultern gelegt, damit er nicht stürzte, meinte er zu hören, wie sich ein Motorengeräusch langsam näherte.
Sie kamen nur im Schneckentempo voran. Doch dann waren sie unten angelangt, und weil Treiber sich plötzlich auf den Betonboden fallen ließ, zog Klimakowski seine Pistole aus der Jackentasche und drohte dem Polizisten lautstark an, ihn jetzt gleich hier zu erschießen, wenn er nicht sofort wieder aufstehen und weitergehen würde.
Mühsam rappelte Treiber sich auf. Da er wegen des Knebels nicht mehr durch den Mund atmen konnte, durch die geschwollene Nase, in der sich blutige Krusten gebildet hatte, aber auch immer weniger Luft bekam, war er einer Panik nahe.
Momentan hielt der Inspektor die Wahrscheinlichkeit, in Kürze elendig zu ersticken, für wesentlich höher, als erschossen zu werden.
54.
Lausig hatte keine Lust mehr. Seit mindestens zwei Stunden quälte er sich an seinem Schreibtisch bereits mit dem von seinem Chef angeforderten Einsatzbericht herum, doch er wurde einfach nicht fertig damit. Außerdem war er hundemüde, und sein Magen knurrte, weil er seit der trockenen Mohnschnecke am gestrigen Nachmittag nichts mehr gegessen hatte.
Immer wieder formulierte er bereits in den Computer getippte Sätze um oder löschte sie ganz, weil er unsicher war, wie hoch der Wahrheitsgehalt in seinen Bericht sein durfte und welche Tatsachen er lieber seinem Chef und dessen Vorgesetzten verschweigen sollte.
Schließlich wollte er sich mit zu all zu viel Ehrlichkeit nicht fahrlässig seine Laufbahn ruinieren, wo er doch genau wusste, dass sein Boss sowieso keine großen Stücke auf ihn hielt.
Ich muss den Ball immer schön flach halten, sagte er sich und gähnte. Er ärgerte sich jetzt über sich selbst, als Einziger im ganzen Präsidium zu dieser nachtschlafenden Zeit noch zu ackern und einen Bericht zu schreiben, den sowieso frühestens in drei Tagen jemand lesen würde – wenn überhaupt.
Er war jetzt direkt wütend auf seinen Chef. Treiber hat der plötzliche Ehrgeiz gepackt, und ich bin der Depp, dachte er. Der Blödmann will mal wieder die ganzen Lorbeeren für sich allein ernten. Dabei war ich derjenige, der den Terroristen zur Strecke gebracht hat. Aber es würde mich nicht wundern, wenn der Herr Inspektor da eine ganz andere Version des Geschehens parat hätte.
Lausig beschloss, morgen weiterzumachen. Da er keine Lust hatte, zu Fuß nach Hause zu laufen und er immer noch sauer auf Treiber war, hielt er es für angebracht, sich ausnahmsweise ein bisschen Luxus zu gönnen und sich einen der zivilen Dienstwagen auszuleihen.
Ihm war klar, dass ihm das Ärger einbringen könnte, aber wenn ich morgen vormittag den Schlitten schon wieder zurückbringe, dachte er, fällt es vielleicht gar nicht auf.
Er wusste, dass die Schlüssel für die Dienstwagen in einem Kasten hingen, der nur zu öffnen war, wenn man eine bestimmte, sechsstellige Zahlenkombination eingab, und sein Chef hatte es bislang erfolgreich verhindert, dass er in den Kreis der Eingeweihten aufgenommen wurde.
Doch jetzt würde er einfach einmal die Tatsache ausnützen, dass er vor ein paar Wochen zufällig Treibers Portemonnaie gefunden hatte, das dieser auf dem Klo verloren hatte. Er hatte es nicht lassen können, ein bisschen darin zu stöbern, und dabei war ihm ein kleiner Zettel mit einer sechsstelligen Zahl ins Auge gefallen.
Einer plötzlichen Eingebung folgend hatte er die Ziffern-Kombination gleich am Schlüsselschrank ausprobiert – und sie hatte gepasst. Die Geldbörse hatte er natürlich anschließend seinem Chef wieder ausgehändigt, aber noch nicht einmal ein Dankeschön dafür gehört.
Da er sich die Zahl eingeprägt hatte, würde er jetzt einmal von ihr Gebrauch machen. Aus dem geöffneten Kasten holte er sich den Schlüssel, an dem ein Schildchen mit der Aufschrift „dunkelblauer 7er BMW“ befestigt war.
Fünf Minuten später brauste Lausig, schon deutlich besser gelaunt, aus der Tiefgarage in die Nacht hinaus. Er verspürte große Lust auf einen starken Kaffee und einen kleinen Snack und überlegte, wo er um nachts um viertel nach Zwei noch einkehren könnte, doch ihm fiel nur das „Night Owl Café“ im Hauptbahnhof ein.
Das kleine Café am Ende der weitläufigen Bahnhofshalle war eher eine bessere Imbissstube, und Lausig wusste, dass es erst mittags öffnete, aber bis sechs Uhr morgens Nachtschwärmer mit Heiß- und Kaltgetränken sowie einfachen, deftigen Speisen versorgte.
Lausig beschloss, auf dem Heimweg einen kleinen Umweg in Kauf zu nehmen und in der Nachteule einen Zwischenstop einzulegen. Wenn ich Glück habe, dachte er, steht Helga hinter dem Tresen.
Bereits bei seinem ersten Besuch im Café hatte er die schlanke Blondine mit dem Spinnen-Tattoo unter dem rechten Ohr und der neckischen Zahnlücke sympathisch gefunden. Vielleicht würde er heute ja mal den Mut aufbringen, das Mädel zu einem Besuch im Zoo oder einer Partie Minigolf einzuladen.
Ein weiterer Beweggrund für Lausig, das „Night Owl Café“ auszusuchen, war der exzellente Kaffee. Für seinen Geschmack gab es dort den besten Cappuccino der ganzen Stadt.
Auch wenn die Einrichtung des Lokals eher schäbig ist, dachte er, und die Frikadellen in der Mikrowelle erhitzt werden, am Kaffee-Automaten und den Bohnen hat Freddy, der korpulente Inhaber, bestimmt nicht gespart.
Lausig war zwar kein Experte, glaubte aber, dass die riesige italienische Kaffeemaschine ein kleines Vermögen gekostet haben musste. Wer weiß, dachte er, womit Freddy sonst noch so sein Geld verdiente. Aber eigentlich wollte er das gar nicht wissen. Was er jetzt wollte, war eine Stärkung und eine nette Bedienung.
55.
Lausig fiel ein, dass man auf dem großen Parkplatz vor dem Hauptbahnhof seit ein paar Wochen auch nachts Gebühren zahlen musste. Er hielt das für eine bodenlose Abzocke und entschied sich, den etwas kleineren Platz, der hinter dem Bahnhof lag, anzusteuern. Dort war Parken noch umsonst, egal zu welcher Tageszeit.
Er wusste zwar, dass er dann noch einen Spaziergang durch die Unterführung machen musste, hatte aber nichts dagegen, sich noch ein wenig die Beine zu vertreten.
Als Lausig mit ziemlichem Tempo auf den Parkplatz fuhr und gleich mit dem rechten Vorderrad polternd in ein tiefes Schlagloch geriet, war er froh, in einem gut gefederten Auto der oberen Mittelklasse zu sitzen.
Und dann sah er den Streifenwagen, der unweit des Treppenabgangs zur Unterführung stand. Schon bevor er neben dem Wagen anhielt, hatte er bemerkt, dass niemand in dem SUV saß.
Natürlich hatte er von dem Mord an den beiden Zivilkollegen und dem verschwundenen Streifenwagen erfahren, schließlich war heute Nacht fast alles, was in dieser Stadt eine Dienstmarke trug, auf Achse, um den Täter zu fassen – bis auf ihn, und zum ersten Mal konnte er der Tatsache, dass sein Chef ihn aus ganz eigennützigen Gründen zu Büroarbeit verdonnert hatte, etwas Positives abgewinnen.
Lausig schloss aus, dass es sich bei dem hier abgestellten Wagen um das entführte Fahrzeug der toten Kollegen handelte.
Er fragte sich, welcher Täter so blöd sein würde, ausgerechnet mit diesem Wagen zum Bahnhof zu fahren und ihn hier direkt neben dem hinteren Eingang zur Unterführung abzustellen, wo er sich doch denken konnte, dass eine halbe Hundertschaft rachsüchtiger Cops Jagd auf ihn machte und seine Erschießung in einer Notwehrsituation bereits fest eingeplant war.
Er nahm an, die zum Wagen gehörenden Kollegen in Uniform wären auf die gleiche Idee gekommen wie er und wollten sich in Freddys Nachteule einen koffeinhaltigen Muntermacher gönnen – oder vielleicht auch ein schnelles Pils, dachte er, wer weiß das schon.
Lausig parkte neben dem verwaisten Streifenwagen, stieg aus, fluchte leise, weil mittlerweile ein leichter Sprühregen eingesetzt hatte, und ging die kurze Strecke bis zum Treppenabgang.
Im schwachen Schein der einzigen Laterne, die diesen Teil des Parkplatzes notdürftig beleuchtete, achtete er darauf, nicht in eines der zahlreichen Löcher oder tiefen Risse im Asphalt zu treten. Er verspürte wenig Lust, sich hier den Knöchel zu verstauchen.
Auch während er die Treppe hinab stieg, blieb sein Blick aufmerksam, um keinen unbedachten Schritt zu tun, denn ihm war aufgefallen, dass viele Stufen abgebrochene Kanten aufwiesen und einige so ausgetreten waren, dass man leicht stürzen konnte.
In der Unterführung, die von mehreren veralteten Halogenröhren in ein grellweißes Licht getaucht wurde, verzierten bunte Graffitis und obszöne Zeichnungen die Wände. Auf dem Boden lagen leere Getränkedosen, zerbrochene Schnapsflaschen und zerdrückte, fettfleckige Pizza-Kartons.
Lausig sah, dass jemand an der Wand ein ganzes, noch verschnürtes Paket mit Werbeblättchen deponiert hatte, und ein paar Meter weiter fiel sein Blick auf ein Rennrad, dem Sattel und Vorderrad fehlten. Daneben lag ein heller, zusammengeknüllter Pullover, der rotbraune Flecken aufwies. Lausig wollte gar nicht wissen, ob es sich dabei um Blutflecken handelte.
Ihm stieg der Geruch von Urin und schalem Bier in die Nase, und er beschleunigte seine Schritte. Er wollte diesen ungemütlichen Ort möglichst schnell verlassen.
Er hatte jetzt die Mitte der Fußgängerunterführung erreicht, dort wo sich die Toilette befand. Da er sich gut vorstellen konnte, wie es dort um den hygienischen Zustand bestellt sein würde, hatte er dieses Klo noch nie aufgesucht.
Lausig war schon an der verrosteten, metallenen Eingangstür des WCs vorbei geeilt, als er ein Geräusch hörte, das dumpf von hinten an seine Ohren drang.
Er drehte sich um, und wieder war da dieses Geräusch, es klang wie ein Stöhnen oder Wehklagen – und es schien aus der Toilette zu kommen.
Er überlegte nicht lange und ging zurück zur Klotür. Da scheint ein Mensch in Not zu sein, dachte er, vielleicht braucht er Hilfe.
Lausig hatte schon die Hand auf der Türklinke, als er hörte, wie drinnen jemand mit schriller Stimme rief: „Ich flehe dich an, tu es nicht.“
56.
Klimakowski merkte, dass es ihn viel Kraft gekostet hatte, mit Treiber im Schlepptau das Klo zu erreichen. Der Kripomann konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, permanent musste Klimakowski ihn stützen, und die letzten Meter schleifte er ihn hinter sich her.
Sein Atem ging schnell, seine Arme fühlten sich schon ganz taub an, und in seinem Brustkorb brannte ein Feuer, als er sich gegen die Tür drückte und sie sich mit einem durchdringenden Quietschen öffnete. Dann stieß er Treiber in den Vorraum.
In dem bläulichen Licht, das eine vergitterte Lampenreihe an der Decke im Raum verströmte, konnte er erkennen, dass an der linken Wand alle drei Heißluft-Händetrockner aus ihren Halterungen gerissen worden waren und jetzt die grauen, fleckigen Bodenplatten verzierten.
Er bemerkte, dass irgendein Spaßvogel den Kondom-Automaten in der Ecke komplett mit dunkelbrauner Farbe besprüht und ihm einen löchrigen Strohhut aufgesetzt hatte. Die drei Waschbecken auf der gegenüber liegenden Wand waren völlig verdreckt, im mittleren lag ein schwarzer Damenslip.
Von der ehemaligen Existenz der Seifenspender, die einmal neben den Becken gehangen hatten, zeugten nur noch Löcher in den verschmierten Fliesen und ein paar Dübel, die auf dem Boden lagen und in denen teilweise noch die Schrauben steckten.
An der hinteren Wand des Vorraumes befanden sich zwei Türen , die eine führte zum Damen-, die andere zum Herren-Klo. Kurz vor der Tür mit dem großen H glitt Treiber plötzlich aus Klimakowskis Griff und brach zusammen.
„Steh sofort wieder auf“, schnaubte Klimakowski, doch als er sah, wie der auf dem Boden hockende Polizist verzweifelt um Luft rang und ihm dabei die Augen aus dem blau angelaufenen Gesicht quollen, befürchtete er, sein Gefangener könnte ersticken, und einen solchen Tod wollte er ihm nun doch nicht zumuten. Ein sauberer Schuss in die Schläfe, das hat dieser Typ schon verdient, dachte er.
Er kniete sich neben den auf dem Boden liegenden Polizisten und riss ihm den Klebestreifen vom Mund. Der Inspektor spuckte den durchgeweichten Mullbinden-Knebel aus und schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen.
„Nimm ruhig noch ein paar tiefe Atemzüge, mein Freund“, sagte Klimakowski grinsend, „es werden deine letzten sein“. Dann brachte er den immer noch gierig Sauerstoff in sich hinein saugenden Mann in eine Sitzposition, trat hinter ihn, packte ihn mit beiden Händen unter den Schultern, zog ihn hoch und stellte ihn auf die Füße.
Treiber, der noch ziemlich benommen wirkte und weiterhin schwer atmete, blieb mit zitternden Beinen stehen, drehte sich langsam zu Klimakowski hin, der direkt neben ihm stand, und fragte mit krächzender Stimme: „Und was hast du jetzt vor?“
„Das wirst du gleich merken“, antwortete Klimakowski, zerrte ihn mit einer Hand an dessen Jeansweste zur Tür, öffnete sie, stieß den Inspektor hinein, folgte ihm sofort und schloss die Tür.
Treiber, dessen Atmung jetzt wieder in einem halbwegs normalen Rhythmus erfolgte, machte auf Klimakowski immer noch den Eindruck, als könne er jeden Moment wieder zusammenbrechen. Er zückte seine Glock und richtete die Waffe auf die Brust des Inspektors.
„Mach’ jetzt keine Dummheiten und beweg deinen Arsch in die Klokabine hinter dir, die mit der geöffneten Tür“, befahl er ihm. „Was soll das?“ stieß Treiber hervor, bewegte sich aber nicht.
Klimakowski antwortete, indem er dem Inspektor mit dem Pistolenlauf so heftig über die Wange fuhr, dass das Korn einen tiefen Riss verursachte, aus dem Blutstropfen quollen.
Treiber schrie auf. Klimakowski zielte mit der Pistole direkt auf Treibers Stirn und zischte: „Jetzt geh da rein“. Schwankend setzte sich der Inspektor in Bewegung.
Als er in engen Klokakabine angekommen war, forderte ihn Klimakowski, der in der offen Tür stand, auf, sich auf den Klodeckel zu setzen. „Hock dich einfach hin, als hättest du ein großes Geschäft vor, und dann schließ die Augen und entspann dich, Kumpel.“
Treiber leistete dieser Aufforderung nicht gleich Folge, so dass Klimakowski in die linke Jackenjacke griff, ein Springmesser hervor holte, die Klinge mit einem Klick herausspringen ließ und sie dem Inspektor vor die Nase hielt. Dann herrschte er ihn an: „Los, jetzt mach schon, Bulle, oder willst du, dass ich dir deinen Riecher ein bisschen verschönere? Ich könnte dir auch die Ohren abschneiden und sie das Klo runterspülen.“
„Du elender Mistkerl“, murmelte der Inspektor und setzte sich auf den Klodeckel. Seine Hände, die immer noch auf dem Rücken fixiert waren, begannen so zu zittern, dass die metallenen Handschellen in einem irren Rhythmus auf den rissigen Plastikdeckel schlugen.
„Gut so, Bulle“, lobte Klimakowski, ließ die Klinge wieder im Schaft verschwinden und steckte das Messer zurück in die Jackentasche.
Seine Pistole hielt er immer noch in rechten Hand, doch der Lauf war jetzt auf den Boden gerichtet. „Und jetzt mach brav die Äuglein zu und dreh deinen Kopf zur Seite“, sagte er in einem süßlichen Ton.
Treiber, der anscheinend resigniert hatte, tat, was Klimakowski von ihm verlangt hatte. Die Augenlider des Inspektors zuckten, und auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen.
Klimakowski drückte Treiber den Pistolenlauf auf die rechte Schläfe. Der Inspektor riss die Augen auf und rief voller Panik: „Ich flehe dich an, tu es nicht!“
Klimakowski wollte gerade den Abzug betätigen, als er ein Quietschen hörte. Verdammt, dachte er, da öffnet jemand die Tür zu den Klos.
57.
Lausig stieß die Tür auf und stürmte hinein. Er sah, dass er sich im Toilettenvorraum mit den Waschbecken befand, wunderte sich allerdings, dass dieser Waschraum anscheinend für Männlein und Weiblein vorgesehen war, so etwas hatte er noch nie gesehen. Da hat die Bahn wohl wieder mal radikal gespart, dachte er.
An der hinteren Wand waren die beiden Türen, die zum Herren- und Damenklo führten. Doch er wusste nicht, aus welchem Klo der Schrei gekommen war.
Er musste sich entscheiden und wählte das Damen-WC. Vorsichtig öffnete er die Tür und spähte hinein. Niemand war zu sehen. Vielleicht befindet sich ja jemand in einer der Klo-Kabinen, überlegte er. Er musste nachsehen und betrat den Raum.
Bei drei von vier Kabinen waren die Türen weit geöffnet, so dass Lausig gleich erkennen konnte, dass sich niemand darin aufhielt. Bei der vierten Tür zeigte das grüne Signal oberhalb der Klinke zwar an, dass sie nicht verschlossen war, aber er musste sicher gehen.
Behutsam drückte er die Klotür nach innen, dabei konnte er allerdings nicht verhindern, dass die wahrscheinlich seit Jahrzehnten nicht mehr geölten Türangeln laut knarrten.
Der enge Raum war leer. Also muss der Schrei aus dem Herrenklo gekommen sein, dachte Lausig. Die Tatasche, dass es jetzt mucksmäuschenstill war, ließ ihn nichts Gutes ahnen. Er befürchtete, dass nebenan irgend etwas Schreckliches passiert war.
Lausig fiel plötzlich ein, dass er unbewaffnet war. Das ist nicht gut, dachte er, überhaupt nicht gut, und ihm wurde klar, in welch’ heikle Situation er hineingeraten könnte, wenn er auf der Herren-Toilette nach dem Rechten sehen würde.
Und doch musste er nachsehen, was dort los war, schließlich war er Polizist. In diesem Moment hörte er, wie die Tür zum Damen-WC aufgestoßen wurde. Lausig wirbelte herum.
58.
Klimakowski senkte seine Waffe, beugte sich zu Treiber hinunter, bis sein Kopf auf der gleichen Höhe wie der des Inspektor war, und flüsterte, den Mund direkt am Ohr des kreidebleichen Kripomannes: „Ich will jetzt keinen Mucks mehr von dir hören. Ich bin gleich wieder zurück. Und wenn du nicht still bist und brav hier hocken bleibst, schlitze ich dich mit meinem Messer von oben bis unten auf und lass dich hier verrecken.“
Treiber nickte, und Klimakowski verließ die Klokabine. Er durchquerte das Herren-WC, blieb an der Tür zum Vorraum stehen und lauschte. Alles war still, doch er war sicher, dass irgendjemand hereingekommen war.
Vielleicht eine Frau, dachte er, aber wer weiß. Egal, ich kann keine Zeugen gebrauchen. Behutsam öffnete er die Tür zum Vorraum.
Der Raum war leer, doch Klimakowski hörte das Knarren einer Tür, und das Geräusch kam eindeutig aus dem Damenklo.
Ich werde jetzt das tun, was nötig ist, dachte er und eilte durch den Vorraum, seine Pistole schussbereit in der rechten Hand. Er stieß die Damen-WC-Tür auf – und mit einem Satz war er im Raum.
Als Klimakowski sah, dass etwa drei Meter vor ihm keine Frau sondern ein Mann stand und ihn anstarrte, verlor er einen Augenblick lang die Fassung.
Der Typ schien genauso überrascht zu sein wie er selbst, doch während Klimakowski noch überlegte, was der Kerl hier zu suchen hatte, reagierte dieser schneller als er, drehte sich blitzartig, sprintete die kurze Strecke zu der rechten Klokabine, weil dort die Tür offen stand, und war schon darin verschwunden.
Klimakowski löste sich aus seiner Starre und eilte hinterher, sah jedoch, dass der Typ die Tür abschloss. „Komm raus“ schrie er wütend, „sonst knall ich dich durch die Klotür ab“, doch statt einer Antwort hörte er nur ein merkwürdiges Geräusch aus der Kabine dringen, es klang, als zerreiße irgendetwas.
Da er nicht genau wusste, wie viele Patronen noch im Magazin seiner Glock waren und er kein Reservemagazin eingesteckt hatte, verwarf Klimakowski seinen Plan, die dünne Tür mit Kugeln zu durchlöchern – und den Kerl gleich mit. Ich muss mit der Munition sparsam umgehen, dachte er, damit auf jeden Fall eine Kugel für den Bullen übrig bleibt.
Er entschloss sich, die Tür einfach einzutreten. Er konnte sich nicht vorstellen, dass das sicherlich billige, alte Türschloss einem kräftigen Fußtritt standhalten würde. Und dann wird eine Kugel reichen, dachte er.
Als er sich der Klotür näherte, hörte er, wie das Schloss bewegt wurde und sah, wie das rote Schildchen verschwand und stattdessen das grüne auftauchte. Aha, dachte er, der Kerl streicht die Segel und kommt gleich raus. Prima, so machst du es mir viel leichter, mein Freund.
Er stand jetzt direkt vor der Tür und wartete, doch als sich nach ein paar Sekunden noch nichts getan hatte, beschloss er, zu handeln. Dann komm ich halt rein zu dir und verpass dir ´ne Kugel, dachte er und ergriff mit der linken Hand die Türklinke. Und dann ging alles sehr schnell.
59.
Das Gesicht des Kerls mit der Knarre kam Lausig bekannt vor, allerdings wusste er nicht woher. Egal, dachte er, jetzt muss ich sehen, wie ich aus dieser saublöden Situation herauskomme.
Sein Blick fiel auf den Klopapierhalter, ein wuchtiges, aus der Mode gekommenes Ding aus Metall, das schräg an der Wand hing und nur noch mit einer Schraube befestigt zu sein schien.
Er hörte die Aufforderung des Revolverhelden, herauszukommen, ließ sich davon aber nicht beirren und packte den Toilettenpapierhalter mit beiden Händen. Mit einem Ruck riss er ihn aus der Wand. Es ging leichter als er erwartet hatte.
Er legte den schweren Halter vorsichtig auf den Klodeckel, entriegelte das Türschloss, packte das Metallding wieder mit beiden Händen, stieg auf die Kloschüssel und betete, dass der Plastikdeckel sein Gewicht aushalten würde. Dann hob er den Klopapierhalter über den Kopf und hoffte, dass der Kerl mit der Kanone nicht lange auf sich warten ließ.
60.
Klimakowski öffnete die Tür und machte einen schnellen Schritt in die Kabine hinein. Sein Blick fiel auf zwei dunkelblaue, zerknitterte Hosenbeine und ein Paar braune Wildleder-Slipper auf einem Klodeckel, doch bevor sein Verstand diese Information verarbeiten und er eine Reaktion darauf zeigen konnte, war es schon zu spät.
61.
Sobald der Typ die Klokabine betreten hatte, donnerte Lausig ihm den metallenen Klopapierhalter auf den Schädel.
Der Schlag traf die Stirn des Mannes, so dass dieser nach hinten umkippte und mit dem Rücken auf den Steinfließen landete. Während er fiel, löste sich die Pistole aus seiner Hand, klatschte auf den Boden und rutschte neben die Kloschüssel.
Lausig sprang vom Klo herunter und blickte auf den Mann, der jetzt halb in der Kabine und halb außerhalb von ihr reglos auf dem Boden lag. Er musste über ihn drüber steigen, um die Klokabine verlassen zu können.
Ich sollte sofort nachsehen, was sich auf dem Herrenklo abgespielt hat, dachte er, wer weiß, was dieser Kerl dort angestellt hat.
Einer plötzlichen Eingebung folgend ging er noch einmal zurück in die Klokabine, bückte sich, hob die kleine Pistole auf, klappte den Klodeckel hoch, warf die Waffe in die Schüssel und betätigte die Spülung.
Dann drehte er sich um und wollte die Kabine verlassen. Doch während er über den Typ stieg, der im Kabineneingang lag, hob dieser ein Bein, so dass Lausig mit seinem linken Fuß daran hängen blieb, stürzte und mit dem Kopf gegen den Türrahmen schlug.
Er landete direkt auf dem Mann, der kurz aufstöhnte und sich dann fluchend bemühte, den Körper des schwer auf ihm Liegenden abzuwerfen.
62.
Für einen Moment war Klimakowski völlig weggetreten gewesen, doch als er auf dem Steinboden wieder zu sich kam, dröhnte ihm zwar der Schädel, aber er konnte sich sofort darin erinnern, was passiert war.
Er hatte den Typen unterschätzt und war direkt in die Falle gelaufen. Irgendetwas Hartes hatte ihm der Kerl auf den Kopf geschlagen. Und jetzt stand er immer noch in der Kabine und betätigte die Klospülung, als hätte er noch in Ruhe sein Geschäft verrichtet.
Klimakowski schloss die Augen. Durch zwei schmale Sehschlitze versuchte er, rechtzeitig zu erkennen, wenn der Kerl das Klo verlassen wollte. Er rührte sich nicht, wartete, bis der Typ über ihn drüber stieg, hob im passenden Moment ein Bein und brachte ihn zu Fall.
Dass er auf ihn drauf fallen würde, damit hatte er gerechnet und schon geplant, sofort dessen Hals zu umklammern und ihm die Luft abzuschnüren – doch das war gar nicht nötig. Schlaff und regungslos drückte ihn der Kerl zu Boden.
Als Klimakowski endlich den schweren Körper von sich geschoben hatte, war ihm schwindlig und er blieb noch eine Weile schnell atmend liegen. Dann setzte er sich auf, fasste sich an die pochende Stirn und fühlte eine dicke Beule. Mühsam kam er wieder auf die Beine.
Ich brauche meine Knarre, dachte er, und begann, in der Klokabine hektisch nach der Waffe zu suchen, doch er konnte sie nirgends entdecken.
Auch bei dem immer noch bewusstlosen Typ, den er aus der engen Kabine heraus geschleift hatte, war sie nicht zu finden, er hatte ihn überall gründlich nach der Glock durchsucht.
Auf dem Boden vor der Kabine lag die Pistole ebenfalls nicht. Ratlos gab Klimakowski die Suche auf. Ich muss hier endlich aus diesem verdammten Klo raus, dachte er, wer weiß, wer noch hier herein schneit.
Zur Sicherheit verpasste er dem bewusstlosen Typen noch ein paar Faustschläge gegen die Schläfen, bis ihm die rechte Hand schmerzte, dann machte er sich auf den Weg.
Als Klimakowski das Damenklo verließ und in den Vorraum trat, stand plötzlich Treiber da, in gebückter Haltung, die Hände immer noch auf dem Rücken in Handschellen steckend. Aus verquollenen, blutunterlaufenden Augen starrte er ihn mit einem völlig irren Blick an und murmelte etwas Unverständliches.
Verdammt, dachte Klimakowski, diesen verdammten Bullen habe ich völlig vergessen. Aber er hatte jetzt wirklich keine Zeit mehr, sich um den Polypen zu kümmern, er musste sehen, dass er so schnell wie möglich in die Bahnhofshalle gelangte.
„Du weißt gar nicht, was du für ein Glück hast, Bulle“, zischte er, ging auf den mitten im Raum stehenden Inspektor zu und stieß in mit beiden Händen so heftig vor die Brust, dass er auf den Boden stürzte.
„Wenn ich doch noch mal sehe, mache ich dich kalt, da kannst du Gift drauf nehmen“, rief er, während er den Toiletten-Vorraum durchquerte.
Er öffnete die Eingangstor und schlüpfte hinaus in den schummrig beleuchtenden Gang der Unterführung. Und noch während sich die Tür schloss, hörte er, wie jemand drinnen „Hilfe“ rief.
Er vermutete, dass es Treiber war, der da rief, doch da der Ruf nicht besonders laut war und auch so klang, als sei er mit allerletzter Kraft herausgepresst worden, bereitete ihm das keine großen Sorgen.
Klimakowski hatte den ungemütlichen Gang durchquert und die Treppe erreicht. Sein Schädel brummte gewaltig, und als er schwer atmend die Stufen hochstieg, merkte er, dass er sich schon einmal in einer wesentlich besseren Form befunden hatte.
Am Treppenabsatz angelangt, blieb er zunächst ein paar Sekunden lang stehen, um Luft zu holen. Er fühlte sich, als sei er in den letzten Stunden um mindestens zwanzig Jahre gealtert.
Bis zur Metall-Doppeltür, die in die Bahnhofshalle führte, waren es vielleicht noch zehn Meter. Klimakowski gab sich einen Ruck und ging weiter.
Er stellte fest, dass die beiden runden Glasscheiben, die sich in der Tür befanden, so verdreckt waren, dass es unmöglich war, hindurch zu sehen und einen Blick in die Halle zu werfen.
Er öffnete die quietschende Schwingtür, betrat die Halle, doch nach zwei Schritten blieb er abrupt stehen. Er sah, dass es hier drinnen vor Uniformierten nur so wimmelte. Einige Polizisten waren mit Helmen, Schutzwesten und Maschinenpistolen ausgerüstet.
Klimakowski machte auf dem Absatz kehrt. Während er durch die Tür nach draußen stürmte, hoffte er inständig, dass ihn noch niemand bemerkt hatte. Ihm war klar, dass der große Bullenaufmarsch nur ihm gelten konnte.
Während er die Treppe hinunter eilte und ihm plötzliche Adrenalinschübe neuen Schwung verliehen, ärgerte er sich, dass sein Plan, sich per Zug Richtung Ungarn aus dem Staub zu machen, Makulatur war. Er hatte keine Ahnung, wie es jetzt weiter gehen solle.
Im Grunde blieb ihm nur, mit dem Polizeiauto das Weite zu suchen. Doch wohin nur sollte er fahren? Wenn es überhaupt noch möglich sein sollte, mit dem SUV abzuhauen. Vielleicht warteten die Cops auf dem Parkplatz ja schon mit entsicherten Colts auf ihn.
E hastete durch den Fußgängertunnel und wäre um ein Haar auf einer glitschigen Aldi-Plastiktüte ausgerutscht. Verzweifelt arbeitete sein Gehirn an einem Plan B.
Schon von weitem entdeckte er ihn. Er saß auf dem Boden, direkt neben der Toilettentür, die linke Schulter an die mit obszönen Graffitis beschmierte Wand gelehnt, die Hände immer noch auf dem Rücken mit Handschellen gefesselt.
Klimakowski sah keine Veranlassung, sein Tempo zu drosseln. Doch kurz bevor er bei Treiber angekommen war, musste dieser ihn erkannt haben.
Der Inspektor richtete sich mühsam auf, starrte ihn wütend an und schrie mit sich überschlagener Stimme: „Du sollst in der Hölle schmoren, du verdammter Hurensohn.“
Klimakowski reagierte, indem er ihm beim Vorbeilaufen den rechten Ellbogen in die Rippen rammte, so dass Treiber mit einem schrillen Schrei zusammensackte.
Jetzt fehlt bloß noch, dachte Klimakowski, dass dieser andere Kerl aus dem Klo auch noch auftaucht. Ich hätte ihn doch besser kaltmachen sollen. Und diesen Bullen auch. Warum bin ich nur so ein herzensguter Mensch? Und dann sah er schon die Treppenstufen, die nach oben auf den Parkplatz führten.
63.
„Zahlen“, brummte der einzige Gast, nachdem er den letzten, schalen Rest seines fünften Bieres ausgetrunken und sich mit der fleischigen Hand den Mund abgewischt hatte. „Komme gleich“, rief Helga Lacknagel, die am Stehtisch neben dem kaputten Spielautomaten stand und versuchte, mit einem Wischlappen die Sauerei aus Ketchup und Mayonnaise wegzubekommen, die der Muscle-Shirt-Typ mit der Hakennase und dem Kettensägen-Tattoo auf dem rechten Bizeps hinterlassen hatte.
Kurz nachdem der Möchtegern-Rambo schwankend das „Night Owl Café“ verlassen hatte, entschied Helga, dass es Zeit für eine Zigarettenpause sei. Da im Lokal Rauchverbot herrschte und momentan kein Gast zu bedienen war, schnappte sie sich ihre Packung „Midnight Rider“ und ging nach draußen in die Bahnhofshalle.
Während sie ihrer Filterlosen Feuer gab, ärgerte sie sich über den letzten Gast, der ihr nicht nur ein Trinkgeld vorenthalten, sondern ihr nach der Bezahlung auch noch mit säuerlichem Atem zugeraunt hatte: „Der Rücksitz meines Landrovers ist super bequem, Schnecke.“
Als prompte Reaktion hatte Helga ihm „Verpiss dich, du notgeiler Riesenaffe“ zugerufen, worauf der Bodybuilder den tödlich Beleidigten gemimt hatte und kommentarlos abgerauscht war.
Helga war froh, dass ihr Boss sich in diesem Augenblick im Hinterzimmer aufgehalten hatte, denn hätte er gehört, was sie zu dem Gast gesagt hatte, wäre er sauer gewesen.
Sie wusste, dass Freddy Wert drauf legte, immer scheiß-freundlich zu den Gästen zu sein und sie mit Respekt zu behandeln, egal wie schlimm sie sich aufführten. Das stank ihr zwar, aber sie kannte ihren Chef, einen Sturkopf mit Hang zu plötzlichen Wutausbrüchen.
Einmal hatte Freddy zornerfüllt einen Zuckerstreuer nach ihr geworfen und ihren Kopf nur um Haaresbreite verfehlt, nur weil sie sich geweigert hatte, einem aufgeblasenen, unverschämten Jüngling eine neue Gulaschsuppe zu bringen. Angeblich sollte eine Fliege in den von ihr gerade servierten Teller hinein gepinkelt haben.
Allerdings hatte sie dem frech grinsenden Halbstarken auch noch den Mittelfinger gezeigt, und vielleicht war es ja das gewesen, was ihren Boss so fürchterlich aufgeregt hatte.
Helga wollte keinesfalls riskieren, dass Freddy bei der Gehaltserhöhung, die er ihr ab dem nächsten Monat hochheilig versprochen hatte, doch noch einen Rückzieher machte. Schließlich brauchte sie dringend eine finanzielle Auffrischung, damit die Ratenzahlungen für die neue PlayStation nicht ins Stocken gerieten.
Sie hatte sich gerade eine Zigarette angezündet und einen tiefen Zug genommen, als sie beobachte, wie sich die fast menschenleere Halle plötzlich füllte – allerdings nicht mit Fahrgästen, Pennern oder anderem lichtscheuem Gesindel, sondern mit Uniformierten.
Im Rudel kamen sie aus der Richtung des Haupteingangs angestürmt, liefen hektisch hin und her und schwangen bedrohlich ihre Knarren, als gelte es, eine Bande Terroristen unschädlich zu machen.
Helga fiel auf, dass einige von ihnen in einer Art Kampfanzug steckten und Helme mit dunklen Visieren trugen, so dass sie die Augen der Männer nicht sehen konnte.
Ihr war der Aufmarsch von schwer bewaffneten Staatsdienern nicht geheuer, und so trat sie ihren Glimmstängel mit dem Schuhabsatz aus und ging schnell wieder zurück ins Café.
Da sie sich hinter den großen Glasscheiben des Lokals alles andere als sicher fühlen würde, falls es draußen zu einer wilden Schießerei kommen wollte, und sie sich zudem nicht vorstellen konnte, dass jetzt noch Kunden hier auftauchen würden, beschloss sie, ihren Chef zu bitten, früher Feierabend machen zu dürfen.
Im Hinterzimmer fand sie Freddy vor seinem Laptop an seinem Schreibtisch sitzend an, vertieft in irgendein blutiges Zombiejagd-Spiel. Er hatte seine fleckige Schürze abgelegt, und Helga konnte sehen, wie sich sein stattlicher Bauch unter dem Iron-Maiden-T-Shirt abzeichnete.
Freddy hatte sich Kopfhörer aufgesetzt, damit die gellenden Todesschreie, das ganze laute Getöse, Gemetzel und Geballere nicht in den Gastraum schallte, doch manchmal hatte Helga schon überlegt, ob ein Teil ihrer Stammkundschaft nicht noch länger hier verweilen und für mehr Umsatz sorgen würden, wenn sie sich ihre Burger und Biere vor dieser geisteskranken Geräuschkulisse schmecken lassen würden.
Freddy passte es nicht, von Helga bei seinem Feldzug gegen eine Armee von Untoten und Hades-Söldnern gestört zu werden, doch weil er neugierig war, schlurfte er in den Gastraum und warf einen Blick durch die Scheiben.
„Du hast recht, Darling“, brummte er, „die Bullen scheinen einen Betriebsausflug zu machen. Aber ich glaube kaum, dass sie bei uns einkehren werden, die haben bestimmt Picknickkörbe mit dabei. Als gut, zisch ab, Kleines, ich mach’ den Laden dicht. Heute rollt hier kein Rubel mehr. Ich schick’ Natascha ´ne Mail, dass sie morgen ´ne Stunde früher kommen und hier klar Schiff machen soll. “
„Danke Freddy, du bist ein Schatz.“ Helga hatte es jetzt furchtbar eilig. Sie wollte schnell aus der Bahnhofshalle heraus sein, bevor hier noch irgendetwas passierte und sie mitten hinein geriet.
Im Hinterzimmer entledigte sie sich ihres eng geschnittenen, silbernen Servier-Overalls, wobei es ihr mittlerweile egal war, dass ihr Boss immer gern dabei zuschaute. Soll er nur starren, bis er den Grauen Star kriegt, dachte sie. Solange er seine Finger von mir lässt, ist das okay.
Während Freddy in der Tür stand und sie beäugte, schlüpfte sie in ihre Jeans und zog sich den roten Baumwollpulli über. Dann schnappte sie sich ihren Lederbeutel, sagte zu Freddy „Tschüss, bis morgen Nachmittag, Big Boss“, schob ihn sanft zur Seite und war schon kurz vor der Eingangstür, als ihr Chef ihr nachrief: „Du hast deine Jacke vergessen, Liebling. Und außerdem: Du weißt genau, wie sexy du bist.“
„Dir werden noch mal die Augen ausfallen, Chef“, meinte Helga, rollte mit den Augen und grinste, während sie noch einmal in den Hinterraum eilte und ihre Softshell-Jacke anzog. Als sie das Café verließ, stellte mit Erstaunen fest, dass die Uniformierten und Anti-Terror-Kämpfer jetzt wieder in die Richtung rannten, aus der sie vorhin gekommen waren.
Vielleicht ist es doch eine Übung, dachte sie und setzte sich im Eilschritt in Bewegung, sorgsam darauf achtend, nicht einem der Bewaffneten vor die Füße zu laufen. Gottseidank ist es nicht weit bis zur Treppe in die Unterführung, dachte sie, und dann schnell ab nach Hause und in mein Bett.
64.
Klimakowski atmete auf. Auf dem Parkplatz warteten keine Bullen auf ihn, und der Polizei-SUV stand immer noch dort, wo er ihn abgestellt hatte. Neben ihm hatte allerdings jemand seinen BMW geparkt.
Soweit er es erkennen konnte, war der Wagen ziemlich neu und ein Modell der teuren 7er Reihe. Er schloss nicht aus, dass der Schlitten dem Typ gehörte, der ihm im Klo aufgelauert hatte.
Er bedauerte es, nie gelernt zu haben, wie man ein Auto knackt und den Motor ohne Schlüssel startet. Es wäre eine absolute Genugtuung für ihn, mit dem Luxusschlitten des Typen abzudüsen. Leider blieb ihm so nur das Polizeiauto . Aber konnte er es wirklich riskieren, weiter mit dem Bullen-SUV durch die Stadt zu fahren?
Er spürte seinen schmerzenden Kopf wieder stärker, und eine Mattigkeit überkam ihn, so dass er sich auf das Mäuerchen neben dem Treppenabgang setzte. Er merkte, dass er einen Moment brauchte, ein kleine Pause, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Ein Plan muss her, dachte er, und zwar schnell. Doch er hatte keine Idee, wie es weitergehen sollte.
Plötzlich musste er lachen. Vielleicht sollte ich ein Taxi rufen und mich damit zum Flughafen bringen lassen, dachte er, aber vielleicht fang ich ja auch langsam an, verrückt zu wenden.
Dann hörte er auf einmal ein Geräusch, ein rhythmisches Klacken, das eindeutig aus dem Treppenschacht neben ihm kam, und augenblicklich verstummte er.
Er hatte keinen Zweifel daran, dass es Schritte waren, die er hörte. Jemand kam die Treppe hoch.
Klimakowski hielt es für besser, jetzt nicht gesehen zu werden. Er sprang auf und legte sich der Länge nach hinter die Mauer, ganz dicht an den kalten Beton geschmiegt.
Am sich verändernden Klang der Schritte hörte er, dass die Person oben an der Treppe angekommen war und jetzt auf den Platz ging. Sie schien sich von ihm zu entfernen, was ihn hoffen ließ, bisher unentdeckt geblieben zur sein.
Klimakowski wartete noch ein paar Sekunden, und riskierte es dann, sich ein wenig aufzurichten, um zu schauen, wer sich in dieser frühen, noch stockdunklen Morgenstunde außer ihm noch auf dem Parkplatz herumtrieb.
Im schwachen Licht der Laterne konnte er erkennen, dass es eine Frau war, die den Parkplatz überquerte und auf die zwei Autos zuging, die weiter hinten ganz am Rand des Geländes standen.
Die Frau war mit einer Jeans und einer sportlichen Jacke bekleidet, und ihr zügiger, elastischer Gang ließ ihn vermuten, das sie noch recht jung war. Über ihre rechte Schulter hatte sie einen Beutel gehängt, dessen Schnur sie mit der Hand umklammerte.
Klimakowski konnte sich nicht vorstellen, dass der riesige Pickup das Auto der Lady war, und er irrte sich nicht: Sie steuerte jetzt direkt auf den Polo zu.
Vielleicht noch zehn Meter von ihren Wagen entfernt kramte sie in ihrem Beutel, wahrscheinlich, um ihren Autoschlüssel heraus zu holen, dachte er, und da kam ihm eine Idee. Mit einem Mal hatte er einen Plan. Mädel, du kommst mir wie gerufen, freute er sich, du bist die Chance, die ich brauche.
Er wartete, bis sie die Fahrertür geöffnet hatte und in ihren Wagen eingestiegen war. In dem Moment, wo sie die Tür zuzog, sprintete er los. Ich muss unbedingt beim Auto sein, bevor sie losfährt, dachte er und rannte, so schnell er konnte.
65.
Helga wunderte sich nicht, dass direkt neben dem Treppenabgang ein Polizeiauto parkte. Es wäre nicht das erste Mal, dachte sie, dass die Ordnungshüter nachts auf einen Schluck in einer der Bahnhofshallen-Spelunken, die noch geöffnet hatten, einkehrten.
Auch sie selbst servierte durstigen und hungrigen Uniformierten hin und wieder Drinks und Snacks und freute sich über das Trinkgeld der meist gut gelaunten Beamten, auch wenn Freddy in seinem Café Bullen nicht so gerne sah.
Die Vorstellung, dass zwei durstige, müde Streifenpolizisten kurz vor Feierabend versehentlich in einen Antiterror-Einsatz hineingeraten waren und sich plötzlich von einem Schwarm hektischer Helmträger mit Maschinenpistolen umringt sahen, erheiterte sie. Sie würde sich nicht wundern, wenn bei solch harten Typen der Finger am Abzug immer recht locker säße.
Vielleicht haben die Streifenbullen ja Zuflucht in der „Hopfengrotte“ gefunden, dachte Helga, auch wenn die übelste Kneipe des Bahnhofs nicht gerade das Stammlokal der Uniformträger war.
Freddy hatte ihr einmal erzählt, in der Grotte würden Bierdeckel erst dann durch neue ersetzt, wenn sie auf dem Tresen festklebten und man sie mit einem Spachtel abkratzen musste.
Harry, der hasenschartige Wirt, sei halt ein alter Geizkragen und Betrüger, der Biergläser aus Prinzip nur bis zu einem Finger unter dem Eichstrich einschenkte, hatte Freddy bemerkt. Er könne einfach nicht verstehen, warum das Gesundheitsamt diese schmierige Kaschemme nicht schon längst dicht gemacht habe.
Helga war jetzt an ihremWagen, den sie wie immer ein ganzes Stück weiter abgestellt hatte, angelangt. Sie genoss es, nach einer ermüdenden Schicht in Freddys stickigem Lokal noch zwei, drei Minuten lang die frische Nachruft einzuatmen, bevor sie sich in ihren Polo setzte.
Sie holte ihren leicht verbogenen Autoschlüssel aus dem Beutel und entriegelte die Fahrertür. Mit einem leisen Seufzer ließ sie sich in das eingedrückte, schwammige Polster des Fahrersitzes sinken, zwängte mit etwas Mühe den krummen Schlüssel ins Zündschloss, startete den Motor, legte den Sicherheitsgurt an und schaltete das Radio ein.
Da sie nicht auf Volksmusik stand, holte sie eine CD aus dem Handschuhfach und schob sie in den Schlitz des Laufwerks. Irgendwann werde ich den Schlüssel nicht mehr herausbekommen, dachte sie besorgt, oder er wird mir abbrechen, was noch schlimmer ist. Aber vielleicht habe ich ja auch Glück, und das Ding hält, bis ein unbarmherziger TÜV-Prüfer meinem Wägelchen die rote Karte zeigt.
Zu den Klängen von „Highway To Hell“ legte sie den Rückwärtsgang ein, gab etwas Gas und ließ die Kupplung kommen, doch die Gestalt, die sie urplötzlich im Rückspiegel auftauchen sah, veranlasste sie nicht nur, einen spitzen Schrei auszustoßen, sondern auch, heftig auf die Bremse zu treten.
Mit einem Ruck kam der Wagen zu stehen, den Motor hatte Helga abgewürgt. Ehe sie sich versah, tauchte die Gestalt auf der Beifahrerseite des Autos auf.
Helga stand zu sehr unter Schock, um rechtzeitig zu reagieren und die Tür per Knopfdruck zu verriegeln. Sie sah jetzt, wie ein Mann sie durch das Seitenfenster anstarrte – und der hatte jetzt leichtes Spiel.
Er riss die Tür auf – und in der nächsten Sekunde saß er schon auf dem Sitz neben ihr. Er drehte sich zu ihr hin und hatte plötzlich ein Messer in der Hand, das er ihr an den Hals hielt. Helga erstarrte vor Schreck und wagte es nicht, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen.
„Guten Morgen, schönes Kind“, sagte der Mann, drückte ihr sanft die Messerklinge an die Stelle zwischen Kinn und Kehlkopf und lächelte sie dabei an. „Keine Angst, ich will dir nichts tun, ich nehm’ das Messer gleich wieder weg, wenn du dich ein bisschen entspannt hast.“
Helga musste schlucken, und dabei spürte sie, wie das Messer ein wenig in die straffe Haut an ihrem Hals eindrang. „Ganz ruhig, Süße“, sagte der Mann, und seine Stimme klang dabei eine Spur zu freundlich, wie Helga fand. Sie wagte kaum zu atmen, und ihre kalten Hände hielten immer noch das Lenkrad fest umklammert.
„Ich erklär dir jetzt, um welchen Gefallen ich dich bitten möchte“, fuhr der Mann fort, „und dann wirst du sehen, dass ich nichts Böses mit dir vorhabe. Keine Vergewaltigung jedenfalls“, und dabei kicherte er, so dass Helga ein Schauer über den Rücken lief und sie sich noch mehr verkrampfte.
„Ich möchte nur, dass du mich mit deinem Rolls Royce ein Stück mitnimmst“, sagte er, nachdem er sein krankhaft klingendes Gekicher eingestellt hatte. „Mein Schlitten hat leider seinen Geist aufgegeben. Ich gehe mal davon aus, dass du jetzt nach Hause fahren willst, oder?“
Helga machte eine vorsichtige Bewegung mit ihrem Kopf, von der sie hoffte, dass der Typ dies als bestätigendes Nicken auffassen würde. Aus den Augenwinkeln heraus versuchte sie, das Alter des Mannes zu schätzen. Er sieht aus wie Mitte Zwanzig, dachte sie.
„Ja prima“, reagierte er, „lass mich für ein Stück deines Heimweges dein Begleiter sein. Son wird die Fahrt auch nicht so langweilig für dich. Ich sage dir dann schon rechtzeitig, wenn du mich rauslassen sollst.“
Helga versuchte, sich ein wenig zu beruhigen und etwas gleichmäßiger zu atmen, doch solange dieser Typ ihr sein Messer an die Kehle drückte, war es mehr als schwer für sie, sich zu entspannen. Dass der Kerl ihr ziemlich durchgedreht vorkam, minderte ihre Angst jedenfalls nicht.
„Wohnst du in der Innenstadt?“, fragte er, und seine Stimme hatte jetzt einen ganz normalen, sachlichen Ton, so als habe sie sich sein irres Kichern von vorhin nur eingebildet. „Ja“, antwortete sie leise, es war das erste Wort, das sie sprach, seitdem er in ihr Auto eingedrungen war. „Das trifft sich ausgezeichnet“, meinte er, und es klang bestens gelaunt, „da will ich nämlich auch hin“.
„Okay“, antwortete Helga mit kratziger Stimme, und nahm dann ihren ganzen Mut zusammen: „Wenn du das Messer von meinem Hals nehmen würdest, könnten wir gleich losfahren.“
Seine Reaktion klang spöttisch: „Sieh mal an, die kleine Lady fängt an, Forderungen zu stellen. Aber das ist völlig in Ordnung, denn ich glaube, mit einer scharfen Klinge an deiner Gurgel kannst du wahrscheinlich nicht besonderes gut Auto fahren, oder?“ „Nein“, hauchte Helga.
Der Mann nahm das Messer von ihrem Hals, richtete die Klinge aber sofort auf ihre rechte Bauchseite, so dass sie spürte, wie die Messerspitze durch ihren Pulli auf eine Stelle oberhalb des Hüftknochens drückte. „Dann fahr mal los, Kleines, und damit du du nicht auf die Idee kommst, irgendwelche Faxen zu machen, stecke ich mein Messer noch nicht wieder ein.“
Helgas Hände zitterten, als sie den Wagen startete und den Rückwärtsgang einlegte. Sie setzte ein Stück zurück, stoppte, schaltete in den ersten Gang, lenkte nach rechts ein und gab dann zu viel Gas beim Anfahren, so dass ihr Auto einen Satz nach vorne machte.
„Hoppla, kleine Lady“, rief ihr Beifahrer, „nicht so temperamentvoll, sonst ramm’ ich dir aus Versehen noch mein Messer in deinen schönen Bauch.“
„Tut mir leid“, antwortete Helga, doch während sie im zweiten Gang gemächlich auf die Parkplatzausfahrt zusteuerte, bemerkte sie, dass der Eindringling, der ihr immer mehr wie ein unberechenbarer Geistesgestörter vorkam, sich nicht angeschnallt hatte.
Vielleicht ist das ja meine Chance, diesen Typen loszuwerden, dachte sie. Denn sie hatte das beklemmende Gefühl, dieser Mann sei jederzeit fähig, ihr etwas Schreckliches anzutun.
Er brauchte ihr nur befehlen, in einen Feldweg einzubiegen. Und dann, weit entfernt von dem nächsten Haus, sie aufzufordern anzuhalten. Es war immer noch dunkel, und er hatte das Messer. Soweit darf ich es nicht kommen lassen, dachte Helga.
66.
Lausig wachte auf und wusste zunächst nicht, wo er war. Sein Kopf fühlte sich an, als hätte man ihn als Punchingball genutzt.
Er stellte fest, dass er auf harten, kalten Steinfließen lag. Er hob den schmerzenden Kopf ein wenig, und sein Blick fiel auf eine Toilettenschüssel.
Er sah jetzt, dass er in der Tür einer Klokabine lag und fragte sich, wie er dorthin gekommen sei und was überhaupt passiert war. Stöhnend stand er auf. Alles drehte sich, und er musste sich mit einer Hand am Türrahmen festhalten.
Als der Schwindel nachließ, wagte er es, ein paar vorsichtige Schritte in Richtung der nächsten Tür zu tun. Und während er schwankend den nächsten Raum betrat und die Waschbecken und herausgerissenen Händetrockner sah, setzte sein Erinnerungsvermögen allmählich wieder ein.
Ich bin hier im Klo des Fußgängertunnels, der zur Bahnhofshalle führt, und da war dieser Kerl, der mich mit der Knarre bedroht hat und dem ich etwas auf den Kopf gehauen habe. Er erinnerte sich allerdings auch daran, dass dieser Typ ihn letztlich schachmatt gesetzt hatte, und ihm deshalb der Schädel so brummte.
Lausig ging zu einem der Waschbecken, überwand seinen Ekel, hielt seinen Kopf unter den Wasserhahn, so dass seine Nasenspitze den verdreckten Beckenboden berührte, und ließ kaltes Wasser über seinen Schädel fließen – so lange, bis ihm wieder eingefallen war, weshalb er überhaupt einen Fuß in dieses schäbige Etablissement gesetzt hatte.
Da war dieser Schrei, und irgendetwas war auf dem Herrenklo vorgefallen, und ich wollte nachsehen, und dieser Brutalo mit der Knarre war wahrscheinlich darin verwickelt, und dann hat er mich ausgeknockt.
Für Lausig stand außer Frage, dass er jetzt gleich das tun musste, wozu er vorhin nicht gekommen war: auf der Herrentoilette nach dem Rechten schauen.
Er trocknete sich Haare und Gesicht notdürftig mit seinem Stofftaschentuch ab und spürte, dass die kalte Kopfdusche seine Lebensgeister geweckt hatte. Auch das Schädeldröhnen hatte nachgelassen.
Er betrat das Herrenklo und sah, dass alle Türen der vier WC-Kabinen offen standen und sich niemand darin befand. Er inspizierte jede einzelne der engen Kabinen, konnte allerdings nichts entdecken, was auf eine Straftat hindeutete. Und doch war er felsenfest davon überzeugt, sich den Schrei nicht eingebildet zu haben.
Lausig versuchte, sich zu konzentrieren. Ich muss von den Fakten ausgehen, dachte er, und ein Fakt war für ihn, dass der Kerl mit der Kanone, dem er die Kopfnüsse verdankte, sich aus dem Staub gemacht hatte. Fest stand auch, dass die zweite Person, die auf dem Herrenklo laut geschrien hatte, ebenfalls verschwunden war.
Vielleicht sind sie beide ja gemeinsam abgehauen, überlegte Lausig, und sein Gedanke, der Pistolenheld auf der Herrentoilette habe vielleicht jemand anderem Gewalt angetan, verdichtete sich mehr und mehr zur Gewissheit. Aber dann wäre noch die Frage offen, dachte er, ob das Opfer noch lebte oder nicht.
Allerdings konnte er sich nicht vorstellen, wie der Täter eine Leiche allein aus der Toilette bis zum Parkplatz transportiert haben sollte. Außerdem wäre dem Kerl das Risiko, entdeckt zu werden, bestimmt viel zu groß, glaubte er, auch wenn sich zu dieser frühen Morgenstunde kaum ein Mensch hier herumtrieb.
Lausig war jetzt überzeugt davon, dass der Brutalo mit der Waffe die andere Person gezwungen hatte, mit ihm die Toilette zu verlassen.
Es sieht verdammt nach Kidnapping aus, dachte er. Und ich sollte die minimale Chance nutzen, den Schurken noch zu erwischen. Denn mit Sicherheit hat er sich mit seinem Opfer in Richtung Parkplatz aufgemacht, und ein all zu großes Tempo werden die beiden dabei nicht vorlegen können.
Er wusste zwar nicht, wie lange es her war, dass der Typ ihn K.o.-geschlagen hatte, doch er hielt es für seine Pflicht, alles zu versuchen, um den Kerl vielleicht doch zu schnappen– und eventuell sogar ein Menschenleben zu retten.
Eilig verließ er die Toilette, trat in den menschenleeren Gang der Unterführung hinaus und bewegte sich im Joggingtempo in Richtung Parkplatz.
Ihm fiel ein, dass er unbewaffnet war und so ein sehr hohes Risiko einging. Außerdem wusste er nicht, wie lange er dieses forsche Lauftempo aufrechterhalten könnte. Da stehen meine Chancen ja ausgezeichnet, dachte Lausig.
67.
Inspektor Treiber tat alles weh. Vor allem der Schlag in die Rippen, dem ihm der irre Bombenleger noch als eine Art Abschiedsgruß verpasst hatte, setzte ihm zu. Bestimmt ist da etwas gebrochen, dachte er.
Doch Aufgeben kam für ihn nicht in Frage. Nachdem er sich aufgerappelt hatte, ging er in Richtung Bahnhofshalle, viel mehr als ein Schneckentempo war dabei nicht möglich. In der Halle wollte er die Kollegen der Bahnpolizei um Unterstützung bitten.
Die können gleichzeitig ja auch das Präsidium informieren, dachte er. Vielleicht ist Klimakowski ja so dumm und treibt sich im Bahnhof herum – und kann dann mit etwas Glück geschnappt werden. Allerdings hielt Treiber das für nicht sehr wahrscheinlich.
Meter für Meter schleppte sich sein geschundener Körper weiter durch diesen Fußgängertunnel, der kein Ende zu nehmen schien. Als er am Fuß der Treppe angelangt war, hätte er sich am liebsten auf die unterste Stufe gesetzt, so erschöpft fühlte er sich. Doch er riss sich zusammen und quälte sich Stufe für Stufe nach oben.
Oben angekommen blieb er schwer atmend stehen. Er bildete sich ein, dass sich so ein Bergsteiger fühlen müsste, der soeben den Gipfel des Mount Everest ohne Sauerstoffunterstützung erreicht hatte. Allerdings käme bei dem wahrscheinlich noch ein absolutes Glücksgefühl dazu, dachte Treiber, ein Gefühl, was ihm jetzt, nach dem anstrengenden Treppenaufstieg, fehlte. Denn noch war er nicht am Ziel.
Aber es waren nur noch wenige Meter bis zur Tür, die in die Halle führte. Er war sicher, das noch zu schaffen, und setzte sich schwankend in Bewegung.
Treiber hatte kaum noch genug Kraft, um die Tür aufzustoßen. Er stolperte in die Halle und wäre fast gestürzt, als er sah, dass es hier vor Bahnpolizisten nur so wimmelte.
Doch anhand der Uniformen und der Ausrüstung fiel ihm schnell sein Irrtum auf: Es waren keine Bahnpolizisten, die hektisch hin und her rannten, sondern schwer bewaffnete Sondereinsatzkräfte und Kollegen vom Anti-Terror-Kommando, alle in vollständiger Kampfmontur.
Der Inspektor hatte keine Erklärung für diesen geballten Einsatz, doch letztlich war es ihm völlig egal, wem er die Nachricht, der verrückte, bombenbastelnde Mörder halte sich vielleicht hier auf dem Bahnhofsgelände auf, überbringen würde.
Es ist einfach die Pflicht eines jeden Kollegen, der eine Waffe trägt, sofort nach dem durchgedrehten Killer zu suchen und ihn unschädlich zu machen, dachte er.
Der Inspektor aktivierte seine allerletzten Kraftreserven und lief, die tauben Hände immer noch hinter seinem Rücken in Handschellen steckend, auf eine vierköpfige Gruppe von SEK-Kollegen zu.
Während er rannte und dabei laut „Hallo, hallo“ rief, bemerkte er, dass die Beamten stehen geblieben waren und sich so formiert hatten, als habe man ihnen den Auftrag erteilt, die Tür zum Fußgängertunnel zu sichern.
Die vier Helmträger richteten ihre Maschinenpistolen auf den Inspektor, und einer von ihnen brüllte, er solle sofort stehen bleiben und die Hände über den Kopf halten, sonst würden sie schießen.
„Ich bin ein Kollege von der Kripo“, schrie Treiber und rannte weiter, doch als plötzlich Warnschüsse abgefeuert wurden und Kugeln über seinen Kopf flogen, stoppte er und ließ sich auf den Boden fallen.
Als die Männer vom Spezialeinsatzkommando feststellten, dass der Typ, den sie umringt hatten, Handschellen trug, fragte der Größte von ihnen der Inspektor, ob er aus einem Gefangenentransporter abgehauen sei.
„Ihr irrt euch Kollegen“, plärrte Treiber, „ich bin Inspektor Treiber von der Mordkommission und kann euch alles erklären. Ich bauche dringend eure Hilfe, denn dieser Klimakowski, ein gewissenloser Terrorist und Massenmörder, der mir leider entwischt ist, läuft hier noch frei herum.“
„Mit scheint eher, dass du hier der Terrorist bist“, erwiderte ein anderer der SEK-Kräfte und grinste dabei. „Und deshalb nehmen wir dich jetzt erst einmal in Gewahrsam und versuchen herauszukriegen, wer da nicht richtig auf dich aufgepasst hast. Oder willst du mir vielleicht erzählen, deine Freundin hätte dir bei irgendwelchen abartigen Sexspielchen die Handschellen verpasst und dich dann auf die Straße gesetzt?“
Jetzt grinsten alle Vier, und einer stieß sogar ein meckerndes Lachen aus, doch Treiber hatte es die Sprache verschlagen.
Erst als zwei SEK-ler ihn hochzogen und ein dritter ihm mit einem Klaps auf den Hinterkopf und dem Wort „Abmarsch“ zu verstehen gab, dass er dem vierten Mann, der schon losgegangen war, folgen sollte, sagt er wieder etwas. Doch sein Hinweis „Jungs, ihr irrt euch, wirklich“, erntete nur einen heftigen Stoß in den Rücken und ein scharfes „Halt bloß die Schnauze“.
Wenig später sah sich Treiber in einen fensterlosen Lagerraum gesperrt, ein dunkles Kabuff, in den anscheinend die stinkende Luft aus dem sich nebenan befindenden Bahnhofsklo hinein geblasen wurde.
Es sei nur vorübergehend, hatte man ihm gesagt, schon bald würde er in die Zentrale transportiert werden, wo ein intensives Verhör auf ihn wartete.
Seine Bitte, ihn von den Handschellen zu befreien, hatte man ihm ausgeschlagen, und auf seinen Hinweis, er habe das Recht, einen Anwalt anzurufen oder wenigstens seine Kollegen im Präsidium zu informieren, hatte er zu hören bekommen, es herrsche der Ausnahmezustand und deshalb hätte er überhaupt keine Rechte.
„Aber ich bin doch verhaftet, oder?“, hatte Treiber gerufen, nachdem er in die provisorische Zelle gestoßen worden war. „Nein, du bist nur in Sicherheitsgewahrsam, zu deinem eigenen Schutz,“ war ihm geantwortet worden. Dann hatte man die Tür verriegelt und ihn in dem Gestank und der Dunkelheit allein gelassen.
68.
Lausig kämpfte sich die Treppe zum Parkplatz hoch. Oben angekommen war er völlig außer Atem und verspürte ein heftiges Seitenstechen. Ich muss ein paar Sekunden verschnaufen, dachte er. Er sah, dass der Polizei-SUV immer noch neben seinem BMW stand.
Die lieben Kollegen in Uniform sitzen bestimmt gemütlich im Night Owl Café, vermutete er, während ich kurz vor dem Morgengrauen noch Bösewichtern hinterherlaufe. Warum habt ihr nicht einmal im Tunnelklo nach dem Rechten geschaut, statt euch von Freddy Bier einschenken zu lassen und mit Helga zu schäkern und auf ihre schönen Beine zu starren?
Er hatte gerade begonnen, sich zu ärgern, da fiel sein Blick auf den hinteren Teil des Parkplatzes. Dort, in vielleicht hundert Metern Entfernung, stand ein Kleinwagen, ein paar Meter vom Parkplatzrand entfernt. Lausig bemerkte, dass das Licht eingeschaltet war.
Dann entdeckte er eine Gestalt, direkt neben dem Auto, auf der Beifahrerseite. Er sah, wie diese Gestalt die Tür aufriss und schnell einstieg. Lausig glaubte, dass es sich um einen Mann handelte, und auf einmal hatte er einen schrecklichen Verdacht.
Er entschloss sich, in den BMW zu steigen. Falls der Polo jetzt losfahren sollte, überlegte er, habe ich so noch eine Chance, ihn zu verfolgen.
Er griff in die rechte Hosentasche, um den Autoschlüssel herauszuholen, doch dort war er nicht. Hektisch suchte er in den anderen Taschen nach, auch in denen seiner Jacke, doch er konnte ihn nirgends finden.
Lausig stieß einen Fluch war. Es gab keinen Zweifel, er musste den Autoschlüssel verloren haben. Jetzt blieb ihm nur noch eine Möglichkeit.
Er lief los, direkt auf den Wagen zu. Er sah, wie das Auto ein paar Meter zurücksetzte, abrupt abbremste, und dann mit aufheulendem Motor einen Satz nach vorn machte. In einer Rechtskurve beschleunigte der Wagen und steuerte dann geradeaus auf die Ausfahrt zu.
Lausig rannte weiter, dem Wagen hinterher. Er sah, dass es sich um einen Polo handelte. Für einen kurzen Augenblick war er dem Auto so nah gekommen, dass er das Nummernschild erkennen konnte. Er prägte sich das Kennzeichen ein, und während sich der Abstand zwischen ihm und dem Polo vergrößerte, beendete er seinen Lauf.
Vornüber gebeugt und heftig atmend stand er mitten auf dem Parkplatz. Das Seitenstechen war verschwunden, aber dafür war ihm jetzt übel. Trotzdem war er nicht völlig frustriert, schließlich gab es ja einen Lichtblick.
Ich wette, das war dieser Kerl aus dem Klo, dachte Lausig. Aber gottseidank habe ich das Kennzeichen. Und mit einem bisschen Glück führt es mich zu dem Mann. Und dann schnapp ich mir den Gangster, und es wird herauskommen, was er auf dem Kerbholz hat. Denn dass der Revolverheld Dreck am Stecken hat, ist sonnenklar.
Lausig wartete, bis sich seine Atmung wieder beruhigt hatte. Dann überlegte er, wie es jetzt weitergehen solle. Ihm blieben nicht viele Optionen. Ohne Autoschlüssel konnte er mit dem BMW nicht fahren. Ein Taxi konnte er nicht rufen, weil er kein Handy dabei hatte. Also musste er laufen.
Noch einmal den Weg durch den Fußgängertunnel zu nehmen, um in den Bahnhof zu gelangen, kam für ihn nicht infrage. Im fiel ein, dass es auf dem Weg in die Innenstadt einen Kiosk gab, der schon in aller Herrgottsfrühe öffnete. Von dort aus könnte ich telefonieren, überlegte er, und meinen Kumpel Edgar aus dem Bett scheuchen. Außerdem könnte ich ein Taxi ordern.
Edgar arbeitete in der Kfz-Zulassungsstelle und schuldete ihm noch einen Gefallen. Und weil er sich auch von zu Hause aus in den Computer der Behörde einloggen konnte, wie Lausig wusste, war er schnell in der Lage herauszubekommen, auf welche Person der Polo zugelassen war. Mit der Kenntnis des Kennzeichens sollte dies kein Problem darstellen, dachte Lausig.
Jetzt blieb ihm nur noch zu hoffen, dass der Kioskbetreiber ihm ohne große Widerstände sein Smartphone ausleihen würde. Vielleicht sollte er einen dringenden Notfall geltend machen, denn seinen Dienstausweis würde er nicht vorweisen können, da dieser in einer Jacke steckte, die im Büro hing.
Müde und mit schweren Beinen machte sich Lausig auf den Weg zum Kiosk. Während er den Parkplatz verließ, verwarf er die Idee, auch im Präsidium anzurufen. Denn angesichts der blöden Sache mit dem BMW wollte er keine schlafenden Hunde wecken und gezwungen sein, auf unangenehme Fragen zu antworten. Der dicke Ärger kann ruhig noch etwas warten, dachte er.
69.
Helga sah ein, dass ihr Plan zu riskant war. Als sie registriert hatte, dass der Mann nicht angeschnallt war, hatte sie kurz überlegt, ob eine plötzliche Vollbremsung dazu führen könnte, dass der Typ mit dem Kopf auf die Windschutzscheibe knallt und auf diese Weise ausgeknockt wird.
Doch leider spürte sie, wie der Kerl während der Fahrt die Spitze seines Messers immer noch gegen ihre rechte Bauchseite drückte, und sie wollte keinesfalls riskieren, dass er während eines abrupten Bremsmanövers die Kontrolle über seine Waffe verlieren und sie verletzten würde.
Ein Messer im Bauch zu haben, dachte sie, ist bestimmt alles andere als lustig. Und so blieb ihr keine andere Wahl, als weiterzufahren und dabei darauf zu achten, die Höchstgeschwindigkeitsregeln einzuhalten, kein Stop-Schild zu überfahren und an einer Ampel bei Rot zu halten.
Sich darauf zu konzentrieren, fiel Helga in dieser Situation nicht leicht, denn dieser Mann, der sie in seiner Gewalt hatte, erschien ihr schwer gestört, und das jagte ihr Angst ein. Aber weil er ihr eindringlich zu verstehen gegeben hatte, unbedingt so zu fahren, dass sie nicht die Aufmerksamkeit einer Polizeistreife auf sich ziehen würden, fürchtete sie sich davor, einen Fehler zu machen und vielleicht ein Vorfahrt-Achten-Schild zu übersehen.
Wer weiß, dachte sie, wozu dieser Irre in der Lage ist, wenn irgendetwas außer Kontrolle gerät und er vielleicht einen Wutanfall bekommt. Im Grunde blieb ihr nur die Hoffnung, er würde wirklich das tun, was er vorgegeben hatte. Sie an irgendeiner Stelle in der Innenstadt anhalten zu lassen, um auszusteigen. Und ihr dann erlauben, allein weiterzufahren.
Allerdings zweifelte sie mehr und mehr daran, dass es so kommen würde. Sie befürchtete, dass er doch irgendetwas mit ihr im Schilde führte. Zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass er ein geistesgestörter Kidnapper war, der sie mit in seine Wohnung in der City schleppen wollte, um dort die schrecklichsten Dinge mit ihr anzustellen.
Vielleicht wartete schon ein dunkler, feuchter, schallisolierter Kellerraum auf sie, lediglich mit einem altem Metallgitterbett ausgestattet, an dessen Streben der Irre ihre Hände fesseln würde.
Helga spürte, wie eisige Schauer ihr den Rücken hinunterliefen und sich ihr Puls beschleunigte. Um ein Haar wäre sie in ein auf dem Parkstreifen stehendes Auto gefahren, mit einer plötzlichen Lenkbewegung gelang es ihr gerade noch, dem Hindernis auszuweichen.
Der Polo geriet kurz ins Schlingen, und ihr Beifahrer schrie „Pass doch auf“, dann hatte sie ihren Wagen wieder unter Kontrolle.
„Willst du uns umbringen, Sweetheart?“ fragte er wütend, doch als er sah, dass ihre Hände, mit denen sie das Lenkrad umklammert hielten, zitterten, bemühte er sich, seine Stimme sanfter klingen zu lassen.
„Okay, okay, Honey, nun beruhig dich wieder, es ist ja nichts passiert. Fahr einfach weiter zu deiner Wohnung, ich denke, weit wird es nicht mehr sein. Ich habe mir übrigens überlegt, doch noch etwas länger dein Begleiter und Beschützer zu sein. Und wenn ich ehrlich bin, fände ich es unheimlich nett von dir, wenn du mir deine Wohnung zeigen würdest. Ich bin einfach unheimlich neugierig darauf zu sehen, wie ein so hübsches Mädchen wie du sich eingerichtet hat. Du würdest mir diesen Wunsch doch nicht abschlagen wollen, oder?“
Während Helga spürte, wie der Kidnapper den Druck seines Messers erhöhte, wahrscheinlich um ihr so zu verstehen zu geben, dass ihr keine andere Wahl blieb, als ihm zuzustimmen, drehte sie ganz kurz ihren Kopf ein wenig nach rechts, gerade lange genug , um sehen zu können, wie ein teuflisches Grinsen in seinem Gesicht aufleuchtete.
Helga gruselte sich jetzt vor diesem Mann, und vor lauter Entsetzen brachte sie kein Wort hervor.
„Ist das okay für dich, in deinem gemütliche Heim ein wenig Gesellschaft zu haben?“ hakte er nach, wobei er wieder einen schärferen Ton anschlug und den Druck des Messer weiter verstärkte, so dass Helga das Gefühl hatte, die Spitze sei bereits durch ihre Haut gedrungen. „Ja, ja“, stöhnte sie, worauf er „Dann ist ja alles klar, Kleines“ erwiderte und das Messer etwas zurückzog.
70.
Fünf Minuten später bog Helgas Polo in die Straße ein, in der das Apartmenthaus, in dem sie wohnte, stand. Sie wusste, dass es keine gute Idee war, zusammen mit dem Kerl in ihre Wohnung zu gehen, und verlangsamte das Tempo, so dass sie nur noch mit Schrittgeschwindigkeit fuhr. Allerdings hatte sie keine Ahnung, wo sie sonst mit ihm hin sollte.
„Warum fährst du langsam, Liebes?“, fragte ihr angsteinflößender Beifahrer, „sind wir etwa schon da, und du suchst einen Parkplatz?“ „Nein“, antworte Helga, „ich habe einen Stellplatz in der Tiefgarage“, bereute allerdings sofort, dem Kerl diese Information gegeben zu haben. Die Vorstellung, mit diesem Mann allein in der Tiefgarage zu sein, und das, bevor es hell wurde, weckte die schlimmsten Fantasien in ihr.
„Ja dann gib mal Gas“, forderte der Mann sie auf, „fahr in die Tiefgarage, worauf wartest doch noch. Ich kann es kaum erwarten, dass du uns eine schöne Tasse Kaffee kochst, und dann machen wir zwei es uns ein bisschen gemütlich. Aber keine Angst, Kleines, nicht dass du das falsch verstehst. Du bist zwar ein hübsches Ding, aber ich steh eher auf Jungs. Mach dir also keine falschen Hoffnungen. Das einzige was ich von dir will, ist deine Gastfreundschaft, so lange wie ich sie benötige. Und vielleicht brauche ich dich auch für das ein und andere lustige Spiel, damit uns nicht langweilig wird, und es kann durchaus sein, dass dir nicht jedes Spiel gefallen wird.“
Helga schwieg, während sie von einem tiefen Unbehagen befallen wurde. Nachdem sich das Tor zur Tiefgarage geöffnet hatte, fuhr sie langsam die steile Abfahrt hinunter und steuerte ihren Wagen vorsichtig an den Betonsäulen vorbei auf ihren Stellplatz zu. Noch nie hatte sie sich hier unten so unwohl gefühlt.
Beim Einparken ließ sie ihre Konzentration im Stich. Mit einem kratzenden Geräusch schrammte das Heck ihr Autos an einer Säule entlang. „Hey hey, Mädel“, rief ihr Beifahrer gut gelaunt, „du ruinierst ja deinen Rolls Royce“.
Während Helga den Motor abstellte, nachdem sie ihr Auto in recht schräger Position auf ihrem Stellplatz eingeparkt hatte, stieß der Kidnapper ein meckerndes Lachen aus, dass es ihr nur so gruselte.
Als er ihr dann erklärte, dass sie beide Arm in Arm, wie ein frisch verliebtes Paar, zum Aufzug gehen würden und er von seinem Messer Gebrauch werden würde, falls sie versuchen sollte, abzuhauen oder um Hilfe zu schreien, klang seine Stimme wieder eiskalt und todernst.
Helgas Hoffnung, in der Tiefgarage einem anderen Menschen zu begegnen, der vielleicht erkennen würde, in welcher Situation sie sich befand, und dann eventuell die Polizei alarmierte, erfüllte sich nicht. Es war noch zu früh am Tag, so dass die berufstätigen Bewohner dieser Apartmentanlage noch schliefen.
Den ganzen Weg bis zum Aufzug hatte ihr Kidnapper den Arm um sie gelegt und sie so dicht an sich gepresst, dass sie nur recht langsam vorankamen. In Helgas Nase stieg eine Mischung aus getrocknetem Schweiß und Spuren eines billigen Rasierwassers, und jetzt hatte sie nicht nur Angst vor diesem Kerl, sondern ekelte sich auch noch vor ihm.
Helga wusste, dass Mann in seiner Jackentasche den Griff seines Messers mit der linken Hand umklammert hielt, und dass sie seine Warnung, die Waffe einzusetzen, erst nehmen musste. Also blieb sie still, obwohl sie liebend gern ihre Angst und auch ihre Wut auf diesen schwer gestörten jungen Mann laut herausgeschrien hätte.
Während der Fahrt im Aufzug hob er die Umklammerung auf, stellte sich direkt vor ihr hin und blickte ihr in die Augen, den Mund spöttisch verzogen. „Gleich bist du zu Hause“, flüsterte er, „und dann beginnt der spannende Teil unseres gemeinsamen Abenteuers“.
Helga hatte plötzlich einen Kloß im Hals, und die Worte, die krächzend aus ihrem Mund kamen, klangen flehentlicher, als sie es beabsichtigt hatte: „Sie werden mir doch nichts antun, oder?“ „Aber wo denkst du hin, mein Engel“, antwortete er, „wir beide werden uns einfach eine schöne Zeit machen.“ Doch das seine Worte begleitende Grinsen beruhigte Helga nicht im geringsten, sondern verstärkte nur ihre Angst.
Und dann waren sie im fünften Stock angekommen, und noch bevor die Lifttür sich öffnete, hatte der Mann wieder seinen rechten Arm um sie gelegt und drückte sie an sich. „Also los“, flüsterte er, „und keine Mätzchen. Denk immer dran, ich habe ein Messer und werde es benutzen, wenn du einen Laut von dir gibst“.
Im Flur war alles ruhig, niemand begegnete dem eng umschlungenen Paar. Vor Helgas Haustür löste ihr Begleiter die Umklammerung, so dass sie aus ihrem Beutel den Schlüssel hervorholen konnte.
Ihre Hände zitterten, und sie brauchte eine ganze Weile, bis sie den Schlüsselbund gefunden und den richtigen Schlüssel ausgewählt hatte, so dass ihr Entführer bereits ungeduldig zischte, sie solle sich gefälligst beeilen.
Im Wohnungsflur wies er sie an, ihre Jacke auszuziehen und an die Garderobe zu hängen, das Messer hielt er dabei bedrohlich in der Hand.
„Von jetzt an sagst du kein Wort mehr“, befahl er ihr barsch. „Und jetzt gehen wir in dein Schlafzimmer, und da ich davon ausgehe, dass du im Kleiderschrank oder in einer Kommode Nylonstrümpfe liegen, holst du paar heraus und gibst sie mir. Du besitzt doch Nylonstrümpfe, oder?“
Helga nickte, doch jetzt war sie völlig verwirrt – und fühlte zugleich, wie sie sich innerlich verkrampfte. Will dieser Kerl etwa, dass ich die Strümpfe anziehe, fragte sie sich, und was hat er dann vor?
Der Kidnapper schien Helgas Gedanken gelesen zu haben, denn er lächelte und sagte: „Kein Angst, mein Kind, dir passiert nichts, mit den Strümpfen will ich dich nur fesseln, so sanft wie möglich natürlich, nur damit du keinen Unfug anstellst. Es ist zu deinem eigenen Schutz, glaube mir.“
Zehn Minuten später lag Helga auf ihrem Bett, Hände und Füße mit Nylonstrümpfen gefesselt. Sanft war der Mann allerdings nicht gerade mit ihr umgegangen, doch ihre Gegenwehr war nur kurz gewesen.
Das Nylon schnitt ihr schmerzhaft in die Gelenke, doch viel schlimmer für sie war der Knebel, den er ihr in den Mund gesteckt hatte, nachdem er die Knoten der Nylonfesseln noch einmal kräftig nachgezogen hatte.
Unter Tränen hatte sie ihn angefleht, auf den Knebel zu verzichten. Ich schwöre, dass ich still sein werde, hatte sie gejammert, doch es hatte nichts genutzt. Mit versteinerter Miene hatte er ein geblümtes Stofftaschentuch, das er in der unteren Kommodenschublade gefunden hatte, zusammengeknüllt und es ihr in den gewaltsam geöffneten Mund gestopft.
Jetzt atmete Helga schwer durch ihre Nase und hatte Angst, bald nicht mehr genügend Luft zu bekommen. Ich darf nicht in Panik verfallen, versuchte sie sich zu beruhigen. Immerhin hat er mich noch nicht vergewaltigt, dachte sie, und scheint es auch nicht vorzuhaben.
Doch ihre Furcht blieb, denn sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was dieser Kerl in ihrer Wohnung wollte. Aber da sie davon ausging, dass dieser Mann psychisch krank war, und sie erlebt hatte, dass sich seine Laune von einer Sekunde auf die andere vollkommen ändern konnte, musste sie sich wohl oder übel darauf einstellen, jederzeit eine unliebsame Überraschung zu erleben. Und gefesselt und hilflos darauf warten zu müssen, empfand sie als schlimme Qual.
71.
Treibers Proteste blieben wirkungslos. Ein mürrisch dreinblickender Anzugträger hatte ihm zwar nach einer gefühlten Ewigkeit die Handschellen abgenommen, aber auf seine Beschwerden und Vorwürfe nur geantwortet, aus organisatorischen Gründen müsse die Vernehmung leider auf den Nachmittag des übernächsten Tages verschoben werden, und bis dahin bleibe er in Schutzverwahrung. Außerdem stünde er unter dringendem Verdacht, Mitglied einer terroristischen Vereinigung zu sein, und dürfe deshalb vorerst keinen Kontakt mit der Außenwelt aufnehmen.
„Ja leben wir denn jetzt in einem Polizeistaat?“, hatte Treiber dem Mann hinterhergerufen, doch der hatte, ohne sich noch einmal umzudrehen, wortlos die Zelle verlassen, so dass der Inspektor nur noch hörte, wie ein Riegel mit einem lauten Klacken vorgeschoben wurde und sich ein Schlüssel knirschend im Schloss drehte.
Während er die Nacht schlaflos und frierend auf einer dünnen, butterweichen Schaumstoffmatratze verbrachte, die man ihm zusammen mit einem löchrigen Bettlaken in die Zelle geworfen hatte, steigerte sich Treiber in eine Wut auf Klimakowski hinein, einen Zorn, der mehr und mehr wahnhafte Züge annahm.
Immer wieder schrie er: „Wer von uns beiden ist denn hier der Terrorist, du gottverdammter Massenmörder?“ Oder: „Dich erwisch ich noch und entsorge dich auf der Müllkippe, du elender Mistkerl.“
Irgendwann hatte Treiber keine Stimme mehr, und es kam nur noch ein Krächzchen über seine trockenen, aufgesprungenen Lippen, so dass seine Beschimpfungen sich wie wirre Gebete anhörten – sinnfreies Gestammel, in dem immer wieder die Worte Bombe, Gelbe Tonne, Klodwig und Lausig vorkamen.
Als der geistig und körperlich vollkommen erschöpfe Inspektor gerade drauf und dran war, sich mit seinem durchgedrehten Gemurmel und Gefasel dem totalen Wahnsinn gefährlich zu nähern, riss ihn das Quietschen der Zellentür aus diesem bedenklichen Zustand.
Ein Mann in einem grauen Overall betrat die Zelle, in seinen Händen hielt er ein Tablett mit dem Frühstück für Terrorverdächtige.
Der baumlange Mann, der eine Baseball-Kappe der New York Yankees trug und dessen hageres Gesicht lange Koteletten verzierten, stellte das Tablett vor der Matratze auf den Boden und sagte mit einer seltsam hohen Stimme: „Lass schmecken, Kumpel, und immer Ball flach halten“. Dann beeilte er sich, die Zelle wieder zu verlassen. Bevor er durch die Tür ging, musste er seinen Kopf einziehen.
Treiber hatte sich aufgesetzt und starrte mit glasigen Augen auf das Plastiktablett. Sofort begann sein Magen zu knurren. Als er nach dem Pappteller griff und mit den Fingern kaltes, versalzenes Rührei in sich hineinstopfte, schien er wieder halbwegs in der Wirklichkeit angekommen zu sein.
Auch die beiden viel zu lange getoasteten Weißbrotscheiben verschmähte er nicht, nur den Nachtisch rührte er nicht an. Schlesische Gurkenhappen hatte er noch nie gemocht.
72.
Es hatte Lausigs ganze Überredungskunst gekostet, um den Kioskbesitzer, zu bewegen, ihm kurz sein Handy zu überlassen. Der bleichgesichtige Glatzkopf, dessen Nase aussah, als habe irgendjemand mal ihre Spitze abgebissen, hatte gerade erst seinen kleinen Laden geöffnet und war damit beschäftigt, ein Regalfach mit Magenbitter-Fläschchen aufzufüllen, als Lausig ihm die Geschichte vom Überfall erzählte.
Erst vor wenigen Minuten sei es passiert, nur ein paar Straßen weiter. Nach dem Besuch bei einem alten Klassenkameraden habe er nach Hause fahren wollen, doch kaum dass er sich ans Steuer gesetzt hätte, sei sein nagelneuer Tesla von einer Gruppe Motorrad-Rocker auf ihren fetten Maschinen eingekreist worden. Mit ihren Harleys hätten die bärtigen, mit Hakenkreuzen und Piratensymbolen tätowierten Kerle seinen Weg blockiert.
„Und dann ist einer dieser wilden Kerle", so Lausig, „ein Bär von einem Mann, wahrscheinlich ihr Anführer, von seinem goldfarbenem Chopper gestiegen, hat sich neben der Fahrertür aufgebaut, mich durch die Seitenscheibe angegrinst, mir mit einem großen Schraubenschlüssel gedroht und mich aufgefordert, sofort auszusteigen.“
Und so sei es dann passiert. Die Rockerbraut, die auf dem Rücksitz der goldenen Maschine gesessen habe, sei einfach mit seinemTesla abgebraust, mitsamt seiner Jacke, in dem sein Handy steckte. Und dann sei er auch noch von der ganzen Rockerbande ausgelacht worden, während sie ihre Motoren knattern und knallen gelassen und dabei die Luft verpestet hätten.
„Bevor sie sich aus dem Staub gemacht haben“, so Lausig weiter, „hat mit ihr Boss auch noch den Stinkefinger gezeigt, und ich habe da gestanden wie der letzte Depp, und im Auspuffgasnebel auch noch einen Hustenanfall bekommen.“
Der Kioskbesitzer hatte Lausig kein einziges Wort geglaubt. Allerdings hatte er es für schlauer gehalten, diesem Irren vorsichtshalber sein Handy für einen Anruf auszuleihen. Man weiß ja nie, hatte er gedacht, wozu ein derart durchgedrehter Typ am frühen Morgen in der Lage ist.
Auf dem völlig veralteten Nokia-Klapphandy des Kioskbetreibers tippte Lausig jetzt Edgars Telefonnummer ein. Das „Hallo“ seines Freundes klang matt und verschlafen.
Lausig entschuldigte sich zunächst bei Edgar, ihn aus dem Schlaf gerissen zu haben, und erklärte ihm dann, er würde ihn nicht zu so früher Stunde anrufen, wenn es nicht absolut dringend sei. Es ginge sozusagen um Leben und Tod.
„Sei so gut, schalte deinen Rechner ein und recherchier etwas für mich“, bat Lausig. „Das geht ganz schnell“, beteuerte er, „und in ein paar Minuten kannst du dich wieder aufs Ohr legen. Ich brauche nur zu einem Pkw-Kennzeichen den Namen und die Anschrift des Halters oder der Halterin, und zwar so schnell wie möglich.“
„Aha“, antwortete Edgar, mehr nicht. Nach ein paar Schweigesekunden setzte Lausig nach: „Ach komm schon, für dich ist das doch nur eine Routineangelegenheit, die du am Handumdrehen erledigt hast. Es ist wirklich wichtig, Edgar.“
Sein Freund brummelte etwas von Vorschriften und dass er sich strafbar machen würde, und außerdem sei er noch gar nicht in seinem Büro. „Ist dir eigentlich klar“, fragte Edgar, „dass jetzt erst die Morgendämmerung einsetzt?“
„Du hast ja recht“, entgegnete Lausig, „aber es ist wirklich dringend.“ Doch Edgar grummelte, ohne Kaffee ginge bei ihm gar nichts, und Lausig solle ihn besser nachher um Neun in der Zulassungsstelle anrufen, aber auch dort sei das, was er von ihm verlange, völlig illegal, und er wisse jetzt noch nicht, ob er sich solch einem Risiko aussetzen wolle. „Wenn das rauskommt, bin ich am Arsch.“
Lausig seufzte. „Stell dich nicht so an, Edgar“, meinte er, und es klang jetzt ein wenig gereizt. „Du arbeitest doch schon an zwei Tagen die Woche im Homeoffice und kannst dich mit Sicherheit jederzeit von zu Hause aus in das System deiner Behörde einloggen. Und was soll schon ungesetzlich daran sei, wenn ein Mitarbeiter der Zulassungsstelle einem Kriminalbeamten eine Auskunft gibt, wenn damit ein schlimmes Verbrechen verhindert werden kann?“
Edgar gab seinen Widerstand auf. Er kannte Lausig gut genug, um zu wissen, dass sein Freund die Hartnäckigkeit in Person sein konnte und keine Ruhe geben würde, bis er er seinen Wunsch erfüllt bekäme.
Also brummte er „Okay, okay, aber ich habe kein gutes Gefühl dabei“, legte das Handy auf das Nachttischchen, stand auf, schlüpfte in seine Hausschuhe, schlurfte ins Arbeitszimmer und schaltete den PC ein.
Fünf Minuten später hatte Edgar den Namen und die Adresse der Fahrzeug-Halterin ermittelt, und Lausig hoffte, dass diese Frau auch mit der Fahrerin des Polo identisch war. Sie hieß Helga Lacknagel, wohnte in der Sütterlinstraße 33 und war dreiundzwanzig Jahre alt.
Lausig bedankte sich bei Edgar, versprach ihm, dass er ihn demnächst einmal zum Pommes-Essen einladen würde, dann könnten sie gemeinsam seine neue Heißluft-Friteuse einweihen, und wünschte ihm eine gute Nacht.
Dann gab er dem Kiosk-Mann das Handy zurück, kramte in seiner Hosentasche nach einer Münze, fand ein abgegriffenes Fünzig-Cent-Stück, legte es neben die Kasse und meinte: „Als kleine Anzahlung für ein neues Smartphone, Mister, das ist so ein Teil, mit dem Sie auch mal surfen können. Vom Internet haben Sie vielleicht ja schon mal was gehört, oder? Ist wirklich eine feine Sache, glauben Sie mir. Und schönen Dank natürlich auch.“
Der Kiosk-Besitzer hatte gerade einen neuen Ständer mit Chupa-Chups-Lollis ins Verkaufsfenster gestellt, als ihm auffiel, dass die Scheibe ziemlich verdreckt war. Er schnappte sich die Flasche mit dem Glasreiniger-Spray, doch statt sie ihrem Zweck entsprechend zu verwenden, hielte er sie jetzt mit ausgestrecktem Arm in Lausigs Richtung und jagte dem dreisten Kerl einen Strahl mitten ins Gesicht . Dabei brüllte er „Verpiss dich, du Flachwichser, und zwar augenblicklich, bevor ich mich vergesse. Du hast doch eine Schraube locker.“
Für einen Moment konnte Lausig nichts mehr sehen, und seine Augen begannen höllisch zu brennen. Tränen liefen ihm über die Wangen, und er rief: „Du verdammter Mistkerl.“
Obwohl er eine Stinkwut auf den Kioskmann hatte und er ihm am liebsten den Lutscherständer um die Ohren gehauen hätte, hielt er es für besser, den Rückzug anzutreten. Schließlich habe ich, was ich will, dachte er, und dieser gewalttätige Typ kann mich mal kreuzweise.
Während Lasuig sich eilig vom Kiosk entfernte, überlegte er, wie er am schnellsten in die Sütterlinstraße gelangen könnte. Er schätzte, dass es bis zu der kleinen Einbahnstraße am Cityrand, in der sich der Tierfutterladen einer früheren Freundin befand, vielleicht zwei Kilometer waren, und ärgerte sich, keinen fahrbaren Untersatz zu haben und laufen zu müssen.
Da fiel sein Blick auf ein Damenfahrrad, das an den Stamm eines Ahornbaumes gelehnt war. Er sah, dass es sich um ein älteres Modell handelte, eine Art Hollandrad, das schon ein wenig Rost angesetzt haste. Ihm fiel auf, dass es nicht abgeschlossen war und dass beide Reifen noch Luft hatten.
73.
Klimakowski genoss es, dass seine Gastgeberin eine Riesenangst vor ihm hatte. Er fand, der Vorname Helga, den er auf dem Klingelschild an der Wohnungstür gesehen hatte, passe gut zu dem blonden Mädchen.
Wahrscheinlich rechnet sie sekündlich damit, dass ich ins Schlafzimmer stürme und über sie her falle, dachte er amüsiert, und stellte sich vor, wie sehr sie dabei leidet, wenn sie sich ausmalt, was er ihr Schreckliches antun könnte.
Das Mädel hat ja keine Ahnung, dass ich überhaupt nicht vorhabe, es anzurühren, dachte er, und er war sicher, dass Helga ihm auch dann nicht vertrauen würde, wenn er ihr noch einmal hochheilig versicherte, er sei kein Sadist und Vergewaltiger und werde auf jeden Fall die Finger von ihr lassen.
Sie wird mir sowieso kein Wort glauben, dachte er, dann kann ich auch darauf verzichten, ihr noch irgendetwas zu sagen.
Natürlich war ihm klar, dass er Helga nicht die ganze Zeit gefesselt im Schlafzimmer liegen lassen konnte, wenn er ein paar Tage in ihrer Wohnung bleiben wollte, und das hatte er vor. Schließlich musste er ihr ab und zu ermöglichen, auf die Toilette zu gehen, und sie etwas essen und trinken lassen.
Aber das sollte keine Probleme bereiten, dachte er, schließlich wusste er, dass sie einen großen Respekt vor ihm und seinem Messer hatte.
Klimakowski genoss es, nach all dem Stress gemütlich an Helgas Küchentisch zu sitzen und sich ein leckeres Frühstück schmecken zu lassen. Es war ihm leicht gefallen, aus den Lebensmitteln, die er in Helgas gut gefülltem Kühlschrank gefunden hatte, eine bunte, reichhaltige Mahlzeit zusammenzustellen.
Während die Kaffeemaschine gurgelte und sich ein herrlicher Duft im Raum ausbreitete, fühlte er, wie er sich entspannte und in eine optimistische Stimmung geriet.
Nach ein paar Tagen dürfte sich die Lage so weit beruhigt haben, hoffte er, dass er es wagen könnte, die Wohnung zu verlassen und einen neuen Versuch zu starten, nach Ungarn abzuhauen. Er ging davon aus, dass der Jagdeifer der Bullen dann auch deutlich nachgelassen haben müsste.
Nachdem Klimakowski noch eine Scheibe Weißbrot in den Toaster gesteckt und seine Kaffeetasse aufgefüllt hatte, kam er auf die Idee, dass die gute Helga vielleicht in der Lage sei, seine Reisekasse etwas aufzubessern. Sofort ging er in den Flur, wo Helgas Beutel lag, und kramte darin herum, bis er ihr Portemonnaie gefunden hatte.
Es enthielt zwar nicht viel Bargeld, kaum mehr als fünfzig Euro, doch dafür befand sich Helgas Sparkassenkarte darin.
Klimakowski konnte sich nicht vorstellen, dass sich das Mädchen weigern würde, ihm den Code zu verraten. Fall sie Zicken machten sollte, dachte er, würden ihm schon effektive Methoden einfallen, ihre Widerspenstigkeit zu zähmen.
Er wusste, dass es ganz in der Nähe eine Sparkassenfiliale gab, und nahm sich vor, ihr am Abend, nach Einbruch der Dunkelheit, einen Besuch abzustatten und sich aus dem Automaten so viel Kohle zu holen, wie möglich war.
Weil er von seiner Idee richtig begeistert war, öffnete er die Flasche Prosecco, die er vorhin im Kühlschrank entdeckt hatte, und füllte ein Wasserglas mit dem perlenden Schaumwein. Genau das richtige Getränk, freute er sich und legte eine Scheibe geräucherten Lachs auf den gebutterten Toast.
Jetzt fehlt nur noch der Sahnemeerrettich, dachte Klimakowski, doch im Kühlschrank konnte er keinen finden. Das fand er schade, und seine gute Laune erfuhr einen leichten Dämpfer.
Jetzt bin ich doch etwas enttäuscht von dir, Blondie, dachte er. Ich befürchte, es wird noch etwas dauern, bis ich dir erlauben kann, die Toilette aufzusuchen.
74.
Es dämmerte, als Lausig in die Sütterlinstraße einbog. Die Fahrt mit dem alten Damenrad empfand er nicht unbedingt als Vergnügen.
Die Leistung der Bremsen war schwach, der Luftdruck in den Reifen geringer als erhofft, und das Quietschen der verrosteten Kette ging ihm auf die Nerven. Außerdem hatte die Hinterradfelge eine gewaltige Unwucht, so dass Lausig mit dem betagten Hollandrad auf der Straße eher herum eierte als fuhr.
Als er das Haus mit der Nummer 33 erreicht hatte und das Fahrrad an eine Straßenlaterne lehnte, war ihm klar geworden, warum sich der Besitzer des Bikes nicht die Mühe gemacht hatte, es abzuschließen. Wahrscheinlich hat er gehofft, dachte Lausig, dass irgendein Depp das Schrottrad mitnimmt – und er sich selbst somit die Entsorgung ersparen könne.
Er stand vor dem vierstöckigen Wohngebäude und blickte auf die Klingelschilder. Auf einem stand Helga Lacknagel, also hatte Edgar ihm die richtige Information gegeben. Lausig sah, dass sich Helgas Wohnung im dritten Stock befand.
Was ihm jetzt Sorgen bereitete, war die Tatsache, dass er noch keinen Plan hatte, wie er weiter vorgehen solle. Wenn es stimmte, was er vermutete, hatte der üble Kerl aus der Fußgängertunnel-Toilette Helga Lacknagel in seine Gewalt gebracht, und es war nicht auszuschließen, dass er ihr bereits etwas Schlimmes angetan hatte oder noch antun würde. Also kommt es darauf an, schnell zu handeln, dachte Lausig.
Weil er festgestellt hatte, dass der Polo der jungen Frau nicht in der Sütterlinstraße parkte, ging er davon aus, dass sie einen. Stellplatz in der Tiefgarage hatte. Die Einfahrt zu Garage direkt neben dem Wohngebäude war nicht zu übersehen.
Lausigs Bauchgefühl sagte ihm, dass sie sich in ihrer Wohnung aufhält, zusammen mit dem Brutalo. Und sein Versand sagte ihm, dass er ohne sein Dienstpistole nicht einfach so in Helgas Wohnung stürmen konnte.
Außerdem kann ich nicht unbedingt damit rechnen, dachte er, dass mir die Wohnungstür geöffnet wird. Und ihm war noch nicht klar, wie er überhaupt ins Gebäude gelangen sollte.
Ich muss mir etwas einfallen lassen, dachte er, und zwar möglichst schnell. Als ob es eine positive Auswirkung auf sein Denkvermögen hätte, starrte er gebannt auf einen großen, schwarzen Käfer, der direkt vor der Haustür auf den Steinplatten lag und verzweifelt versuchte, aus seiner Rückenlage herauszukommen.
Während Lausig fasziniert beobachtete, wie der Käfer mit seinen dünnen Beinchen wie wild herum strampelte, hörte er den sonoren Sound einer kaputten Auspuffanlage und drehte sich zur Straße um.
Die Quelle des Lärms war ein brauner UPS-Lieferwage, der vorbei knatterte und dabei eine schwarze Abgaswolke ausstieß.
Dieser Wagen sollte dringend mal gewartet werden, dachte Lausig, und als er sah, dass der braun lackierte Transporter vor dem übernächsten Wohnhaus hielt und der Fahrer ausstieg, hatte er plötzlich eine Idee, wie er in Helga Lacknagels Wohnung gelangen könnte.
Lausig wartete, bis der Paketbote die Hecktür geöffnete hatte und in den Wagen gestiegen war, dann setzte er sich in Bewegung. Mit ein wenig Glück könnte es klappen, dachte er, aber ich muss schnell sein.
In wenigen Sekunden hatte er den Lieferwagen erreicht. Die Fahrer-Schiebetür stand offen, so dass er aufs Armaturenbrett schauen konnte. Zufrieden stellte er fest, dass der Zündschlüssel im Schloss steckte.
Während er ihn heraus zog, hörte er, wie der UPS-Fahrer im Wageninneren Kartons hin und her räumte. Schnell ging er nach hinten und stellte sich so neben die offene Hecktür, dass der Fahrer in von innen nicht sehen konnte.
Es dauerte nicht lange, da tauchte der UPS-Bote im Türrahmen auf, ein großes Paket in den Armen haltend. Lausig handelte blitzschnell. Noch bevor der Fahrer ausgestiegen war, sprang er nach vorn und stieß den Mann mitsamt seinem Paket ins Wageninnere.
Der Fahrer fiel auf den metallen Boden des Laderaums, mitten zwischen die Regale, die an beiden Innenseiten des Transporters angebracht waren und mit Paketen der verschiedensten Größen gefüllt waren.
Auf dem Rücken liegend, das große Paket auf der Brust, war er so überrascht, dass er außer einem Ächzen zunächst keinen Laut von sich gab. Erst als Lausig sich den Karton griff, war er zu einer verbalen Reaktion fähig und rief „Verdammt noch mal, was ist hier hier eigentlich los?“
Er setzte sich mühsam auf und wollte gerade aufstehen, doch Lausigs Timing war perfekt. Er hatte das große Paket bereits auf dem Bürgersteig abgestellt, schloss nun schnell die Hecktür, zog den Zündschlüssel aus seiner Hosentasche und probierte, ob er auch in das Türschloss passen würde.
Er hatte Glück, schnell verriegelte er die Tür. Jetzt kannst du ganz in Ruhe deine Pakete sortieren, dachte Lausig gut gelaunt.
75.
Nach dem ausgiebigen Frühstück, zu dem er sich die halbe Flasche Prosecco gegönnt hatte, fühlte sich Klimakowski ein wenig schläfrig und wollte deshalb auf der Wohnzimmer-Couch ein kleines Nickerchen machen. Er hatte sich gerade auf dem cremefarbenen Sofa ausgestreckt und die Augen geschlossen, als die Türklingel ertönte.
Es ist niemand zu Hause, murmelte er müde, und natürlich würde er einen Teufel tun und nachsehen, wer zu dieser frühen Stunde etwas von der blonden Helga wollte. Doch als es erneut klingelte, und dann noch einmal, und wieder, und ein weiteres Mal, begann sein felsenfester Wille, einfach liegen zu bleiben, mehr und mehr zu bröckeln, und schließlich sprang er wutentbrannt von der Couch auf und lief in den Flur.
Erneut wurde die Klingel betätigt, und jetzt stand Klimakowski direkt unter der kleinen Apparatur, die den schrillen Ton erzeugte.
Sein Blick fiel auf die Gegensprechanlage neben der Wohnungstür. Ohne zu überlegen, drückte er auf die Sprechtaste und stieß ein zorniges „Ja, verdammt“ aus.
Als nicht gleich eine Antwort erfolgte, drückte er erneut und rief: „Ja zum Teufel, wer ist denn da?“ Jetzt wurde der Lautsprecher aktiv, und eine männliche Stimme erfüllte krächzten den Hausflur: „Guten Tag, United Parcel Service, schön, dass jemand zu Hause ist. Ich habe hier ein großes Paket für Helga Lacknagel.“
Klimakowski wollte schon erwidern, Frau Lacknagel sei nicht zu Hause, besann sich dann aber eines Besseren. „Ja okay“, sprach er ins Mikrophon, „stellen Sie es einfach vor die Tür.“
„Es tut mir leid“, kam als Antwort, „ich darf das Paket nicht einfach draußen vor der Haustür abstellen. Können Sie es nicht oben für Frau Lacknagel entgegennehmen?“
Mann, dachte Klimakowski genervt, ist dieser Kerl vielleicht hartnäckig. Dann presste er seinen Daumen wieder auf die Taste der Gegensprechanlage und sagte: „Als gut, ich mach ihnen unten auf, und dann bringen Sie das Paket nach oben und stellen es vor der Wohnungstür ab. Aber nicht mehr klingeln, ich weiß ja dann Bescheid.“
Es dauerte einen Moment, bis vom UPS-Mann eine Antwort erfolgte. „Alles klar, ich stell’ das Paket im dritten Stock direkt vor ihrer Haustür ab. Aber sie sollten es nicht lange dort stehen lassen, es ist ein sehr großes Paket, und es scheint etwas Wertvolles darin zu sein, ich glaube ein Smart-TV. Am besten holen Sie es gleich in Ihre Wohnung.“
„In Ordnung“, erwiderte Klimakowski, doch natürlich hatte er nicht vor, die Wohnungstür zu öffnen, seinetwegen konnte der Karton so lange vor der Tür liegen, bis er sich aus dem Staub in Richtung Ungarn gemacht hatte. Und wenn sich in dieser Zeit jemand das Paket unter den Nagel gerissen haben sollte, ein missgünstiger Nachbar zum Beispiel, war ihm das piepegal.
Er war bereits wieder auf dem Weg ins Wohnzimmer, da meldet sich der Paketbote noch einmal. „Entschuldigung, da wäre noch etwas“, knarzte sein Stimme aus dem billigen Lautsprecher. „Eigentlich darf ich das Paket nur Frau Lacknagel persönlich übergeben. Falls die Dame nicht zu Hause sein sollte, könnte ich allerdings eine Ausnahme machen und es einem Haushaltangehörigen von ihr aushändigen. Sie sind doch ein Haushaltsangehöriger von Helga Lacknagel, oder?“
Spinnt der Kerl denn jetzt, dachte Klimakowski, am besten antworte ich ihm gar nicht mehr. Doch nach kurzem Nachdenken überlegte er es sich anders.
„Frau Lacknagel ist krank und liegt im Bett“, sagte er. „Ich bin ihr Bruder und kümmere mich um sie. Sie können mir vertrauen und das Paket vor der Tür abstellen. Ich würde es ja gern von Ihnen persönlich entgegennehmen und auch, wenn nötig, die Annahme quittieren, aber da meine Schwester unter einer ansteckenden Krankheit leidet, will ich Sie lieber keinem Risiko aussetzen. Nicht, dass Sie sich noch anstecken. Also lasse ich die Tür lieber geschlossen.“
„Das klingt vernünftig, Herr Lacknagel, so machen wir es“, erfolgte prompt die Antwort. „Aber holen Sie das Paket möglichst schnell in ihre Wohnung. Dem Aufkleber nach zu urteilen, steckt da ein riesiger 4K-Smart-Fernseher drin, diese Geräte sind sündhaft teuer. Und ihrer Schwester wünsche ich natürlich gute Besserung.“
„Danke“, erwiderte Klimakowski und hoffte, dass die Angelegenheit jetzt endlich erledigt sei. Er legte sich wieder auf die Couch, doch seine Müdigkeit war verflogen. Stattdessen hatte ihn eine seltsame Unruhe befallen.
Die Sache mit dem Paket ließ ihn nicht los. Zu gern würde er wissen, ob sich die gute Helga wirklich einen teuren, hochmodernen Smart-TV gekauft hatte.
Wenn er sich so in ihrem recht kleinen Wohnzimmer umschaute, wüsste er nicht, wo da noch Platz für einen 65-Zoll-Fernseher sein sollte. Hier würde solch ein Monstrum jedenfalls nicht rein passen, dachte er. Und gerade diese Erkenntnis weckte seine Neugierde.
Während er auf dem Sofa lag, versuchte er, zur Ruhe zu kommen, aber es gelang ihm nicht. Vielleicht liegt es am Prosecco, dachte er, doch er wusste es besser.
Was ihn so nervöse machte, war der Drang zu überprüfen, ob es stimmte, was der Paketbote gesagt hatte. Er musste unbedingt nachschauen, ob er wirklich einen teuren, megagroßen Smart-TV vor der Wohnungstür abgestellt hatte. Zeit genug dafür hat er jetzt jedenfalls gehabt, dachte Klimakowski und erhob sich vom Sofa.
76.
Es hatte sie ihre ganze Kraft gekostet, doch endlich zeigte sich, dass Helgas unermüdliches Ruckeln und Ziehen an ihren Handfesseln nicht umsonst gewesen war. Durch das ständige Bewegen ihrer Handgelenke hatte sie es geschafft, die Nylonstrümpfe zu dehnen und die Knoten so weit zu lockern, dass sie die Handfesseln abstreifen konnte.
Sofort wollte sie auch ihre Füße von den Nylonfesseln befreien, doch da ihre Hände sich ganz taub anfühlten und ihre Handgelenke geschwollen waren und schmerzten, war dies alles andere als ein leichtes Unterfangen. Entsprechend lange brauchte sie für die Aktion, aber dann war auch dies geschafft.
Erschöpft saß Helga auf der Bettkante und versuchte, den Gedanken zu verscheuchen, jeden Augenblick könne ihr Entführer ins Schlafzimmer kommen und entdecken, dass sie nicht mehr gefesselt war. Und über seine mögliche Reaktion wollte sie erst recht nicht nachdenken.
Deshalb versuchte sie, sich ganz auf die Frage zu konzentrieren, wie sie jetzt weiter vorgehen solle. Dass sie hier nicht sitzen bleiben konnte, war ihr klar, und sie wusste auch, dass schnelles Handeln angesagt sei.
Ich muss den Kerl irgendwie überwältigen, dachte sie, und dabei das Überraschungsmoment nutzen. Das ist meine einzige Chance. Und ich muss so konsequent handeln, dass er keine Gelegenheit bekommt, sich mit seinem Messer zur Wehr zu setzen. Also brauche ich etwas, das ich als Waffe verwenden kann. Und dieses Etwas sollte sich hier im Schlafzimmer befinden.
Helgas Gehirn arbeitete auf Hochtouren, während sie überlegte, welcher Gegenstand, den sie in ihrem Schlafzimmer aufbewahrte, sich als wirkungsvolle Waffe benutzen ließe. Suchend schweifte ihr Blick umher – und blieb an der kleinen Kommode hängen, die neben dem Kleiderschrank stand.
In der untersten Schublade dieser massiven WalnussholzKommode, einem Erbstück ihrer im vergangenen Jahr verstorbenen Großmutter, bewahrte sie Dinge auf, für die sie zwar keine Verwendung mehr fand, die aber eine gewisse Bedeutung für sie hatten, so dass sie sich nicht von ihnen trennen wollte.
Dazu gehörte auch ein langer, silberner Brieföffner, ein hässliches, dolchähnliches Monstrum, das sie an ihrem achtzehnten Geburtstag als Beigabe zu einem Einkaufsgutschein von ihrem Patenonkel geschenkt bekommen hatte.
Diesen Brieföffner hatte sie zwar noch nie benutzt, da sie ihren Onkel Hermann aber ganz gern mochte, hatte sie es bislang nicht übers Herz gebracht, ihn wegzuwerfen.
Vielleicht wird dieses spitze, lange Ding mir ja doch noch einen guten Dienst leisten und zu etwas nutze sein, dachte Helga, und mit einem Mal spürte sie, wie Mut und eine wilde Entschlossenheit von ihr Besitz ergriffen. Sie massierte kurz ihre kribbelnden Fußgelenke, dann stand sie auf und ging zur Kommode.
77.
Lausig war mit dem schweren Karton im Aufzug bis in den fünften Stock gefahren und hatte ihn direkt vor Helga Lacknagels Wohnungstür abgestellt. Dicht an die Hausflurwand gedrückt wartete er neben der Tür darauf, dass der Entführer öffnen würde.
Natürlich wusste er nicht, ob sein Plan aufging, aber vielleicht war es ihm ja gelungen, bei dem Kerl so sehr das Interesse zu wecken, dass er gar nicht anders konnte, als nachzuschauen, was der Paketmann wirklich gebracht hatte.
Ihm war klar, dass er nur diese eine Chance hatte, aber etwas anderes als die Idee mit der Paketzustellung war ihm leider nicht eingefallen.
Er hoffte, das Überraschungsmoment würde ausreichen, um den Mann zu überwältigen, wenn er die zwei Schritte in den Hausflur gemacht hätte, um den Karton hereinzuholen – oder ihn sich zumindest aus der Nähe anzuschauen.
Vielleicht wird der Typ ja sofort sehen, dachte Lausig, dass es sich bei dem Karton nicht um die Verpackung eines 65-Zoll-Fernsehers handeln kann. Aber es sollte mir gelingen, ihn in den ein oder zwei Sekunden, während er verblüfft ist und sich fragt, was das zum bedeuten hat, schachmatt zu setzen. Und dann bleibt mir nur noch zu hoffen, dass er der armen Helga noch nichts angetan hat.
Noch war alles ruhig im Haus, aber Lausig rechnete damit, dass sich die ersten berufstätigen Bewohner schon bald auf den Weg zu ihren Arbeitsstätten machen würden. Und wer im Homeoffice arbeitet, dachte er, versorgt sich vielleicht erst einmal beim Bäcker mit frischen Brötchen, bevor er seinen PC hochfährt und sich einloggt.
78.
Klimakowski stand vor der Wohnungstür und lauschte. Bis auf das gurgelnde Geräusch einer Klospülung, das aus Nachbarwohnung zu kommen schien, war alles still.
Entweder schlafen die Leute noch oder sie sitzen am Frühstückstisch, dachte er. Vielleicht stehen sie ja auch unter der Dusche, während die Kaffeemaschine ihre Frühschicht beginnt.
Einen starken Kaffee könnte ich jetzt auch gebrauchen, dachte er und gähnte. Er fragte sich, wie viele Stunden er jetzt schon wach war, doch da ihn das zu sehr anstrengte, beließ er es dabei festzustellen, dass er hundemüde war und reichlich Nachholbedarf an Schlaf hatte.
Sein Kopfweh war zurückgekehrt. Vorsichtig befühlte er die Beule auf seinem Schädel. Die Schwellung fühlte sich heiß an und war anscheinend noch größer geworden.
Er nahm sich vor, gleich im Bad nach einer Schmerztablette zu suchen, doch jetzt wollte er erst einmal nachschauen, was der Paketbote gebracht hatte.
Noch einmal konzentrierte er sich auf eventuelle Geräusche im Hausflur, doch er konnte weder Schritte auf der Treppe noch das Öffnen oder Schließen einer Haustür hören.
Als irgendwo im Stockwerk über ihm das durchdringende, schrille Alarmsignal eines Radioweckers ertönte, zuckte er zusammen, doch nach einer Schrecksekunde sah er darin ein Zeichen, nicht länger zu warten, bis das Haus komplett erwacht war. Das Risiko, ein Bewohner des Hauses könnte ihn im Flur dabei beobachteten, wie er ein großes Paket in Helgas Wohnung schleppte, wäre dann wesentlich größer.
Nicht dass ein Nachbar von Helga, jemand, der das Mädchen gut kennt, sich argwöhnisch fragt, ob bei ihr zu Hause alles mit rechten Dingen zugeht, dachte er. Das wäre das letzte, was ich jetzt gebrauchen könnte.
Er kannte solche Typen, die sofort die Polizei anriefen, wenn ihnen irgendetwas merkwürdig vorkam. Zum Beispiel neugierige, misstrauische Rentner, die zu viele Krimis gelesen hatten, Spanner, die bei der kleinsten Abweichung von der Alltagsroutine einer jungen Nachbarin sofort Verdacht schöpften und sich die schrecklichsten Verbrechen ausmalten, was ihnen dann einen besonderen Kick verlieh.
Für ihn waren das einfach üble Kerle, die in früheren Zeiten wahrscheinlich gute Chancen gehabt hätten, Blockwart zu werden.
Er durfte es nicht länger aufschieben. Noch war es ruhig im Hausflur. Vorsichtig öffnete er die Wohnungstür einen kleinen Spalt und spähte hinaus.
Er konnte eine Ecke eines braunen Kartons erkennen. Also hat der UPS-Mann das Paket wirklich bis vor die Haustür geliefert, dachte er. Um mehr zu sehen, drückte er die Tür ein Stück weiter auf.
Jetzt hatte er einen Blick auf das gesamte Paket, doch er stellte fest, dass es nicht nur viel kleiner war, als er erwartet hatte, sondern auch quadratisch. Darin kann unmöglich ein 65-Zoll-Smart-TV stecken, dachte er, höchstens ein großer Mikrowellenherd oder ein Kaffeeautomat. Hat der Paketbote da vielleicht etwas verwechselt?
Natürlich wäre das möglich, überlegte er, aber nicht sehr wahrscheinlich. Oder hatte der Paketbote sich etwa einen üblen Scherz mit ihm erlaubt? So richtig vorstellen konnte er sich das allerdings nicht.
Klimakowski erkannte, dass er sich wieder einmal viel zu viele Gedanken machte. Er beschloss, endlich seiner brennenden Neugierde nachzugeben und das Paket in die Wohnung zu holen. Er wollte jetzt unbedingt wissen, was der Karton enthält. Also öffnete er die Tür ganz, machte einen Schritt auf den Karton zu und bückte sich, um ihn hochzuheben.
79.
Geduldig hatte Lausig neben der Wohnungstür von Helga Lacknagel gewartet. Bislang hatte er Glück gehabt, keinem Bewohner des Hauses begegnet zu sein, denn eine schlüssige Erklärung, warum er so früh am Morgen hier herumlungerte, wäre nicht einfach gewesen.
Seine Befürchtung, das Interesse des Entführers an der Lieferung sei nicht groß genug, verstärkte sich, da hörte er Schritte. Kurz darauf sah er, wie die Haustür langsam geöffnet wurde, aber nur eine Handbreit, wahrscheinlich gerade so weit, dass der Kerl etwas sehen konnte.
Lausig beglückwünschte sich dafür, daran gedacht zu haben, sich auf die richtige Seite der Tür zu stellen, so dass er sich jetzt nicht im Blickwinkel befand. Halb gebückt, in Lauerstellung, alle Muskeln und Sehnen angespannt, wartete er darauf, dass der Entführer sich endlich dazu entschloss, den Köder zu schlucken, herauszukommen und sich den Karton zu greifen.
Sein Plan war, den Kerl mit einem gezielten Handkantenschlag für ein paar Minuten ins Reich der Finsternis zu befördern – und dann nach dem Entführungsopfer zu schauen.
Es vergingen keine drei Sekunden, dann wurde die Tür ganz geöffnet, der Mann trat vor das Paket, bückte sich und streckte die Hände nach dem Karton aus.
Sofort sprang Lausig auf den Entführer zu, doch der drehte in diesem Moment seinen Kopf zu ihm hin, so dass Lausigs Schlag mit der Handkante nicht exakt genug die Stelle am Hals traf, um ihn schachmatt zu setzen.
Während des Schlags verlor Lausig das Gleichgewicht und stürzte auf seinen Kontrahenten, so dass beide zu Fall gerieten.
Der Entführer war als Erster wieder auf den Beinen und versetzte Lausig einen Tritt in die Leistengegend, was diesen aufstöhnen ließ, doch nicht daran hinderte, seinen Gegner mit einem schwungvollen Beinschlag in die Horizontale zu befördern.
Der schlug der Länge nach hin und geriet dabei in eine unbequeme Bauchlage, versuchte aber sofort wieder, sich mit den Armen aufzustützen, um in die Vertikale zurück zu gelangen. Doch Lausig hatte etwas dagegen.
Er robbte neben den Entführer, richtete sich etwas auf und umklammerte mit seinem rechten Arm den Hals des Kerls, um ihm gerade so lange die Luft abzudrücken, bis ihm schwarz vor Augen wurde.
Allerdings wusste Lausig nicht mehr genau, wie lange man maximal die Sauerstoffzufuhr unterbrechen durfte, um seinen Gegner nicht umzubringen. Waren es siebzehn oder siebzig Sekunden?
80.
Helmut Reinbesen, Gabelstaplerfahrer in einem Matratzengroßhandel, feierte an diesem Tag Überstunden ab und hatte gerade sein Fünf-Minuten-Frühstücksei geköpft, als er einen Schrei hörte. Weil die Küchentür geöffnet war, vermutete der 38-jährige notorische Frühaufsteher, dass der Schrei aus dem Hausflur gekommen sein musste.
Da ist irgendetwas im Treppenhaus passiert, dachte er, ich sollte mal nachschauen. Er stand vom Küchentisch auf und hätte dabei um ein Haar seine noch halb volle Kaffeetasse umgestoßen.
Mit einer grauen Jogginghose und einem schwarzen Muscle-Shirt bekleidet, die nackten Füße in Badelatschen steckend, schlurfte er durch den Flur und öffnete die Wohnungstür.
Die Szene, die sich seinen Augen bot, erinnerte ihn an seine frühe Jugend, als er in seinem Viertel die ein oder andere Streitigkeit mit rivalisierenden Jungs austrug – meist ging es dabei um Ansprüche gegenüber dem hübschesten Mädchen im Block oder um nicht gezahltes Schutzgeld in Form von Zigaretten oder Alkohol.
Vor der Tür seiner jungen Nachbarin, einer attraktiven Blondine, die er vor ein paar Monaten einmal vergeblich zu einer im Heraklion-Grill stattfindenden Ouzo-Verkostung inklusive Garnelen-Saganaki eingeladen hatte, sah er zwei Männer auf dem Boden neben einem größeren Karton liegen. Der eine Mann schien gerade damit beschäftigt zu sein, den anderen zu erwürgen.
Reinbesen verspürte wenig Lust, Zeuge eines Mordes zu werden, noch dazu an seinem freien Tag, und so entschloss er sich einzugreifen. So schnell, wie die Badeschlappen es zuließen, eilte er in seine Wohnung, schnappte sich im Wohnzimmer den schweren, handgeschmiedeten Feuerhaken, der neben dem Kaminofen im Ständer hing, und lief wieder hinaus ins Treppenhaus.
Er sah, dass die beiden Kontrahenten sich immer noch im Clinch auf dem Steinboden befanden und der Typ, dem die Luft abgedrückt wurde und dessen Augen schon bedenklich hervorgequollen, verzweifelt mit beiden Händen versuchte, den Arm seines Gegners vom Hals wegzuziehen.
Helmut Reinbesen fackelte nicht lange, holte aus und schlug dem Mann, der zweifellos der Aggressor war, mit voller Wucht den eisernen Schürhaken gegen das linke Knie. Der Getroffene heulte auf ein Wolf im Fangeisen, löste seinen Würgearm, drehte sich zur Seite und ein kleines Stück von seinem Opfer weg, umfasste mit beiden Händen sein verletztes Knie und begann dann herzerweichend zu wimmern.
Reinbesen überlegte schon, dem Würger noch einen Schlag zu verpassen, vielleicht aufs andere Knie, um ihm damit endgültig seine Mordlust auszutreiben, da hörte er, wie in seiner Wohnung das Telefon klingelte.
Da muss ich ran, dachte er, das ist Tante Gertrud. Und damit wusste er, dass es sieben Uhr war, denn die ältere Schwester seines verstorbenen Vaters rief ihn jeden Mittwochmorgen um Punkt sieben Uhr an, und er konnte nicht riskieren, diesen Anruf zu verpassen und wenigstens zehn Minuten mit der guten Tante zu sprechen, auch wenn diese Telefonate immer sehr anstrengend waren.
Tante Gertrud wechselte die Themen wie Laufsteg-Models ihre Klamotten, da hatte er es schwer, den Überblick zu bewahren. So kam es vor, dass er gerade einen Kommentar zu ihrer Behauptung abgab, das Sommerwetter sei so mies wie seit 1968 nicht mehr, sie ihm aber ins Wort fiel und sich über den schlimmen Hausärztemangel beklagte.
Während sein Gehirn versuchte, schnell auf das neue Thema umzuschalten, war seine Tante bereits beim nächsten dringenden Problem angelangt, einem Missstand, dem man sich unbedingt widmen müsse, und zwar weltweit und unverzüglich, wie sie meinte, denn der zunehmende Weltraumschrott stelle eine ernste Gefahr für den ganzen Planeten und die menschliche Rasse dar.
Einmal war er gerade dabei, sich eine Antwort auf Tante Gertruds Frage zurechtzulegen, ob sie dem Rat ihres Sparkassenberaters folgen solle, ein Aktiendepot zu eröffnen, als sie bereits wieder ein Level weiter war und sich über die schreckliche Hundekotplage auf den Gehwegen echauffierte und forderte, Hundehaltung in den Innenstädte zu verbieten. Und als er sagte, das sei eine ausgezeichnete Idee, erwiderte sie, sie glaube nicht, dass es gut sei, wenn Kinder gezwungen würden, sich vegetarisch zu ernähren und noch nicht einmal Fischstäbchen essen dürften.
Allerdings hatte Helmut Reinbesen einen triftigen Grund, jeden Mittwoch, bevor er zur Arbeit fuhr, solch ein nervtötendes Telefongespräch mit seiner schusseligen Tante zu führen, denn sie war nach dem Unfalltod seiner Eltern und dem Selbstmord seines Bruders nicht nur seine nächste Verwandte, sondern auch steinreich.
Als kinderlose Witwe eines erfolgreichen Pharma-Unternehmers, der sich frühzeitig auf die Entwicklung von Impfstoffen spezialisiert hatte, verfügte sie über ein riesiges Vermögen. Außerdem wusste er, da hatte er gründlich recherchiert, dass er der einzige Erbe war. Und so hatte er ein verständliches Interesse daran, es sich mit seiner Tante gut zu stellen, sie möglichst nicht zu enttäuschen und bei Laune zu halten.
Das bedeutete in erster Linie, nie ihren Geburtstag zu vergessen, ihr am Valentinstag und zu Ostern Blumen zu schicken, sie am ersten Weihnachtsfeiertag zum Nachmittagskaffee zu besuchen, ihr „selbstgebackene“ Vanillekipferl und Kokosmakronen mitzubringen und nach der dritten Tasse durchsichtigen Schonkaffees ein paar Gläser ekelhaft süßen Kirschlikör mit ihr zu leeren.
Natürlich dufte auch der Schoko-Nikolaus am sechsten Dezember nicht fehlen sowie am ersten Mai ein kleiner Präsentkorb inklusive Buch, Poster oder DVD von beziehungsweise über Rosa Luxemburg, denn die gelernte Chemielaborantin hatte sich während ihres Berufslebens stark für die Gewerkschaft engagiert und war in der Frauenbewegung aktiv gewesen.
Und dann gehörten eben auch die an jedem Mittwochmorgen mit ihr geführten, nervigen Nonsens-Telefonate mit zum Katalog der erforderlichen Gefälligkeiten.
Seitdem Tante Gertrud ihm von ihrer Krebserkrankung erzählt hatte und er wusste, dass sie mögliche Operationen oder andere Therapien und Behandlungen strikt ablehnte, hoffte er, diesen Verpflichtungen nicht mehr allzu lange Folge leisten zu müssen, auch wenn ihn bei diesem Gedanken schon ein wenig das Gewissen drückte.
Allerdings nicht zu sehr, schließlich war er nicht Schuld an ihrer Erkrankung. Und für ihr fortgeschrittenes Alter kann ich auch nichts, dachte er, immerhin habe ich schon so einige Opfer für die verwirrte Dame gebracht.
Reinbesen warf noch einen Blick auf die beiden Männer, sah, dass der Würger immer noch auf dem Steinboden lag, sein Knie hielt und vor sich hin jammerte, während der andere Typ immerhin schon eine sitzende Haltung eingenommen hatte – allerdings noch röchelnde Laute von sich gab und ganz blass im Gesicht war.
Der wird schon wieder, befand Reinbesen, und um den anderen Kerl kümmere ich mich später. Natürlich war ihm nicht entgangen, dass Helga Lacknagels Wohnungstür offen stand, doch er sah keinerlei Veranlassung, in ihrer Wohnung einmal nach dem Rechten zu sehen.
Hätte mir diese arrogante Tussi nicht letztens einen Korb gegeben, dachte er, würde ich natürlich einmal nachschauen, ob es ihr gut geht. Aber so ist es mir völlig egal, ob die eitle Schlampe sich mit den falschen Typen eingelassen hat und jetzt vielleicht die Quittung dafür bekommen hat. Selbst schuld, Blondie.
Reinbesen drehte sich um und eilte in seine Wohnung zum Telefon. Gut, dass Tante Gertrud es immer ewig lange läuten lässt, dachte er und hob im Wohnzimmer den Hörer seines altmodischen Festnetz-Telefons ab.
81.
Klimakowski sah immer noch Sterne. Während er benommen auf dem Hausflurboden vor Helga Lacknagels geöffneter Wohnungstür hockte und seinen schmerzenden Kehlkopf befühlte, brauchte er einen Moment, um zu erkennen, wo er sich befand.
Sein Blick viel auf den Karton. Dieses verdammte Paket, dachte er, und plötzlich war er wieder im Bilde. Ein Stöhnen ließ ihn herumfahren. Da lag der Kerl, der über ihn hergefallen war und ihn fast erwürgt hatte.
Klimakowski registrierte, dass sein Widersacher das linke Knie mit beiden Händen umklammert hielt und anscheinend große Schmerzen hatte. Allerdings konnte er sich nicht daran erinnern, ihm die Knieverletzung beigebracht zu haben.
Er muss mir aufgelauert haben, dachte er, und merkte, wie er wütend wurde. Seine Wut steigerte sich noch, als er erkannte, wer es war, der ihn vorhin im Klammergriff gehabt und ihm die Luft abgeschnürt hatte. Nicht zu glauben, dachte er, es ist der Mistkerl aus dem Klo in der Fußgängerunterführung.
Er fragte sich, ob der Mann ihm wirklich bis hierhin gefolgt war, was ihm äußerst unwahrscheinlich erschien, aber egal, dachte er, diesen Brutalo muss ich mir schnellstmöglich vom Hals schaffen, bevor hier gleich jemand auftaucht und vielleicht die Bullen ruft.
Als Klimakowski sich aufrichtete, hatte er einen blutigen Geschmack im Hals. Er bemerkte, dass der Typ auf dem Boden sich hingesetzt hatte.
Für einen Moment trafen sich ihre Blicke, und Klimakowski sah, wie in den tränennassen Augen des Mannes gleichzeitig Erkennen und Entsetzen aufleuchteten.
Du wirst mich nie wieder verfolgen, dachte Klimakowski. Ihm fiel ein Feuerlöscher auf, der ein paar Meter weiter neben der Tür mit dem Schild „Putzmittelraum“ an der Wand hing.
Er machte einen Schritt auf seinen Verfolger zu und versetzte ihm der Schuhspitze einen Tritt in die Nierengegend, so dass dieser aufschrie und zur Seite fiel.
Klimakowski ging zum Putzmittelraum und stellte erfreut fest, dass die Tür nicht abgeschlossen war. Er löste den Feuerlöscher aus der Befestigung und machte sich mit dem Gerät auf den Weg zurück zum wimmernden Kerl aus dem Klo, der sich inzwischen wieder aufgesetzt hatte.
Den Feuerlöscher mit beiden Händen haltend holte er aus und schlug den schweren Metallbehälter mit aller Kraft auf das rechte Knie des Mannes, was ein schreckliches Geräusch verursachte. Der Getroffene kippte nach hinten und machte keinen Mucks mehr.
Klimakowski hatte den Eindruck, dass der Niedergestreckte das Bewusstsein verloren hatte. Umso besser, dachte er, dann kann ich ihn ja gleich in den Putzmittelraum bringen.
Er packte den Mann an den Füßen, schleifte ihn schwer schnaufend durch den Flur und legte ihn in den schmalen Raum auf den Fließenboden.
Der Körper passte gerade so zwischen die beiden Wandregale, die mit diversen Flaschen und Kanistern sowie allen erdenklichen Reinigungs-Utensilien prall gefüllt waren. Damit der Kerl aus dem Klo noch eine ganze Weile in dem Raum liegen blieb, fesselte er ihn mit einer Wäscheleine, die er im Regal zwischen einem Kanister Unkrautvernichter und einer halb leeren Wodkaflasche entdeckt hatte.
Er hatte gerade die Tür des Putzmittelraumes geschlossen und darüber nachgedacht, ob es nicht vielleicht das Beste sei, sich vorzeitig von der blonden Helga zu verabschieden und dieses Gebäude schnellstmöglich zu verlassen, als er bemerkte, wie am Ende des Flurs eine Wohnungstür geöffnet wurde und eine ältere Frau im Mantel und mit einem monströsen Hut auf dem Kopf heraustrat und ihn anstarrte.
Klimakokwsi bemerkte die Verwunderung in ihrem Blick– und wie sich dieses Erstaunen in eine Entschlossenheit verwandelte. Ich sollte jetzt ganz schnell in Helgas Wohnung zurückzukehren und meine Lederjacke holen, dachte er, aber ohne zu rennen, denn das würde noch viel mehr auffallen.
Und so schlenderte er ganz langsam in Richtung Helgas Wohnung durch den Flur, als befände er sich auf einem Spaziergang im Park.
Bevor er in der immer noch offenen Wohnungstür verschwand, drehte er sich noch einmal kurz um und sah, dass die alte Dame ihn immer noch beobachtete, dann aber schnell zurück in ihre Wohnung ging. Er hörte noch, wie sie die Tür von innen verriegelte.
82.
Das Frühstück war Treiber nicht gut bekommen. Ihm war etwas übel, und er befürchtete, die Eier könnten nicht mehr ganz frisch gewesen sein.
Immerhin war er von den engen Handschellen befreit worden. Er hatte sich gerade auf der dünnen, eiskalten Matratze ausgestreckt, als die Tür aufgeschlossen wurde und jemand den Raum betrat, allerdings handelte es sich nicht um den Wärter mit der Baseballkappe. Dieser Mann war korpulent, hatte eine Glatze und trug einen grauen Kittel, in seiner rechten Hand hielt er ein altmodisches Fieberthermometer.
„Ich werd’ verrückt, was machst du denn hier, Treiber?“ Der Besucher schien wirklich überrascht, den Inspektor hier anzutreffen.
Jetzt erkannte auch Treiber den Mann. Es handelte sich um Paul Weinmess, einen ehemaligen Kollegen aus dem Morddezernat, der nach einigen Unstimmigkeiten in Zusammenhang mit dem mysteriösen Tod eines Untersuchungshäftlings den Dienst quittiert hatte.
Nicht ganz freiwillig, wie der Inspektor wusste, denn sein Boss Benno Lückenlos war nicht überzeugt davon gewesen, dass der mutmaßliche Dreifachmörder, ein spielsüchtiger, hoch verschuldeter Zahnarzt, der seine magersüchtige Gattin und seine beiden kleinen Kinder mit Giftpilz-Omelettes umgebracht haben sollte, wirklich Selbstmord begangen hatte.
Auch heute noch hegte Lückenlos Zweifelt daran, dass der Verdächtige sich selbst in der Zellen-Kloschüssel ertränkt haben sollte. Und Weinmess, der selbst drei eheliche und mindestens zwei uneheliche Kinder hatte und im ganzen Dezernat einen Ruf als ausgesprochener Family Man genoss, war aber auch in Kollegenkreisen bekannt dafür, mit bestimmten Inhaftierten alles andere als sanft umzugehen.
Allerdings hatten Vorgesetzte von Weinmess, einmal sogar der Polizeipräsident höchstpersönlich, immer wieder eine schützende Hand über den erfolgreichen Ermittler gehalten, wenn er mal wieder eine Verhörmethode angewandt hatte, die wahrscheinlich bei Amnesty International auf der Folterliste zu finden gewesen wäre. Doch natürlich hatten sie dort nicht nachgeschaut.
„Hallo Paul“, meinte Treiber, „schön dich zu sehen. Ich wusste gar nicht, dass du jetzt für die Geheimpolizei arbeitest.“
„Ich mach’ hier nur ein schlecht bezahltes Praktikum, Treiber“, antwortete Weinmess, „und zur Zeit ist es mein Job, regelmäßig zu überprüfen, ob es unseren in vorübergehender Schutzverwahrung befindlichen Gästen gesundheitlich gut geht. Und dazu gehört auch, dreimal am Tag Fieber zu messen.“
Treiber musste grinsen. „Steck dir dein Thermometer sonst wohin, Paul. Statt meine Körpertemperatur festzustellen, könntest du lieber den Chef dieser geschlossenen Abteilung darüber aufklären, dass ich wirklich Inspektor bei der Mordkommission und kein Terrorist bin. Sei so gut, Kollege, tu mir den Gefallen, klär den Irrtum auf und sorg dafür, dass ich schnellstmöglich auf freien Fuß gesetzt werde.“
Weinmess sah keinen Grund, Treiber diesen Gefallen zu verwehren, schließlich erinnerte er sich noch gern daran, wie er früher zusammen mit seinem Kollegen den ein oder anderen langen, höchstvergnüglichen Abend im Rotlichtviertel verbracht hatte, ohne auch nur einen Euro bezahlen zu müssen. Natürlich weil Treibers Kontakte zur Unterwelt ausgezeichnet waren, und immer alles gleich aufs Haus ging.
Nachdem Weinmess den Leiter der Antiterror-Einheit davon überzeugt hatte, dass der Neuzugang in der Schutzverwahrung wirklich Inspektor bei der Mordkommission war, nicht ohne zu erwähnen, dass er regelmäßig mit dem Polizeipräsidenten Golf spielte, wurde Treiber in die Freiheit entlassen.
Und so händigte der hagere Wärter mit der Baseballkappe dem Inspektor ein Lunchpaket und eine Zehner-Streifenkarte der städtischen Verkehrsbetriebe aus, verzichtete allerdings auf eine Entschuldigung und gab Treiber statt dessen deutlich zu verstehen, dass er bei seinem nächsten Besuch keine Komfortbehandlung mehr erwarten dürfe.
„Keine Sorge, Lulatsch“, erwiderte der Inspektor, „mich siehst du hier nie wieder“, und ließ sich vom hilfsbereiten Weinmess durch endlos lange, spärlich beleuchtete Gänge und über steile Treppen führen, denn allein hätte er nie aus diesem labyrinthartigen Untergrund-Verließ herausgefunden.
Als sein ehemaliger Kollege die letzte Stahltür geöffnet hatte und Treiber sah, dass sie direkt in den City-Pavillon der Verkehrsbetriebe führte, gab er ihm zum Abschied die Hand und sagte: „Danke, Paul, du hast etwas gut bei mir. Aber eines möchte ich noch wissen. Was ist deine Aufgabe, wenn du das Praktikum beendet hast?“
„Dann bekomme ich einen ganz gut vergüteten Einjahresvertrag als technischer Assistent im Verhör-Team. Und wenn ich mich in diesem ersten Jahr bewähren sollte, was ich doch stark hoffe, dann winkt mir eine Daueranstellung, vielleicht sogar als E-Manager.“
„E-Manager?“, fragte Treiber nach, „wofür steht da das E?“ „Für Electricity“, antwortete Weinmess. „Natürlich“, brummte Treiber, klopfte seinem Ex-Kollegen noch einmal auf die Schulter und betrat den Pavillon.
Er drehte sich noch einmal um, um Weinmess zuzuwinken, doch der war schon verschwunden und die Tür geschlossen.
Treiber bemerkte, dass die Stahltür auf der Pavillonseite mit einer Art Fototapete beklebt war, auf der zu sehen war, wie eine Dampflok in einer romantischen Frühlings-Berglandschaft eine steinerne Brücke überquerte, unter der ein Wildbach toste. Auf Augenhöhe der Tür war ein Schild mit der Aufschrift „Nur für Mitarbeiter“ angebracht.
Als er auf den Ausgang des gläsernen Pavillons zusteuerte, musste er sich einen Weg durch die vielköpfige Kundenschar bahnen. Er merkte, wie ihn die Mitarbeiterin am Fahrkarten-Schalter misstrauisch beäugte. Ihr stechender Blick veranlasste ihn, sich schnell weiter Richtung Ausgang zu drängeln.
Er schob eine füllige, junge Frau zur Seite, stieß gegen einen Kinderwagen und holte, kurz vor der Ausgangstür, fast einen Rentner mit Gehstock von den Beinen, was ihm ein wütendes „Du rüpelhafter Sauhund, pass doch auf“ einbrachte, doch dann war er draußen.
Dort machte er den Fehler, nicht sofort anzuhalten – und nicht nach vorn zu schauen, während er weiterging, weil er, erbost über den unverschämten Ton des Rentners, sich noch einmal nach dem alten Mann umdrehte.
So bemerkte er die Straßenbahnschienen vor ihm nicht, und überhaupt war ihm gar nicht klar, dass er sich hier an dem Verkehrsknotenpunkt der City befand, mit einem Gewirr von Gleisen und zahlreichen Haltestellen in kurzen Abständen.
Treibers Gedankenlosigkeit führte dazu, dass er einen Schritt zu weit ging.
Die Vollbremsung des Straßenbahnfahrers konnte nicht verhindern, dass der Inspektor von der rechten Frontseite der Tram erfasst und vor die Tür des Pavillons geschleudert wurde.
83.
Helene Reichstein hatte genau gesehen, dass der verdächtige Kerl aus dem Putzmittelraum gekommen war, und sie wusste, dass er dort nichts zu suchen hatte. Nur Herr Kellerwein, der Hausmeister, und die beiden Putzfrauen hatten Zugang zu diesem Raum, und sie wunderte sich, wie der fremde Mann überhaupt in den Raum gekommen war, wo doch alle drei immer gewissenhaft darauf achteten, die Tür abzuschließen.
Vielleicht hat er sich ja mit Gewalt Einlass verschafft, dachte sie, allerdings konnte sie sich nicht vorstellen, was er überhaupt im Putzmittelraum wollte. Etwa Scheuerpulver, einen Besen oder eine Packung Einmalhandschuhe stehlen? Wer weiß, dachte sie, heutzutage tun ja immer mehr Menschen völlig verrückte Dinge.
Auf jeden Fall hatte sie diesen Mann noch nie hier gesehen und war sicher, dass es sich um keinen Bewohner dieses Hauses handelte. Doch dass er jetzt in der Wohnung von diesem blonden Mädchen verschwunden war, die sie noch nie mit einem Mann zusammen gesehen hatte, steigerte ihr Misstrauen noch.
Helene Reichstein hätte schwören können, dass diese Helga Lacknagel von Männern grundsätzlich nichts wissen wollte und sich eher zu ihrem eigenen Geschlecht hingezogen fühlte.
Es war bestimmt kein Zufall, dass sie häufig Besuch von einer hübschen jungen Dame bekam, die häufig einen Blumenstrauß oder eine Flasche Wein mitbrachte. Ganz klar, dachte Frau Reichstein, die Blonde ist vom anderen Ufer.
Und jetzt dieser Mann, der sich mehr als verdächtig verhielt? Da stimmt etwas nicht, dachte sie und beschloss, lieber bei der Polizei anzurufen.
84.
Helga Lacknagel stand schon eine ganze Weile neben der geschlossenen Schlafzimmertür, den Brieföffner in ihrer rechten Hand haltend. Sie hatte das Klingeln gehört und mitbekommen, wie ihr Entführer über die Sprechanlage an der Wohnungstür mit irgend jemanden geredet hatte, allerdings nicht verstehen können, warum es ging.
Dann war es eine längere Zeit wieder still gewesen. Helga hatte sich überlegt, dem Kerl neben der Schlafzimmertür aufzulauern. Irgendwann würde er nach ihr sehen, und dann wollte sie ihn überraschen. Sie hatte die feste Absicht, von dem Brieföffner Gebrauch zu machen und den Mann damit außer Gefecht zu setzen.
Ich habe keine andere Wahl, hatte sie erkannt, und ich darf keine Skrupel haben, ihm das spitze Ding in den Hals zu stoßen, sobald er hereinkommt.
Sie war selbst überrascht darüber, dass sie zu solch einer Gewaltanwendung bereit war – und wie cool sie über die Aktion dachte. Ich muss ihn nur richtig treffen, dachte sie, damit dieser Alptraum ein Ende hat.
Dann hatte Helga Schritte im Flur vernommen und gehört, wie ihr Entführer die Wohnungstür öffnete, und plötzlich waren Schreie und dumpfe Geräusche an ihre Ohren gedrungen.
Sie hatte den Eindruck, als sei im Hausflur ein Kampf im Gange. Kurz hatte sie gedacht, die Polizei wäre eingetroffen und würde versuchen, den Kerl festzunehmen, doch dann war es wieder still geworden, und sie hatte den Gedanken wieder verworfen.
Ich muss die Ruhe bewahren, was immer da draußen geschehen ist, dachte sie nun, während sie immer noch neben der Tür lauerte, und ich muss weiterhin geduldig warten. Jetzt das Schlafzimmer zu verlassen, wäre bestimmt ein Fehler.
Dann hörte sie, wie die Wohnungstür ins Schloss fiel und jemand durch den Flur stapfte – jemand, der völlig außer Atem zu sein schien und lautstark Luft holte.
85.
Klimakowski fühlte sich völlig zerschlagen und hatte den Eindruck, dass sein geschwollener Kehlkopf auf die Luftröhre drückte.
Das Atmen war anstrengend, und während er mit schweren Beinen ins Wohnzimmer ging, um seine Wildlederjacke mit dem wichtigen Portemonnaie zu holen, sog er mit einem fauchendem Geräusch gierig Sauerstoff in seine Lungen.
Ich muss hier ganz schnell verduften, bevor die Bullerei eintrifft, dachte er, denn er war überzeugt davon, dass die alte Frau mit Hut, der er im Hausflur begegnet war, längst Alarm geschlagen hatte.
Er zog seine Jacke an, überzeugte sich davon, dass der Geldbeutel noch in der Innentasche steckte, und verließ das Wohnzimmer. Kurz vor der Wohnungstür fiel ihm Helga ein.
Es wäre doch schade, dachte er, zu verduften, ohne mich von ihr verabschiedet zu haben. Die Vorstellung, ihr noch ein einen gehörigen Schrecken einzujagen, bevor er aus ihrer Wohnung verschwinden würde, ließ ein fettes Grinsen in seinem Gesicht entstehen.
Klimakowski öffnete die Schlafzimmertür, sein Messer in der Hand, und betrat den Raum. Sofort sah er, dass Helga nicht mehr auf dem Bett lag, doch noch während er die gefährliche Situation erkannte und instinktiv einen Schritt zurück machte, registrierte er, wie die Blondine hinter der Tür hervorsprang und ihn mit einem spitzen Ding, dass sie in der Hand hielt, angriff.
Er sah, dass Helga mit dem Arm ausholte und mit dem dolchähnlichen Gegenstand auf seinen Kopf zielte. Schnell drehte er sich etwas zur Seite, so dass die Spitze ihrer Waffe nur sein rechte Wange aufriss.
Der Schwung ihres Angriffs war so stark, dass er sie aus dem Gleichgewicht brachte, sie den Halt unter ihren Füßen verlor und auf den Teppichboden fiel.
Im Nu war er über ihr, und seine Wut war so groß, dass er nicht merkte, wie ihm Blut über den Hals lief. „Jetzt mach ich dich fertig, du hintertückische Schlampe“, stieß er rau hervor.
Er bückte sich zu Helga herunter, um ihr mit seinem Messer den Hals aufzuschlitzen, aber die Blondine reagierte blitzschnell. Sie setzte sich auf und stieß ihm den Brieföffner, den sie bei ihrem Sturz nicht fallen gelassen hatte, durch die geöffnete Wildlederjacke in den Bauch.
Klimakowski ließ sein Messer fallen, sank auf die Knie, gab einen grunzenden Laut von sich und blickte überrascht auf den Brieföffner, der in seiner rechten Bauchseite steckte. Er hatte noch Glück gehabt, denn die lange Klinge war nur etwa bis zur Hälfte eingedrungen.
Helga, die jetzt zwei Schritte neben dem Mann stand, starrte mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Entsetzen auf die Waffe, die sie ihrem Entführer soeben in den Leib gerammt hatte. Sie bemerkte, wie sich die rechte Hand des Mannes zitternd auf den Brieföffner zu bewegte und sich dann fest um dessen Griff schloss.
Sie hörte, wie seinem Mund ein tiefer Seufzer entströmte, dann sah sie, wie sich seine Augen weiteten, seine Hand plötzlich ganz ruhig wurde, er sich die Waffe mit einem Ruck aus dem Bauch riss und sie von sich schleuderte.
Mit einem dumpfen Geräusch prallte der Brieföffner von der massiven Kleiderschranktür ab und sprang unter das Bett, wo er auf dem Teppichboden liegen blieb.
Es war ein Schock für Helga, sie fühlte sich wie gelähmt. Und jetzt musste sie auch noch mit ansehen, wie der Kerl sich schwankend aufrichtete und dabei seine Hand auf die Bauchwunde drückte. Sie bemerkte, wie sich Blut zwischen seinen Finger hindurchdrängte und auf seine Hose tropfte.
Mit glasigen Augen starrte Klimakowski Helga an, und sein Körper straffte sich. Er gab eine Art Knurren von sich, und Helga wurde von kalter Angst erfüllt. Doch erst als sich sein Gesicht zu einer höhnischen Fratze verzog, gelang es ihr, sich aus ihrer Schockstarre zu lösen.
Sie rannte aus dem Schlafzimmer, durch den Flur und stürmte ins Badezimmer hinein, wo sie sofort die Tür verriegelte. Am ganzen Körper bebend, hockte sie sich auf den Badewannenrand und merkte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten.
Helgas Gefühlswelt war völlig aus dem Gleichgewicht geraten. Einerseits war sie schockiert über sich selbst, über ihre brutale Gewaltanwendung und den Versuch, einen Menschen umzubringen. Andererseits hoffte sie, dass sie ihren Entführer so schwer verletzt hatte, dass er es nicht überleben und möglichst bald zusammenbrechen würde.
Hauptsache, er hat nicht mehr genug Kraft, um zu versuchen, zu mir ins Badezimmer zu gelangen, dachte sie. Wenn du schon nicht stirbst, du Ungeheuer, dann verschwinde wenigstens aus meiner Wohnung.
Und genau das war es, was Klimakowski jetzt vorhatte. Währen seine Bauchwunde wie Feuer brannte, schwankte er in die Küche und durchsuchte alle Küchenschrank-Schubladen und Ablagen, bis er ein sauberes Geschirrhandtuch gefunden hatte.
Er faltete das Tuch zu einem quadratischen, kleinen Päckchen und schob es behutsam unter sein eng anliegendes, blutgetränktes T-Shirt, bis es direkt auf der Stichwunde lag.
Dann zog er seinen Ledergürtel aus den Schlaufen seiner Hose, band ihn sich um den durchtrainierten, schlanken Bauch, direkt über den notdürftigen Verband, holte ein paar Mal tief Luft und zog den Gürtel fest.
Der Schmerz war so stark, dass er aufschrie und einen kurzen Moment lang befürchtete, ohnmächtig zu werden.
Er wollte sich schon auf einen Küchenstuhl setzen, um einen Moment auszuruhen, doch er befürchtete, das könne den Druck auf seine Wunde verstärken, und verzichtete darauf.
An den Küchenschrank gelernt versuchte er, den Schmerz zu ignorieren und sich darauf zu konzentrieren, was für ihn jetzt die nächsten, wichtigsten Schritte wären. Erstens muss ich schnell aus diesem Haus verschwinden, dachte er. Zweitens muss ich meine Wunde professionell versorgen lassen. Drittens muss ich die Stadt verlassen und mir vorerst auf dem Land eine Unterkunft suchen. Und viertens bauche ich dazu ein Auto.
Um die blonde Schlampe, die mich abstechen wollte, brauche ich mir wohl keine Gedanken mehr zu machen, dachte er. Die hat sich verkrochen und zittert jetzt wahrscheinlich vor Angst, ich könnte mich rächen. Aber keine Sorge, du Luder, ich nehm mir nur dein Auto, nicht dein Leben.
Ihm fiel ein, dass er mit Helgas Polo zu Marc fahren könnte. Den jungen Rettungssanitäter hatte er im Fitness-Center kennengelernt und mit ihm ein paar schöne Mountainbike-Touren unternommen. Der wird mich bestimmt gut verarzten, dachte Klimakowski, und ich werde ihm schon eine glaubwürdige Geschichte auftischen, wie mir das Malheur passiert ist.
Danach verlasse ich die Stadt und suche mir in einem kleinen, abgelegenen Dorf auf dem Land eine nette Pension, wo ich für ein paar Tage oder gleich eine ganze Woche ein Zimmer mit Frühstück miete. Dort kann ich mich dann auskurieren und neue Energie tanken.
Zufrieden mit seinem Plan schnappte er sich Helgas Autoschlüssel, der noch auf dem Tisch lag, und verließ die Küche.
Jeder Schritt verstärkte den Schmerz in seinem Bauch, weshalb er sich sich so gemächlich und vorsichtig wie möglich bewegte. Vor der Wohnungstür blieb er stehen und lauschte, ob im Hausflur irgend etwas zu hören war, doch alles war still.
Er öffnet er die Tür einen Spalt breit und spähte hinaus, doch es war niemand zu sehen. Dann trat er hinaus in den Flur und schloss leise die Wohnungstür.
Er hatte gerade drei Schritte in Richtung Treppe gemacht, als er eine Polizeisirene hörte. Sie war laut, so als befände sich der Einsatzwagen direkt vor dem Gebäude. Abrupt blieb Klimakowski stehen.
Das sind bestimmt die Bullen, dachte er, wahrscheinlich hat die komische Alte mit Hut sie gerufen.
Plötzlich hallten Schritte von unten herauf, es klang, als laufe jemand die Treppe nach oben, und Klimakowski hatte den Eindruck, als handele es sich um mehrere Personen, die im Treppenhaus eilig unterwegs waren.
Falls das wirklich die Bullen sind, dachte er, bleibt mir jetzt keine andere Wahl, als den Aufzug zu nehmen. Und falls es Bewohner dieses Hauses sind, ist es auch okay. Dann vermeide ich es, anderen Menschen auf der Treppe zu begegnen. Wer weiß, welchen Eindruck ich in meinem Zustand momentan auf andere mache, bestimmt keinen besonders vertrauenswürdigen.
So schnell er konnte ging er zur Aufzugtür. Er hatte Glück, denn die Aufzugkabine befand sich bereits in der fünften Etage. Er drückte auf den Liftknopf, und die Tür öffnete sich mit einem singenden Geräusch.
Während Klimakowski den Lift betrat, hörte er polternde Schritte, die durch den langen Hausflur hallten. Sie sind also schon hier oben, dachte er und drückte sofort auf den Erdgeschoss-Knopf, wobei ihm auffiel, dass neben der vertikalen Leiste mit den Etagenknöpfen eine kleine Klappe geöffnet war, aus dem mehrere bunte Kabel lose heraushingen. Allerdings fühlte er sich zu sehr unter Anspannung, um sich nähere Gedanken darüber zu machen.
Mit einem Ruck setzte sich der Aufzug in Bewegung. Doch bereits nach wenigen Sekunden war die Fahrt zu Ende.
Als hätte jemand eine Vollbremsung ausgelöst, stoppte die Kabine so unvermittelt, so dass Klimakowski das Gleichgewicht verlor, mit dem Allerwertesten unsanft auf dem genoppten Metallboden landete und sich den Hinterkopf an der Liftwand anschlug. Doch es war der aufflammende, grelle Schmerz in seinem Bauch, der ihm den Atem nahm.
Klimakowski riss sich zusammen. Stück für Stück schob er seinen Körper an der Kabinenwand hoch, bis er wieder aufrecht stand.
Seine Hand zitterte, als er erneut auf die Erdgeschoss-Taste drückte, doch es kam keine Reaktion. Fluchend presste er seinen Daumen noch mehre Male mit aller Kraft auf den Knopf, aber es war zwecklos, der Aufzug rührte sich nicht.
Das darf nicht wahr sein, dachte er, ich stecke fest. Ausgerechnet jetzt. Der Schmerz in seinem Bauch war nun so stark, dass er besorgt die rechte Seite seiner Jacke aufschlug, um einen Blick auf den Pulli zu werfen.
Erschrocken stellte er fest, dass sich die unterer Hälfte des hellgrauen Pullis komplett dunkelrot verfärbt hatte. Der Baumwollstoff hatte das aus der Stichwunde im Bauch austretende Blut aufgesaugt.
Klimakowski sah, dass es sich um viel Blut handelte, und es war ihm bewusst, dass dieser Blutverlust schnellstmöglich gestoppt werden musste. Doch wie nur?
Stöhnend drückte er seine Hand auf die Stelle, wo sich das Loch im Bauch befand, als ließe sich so die Blutung beenden. Sein Blick fiel auf das kleine Fenster in der Aufzugtür. Durch die Glasscheibe konnte er nur die nackte Betonwand erkennen.
Er vermutete, dass der Aufzug zwischen zwei Stockwerken stecken geblieben war, wahrscheinlich zwischen der vierten und fünften Etage, vielleicht aber auch zwischen der dritten und vierten. Egal, dachte er, so oder so sitze ich hier in der Klemme.
Und dann gaben plötzlich seine Beine nach, er rutschte mit dem Rücken an der Kabinenwand hinab.
Als er wieder auf dem Boden hockte und fasziniert seine blutverschmierte Hand betrachtete, befiel ihn eine seltsame Gleichgültigkeit. Während die Deckenbeleuchtung des Aufzugs wild zu flackern begann, ein Geruch von verschmortem Gummi die Liftkabine erfüllte und ein merkwürdiger Summton zu hören war, lockerte ein Grinsen Klimakowskis schmerzverzerrtes Gesicht auf, und zwei Worte kamen ihm über die trockenen Lippen: „Heilige Scheiße!“
86.
Ungefähr zur selben Zeit verließ Hugo Hautmilch, technischer Angestellter der Translift AG, das Wohngebäude in der Sütterlinstraße 33, um aus seinem Firmen-Transporter ein Schild mit der Aufschrift „Fahrstuhl vorübergehend außer Betrieb“ zu holen. Nachdem er festgestellt hatte, dass der Schaden doch größer war als zunächst vermutet und mehrere Kabelverbindungen sowie mindestens ein Relais zu erneuern waren, schätzte er, die Reparatur des Aufzugs würde mindestens einen ganzen Tag dauern.
Bereits in aller Hergottsfrühe hatte eine Bewohnerin des Hauses angerufen, einen Defekt am Fahrstuhl gemeldet und dringend darum gebeten, schnellstmöglich zu kommen. Und weil Hugo an diesem Tag noch bis um 8 Uhr für den Notdienst und die Telefonbereitschaft eingeteilt war und die Anruferin ihm deutlich zu verstehen gegeben hatte, dass sie eine Tante des Junior-Chefs war, war ihm nichts anderes übrig geblieben, als sich sofort auf den Weg zu machen.
Nach seiner Ankunft hielt Hugo Hautmilch es zunächst für angebracht, die Funktionstüchtigkeit der sich im Erdgeschoss befindenden Liftkabine zu überprüfen. Die Tür ließ sich ganz normal öffnen und schließen, so dass einer Probefahrt nichts im Wege stand. Für alle Fälle hatte Hugo die Tasche mit den wichtigsten Werkzeugen dabei.
Er wollte bis ganz nach oben in den siebten Stock fahren, allerdings kam er nur bis in die fünfte Etage, dann streikte der Lift.
Bereits nach kurzer Zeit hatte er herausgefunden, was die Ursache für den Funktionsausfall war, allerdings hatte er vergessen, ein Schild aus seinem Dienstwagen mitzunehmen, mit dem er die Bewohner darüber informieren konnte, dass der Aufzug momentan nicht funktionierte.
Die Aussicht, die Treppe benutzen zu müssen, um das Schild zu holen, stimmte Hugo nicht gerade froh, denn um seine körperliche Fitness stand es nicht zum Besten. Der Sportmuffel und Genussmensch schleppte ein gehöriges Übergewicht mit sich herum, und so brauchte er recht lange, um die fünf Stockwerke herunter und wieder herauf zu steigen.
Was ihm das Heruntergehen zusätzlich verleidete, waren drei rücksichtslose Jogger, die wild und laut polternd heraufstürmten und ihn im engen Treppenhaus zu einem Ausweichmanöver zwangen, bei dem er mit dem linken Ellbogen schmerzhaft gegen die Wand stieß.
„Ihr Rüpel“, rief er ihnen aufgebracht hinterher, doch ihr hämisches Gelächter sowie die Antwort „Halt’s Maul, du Fettsack“ machten ihn nur noch wütender.
Schwer atmend und mit hochrotem Kopf endlich in der fünften Etage wieder angekommen, wollte er gleich das Schild an der Aufzugtür anbringen, doch erschrocken musste er feststellen, dass irgendjemand in der Zwischenzeit wohl mit dem defekten Lift gefahren war, wie weit auch immer. Der Fahrstuhl war jedenfalls nicht mehr da.
Hugo Hautmilch blieb nichts anderes übrig, als auf jeder Etage nachzusehen, ob sich die Liftkabine dort befand und vielleicht noch jemand darin steckte. Und so marschierte er keuchend hoch bis in den siebten Stock und wieder herunter bis ins Kellergeschoss, wo sich die Tiefgarage befand; mit der bitteren Erkenntnis, dass der Fahrstuhl irgendwo zwischen zwei Etagen stecken geblieben sein musste. Wahrscheinlich ist mindestens eine Person in der Liftkabine gefangen, dachte Hugo.
Den Fahrstuhltechniker überkam ein ganz mulmiges Gefühl. Das könnte Ärger geben dachte er, richtigen Ärger. Und so entschloss er sich, nachdem ihm bislang niemand im Haus begegnet war, seine Werkzeugtasche und das „Außer Betrieb“-Schild zu nehmen, schleunigst das Gebäude zu verlassen, in seinen Transporter zu steigen und wieder nach Hause zu fahren.
Während er im frühmorgendlichen Berufsverkehr dem Feierabend entgegen fuhr und sich auf ein ausgiebiges Frühstück freute, überlegte Hugo Hautmilch, dass es am besten sei, zu Hause um kurz nach Acht bei seiner Firma anzurufen, und der Kollegin in der Zentrale mitzuteilen, dass er heute morgen leider nicht einsatzfähig sei.
Sein Transporter sei einfach nicht angesprungen, er habe zwar den Pannendienst angerufen, aber der sei immer noch nicht eingetroffen. Vielleicht könnten sich die lieben Kollegen von der Tagesschicht um den als defekt gemeldeten Aufzug in der Sütterlinstraße 33 kümmern, er selbst habe ja jetzt auch Feierabend.
Genauso werde ich es machen, dachte er, schaltete das Autoradio ein, und während Steven Tyler von Aerosmith einen Lobgesang auf „Love In An Elevator“ anstimmte, gähnte er ausgiebig und überlegte, ob eine Kanne mit frischem, starkem Kaffee und zwei Schoko-Croissants in seiner geräumigen Küche nicht eine sehr gute Alternative seien.
87.
Klemens Klimakowski mobilisierte seine letzten Kraftreserven, um sich noch einmal aufzurichten. In sitzender Position war es für ihn unmöglich, an den Notrufknopf zu kommen, und so raffte er sich stöhnend noch einmal auf.
Mit seinem blutverschmierten rechten Daumen drückte er mehrmals auf die runde Taste, doch es tat sich nichts. Der Lautsprecher blieb stumm.
Erschöpft sackte er wieder zusammen. Während er resigniert auf dem Liftboden saß, den Rücken an die kalte Metallwand gelehnt, file ihm auf, dass jetzt nicht nur fast der ganze Pulli, sondern auch der obere Teil seiner Hose blutgetränkt war.
Der brennende Schmerz in seinem Bauch hatte noch an Intensität zugenommen, und er fühlte sich, als habe er hohes Fieber. Er musste sich eingestehen, dass die Chance, es noch bis nach Ungarn zu schaffen, gleich Null war. Ihm war klar, dass es für ihn jetzt nur noch ums nackte Überleben ging.
Er wusste nicht, wie lange sein Körper noch den nicht zu stoppenden Blutverlust verkraften würde. Seine einzige Hoffnung bestand darin, dass irgendein Bewohner dieses Hauses den Defekt des Aufzugs bemerken und den Hausmeister oder die für die Wartung zuständige Firma informieren würde. Hauptsache, dachte er, es ist schnell jemand hier, der sich mit Fahrstuhltechnik auskennt.
Eigentlich wäre es auch nicht verkehrt, wenn der Techniker gleich einen Rettungssanitäter mitbringen würde, überlegte er, und vielleicht auch eine Putzfrau, die den Boden und die Wände von meinem Blut reinigen könnte. Dieser Gedanke löste bei ihm ein irre klingendes Kichern aus, das sich anhörte, als sei er völlig betrunken oder nicht mehr ganz bei Sinnen.
Klimakowski kicherte noch ein ganze Weile vor sich hin, weil es in der Liftkabine so schön hallte, wie er fand, doch dann begann er sich zu fragen, ob es nicht eine gute Idee sei, laut um Hilfe zu rufen. Da er allerdings nicht glaubte, dass irgendjemand seine Rufe hören würde, ersparte er sich die Anstrengung, die, wie er befürchtete, sein Schmerzen im Bauch nur noch verstärken würde.
Plötzlich hörte er seltsame Geräusche, die aus dem Deckenbereich der Liftkabine zu kommen schienen – erst ein rhythmisches Pochen, das nach vielleicht einer Minute von einem Zischen abgelöst wurde.
Es klingt, als entweiche Luft aus einem kaputten Fahrradschlauch, dachte Klimakowski – und auf einmal spielte sich in seinem Kopf eine Szene ab, so als sei er urplötzlich mitten in einen schönen Traum hineingeglitten.
Er war mit seinem Mountainbike auf einem feuchten, grünen Uferweg unterwegs, entlang eines leuchtend blauen, sich durch eine paradiesische Landschaft schlängelnden Flusses. Schlanke, rubinrote Libellen schwirrten um seinen Kopf herum, und der Fahrtwind kühlte sein erhitztes Gesicht.
Fasziniert beobachtete er einen Graureiher dabei, wie der stattliche Vogel im seichten Uferbereich unbeweglich auf seinen stelzenartigen Beinen stand und auf Beute lauerte. Blitzschnell schnappte der Reiher sich mit seinem ellenlangen Schnabel einen schlanken, silbrigen Fisch.
Das war das Letzte, was Klimakowski sah, und so bekam er auch nicht mehr mit, wie die immer noch gemächlich flackernde Deckenbeleuchtung plötzlich wie ein Disco-Stroboskop hektische Lichtsignale ausstieß, bis sie mit einem lauten Plopp endgültig ihren Betrieb einstellte.
Kurz nachdem es in der Fahrstuhlkabine stockdunkel geworden war, auch die leuchtenden Tasten in der Bedienungs-Konsole an der Liftwand hatten keine Stromzufuhr mehr, verlor Klimakowskis Halsmuskulatur ihre Spannung. Sein Kopf sank nach vorn, bis das Kinn die Brust berührte. Und das wenige Blut, das sich noch in seinem Körper befand, hörte auf zu zirkulieren.
88.
Die beiden erfahrenen Polizeibeamten, die von der Einsatzleitung in die Sütterlinstraße 33 geschickt worden waren, hätten jede Wette darauf abgeschlossen, dass es in der Wohnung im fünften Stock einmal mehr um einen Fall von häuslicher Gewalt ging. Und da sie es bei solchen Beziehungsstreitigkeiten nicht als ihre vordringlichste Aufgabe betrachteten, Paar-Therapeuten zu spielen, Schuldfragen zu klären oder den Seelsorger heraushängen zu lassen, ging es ihnen in erster Linie darum, das Schlimmste zu verhindern.
Zum Beispiel rechtzeitig vor Ort zu sein, bevor ein krankhaft eifersüchtiger Mann seiner Freundin ein Steakmesser in den Hals bohren würde, oder bevor eine hasserfüllte Ehefrau ihrem Schürzenjäger von Ehemann eine gusseiserne Pfanne auf den Schädel donnerte.
Deshalb hatten die Polizisten während der Fahrt aufs Tempo gedrückt und das Blaulicht eingeschaltet, um nicht sofort nach ihrem Eintreffen den Notarzt rufen zu müssen.
Die erste Enttäuschung in diesem Einsatz bestand für sie darin, dass der Fahrstuhl anscheinend kaputt war, denn als sie im Erdgeschoss die Liftkabine per Knopfdruck anfordern wollten, tat sich überhaupt nichts, der Aufzug gab keinen Mucks von sich.
„Der scheint gar keinen Saft zu haben“, meinte der Größere, des Beamten-Duos. „Da kannst du einen drauf lassen“, antwortete sein kleinerer, aber deutlich schlankerer Partner, „also tun wir etwas für unsere Fitness“, worauf sein fülliger Kollege, der außer Schach und Minigolf jede sportliche Tätigkeit verabscheute, nur mürrisch brummte.
„Wer als Erster oben ist“, rief der Kleine – und hatte schon die ersten zehn Treppenstufen hinter sich gelassen. „Du kannst mich mal“, antwortete sein Kollege, „ich geh hier ganz normal hoch, bin doch nicht blöd und hol mir einen Herzkasper“.
In der fünften Etage wartete die zweite Enttäuschung auf die Beamten. Alles war ruhig, nichts ließ darauf schließen, dass in einer der Wohnungen ein heftiger Ehestreit im Gange war.
„Wo noch mal soll da die Action sein?“, fragte der Große. „Warte mal kurz“, antwortet der Kleine und zog einen zerknitterten Zettel aus seiner Hosentasche. „Bei einer gewissen Helga Lacknagel, hat die Anruferin der Kollegin in der Zentrale wohl gesagt.“
„Dann sollten wir vielleicht bei der guten Frau Lacknagel mal klingeln“, erwiderte der Große. „Ja, das sollten wir wohl“, kam vom Kleinen zurück, „jetzt, wo du es ja zu Fuß bis hier in den fünften Stock geschafft hast“.
89.
Im Badezimmer hatte Helga Lacknagel die Geräusche aus dem Flur, vor allem das Zuschlagen der Wohnungstür, so gedeutet, als könne ihr Peiniger wirklich die Wohnung verlassen haben, aber ganz sicher war sie nicht.
Als sie jetzt die Türklingel hörte, bekam sie einen Schreck. Um Gottes Willen, dachte sie, nicht dass ich meinen Entführer nur verletzt habe und er noch einmal zurückgekehrt ist, um erneut in meine Wohnung einzudringen, warum auch immer.
Sie wurde aus dem ihrer Meinung nach völlig gestörten Mann einfach nicht klug und traute ihm mittlerweile alles zu, ob es einen Sinn ergab oder nicht.
Helga brauchte nicht lange, um sich zu entscheiden. Ich bin doch nicht verrückt, dachte sie, und lasse den Irren noch einmal herein, damit er mir doch noch irgendetwas Schlimmes antun kann. Allerdings wunderte sie sich, dass der Mann sich anscheinend nicht ihren Hausschlüssel geschnappt hatte und jetzt klingeln musste.
Egal, dachte Helga, ich bleib schön hier im abgeschlossenen Badezimmer. Nicht dass der Kerl seinen Weggang nur vorgetäuscht hat und jetzt im Flur darauf lauert, dass ich herauskomme.
Allerdings hielt sie es auch nicht für ausgeschlossen, dass es die Postbotin war, die geklingelt hatte. Sie erinnerte sich, dass sie noch ein Päckchen mit Sämereien für ihren kleinen Balkongarten erwartete, Blumen- und Kräutersaaten, die sie im Internet bestellt hatte.
Helga war zu dem Schluss gelangt, es sei wohl das Beste, im Bad so lange auszuharren, bis die Polizei einträfe. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass der Lärm im Treppenhaus, der Krach direkt vor ihrer Wohnungstür, der sich wie ein Kampf angehört hatte, von allen Mitbewohnern überhört worden war. Und irgend ein ängstlicher Nachbar oder eine missgünstige Nachbarin, so dachte sie, hat bestimmt die 110 gewählt.
Bei dem miesen Ruf, den ich bei den meisten Nachbarn genieße, so überlegte sie, würde es mich nicht wundern, wenn irgend jemand der Polizei erzählt hat, in meiner Wohnung habe es eine handgreifliche Auseinandersetzung zwischen der Prostituierten Helga Lacknagel und ihrem brutalen Zuhälter gegeben – und der heftige Streit seit dann lautstark im Hausflur fortgesetzt worden.
Aber diese Lügengeschichte könnte mein Glück sein, dachte Helga, denn dann würden die Polizisten nicht zögern, meine Wohnungstür aufzubrechen – und das wäre meine Rettung.
90.
Nachdem sie dreimal vergeblich geklingelt hatten und auch keine verdächtigen Geräusche aus Helga Lacknagels Wohnung an ihre Ohren gelangt waren, sagte der große Polizist zu dem kleinen: „Du, Willi, ich glaub’, da ist niemand zu Hause.“
„Da könntest du recht haben, Stefan“, antwortete Willi, „es könnte aber auch sein, dass sich zwar jemand in der Wohnung befindet, dieser jemand aber nicht mehr unter den Lebenden weilt – oder aber so schwer verletzt ist, dass er oder sie es nicht mehr schafft, die Tür zu öffnen.“
„Ach Willi“, erwiderte Stefan, „das ist doch ziemlich unwahrscheinlich. Ich denke eher, dass hier ein falscher Alarm vorliegt. Vielleicht hat sich auch ja irgendein Spaßvogel einen Streich erlaubt, oder der Anrufer will aus irgendeinem Grund der Lacknagel eins auswischen. Wir sollten sehen, dass wir uns schleunigst vom Acker machen. Schließlich ist gleich Frühstückszeit, und wir könnten uns doch in Lisas Backstube einen Kaffee und eine leckere Mohnschnecke gönnen – oder auch zwei.“
„Überredet, Partner“, meinte Willi, „die Mohnschnecken bei Lisa sind wirklich die Besten, also lass uns die Kurve kratzen. Ich glaube, nach diesem schweren Einsatz haben wir uns eine Pause und eine kleine Stärkung redlich verdient. Also: Abmarsch! Aber vergiss nicht, Stefan, der Aufzug ist kaputt, wir müssen leider wieder die Treppe nehmen.“
„Mist“, sagte der große Polizist. Und während er hinter seinem Kollegen die Treppe hinabstieg, fragte er: „Meinst du nicht auch, Willi, dass da eigentlich ein Hinweis-Schild hängen müsste, wenn der Anzug nicht mehr funktioniert?“ „Normalerweise schon“, antwortete sein kleiner Kollege, „aber was ist eigentlich noch normal in diesen verrückten Zeiten?“
91.
Lausig hatte großes Glück, dass sein linkes Knie nur ein schwere Prellung davongetragen hatte, allerdings war es fast so dick wie ein Handball, und die Schwellung erstrahlte in einem satten Dunkelblau, das von einer olivgrünen Aura umgeben war – ein Anblick, der dem Notarzt ein Lächeln ins Gesicht zauberte.
Lausigs Pech war, dass es sein rechtes Knie ziemlich übel erwischt hatte. Die Kniescheibe hatte dem heftigen Schlag mit dem Feuerlöscher nicht standgehalten und war in drei Teile zerbrochen, ein Problem, das allerdings durch einen operativen Routine-Eingriff am nächsten Tag wieder nachhaltig gelöst werden könne, wie der diensthabende Knochenspezialist dem Patienten nach der Kernspintomografie versicherte.
Es entsprach Lausigs Naturell, dass er diese Information nur mit verhaltener Freude entgegen nahm, denn er vertraute Optimismus verbreitenden Ärzten grundsätzlich nicht. Andererseits blieb ihm nichts anderes übrig, als sich in die feingliedrigen Hände eines Chirurgen zu begeben und auf das Prinzip Hoffnung zu setzen. Es muss ja nicht jeder Schnitt daneben gehen, dachte Lausig, und es kann ja nicht sein, dass ich das Pech dauerhaft gepachtet habe.
Allerdings war ihm Fortuna durchaus auch hold gewesen, wie Lausig sich ehrlicherweise eingestehen musste, denn die Raumpflegerin hatte ihn im Putzmittelraum bereits nach relativ kurzer Zeit gefunden, was nichts anderes als ein glücklicher Zufall war.
Nach der Krankmeldung der eigentlich zuständigen Kollegin war es der freundlichen Reinigungskraft möglich gewesen, sofort als Ersatz einzuspringen – anderenfalls hätte Lausig wahrscheinlich noch deutlich länger gefesselt und mit kaputten Knien in dem sauerstoffarmen, nach giftigen, ätzenden Stoffen riechenden engen Raum verbringen müssen – vielleicht sogar mehrere Tage.
So aber hatte die Ersatzraumpflegerin, nachdem der erste Schock über den Überraschungsfund auf dem Boden abgeklungen war, ihn von der Wäscheleine befreit und einen Krankenwagen gerufen.
Sein Transport auf der High-Tech-Liege vom fünften Stock bis hinunter ins Erdgeschoss hatte sich allerdings als Tortur für die beiden schmächtigen Rettungssanitäter erwiesen, denn sie mussten die Treppe nehmen.
Schon nachdem das Rettungs-Duo fast zehn Minuten vergeblich im Erdgeschoss auf den Lift gewartet hatte, war die gute Laune in eine starke Verdrießlichkeit umgeschlagen, und der Jüngere der Sanitäter hatte wütend zu seinem Kollegen gemeint, es sei ja eine absolute Frechheit, kein Hinweis Schild anzubringen, wenn der Aufzug kaputt sei.
Den Abstieg mit Passagierlast vor Augen, begann sein älterer Kollege, wüste Flüche auszustoßen und wünschte dem Hausmeister dieses Gebäudes einen Hakenwurmlarven-Befall oder eine andere üble Erkrankung an den Hals.
Obwohl die hochmoderne Liege über stufentaugliche Rollen verfügte, erschien es Lausig, als seien die Retter zum ersten Mal mit solch einem Gefährt unterwegs und müssten erst noch ihren Führerschein machen. Und weil sie vergessen hatten, ihn anzuschnallen, war seine Angst während des gesamten Transports groß, er könne abzustürzen und sich auf den Steinstufen noch zusätzlich verletzen.
Aber es ging alles gut, und die verlorene Zeit im Treppenhaus machten die Sanitäter wieder wett, indem mit ihrem Rettungswagen durch die Stadt rasten, als befänden sie sich auf dem Nürburgring.
Während das Fahrzeug hin und her schleuderte, kam Lausig der Gedanke, der Fahrer des Krankentransporters sei vielleicht ein unehelicher Sohn von Michael Schumacher.
Nach den Untersuchungen in der Klinik hatte man Lausig mit weiteren Schmerzmitteln so vollgepumpt, dass er nicht einmal sicher war, ob er überhaupt noch über Beine verfügte, als er jetzt auf einem Krankenbett ausgestreckt von einem glatzköpfigen Pfleger mit Magnum-Bart durch lange Flure gefahren wurde.
In den endlos erscheinenden Korridoren roch es nach menschlichen Ausscheidungen, Jod und Erbsensuppe, und die verzweifelten „Schwester, Schwester“-Rufe eines Patienten worden nur vom hohen Quietschen der rostigen Krankenbett-Rollen übertönt.
„Gleich morgen früh nimmt Dr. Festhammer Sie unters Messer“, informierte der Krankenpfleger Lausig in einem seltsamen Singsang, während er ihn in ein Zweibettzimmer schob. „Und Sie haben richtig Schwein, denn der Doktor ist berühmt für seine chirurgischen Fähigkeiten, er hat bislang noch jeden kaputten Knochen wieder zusammengenagelt, und ein Gelenk tauscht er so flott aus, als würde er einen Reifen wechseln.“
Lausig wusste nicht, ob er sich über diese Information freuen sollte oder nicht, doch als er erkannte, wer da in dem belegten Krankenbett lag, begannen seine Augen zu strahlen und ein sattes Grinsen erschien im Gesicht.
92.
„Es scheint Sie ja ganz schön erwischt zu haben, Chef“, meinte Lausig, nachdem der Krankenpfleger sein Bett neben das des Inspektors manövriert hatte. „Wo haben Sie sich das denn geholt?“, fragte er und deutet mit dem rechten Zeigefinger auf Treibers dicken Kopfverband, der ihm ein leicht orientalisches Aussehen verlieh. „Bei Klimakowskis Festnahme kann es ja nicht passiert sei, denn ich hatte den Bombenleger doch so gut verschnürt, dass er zu keinem Widerstand mehr in der Lage gewesen war.“
Treiber, dessen Arme bandagiert auf dem schneeweißen Bettbezug ruhten, brauchte einen Moment, um mit seinem linken Auge Lausig zu erkennen und dessen Frage zu verstehen. Das rechte Auge des Inspektors war komplett zu geschwollen, und sein Kinn zierte eine frische Naht.
„Lausig, du elender Versager“, krächzte er, und die Anstrengung des Sprechens ließ sein unversehrtes Auge hervorquellen. „Du Trottel hast den falschen Kerl erwischt. Aber ihn gleich kalt zu machen und auch noch so zu entstellen, das hätte ich dir wirklich nicht zugetraut. Und jetzt hast du nicht nur einen Unschuldigen auf dem Gewissen, sondern, was noch viel schlimmer ist, wegen deiner Dusseligkeit auch noch deinen Vorgesetzten in absolute Todesgefahr gebracht.“
Lausig wusste nicht, was er sagen sollte. Verwirrt richtete er seinen Blick auf das Kruzifix an der Wand, doch Treiber war noch nicht am Ende.
Unter dem Verbandsturban hatte sein kleines, blasses Gesicht eine knallrote Farbe angenommen, und nachdem er den lädierten Kopf stöhnend ein Stück vom Kissen gehoben hatte, presste er seine Wort jetzt regelrecht hervor.
„Ich kann von Glück reden, noch am Leben zu sein, du Stümper. Um ein Haar hätte mir die Straßenbahn das Lebenslicht ausgeblasen, und es wäre allein deine Schuld gewesen.“
Dann sank das Haupt des Inspektors erschöpft aufs Kopfkissen zurück, und Lausig hörte, wie sein Boss schwer atmete.
„Straßenbahn, wieso Straßenbahn, Chef, ich verstehe nicht“, sagte er, „und außerdem habe ich Klimakowski, oder wer immer der Kerl war, der mich im Hinterhof überfallen hat, nur eine Kopfnuss verpasst, damit ich ihn fesseln konnte. Es war also reine Notwehr, und umgebracht habe ich den Typ sicherlich nicht.“
Der Inspektor merkte, dass die Wirkung des Schmerzmittels nachgelassen hatte, denn in seinem Schädel dröhnte es wieder wie in einem Steinbruch, wo eine Sprengladung nach der anderen hochging. Er drückte auf den Rufknopf der Fernbedienung, die an einem Kabel neben seinem Nachttisch baumelte, damit ihn die Schwester schnell mit frischem Stoff versorgte.
„Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll, Lausig“, sagte Treiber mit matter Stimme, „da passt doch alles nicht zusammen. Nur eins weiß ich huntertprozentig. Der gefesselte Mann im Hinterhof des Hauses, in dem Klimakowski wohnt, war nicht Klimakowski. Denn der lebte noch, als er mich entführt und übel zugerichtet hat. Aber Gottseidank konnte ich mich befreien. Leider ist mir dieser irre Terrorist bei der anschließenden Verfolgungsjagd entwischt.“
„Wieso sind Sie überhaupt entführt worden, Chef?“ fragte Lausig, der jetzt komplett den Überblick verloren hatte. „Und ist dieser Klimakowski immer noch auf der Flucht?“
„Keine Ahnung, Lausig, aber wenn, dann ist das allein deine Schuld“, entgegnete Treiber, bevor eine rothaarige Krankenschwester das Krankenzimmer betrat, dem Inspektor die heiß ersehnte Injektion verabreichte, nicht ohne ihn in barschem Ton darauf hinzuweisen, dass mit dieser Spritze die wöchentliche Morphium-Höchstdosis erreicht sei, schließlich wolle sie keinen Ärger mit dem Betriebsrat bekommen.
Auf Lausigs Frage, ob sie ihm auch etwas gegen seine schlimmen Schmerzen in den Knien geben könne, antwortete Schwester Rita, selbstverständlich, aber nur eine Aspirin-Tablette, da er ja keine Higher-Dose-Zusatzversicherung habe.
Wenn das so sei, dann würde er lieber verzichten, sagte Lausig und zog einen Schmollmund. „Wer nicht will, der hat schon“, bemerkte Schwester Rita, kündigte Lausig an, ihm nachher noch ein Abführzäpfchen reinstecken zu wollen, und verließ mit einem Grinsen im Gesicht den Raum.
Kaum hatte die Krankenschwester das Zimmer verlassen, marschierte der Leiter der Mordkommission durch die Tür, in der Hand einen Strauß bereits ziemlich welk aussehender weißer Lilien. „Aber hallo, da sind ja meine Helden“, rief Benno Lückenlos und strahlte übers ganze Gesicht.
Lausig war so überrascht, dass er kein Wort über die Lippen brachte, und Treiber war bereits kurz nach der Injektion eingenickt, so dass er den Besuch seines Vorgesetzten gar nicht mitbekam.
Nach einem kurzen Blick auf den schlafenden Inspektor legte Lückenlos ihm die Blumen auf die bandagierten Arme, drehte sich zu Lausig und meinte: „Im Schlaf erholt sich ein geschundener Körper am besten, ist es nicht so, Lausig?“
„Ja natürlich, Herr Lückenlos“, beeilte sich Lausig zu antworten, „und der Büroschlaf ist der gesündeste.“ Lückenlos runzelte irritiert die Stirn, doch dann besann er sich darauf, warum er ins Krankenhaus gefahren war.
„Wie dem auch sei, Lausig, ich bin nicht nur gekommen, um mich persönlich nach eurem Wohlbefinden zu erkundigen, und wie ich sehe, geht es euch gut. Aber ich habe auch ein großes Lob mit im Gepäck, sozusagen, von den schönen Blumen mal abgesehen. Ein Lob, dass vor allem dir gebührt, Lausig, denn dein Chef hat sich zwar sehr bemüht, aber ihm fehlte halt das nötige Quentchen Glück, das man, trotz größtem Diensteifer, schon braucht, wenn man einen mit allen Wassern gewaschenen Terroristen aufspüren und aus dem Verkehr ziehen will. Und bei so einer Jagd darf man halt nicht mit einer Straßenbahn kollidieren.“
Für einige Sekunden wurde der Vortrag des Morddezernatsleiters von einem plötzlichen Schluckauf unterbrochen, der jedoch so plötzlich wieder verschwand wie er gekommen war, nachdem Lückenlos einen Schluck der trüben Flüssigkeit aus der auf dem Nachttisch stehenden Vase getrunken hatte. In dem schlichten, grauen Kunststoff-Gefäß hatten bis gestern die längst verwelkten Nelken von Treibers Vorgänger gesteckt – der 45-jährige Gebrauchtwagenhändler war nach einer Blinddarm-Operation aus der Narkose nicht mehr aufgewacht.
„Was ich sagen will, Lausig“, fuhr Lückenlos fort, „deinem vorbildlichen Einsatz ist es zu verdanken, dass wir den Fall ‚Gelbe Armee Fraktion‘ zu den Akten legen können. Du Teufelskerl hast nicht nur herausgefunden, dass Klemens Klimakowski, dieser irre Student, hinter den blutigen Anschlägen steckt, sondern ihn auch noch zur Strecke gebracht. Dafür danke ich dir allerherzlichst, auch im Namen des Polizeipräsidenten, der Leiterin der Polizeikantine und des Führers der Polizeihundestaffel.“
Während Lückenlos aus seiner Hosentasche ein Pfefferminzbonbon zog, das Papier löste und zu den Blumen auf Treibers Arme legte, stand Lausig vor Staunen der Mund offen.
Das Bonbon in seinem breiten Mund hin und her schiebend, erklärte Lückenlos: „Natürlich hätten wir den Attentäter lieber vor Gericht gesehen, aber wir haben durchaus auch Verständnis dafür, dass im knallharten Hinterhof-Kampf mit einem rücksichtslosen, überaus brutalen Verbrecher jedes Mittel recht ist, um die Oberhand zu behalten.“
„Und im Eifer eines solchen Gefechts“, fuhr Lückenlos fort, „da kann es halt mal vorkommen, dass die, äh, natürlich nur zum Selbstschutz eingesetzte, äh, Gewalt dann etwas stärker zum Ausdruck kommt, als eigentlich erforderlich ist – oder, ich will mal sagen, angemessen erscheint.“
Dem Chef des Morddezernats schien das Bonbon nicht zu schmecken, denn er nahm es aus dem Mund, sah es angewidert an und pappte es dann auf das Einwickelpapier der Blumen. „Kannst du mir bis hierhin folgen, Lausig?“ fragte er und versuchte, sich die klebrigen Finger an Treibers Bettdecke abzuwischen.
„Ja klar, Herr Lückenlos“, antwortete Lausig, der immer noch nicht wusste, wie ihm geschah. „Na wunderbar“, rief Lückenlos, und sein Gesicht erstrahlte vor Zufriedenheit, doch nur kurz, denn als er weiter sprach, legte sich seine Stirn in Falten, und seine Stimme war leiser und nahm einen ernsteren Tonfall an.
„Gut gut, dann bleibt mir ja nur noch zu erwähnen, dass ich das zermatschte Gesicht des Täters für ein wenig übers Ziel hinausgeschossen halte, aber das ist nur meine persönliche Meinung und vielleicht auch reine Geschmacksache.
Lückenlos machte eine kurze Pause, in der er ein paar Mal tief ein und aus atmete, auf seine goldene Schweizer Armbanduhr blickte und laut seufzte, um dann fortzufahren.
„Das soll deiner Leistung keinen Abbruch tun, lieber Kollege, nicht dass du das falsch verstehst. Hauptsache der Fall ist – dank deines mutigen Einsatzes – gelöst. Und wenn einschlägige Medien kritisch nachfragen sollten, könnten wir Folgendes als plausible Erklärung anbieten: Erstens hast du in reiner Notwehr gehandelt, und zweitens ist es dir gelungen, in einem heldenhaften Einsatz weitere tödliche Terroranschläge zu vereiteln und eine Massenpanik zu verhindern.“
„Herzlichen Dank, Herr Lückenlos“, sagte Lausig, der aufgehört hatte, sich zu wundern, und mittlerweile die ganze Lobhudelei von ihrer praktischen Seite betrachtete. „Werd ich jetzt befördert, Herr Lückenlos?“ fragte er.
„Da reden wir später drüber, Lausig“, antwortete der Leiter des Morddezernats, der mittlerweile einen ganz trockenen Mund bekommen hatte und sich nach einem kühlen Bier sehnte. „Ich muss jetzt leider wieder los. Aber bestell dem Inspektor einen schönen Gruß von mir, wenn er wieder wach ist. Sag ihm vielleicht noch, dass er in Zukunft im Dienst besser auf sich aufpassen soll. Und dass er bei der Verfolgung von Schwerverbrechern den Dienstwagen der Straßenbahn vorziehen möchte.“
„Mach ich, Herr Lückenlos, auf Wiedersehen, und vielen Dank auch“, erwiderte Lausig.
Als Lückenlos bereits die Türklinke in der Hand hielt, drehte er sich noch einmal um, grinste Lausig an und meinte: „Die schönen Blumen sind natürlich für dich, Lausig.“ Dann stieß er fast mit Schwester Rita zusammen, die sich OP-Handschuhe angezogen hatte und in ihrer rechten Hand das großkalibrige Zäpfchen für den Inspektor hielt.
Von der Verabreichung des Abführmittels bekam der immer noch tief schlummernde Inspektor zum Bedauern von Schwester Rita nichts mit, aber die Wirkung des Zäpfchens war so stark, dass Treiber kurze Zeit später unsanft aus seinem Morphiumträumen gerissen wurde und die nächsten Stunden auf der Toilette verbringen musste – ein Ort, den er nur noch äußerst ungern aufsuchte.
Tag der Veröffentlichung: 10.08.2022
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