David wachte auf und spürte sofort, dass etwas anders war. Wie immer, wenn er einen freien Tag hatte, lag er noch ein wenig länger im Bett, bevor er aufstand.
Nicht, dass ihm diese paar Minuten wichtig waren oder ihm eine besondere Befriedigung verschafften – er wollte einfach, dass der Start in einen freien Tag sich vom Beginn eines stressigen Arbeitstages im Großraumbüro unterschied.
David wunderte sich darüber, in der vergangenen Nacht einmal nicht von Alpträumen geplagt worden zu sein. Doch noch mehr wunderte er sich über ein merkwürdiges, fremdes, aber sehr angenehmes Gefühl, das ihn an diesem Morgen erfüllte.
Noch lange lag David in seinem Bett und genoss dieses seltsame, völlig neue Gefühl der Leichtigkeit. Er hatte den Eindruck, als seien sämtliche Ärgernisse, alle Probleme, mit denen er sich seit längerer Zeit herumschlug, über Nacht wie weggeblasen und durch eine Art von Schwerelosigkeit ersetzt worden.
Er hörte, wie Regentropfen gegen das Schlafzimmerfenster prasselten, doch statt sich über das schlechte Wetter zu ärgern, freute er sich darauf, für seine morgendliche Laufrunde die neue, knallrote Regenjacke, die er sich am vergangenen Samstag in einem Sportgeschäft gekauft hatte, anziehen zu können.
David konnte es kaum abwarten herauszufinden, ob die Versprechungen des jungen, gut gelaunten Verkäufers nicht doch ein wenig übertrieben waren, schließlich hatte dieser behauptet, die norwegische High-Tech-Jacke hielte locker jedem noch so starken Gewitterregen stand – auch wenn Wassermassen sintflutartig vom Himmel stürzen sollten. Zwölf Stunden lang auf jeden Fall, hatte er noch grinsend ergänzt, das könne er garantieren. Zwölf Stunden Dauerguss, mindestens!
Nach einer ausgiebigen Dusche und einem kurzen Frühstück war David bereit für die Joggingrunde. Seine Laufstrecke führte einmal um den See herum, der direkt an das kleine Neubaugebiet, in dem er wohnte, angrenzte.
Als David den See etwa zur Hälfte umrundet hatte, er schätzte, dass er ungefähr eine halbe Stunde bei leichtem Regen gelaufen war, stellte er fest, dass die neue Jacke im Schulterbereich bereits undicht war. Doch es machte ihm nichts aus, und er verspürte auch keinen Zorn auf den Verkäufer, im Gegenteil.
Die Tatsache, übers Ohr gehauen worden zu sein, steigerte seine ohnehin gute Laune noch, so dass er jetzt wie ein fröhliches, ausgelassenes Kind gezielt durch die tiefsten Pfützen lief, wobei es ihm völlig egal war, nasse Füße zu bekommen.
Dieser Schlawiner, freute David sich, und ein Lächeln erschien auf seinem regennassen, unrasierten Gesicht – wobei er keineswegs vergessen hatte, sich nach dem Zähneputzen zu rasieren, nein, es war eine ganz bewusste Entscheidung gewesen.
Vielleicht, weil er sich so gut fühlte, an diesem Morgen, warum auch immer. Vielleicht aber auch, weil er beim Blick in den Badezimmerspiegel dachte, Bartstoppeln würden seinem Gesicht einen verwegenen Ausdruck verleihen, vor allem, wenn er seinen schmalen Mund zu einem Grinsen verzog.
Während er vor dem Spiegel die verschiedensten Grimassen ausprobierte, dachte er sogar darüber nach, sich zukünftig nur noch alle drei oder oder vier Tage zu rasieren.
Der Regen war stärker geworden, und David zog das Lauftempo an, damit ihm unter der der jetzt fast komplett durchweichten Jacke nicht kalt wurde. Erst als er eine Bank erreichte, die idyllisch unter einer großen Schwarzpappel direkt am Seeufer stand, nahm er wieder seinen gewohnten, leichten Trab auf.
Anders als in den letzten Monaten befiel ihn nicht dieses Gefühl von Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit, wenn er diese Bank passierte, ein Gefühl, das oft erst viele Stunden nach Beendigung seiner Joggingrunde wieder abklang – und durchaus am nächsten Morgen noch da sein konnte, wenn er nach einem schlimmen Traum schweißgebadet aufgewachte.
David staunte darüber, wie gelassen, ja fast heiter er an der Bank vorbeilief, denn eigentlich war diese alte Holzbank mit dem abblätternden, dunkelbraunen Lack seine persönliche Schicksalsbank. Hier hatte er vor fast vier Monaten, an einem sonnig-warmen Sonntagnachmittag im späten Frühling mit Sabine gesessen und den Enten und Teichhühnern zugeschaut.
Er hatte sich entspannt gefühlt, obwohl ihm vorher, während des Spaziergangs, Sabines ungewohnte Schweigsamkeit aufgefallen war. Sie hatte irgendwie bedrückt gewirkt. Doch er wollte sie nicht bedrängen und lieber abwarten, bis sie ihm von sich aus erzählte, was los war.
Es dauerte eigentlich nie lange, bis Sabine ihn an ihren Sorgen teilhaben ließ. Aber an diesem schönen Tag, auf der alten Bank, die von der örtlichen Fischergilde gestiftet worden war, wie ein kleines, verrostetes Messingschild auf der Rückenlehne vermuten ließ, dauerte Sabines Schweigen lange.
So lange, dass sich die Wasservögel längst ans gegenüber liegende Ufer zurückgezogen hatten – und David von Minute zu Minute nervöser wurde. Angespannt starrte er auf die kleinen, sich kräuselnden Wellen, die ein plötzlich aufkommender kühler Wind entstehen ließ.
Als Sabine endlich ihr Schweigen brach, konnte David den ersten Satz, den sie sagte, nicht ernst nehmen. „Ich möchte diese Beziehung beenden.“
Sie erlaubt sich einen Scherz, dachte David, einen üblen Scherz, was gar nicht zu ihr passte. Doch als er seinen Kopf drehte und ihr ins Gesicht blickte, erstarrte er – und eine Schockwelle überrollte ihn. Er sah, dass sie es ernst meinte, bitterernst.
Und dann, nach einigen Schrecksekunden, redete er auf sie ein, beschwor sie, bekniete sie, versuchte, Dinge gerade zu rücken, die sich nicht mehr gerade rücken ließen. Aber ihre Erwiderungen waren knapp, kühl und unmissverständlich. Mehr und mehr wurde ihm bewusst, dass es zu spät war.
Angesichts dieser Gewissheit verstummte David. Während er in einen schwarzen Abgrund schaute und zu keinem klaren Gedanken mehr fähig war, bekam er gar nicht mit, was Sabine noch zu ihm sagte, bevor sie ihn allein auf dieser Bank und in seinem Unglück sitzen ließ. „Ich habe ein 2-Zimmer-Wohnung gefunden und werde am Monatsende ausziehen“.
Er hatte jetzt das kleine Birkenwäldchen erreicht und die Bank weit hinter sich gelassen. Der Starkregen hatte sich in einen Nieselregen verwandelt, doch das war ihm egal. Er fühlte sich gut, zog noch einmal leicht das Tempo an und staunte darüber, noch nicht den Hauch von Müdigkeit zu spüren.
Wenn ich zu Hause bin, gönne ich mir erst einmal eine heiße Dusche, nahm David sich vor, und dann mach ich es mir auf dem Sofa bequem und such mir in dem italienischen Kochbuch mit den tollen Pasta-Rezepten ein leckeres Gericht aus, das ich heute Abend für mich koche. Vielleicht etwas mit Champignons und Spinat, dachte er – und freute sich auf die Aussicht, nur in Gesellschaft einer guten Flasche Chianti das Abendessen zu genießen.
Spinat-Champignon-Lasagne war eigentlich Sabines Lieblingsessen, fiel ihm ein, doch diese Erinnerung konnte seine blendende Laune nicht schmälern. Genau so wenig wie die Tatsache, dass sich der Trampelpfad, auf dem er jetzt direkt am Seeufer entlang lief, in Morast verwandelt hatte, und seine Joggingschuhe seltsame Geräusche machten.
Die italienischen Abende mit Sabine waren immer absolute Highlights ihrer Beziehung gewesen. Gemeinsam hatten sie das Menü zusammengestellt, was manchmal Stunden dauerte. In der Regel hatte Sabine beim Hauptgericht die Küchenregie übernommen, während er für einen Salat oder eine Vorspeise verantwortlich zeichnete. Auch denWein wählte er aus – weil er davon einfach mehr Ahnung hätte, wie Sabine meinte.
Auf ein Dessert verzichteten sie in der Regel und waren mit Espresso und Grappa als krönender Abschluss des Mahls zufrieden. Und immer sorgten Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ für den passenden musikalischen Rahmen des Schlemmer-Menüs. Immer, bis zu ihrem letzte Italo-Dinner, das auch ihr letztes gemeinsame Essen war.
Es begann bereits bei der Menüplanung mit einer ungewohnt heftigen Meinungsverschiedenheit über die Auswahl der Vorspeise. Ganz unbedacht hatte David Artischocken mit Kräuter-Pesto und Ciabatta vorgeschlagen, worauf Sabine ihm mit einem bösem Unterton gefragt hatte, ob das nicht ein Favorit von Paula gewesen sei, das habe er selbst nicht nur einmal erwähnt.
„Die hochgebildete Paula, die ja so viele Interessen mit dir teilte“, hatte sie nachgeschoben und dabei den Mund so verzogen, als habe sie in eine Zitrone gebissen.
„Was das denn jetzt solle“, hatte David erwidert und – etwas verärgert, aber immer noch auf Harmonie bedacht – einen Alternativvorschlag unterbreitet, auf den sie sich dann recht schnell einigen konnten: Minestrone, mit sehr viel Parmesan. Die Auswahl des Hauptgerichtes war dann schon wieder schwieriger verlaufen, was die Stimmung deutlich trübte.
Beim Essen, diesmal ohne Begleitmusik, beschwerte sich Sabine über den viel zu sauren Wein, David konterte mit total matschigen Gnocchi. Von der Minestrone, die er gekocht hatte, probierte sie nur einen Löffel voll, um dann angewidert das Gesicht zu verziehen – während er ohne Appetit einen halb gefüllten Teller leerte. Später schüttete Sabine die Suppe ins Klo, was ihn natürlich wütend machte.
Doch erst bei der Nachspeise, einer Zabaione, die Sabines Vorschlag war und die sie allein zubereitet hatte, geriet das wenig stimmungsvolle Abendessen zum Desaster.
Als David Sabine fragte, ob sie Wein mit Essig verwechselt habe, kippte sie den Inhalt ihres Dessert-Schälchens in sein fast volles Weinglas, was eine große Sauerei auf dem weißen Tischtuch verursachte.
David starrte ein paar Herzschläge lang auf das besudelte Tischtuch, um dann gemächlich aufstehen, nach Sabines Weinglas zu greifen und ihr dessen Inhalt überden Kopf zu schütten.
Während der Rotwein in schmalen Rinnsalen über Sabines Gesicht und Nacken lief und auf der hellblauen Seidenbluse ein neues Muster kreierte, leuchtete ein teuflisches Grinsen in ihrem Gesicht auf.
Sabines Blick war eiskalt und ihre Stimme schneidend, als sie zu David meinte, jetzt sei vielleicht der richtige Zeitpunkt gekommen, um seine in allen Dingen so perfekte Paula anrufen und sie zu fragen, ob er nicht wieder zu ihr ins Bett kriechen dürfe, um dann an ihr seine widerlichen Bedürfnisse befriedigen zu können. Sie stünde dafür leider nicht mehr zur Verfügung.
Nach dem Birkenwäldchen begannen die weitläufigen Grünanlagen des städtischen Parks. David hatte jetzt ungefähr drei Viertel der Laufstrecke absolviert und versuchte, die Kälte, die jetzt deutlich spürbar durch sein nasses Sportdress drang, zu ignorieren.
Noch immer war er von einem intensiven Hochgefühl erfüllt, das er möglichst lange bewahren wollte.
David konnte bereits den Sprungturm des Freibades erkennen, an dessen von hohen Drahtzäunen geschützter Längsseite seine Joggingrunde immer vorbeiführte.
Irgendetwas veranlasste ihn, von seiner Standardroute abzuweichen, und er lief auf den Eingangsbereich zu. Dort, nah bei dem kleinen Kassenhäuschen, stand der große Kastanienbaum, der ihm jetzt gar nicht mehr so riesig vorkam.
Die Kastanien hatte er als kleiner Junge im Herbst immer für die Hirsche und Wildscheine im Heimattierpark gesammelt. Weiter rechts reihten sich die metallenen Fahrradständer aneinander, auf denen sich mittlerweile reichlich Rost angesammelt hatte.
Er erinnerte sich, dass er als Erstklässler, damals konnte er schon ganz gut rechnen, einmal gezählt hatte, wie viele Fahrräder in den Ständern Platz fanden. Auf 54 war er gekommen, das wusste er immer noch ganz genau. Er hatte bestimmt vier oder fünf Mal nachgezählt, um ganz sicher zu sein.
Mit Freude dachte er daran, wie stolz er gewesen war, als er seinem Großvater davon berichtet hatte. „Vierundfünfzig, tatsächlich“, hatte der mit großen Augen geantwortet – und dann laut gelacht und ihn fest an seine breite Brust gedrückt, so dass ihm kurz die Luft wegblieb.
Als Schüler war David in den Sommerferien, von kühlen Regentagen abgesehen, so gut wie täglich im Freibad gewesen. Er war erst sieben, da trug er bereits stolz das Freischwimmer-Abzeichen auf seiner Badehose.
Aus dem Wasser war David im Grunde nicht herauszubekommen. Es sei denn, die verzerrte Stimme des Bademeisters schallte aus den Lautsprechern und warnte die Freibadbesucher vor einem heraufziehenden Gewitter, was sich nicht selten als Fehlalarm herausstellte, und man ganz umsonst das Wasser verlassen oder gar die Badesachen gepackt hatte.
Auch die plötzliche Lust auf eine Schoko-Riesenwaffel, eine Tüte Lakritz-Schnecken oder ein Eis am Stiel waren ein willkommener Anlass, eine Pause vom Herumtollen mit seinen Freunden im Schwimmerbecken einzulegen und die Münzen, die seine Mutter zu Hause in die kleine Innentasche seiner Sporttasche gesteckt hatte, an der Freibad-Trinkhalle gegen etwas Süßes einzutauschen.
Aber es gab noch einen Grund, auf der viersprossigen Leiter aus dem Becken zu steigen – außer, dass einer aus der Wasserratten-Gang sich als Weichei outete und sich auf der Liegeweise in der Sonne aufwärmen wollte, weil das Wasser angeblich viel zu kalt war: Wenn jemand meinte, es sei jetzt allerhöchste Zeit für einen Landausflug, wo die Spielkarten bereits ungeduldig auf sie warten würden, dann war eine Badepause Pflicht.
Meist war es Klaus, der am längsten von allen die Luft unter Wasser anhalten konnte und auch die größte Klappe hatte, den die plötzliche Lust auf ein Kartenspiel packte, und gegen ein bisschen Abwechslung vom Plantschen im Nass hatte in der Regel niemand aus ihrer Clique etwas einzuwenden. Außerdem konnte Klaus ziemlich sauer reagieren, wenn ein Freibad-Tag zu Ende ging, und die Spielkarten nicht ein einziges Mal zum Einsatz gekommen waren.
Und so hockten sie dann im kleinen Kreis auf ihren nassen Handtüchern und spielten Mau-Mau, Uno oder irgendein Quartett. Manchmal zockten sie so lange, bis die Lautsprecher den Standardspruch über die baldige Schließung des Freibads herausplärrten – oder der bierbäuchige Bademeister ein paar Minuten später auftauchte und sie in barschem Ton zum sofortigen Aufbruch nötigte.
David wollte seinen Lauf gerade wieder fortsetzen, da fiel ihm ein, wie er zufällig das Loch im Freibadzaun entdeckt hatte.
Er hatte sich mit Klaus und Jonas am Friedhofstor verabredet, um zu Fuß zur Badeanstalt zu gehen. Jonas, dessen Fahrrad am Tag zuvor gestohlen worden war, weil er es wieder einmal vergessen hatte abzuschließen, wie sein Mutter felsenfest behauptete, hatte einen Fußball mitgenommen, den sie auf dem Weg, der am Freibadgelände entlang zum Eingang führte, hin und her kickten, bis er im Gebüsch vor dem hohen Zaun verschwand.
Natürlich war David es, der den Ball suchen musste, obwohl Klaus ihn in die Botanik geschossen hatte. David brauchte ziemlich lange, bis er den Ball im dichten Gehölz gefunden hatte. Als er nach ihm griff, sah er das Loch. Es sah aus, als hätte es jemand mit einer Zange oder Drahtschere herausgeschnitten, auf jeden Fall hielt er es für groß genug, um hindurch schlüpfen zu können.
David erzählte es seinen Freunden, und die waren begeistert. Vor allem Klaus drängte darauf, das Loch gleich einmal auszuprobieren.
Auch Jonas fand die Idee gut. „Cool“, meinte er, „da können wir uns ja das Eintrittsgeld sparen.“ David allerdings war mehr als skeptisch. Seine Einwände, sie könnten mächtigen Ärger kriegen, falls man sie erwischen sollte, und außerdem hätten sie alle doch eine Saisonkarte, ließ Jonas nicht gelten. „Sei kein Feigling“, entgegnete er, „außerdem hat mir mein Papa, dieser Geizhals , für dieses Jahr keine Dauerkarte spendiert.“
Dann sei ja jetzt alles klar, ließ sich Klaus vernehmen, und damit war die Sache beschlossen. So kämpften sie sich durchs Gebüsch und zwängten sich durch das Loch, und weil ihr verbotenes Eindringen am hinteren Endes des Freibades stattfand, wo kein Gras mehr wuchs und sich nur ganz selten ein Besucher hin verirrte, und auf der anderen Seite des Zauns zudem ebenfalls dichtes Gestrüpp wucherte, konnten sie sich umbemerkt auf das Gelände schleichen.
Lediglich Jonas klagte darüber, dass er sich die Arme an spitzen Dornen blutig gekratzt hätte. Doch außer einer winzigen Schramme am rechten Ellbogen konnte er dann nichts vorweisen, als sie einen sonnigen Rasenplatz nahe dem Sprungturm gefunden und ihre Handtücher ausgebreitet hatten.
Es ließ David keine Ruhe. Er wollte sehen, ob das Loch immer noch existierte. Der Zaun aus dicken Drahtmaschen selbst sah so aus, als sei er noch genau der von damals, natürlich hatte er an vielen Stellen Rost angesetzt.
Statt nach links in Richtung Seeufer zu laufen, bog er rechts ab und joggte langsam am Freibadzaun entlang, bis er fast das Ende erreicht hatte. Hier ungefähr müsste es sein, dachte er und stellte fest, dass die Büsche noch mindestens genau so dicht waren, wie früher.
Bevor David eine Stelle auswählte, um dort in dir Botanik einzudringen, wollte er wissen, ob ihn vielleicht irgendjemand beobachtete. Er schaute in alle Richtungen, doch es war keine Menschenseele zu sehen. Kein Wunder, dachte er, die Badesaison ist längst vorbei, das Freibad geschlossen – und es ist noch recht früh heute. Auf seiner Laufrunde waren ihm bisher auch nur zwei Hundebesitzer begegnet.
Gebückt drang er in den kleinen Dschungel aus dichtem Geäst und nassen Blättern ein, doch er brauchte nicht lange, um fündig zu werden. Tatsächlich war das Loch noch da, in all den Jahren hatte niemand den Zaun repariert.
Während David hindurch schlüpfte, blieb er mit dem linken Ärmel an einem rostigen Drahtende hängen und riss sich ein Loch in seine Regenjacke. Egal dachte er, sie taugt sowie nichts.
Er kämpfte sich durch das dornige Gebüsch auf der anderen Zaunseite, fluchte, als irgendetwas Spitzes schmerzhaft seine Stirn aufritzte – und musste dann aber lachen.
David blieb im Matsch stehen und fragte sich amüsiert, was er hier eigentlich zu suchen habe. Da fiel sein Blick auf eine Tüte, die direkt vor seinen Füßen lag. Sie war leer und sah so aus, als hätte sie hier jemand schon vor langer Zeit entsorgt. Vielleicht hat sie auch der Wind hierher geweht, dachte er.
Die Tüte war zerdrückt, deutlich konnte man ihr ansehen, wie sehr sie unter den unwirtlichen Bedingungen hier draußen gelitten hatte: Hitze und Kälte, Wind und Nässe hatten ihr arg zugesetzt, doch was sie einmal enthalten hatte, war immer noch deutlich auf ihr zu lesen.
Als David den Aufdruck sah, setzte die Erinnerung wie ein unvorhergesehener Schlag in die Magengrube ein: „Haribo Erdbeeren“, las er.
Es war eine Wette, mit der das Elend seinen Anfang nahm. Warum David sich damals so sicher gewesen war, hatte er sich später nie richtig erklären können. Aber eins wurde dann später sonnenklar. Er hatte Basti einfach unterschätzt.
Basti, den dünnen Hering, der keinen Sport trieb und überhaupt keine Muskeln zu haben schien – und der bei den Bundesjugendspielen als einziger immer komplett leer ausging. Urkunden Fehlanzeige!
Nur aus Mitleid gab ihm Sportlehrer Kohnheimer, ein athletischer Hüne, der von seinen Schülern durchaus respektvoll nur Conan genannt wurde, im Zeugnis immer eine Vier. Doch in allen anderen Fächern bekam Basti Einsen oder Zweien.
Und sich mit einem solchen Schwächling, einem Hänfling, der außer Lesen kein Hobby hatte, in einer sportlichen Disziplin zu messen, erschien David völlig risikolos. Erst recht, wenn es um ein Radrennen ging.
Er konnte zwar zunächst nicht glauben, dass Basti die Herausforderung wirklich annehmen würde, doch als die Wette galt, freute er sich nur über den sicheren Sieg – und über die fette Wettprämie, die ihm gewiss war.
Was David damals nicht wusste: Basti war einfach clever und machte sich die Fortschritte modernster Technik zu eigen – unterstützt durch die finanziellen Möglichkeiten seiner sehr gut verdienenden Eltern.
Und die hatten Bastei erst kürzlich, worüber weder David noch seine Freunde im Bilde waren, ein nagelneues Mountainbike geschenkt. Aus Hightech-Materialien gefertigt, ultraleicht und mit einer revolutionären Kettenschaltung ausgestattet. Mit sage und schreibe 27 Gängen, was David erst glauben konnte, als er die Ritzel durchgezählt hatte. Dagegen wirkte sein betagtes Jugendrad mit der schwerfälligen Dreigang-Schaltung und der leichten Unwucht in der vorderen Felge wie ein lahmer, alter Gaul, der das Gnadenbrot bekam.
Das Rennen sollte bei Eigners Fischteich losgehen, über den ziemlich steilen Harthügel führen und unten an der verfallenen Scheune enden.
Jonas würde auf dem Fischteich-Steg das Startsignal geben, und Klaus, Paul und ein paar andere Mitschüler, die sich das Spektakel nicht entgehen lassen wollten, würden am Ziel auf die Kontrahenten warten.
Eigentlich war der Zweikampf Bastis Idee gewesen, was David, als Basti es ihm nach Schulschluss vorgeschlagen hatte, da schon hätte verdächtig erscheinen müssen.
Basti, wartete an Haltestelle auf den Schulbus, während David gerade auf der anderen Straßenseite zu Fuß sein nahegelegenes Elternhaus ansteuerte. Basti rief laut „Hallo“ und winkte ihn mit wedelnden Armen zu sich herüber, so als ginge es um eine wichtige Sache.
Eigentlich hatte David keine Lust, mit Basti zu reden, und er war auch nicht neugierig darauf zu erfahren, was der Streber von ihm wollte, doch da fiel ihm ein, dass er ja bis morgen noch die sauschweren Matheaufgaben lösen musste. Er wartete eine Lücke im Verkehr ab und wechselte schnell die Straßenseite.
„Lass uns doch mal ein Radrennen machen“, sagte Basti wie aus heiterem Himmel zu David, dort an der Haltestelle, während er ihm sein Matheheft reichte, damit er die Lösungen für die Hausaufgaben abschreiben konnte. Ob das sein Ernst sei, fragte David Basti, worauf dieser „Ja, warum nicht“ antwortete. Bevor er in den Bus einstieg, rief er noch „Ich wette, dass ich schneller am Ziel bin als du“.
David dachte nur, Basti sei verrückt geworden, rief ihm dann aber doch noch ein „Danke“ hinterher, was Basti im Bus allerdings nicht mehr hören konnte.
Erst ein paar Tage später, als David sich wieder an Bastis merkwürdigen Vorschlag erinnerte und Klaus davon erzählte, kam die Sache ins Rollen.
„Das musst du machen“, drängte ihn Klaus, und auch Jonas und Paul, die recht schnell von der Sache Wind bekommen hatten, bestürmten ihn, die Wette unbedingt anzunehmen – zu einem Zeitpunkt, als von einer Wette überhaupt noch gar keine Rede gewesen war.
Doch nachdem Klaus sich konkrete Gedanken über mögliche Wettbedingungen gemacht hatte und einer seiner Vorschläge in der Gruppe großen Anklang fand, konnte David die Sache nicht mehr abwehren, zu groß waren die Vorfreude und der Druck seiner Freunde. Es blieb ihm keine andere Wahl als zu sagen: „Okay, ich mach‘s.“
Dann ging es recht schnell, bis der dünne Sebastian den vorgeschlagenen Modalitäten des Radrennens zustimmte. Sowohl mit der Festlegung der Rennstrecke als auch mit dem, was der Gewinner des Wettkampfes vom Verlierer erhielt und was der Verlierer tun musste, war Basti einverstanden.
Ein Termin war schnell gefunden. Und dann nahm das Verhängnis seinen Lauf.
Als David sah, dass Basti nicht mit seinem alten, klapprigen Hollandrad am Start erschien, sondern mit einem nagelneu aussehenden Alu-Glitzer-Super-Mountainbike, hatte er schon so eine böse Vorahnung.
Seine Freunde waren fassungslos, irgendeiner murmelte „Das ist gegen die Regel“, aber eine Regel, die Wahl des Fahrrads betreffend, hatten sie gar nicht vereinbart. Es gab also keinen triftigen Grund, das Rennen abzusagen.
Und so warteten die beiden Rennfahrer sowie eine kleine Schar gespannter Zuschauer am Fischteich auf Jonas Startzeichen, der zwar keinen Schuss abgeben konnte, aber mit der Vuvuzela seines großen Bruders, der ein Fußballfan war, das Signal zum Durchstarten gab.
Bereits auf der ersten Etappe, bis zum Beginn des Hügelanstiegs, gelang es Basti, mit seinem Superbike einen deutlichen Vorsprung herauszuholen, Bergauf hängte der leichtgewichtige Herausforderer seinen Gegner dann komplett ab.
Als David, schwer um Atem ringend, die Kuppe des Hügels erreicht hatte, sah er, dass Basti bereits unten an der alten Scheune angekommen war und von seinem Rad stieg.
Vollkommen enttäuscht aber auch zunehmend wütend ließ David sich den Hügel hinunterrollen. An der alten Scheune angekommen, fühlte sich irgendwie betrogen. Oder ausgetrickst. Auf jeden Fall hundsmiserabel.
„Das war nicht fair“, rief David mit vor Anstrengung und Zorn gerötetem Gesicht und warf sein Fahrrad demonstrativ in den Staub. Doch für seinen Vorwurf erfuhr er von seinen Freunden keine Unterstützung, und Trost für die erlittene Niederlage wollte auch niemand spenden – im Gegenteil.
Während ein paar Jungs aus Davids Klasse, die nicht zu seinem engsten Freundeskreis zählten, betreten zu Boden blickten, grinsten ihn Klaus, Paul und Johann, der jüngere Bruder von Paul, hämisch an.
Vor allem Klaus strahlte die Schadenfreude nur so aus dem Gesicht. „Das war ja wohl nichts“, feixte er sich, „jetzt darf der Basti seinen Ghettoblaster wohl behalten.“ Und, zu Basti gewandt, der etwas verlegen aber sichtlich zufrieden neben seinem Bike stand, das er an die Scheunenwand gelehnt hatte: „Glückwunsch zum Sieg, Champion, und freu dich schon mal auf morgen Nachmittag, wenn du dem Verlierer dieser genialen Wette dabei zusehen kannst, wie er leckere Erdbeeren futtert. Ich muss gestehen, ich bin direkt ein bisschen neidisch“, und dabei wurde sein Grinsen noch breiter.
Um halb fünf sollte die Show stattfinden, an der Bank, die nicht weit vom Fischteich-Steg unter einer ausladenden Weide stand. David hatte keine Ahnung, ob er es schaffen würde, einen ganzen Ein-Kilo-Plastikeimer voller zuckriger Haribo-Erdbeeren zu leeren, doch er wollte es natürlich versuchen.
E hatte eigentlich geplant, den Mega-Erdbeer-Eimer, den er schon vor zwei Tagen gekauft und unter seinem Bett versteckt hatte, seinen Freunden zu spendieren, auf einer kleinen Siegesfeier, wo sie zusammen seinen Wettgewinn, Bastis Ghettoblaster, ausprobieren und dazu die Erdbeeren futtern würden.
Natürlich hatte David völlig ausgeschlossen, das Radrennen zu verlieren. In seinen Augen war Basti chancenlos, und das sahen auch seine Freunde so, ja eigentlich alle aus seiner Klasse, die von der Wette erfahren hatten.
David musste sich eingestehen, dass er seine Rechnung ohne die Hinterlist des Schwächlings gemacht hatte– und dafür musste er jetzt bezahlen. ‚
So schlimm wird es wohl nicht werden, machte David sich Mut, als er niedergeschlagen nach Hause radelte. Aber da irrte er sich gewaltig!
Schon zehn Minuten vor Beginn des Events hatten sich rund um die Bank am Fischteich zahlreiche Kids versammelt, die alle live dabei sein wollten, wenn David seine Wettschuld einlöste.
Klaus hatte sich sehr viel Mühe gegeben, möglichst viele Freunde, Bekannte und Mitschüler zusammenzutrommeln, um dem Ereignis einen würdigen Rahmen zu geben. Er hätte nichts dagegen, wenn das Spektakel noch sehr lange Zeit Gesprächsstoff wäre. Dafür werde ich schon sorgen, dachte er.
Auf die Unterstützung von Paul und Jonas konnte er dabei zählen, da war er sich ganz sicher. Schließlich schuldeten sie ihm noch etwas.
David war überrascht, als er sah, wie viele Jungs gekommen waren, nur um zuzuschauen, wie er sich möglichst viele von den süßen Zucker-Erdbeeren einverleibte. Sogar ein paar Mädchen entdeckte er im Publikum.
Als die Menge am Fischteich David zu Fuß kommen sah, begrüßte sie ihn mit schrillen Pfiffen, Händeklatschen und Hallo-Rufen.
David fühlte sich unwohl und total fehl am Platz. Klaus, der anscheinend die Rolle des Zeremonienmeisters übernommen hatte, dirigierte ihn gleich zur Bank, wo er seinen Rucksack absetzte und den durchsichtigen Plastikeimer mit den roten Zuckerfrüchten herausholte, was die Zuschauer mit Applaus bedachten.
Klaus wies ihn an, sich zu setzen, und erklärte dem Publikum noch einmal den Sinn und die Hintergründe dieser Zusammenkunft, wobei er ausgiebig und dramatisch das Radrennen schilderte und besonders hervorhob, wie leicht David sich von seinem unsportlichen Herausforderer hatte düpieren lassen und wie enttäuscht all seine Freunde von ihm und seiner „wirklich schwachen“ Leistung gewesen seien – und es immer noch wären. Für seine Schande müsse er jetzt halt büßen, ergänzte Klaus, und seine Wettschulden bezahlen.
„Aber das ist ja nicht wirklich schlimm“, sagte Klaus, „denn was ist schon schlimm daran, köstliche Haribo-Erdbeeren zu essen, eine der absoluten Lieblingssüßigkeiten von uns allen? Eine süßere Wettniederlage kann ich mir eigentlich gar nicht vorstellen.“ Und dabei grinste er bis über beiden Ohren.
Die Menge johlte und klatschte zustimmend, doch Klaus sorgte für Ruhe, indem er beide Hände hob und „Leute, Leute, ganz ruhig“ rief.
Er merkte, dass einige Zuschauer langsam ungeduldig wurden, und sagte deshalb: „Gleich geht‘s los, Leute, nur keine Panik. Lasst mich nur noch mal darauf hinweisen, dass sich David ja verpflichtet hat, falls er das Radrennens gegen Basti und damit auch die Wette verlieren sollte, er dann ein ganzes Kilo Haribo-Erdbeeren futtern würde. Das ist genau die Menge, die in diesen Eimer passt“, und dabei deutete er auf den Plastikbehälter, der neben David auf der Bank stand.
„Und worauf es jetzt ankommt“, fuhr Klaus fort, „ist, dass David jetzt gleich hier vor unserer Augen die ganze Menge Erdbeeren isst, ohne Unterbrechung. Halbe Sachen gibt‘s da nicht, das wäre gegen die Vereinbarung.“
David, der bislang ruhig auf der Bank gesessen und auf seine abgewetzten Sneakers gestarrt hatte, sprang plötzlich auf. „Das war so nicht abgemacht“ rief er aufgebracht, und jeder konnte sehen, wie ihm das Blut in den Kopf schoss, „es war nur vereinbart, falls ich wirklich verlieren würde, dass ich dann so viele Erdbeeren essen soll, wie ich schaffen kann.“
Gespannte Stille setzte ein, und eine gewisse Verunsicherung bei den Zuschauern war zu spüren, doch Klaus hatte die Sache im Griff und schüttelte väterlich den Kopf. „Nein nein, lieber David, da hast du etwas falsch verstanden. Abgemacht war die ganze Menge, und zwar auf einmal, oder genauer, in einer Mahlzeit. Paul und Jonas sind meine Zeugen.“
Paul und Jonas verzogen keine Miene. Beide konnten sich zwar nicht daran erinnern, dass es genau so war, wie Klaus es gesagt hatte, doch sie hielten es für besser, ihm nicht zu widersprechen.
David sah ein, dass ihm niemand glaubte. Resigniert setzte er sich wieder hin. Er wollte die Angelegenheit jetzt schnell hinter sich bringen – und machte sich Mut, indem er sich sagte, dass nur er allein ja beim Erdbeeressen entscheiden könne, wann er genug habe und nicht mehr könne.
Auch Klaus hielt es für besser, dem Publikum jetzt endlich das zu zu bieten, wofür es erschienen war. „Also“, posaunte er in die Runde, „dann ist ja alles geklärt und es kann losgehen“.
Er zog einen Esslöffel aus seiner Jackentasche und hielt ihn David hin. „Dann fang mal, und lass es dir schmecken. Und du weißt ja, Pausen sind nicht erlaubt“, sagte er zu David und wedelte mit dem Zeigefinger oberlehrerhaft hin und her. „Immer nur schön löffeln, bis die Dose leer ist.“
Über das, was in den nächsten Minuten wirklich geschah, gab es später die verschiedensten Fassungen. Doch jeder, der dabei gewesen war und nicht weggesehen hatte, wusste, was passiert war, auch wenn er das gegenüber Eltern oder Lehrern nie zugab. Im Grunde hatte eigentlich nie jemand mit Erwachsenen über die Ereignisse am Fischteich gesprochen.
David löffelte und löffelte. Ab und zu hielt ihm Klaus gönnerhaft eine Flasche Mineralwasser hin, so dass David den süßen Brei im Mund herunterspülen konnte. Doch schon bald half das auch nicht mehr.
Als er ungefähr ein Drittel der Erdbeeren in der großen Dose gegessen hatte, spürte David ein erstes Unwohlsein. In seinem Bauch machte sich ein Rumpeln bemerkbar. Doch noch wollte er nicht aufgeben, und die Zuschauer, die sahen, wie er er zu kämpfen hatte, unterstützen ihn jetzt mit „David, David“-Rufen.
Irgendjemand stimmte sogar „Einer geht noch, einer geht noch rein“ an, als befinde man sich in einem Fußballstadion, worauf alle schnell einfielen und David anfeuerten.
Es gelang David noch, ein paar weitere Esslöffel voll Erdbeeren in sich hinein zu stopfen, doch als er die Plastikdose halb geleert hatte, war ihm richtig schlecht – und er hatte Angst, sich bald übergeben zu müssen. Es blieb ihm keine andere Wahl als aufzugeben.
„Ich kann nicht mehr“, sagte er, stellte die Dose neben sich auf die Bank und warf den Löffel auf den sandigen Boden.
Sofort wurde Klaus aktiv. Er sprang nach vorn und baute sich ganz nah vor David auf, der auf der Bank zusammengesackt und ziemlich blass im Gesicht war.
„Das geht so nicht, lieber David“, sagte Klaus, „du musst schon alles aufessen. So ist die Abmachung. Also los, gib dir einen Ruck, so schwer kann das doch auch nicht sein.“ Und, während ein Grinsen in seinem bislang bemüht ernsten Gesichtsausdruck aufblitzte, meinte er noch: „Die Hälfte hast du ja schon geschafft.“
David schüttelte matt seinen Kopf. „Nein, wirklich nicht, mir ist schon ganz schlecht.“ Von vielen Zuschauern erntete er jetzt mitleidige Blicke, doch es gab auch einige, denen man eine gewisse Schadenfreude ansah.
Klaus tat so, als sei er von Davids Worten überrascht und müsse erst einmal überlegen, wie es jetzt weitergehen soll, doch natürlich hatte er für diesen Fall längst einen Plan vorbereitet.
Er ließ einige lange Sekunden verstreichen, ehe er laut und bestimmt sagte: „Na gut David, anscheinend brauchst du Hilfe, um deine Wettschuld einzulösen. Aber du Glückspilz hast ja gute Freunde, die dich tatkräftig unterstützen können. Also dann mal los.“
Mit erhobenen Daumen gab er Paul und Jonas, die nicht weit von der Bank entfernt standen, das verabredete Zeichen, um mit der Action zu beginnen. Die beiden stürmten sofort auf die Bank zu, und auch Thomas, der ältere Bruder von Paul, der sich bislang im Hintergrund gehalten hatte, kam hinzu.
David wusste nicht, wie ihm geschah. Angesichts des Überraschungsmomentes und des kompromisslosen Vorgehens der Vier hatte er keine Chance, sich zu wehren. Außerdem war ihm in diesem Moment kotzübel, und er fühlte schwach und ganz elendig.
Es ging blitzschnell. David wurde auf die Bank gedrückt, so dass er im Nu auf dem Rücken lag. Während der athletische Thomas, der Mitglied im örtlichen Judo-Verein war, dafür sorgte, dass David seine ausgestreckten Beine nicht mehr bewegen konnte, umklammerten Jonas und Paul seine Arme.
David zappelte eine kurze Zeit lang und versuchte, sich aus der Umklammerung zu befreien, doch es war zwecklos, und so gab er seine Bemühungen bald auf. Mit schreckgeweiteten Augen lag er da und starrte in den grauen Himmel.
Als David aus den Augenwinkeln sah, wie Klaus den dreckigen Löffel vom Boden aufhob, nach dem Erdbeereimer griff und fröhlich „Jetzt wird wieder brav gegessen, mein Freund“ sagte, unternahm er einen letzten, verzweifelten Versuch, seine Arme frei zu bekommen.
Doch während Pauls Kraft ausreichte, um Davids Arme auf seinen Körper zu drücken, zog Jonas ein Stück Schnur aus der Hosentasche und fesselte damit Davids Handgelenke. Mit einer weiteren Schnur band er die fixierten Hände an der metallenen Schnalle von Davids Jeansgürtel fest, so dass er seine Arme auch nicht mehr nach oben bewegen konnte.
Thomas hatte sich mittlerweile auf Davids Beine gesetzt, und Klaus ihm seinen Rucksack unter den Kopf geschoben. Er wies Jonas an, Davids Kopf festzuhalten, und forderte David auf, seinen Mund zu öffnen.
David weigerte sich und murmelte „Bitte nicht, bitte nicht“. Klaus sah, dass Paul den gefesselten David nicht weiter herunterzudrücken brauchte und schrie ihn an: „Reiß ihm das verdammte Maul auf, Paul, na los.“
Paul zögerte einen Moment lang, doch dann packte er entschlossen mit einer Hand Davids Nase und mit der anderen dessen Kinn und zerrte, bis Davids Mund offen stand. Während David hechelte und ihm Tränen übers verzerrte Gesicht rannen, begann Klaus mit der Fütterung.
Nach einer Weile hatte Paul kaum noch Kraft in den Händen, doch Davids Widerstand war komplett gebrochen. Sobald Klaus seine Lippen mit dem neu gefüllten Löffel berührte, öffnete David freiwillig den Mund, schluckte krampfhaft, verschluckte sich dabei immer wieder, prustete und würgte und spuckte Haribo-Früchte aus, um Luft zu bekommen.
Immer wieder stieß der Esslöffel schmerzhaft an seine Zähne, so dass David den Mund so wie wie möglich aufriss.
Rötlicher Saft lief ihm aus den Mundwinkeln und benetzte sein weißes T-Shirt. Ab und zu spritzte die Mischung aus Speichel und Zuckersirup aus seinem Mund heraus und traf Klaus sogar einmal im Gesicht. Doch in seinem teuflischen Eifer merkte er dies nicht – oder es war ihm egal.
Emotionslos nahm Klaus zur Kenntnis, dass er David bei seiner Zwangsfütterung am Mund verletzt hatte, denn an der Oberlippe konnte er jetzt deutlich einen Riss erkennen, aus dem etwas Blut herausquoll.
Die Quälerei hörte erst auf, als Thomas rief, „Hey Jungs, der Kerl erstickt uns noch.“
Auch Klaus hatte bereits bemerkt, dass David nichts mehr herunterschluckte und blau im Gesicht geworden war, doch noch machte er sich keine Sorgen.
„An Haribo-Erdbeeren ist noch nie jemand gestorben“, war seine Reaktion. Aber Thomas drängte darauf, David aufzurichten und ihm auf den Rücken zu klopfen – was sie dann auch taten, und ihm damit vielleicht das Leben retteten.
Ein Krampf erschütterte Davids Körper, und mit glasigen Augen erbrach er ekliges, rosafarbenes Zeug auf seine Jeans, um dann gierig nach Luft zu schnappen, wobei er immer wieder husten musste.
Klaus sah, dass im Plastikeimer noch eine Handvoll Erdbeeren lag, doch er wusste, dass die Sache gelaufen war. „Geht nach Hause, Leute“, rief er und drehte sich dabei im Kreis, „ich glaube, ihr habt alle genug gesehen.“
Ihm fiel auf, dass die Gruppe der Zuschauer, von denen viele ihn entsetzt anstarrten, jetzt viel kleiner war als zu Beginn. „Die Show ist vorbei, Leute“, rief er laut – und dann, deutlich leiser, „David hat seine Wettschuld beglichen.“
Noch immer hatte David den ekligen Geschmack der zuckersüßen Schaum-Erdbeeren im Mund, wenn er sich an die Tortur erinnerte. Von diesem schrecklichen Tag an hatte er nie wieder Kontakt zu seinen damaligen Freunden, die ihm so übel mitgespielt hatten.
Klaus und seine drei Handlanger ignorierten ihn einfach, taten so, als sei er Luft. Und seinen Klassenkameraden, von denen viele Zeugen der erniedrigenden Aktion waren, war es anscheinend unangenehm, in seinerNähe zu sein.
Sprach David sie direkt an, antworteten sie nur knapp und entschuldigten sich dann, meist mit der Begründung, sie hätten keine Zeit oder müssten zu einen dringenden Termin. Sie mieden ihn, soweit es möglich war. In der Klasse blieb sein Banknachbarplatz leer, in den Schulpausen machten alle Mitschüler einen großen Bogen um ihn.
David hielt es für sinnlos, sich einem seiner Lehrer anzuvertrauen. Es dauerte nicht lange, da blieb er immer häufiger dem Unterricht fern.
Der Direktor wandte sich Davids Eltern und setzte sie unter Druck. Für den disziplinlosen David sei es mit Sicherheit das Beste, meinte er, die Schule zu wechseln.
Davids Eltern waren völlig überfordert, auch weil er ihnen nie erzählt hatte, was mit ihm geschehen war. Sie folgten dem dringenden Rat des Direktors.
Auf der neuen Schule gelang es David nicht, neue Freunde zu finden.
David setzte seinen Weg durch das geschlossene Freibad fort. Er erreichte das Schwimmerbecken.
Ihn fröstelte, als er über den aufgeweichten Rasen an der Längsseite des leeren Beckens entlang lief. Ein kalter Wind war aufgekommen und wirbelte frühes Herbstlaub auf.
War das alles vielleicht nur ein böser Traum, fragte er sich, ein Alptraum, der immer wieder kehrt?
Egal, dachte David, jetzt ist Schluss mit bösen Träumen und schlimmen Erinnerungen, ab heute bin ich ein glücklicher Mensch!
Und wieder durchströmte ihn dieses so angenehme Gefühl einer satten Zufriedenheit, einer absoluten Leichtigkeit – Befindlichkeiten, für die er keine Erklärung hatte, Emotionen, die einfach über Nacht gekommen waren.
Warum, darüber wollte David nicht länger nachdenken. Für ihn war es nur wichtig zu wissen, dass diese positiven Gefühle für immer bleiben würden. Da war er sich ganz sicher.
Nieselregen hatte wieder eingesetzt. David war jetzt fast am Sprungturm angelangt.
Als Kind – und auch noch als Jugendlicher – war ihm dieser zehn Meter hohe Turm wie ein Ungetüm erschienen, und er hatte einen großen Respekt und sogar ein bisschen Angst vor dem Giganten gehabt.
Jetzt, wo David am Rand des Sprungbeckens stand und zum Betonturm mit den drei Plattformen hinaufschaute, war er immer noch beeindruckt vom Mut derjenigen, die sich von der höchsten Stelle ins blaue, fast fünf Meter tiefe, kalte Wasser stürzten.
Aber auch er selbst war ja einmal von dem Riesen herabgesprungen, allerdings nicht ganz freiwillig.
Es war an einem besonders heißen, schwülen Julitag. Davids Schwimmfreunde hatten ihn so lange bedrängt und ihn einen Feigling genannt, bis wirklich einmal die Leiter des Sprungturms hochgestiegen war.
Er erinnerte sich, dass der Aufstieg ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen war. Eigentlich hatte er sich vor vor dem Heraufklettern vorgenommen, die Sprossen zu zählen, doch er war dann so aufgeregt, dass er sich nicht richtig darauf konzentrieren konnte.
Klaus war die ganze Zeit dicht hinter David gewesen und hatte ihm immer wieder „Los, weiter, nicht so lahm“ zugerufen. Oben angekommen stieß Klaus David immer wieder in den Rücken, bis dieser ganz nach vorn gerückt war und direkt am Rand der Plattform stand.
Als David sich traute, nach unten zu blicken, begannen seine Beine zu zittern und Panik erfüllte ihn. „Nun spring schon, du Memme“, zischte Klaus hinter ihm, „andere wollen auch noch dran kommen“. Aber David traute sich nicht. Da half Klaus nach.
Es war Davids erster und letzter Sprung vom Zehn-Meter-Turm. Nachdem er den Sturz überstanden hatte, sprang er nie wieder ins Wasser, noch nicht einmal vom Ein-Meter-Brett.
Glücklicherweise hatte David sich bei dem unkontrollierten Fall aus zehn Metern Höhe nicht verletzt, sondern nur ein paar schmerzhafte blaue Flecke zugezogen. Als er in leichter Schräglage ins Wasser eingetaucht und tief nach unten, bis fast auf den Beckenboden, gedrückt wurde, befürchtete er einen Moment lag, er schaffe es nicht, wieder rechtzeitig an die Oberfläche zu gelangen, um Luft zu holen.
David erinnerte sich, dass er einmal irgendwo gelesen hatte, bei einem Sprung aus zehn Metern Höhe erreiche man eine Fallgeschwindigkeit von 50 Stundenkilometern. Für ihn war das ein Grund mehr, sich in Zukunft nur noch im Wasser aufzuhalten – und nicht darüber.
Aber jetzt, viele Jahre später, wollte er wissen, wie es sich anfühlen würde, noch einmal da oben zu stehen.
David fragte sich, ob ihn das selbe mulmige Gefühl wie damals überkäme, wenn er die Leiter noch einmal hinaufsteigen würde. Diesmal nicht in Badehose, stellte er amüsiert fest, sondern in völlig durchnässter Laufkleidung bei kühlem Wind und Sprühregen.
Ich werde die Leiter einfach emporklettern, nahm er sich vor, ganz unaufgeregt und ohne dass mich jemand drängt. Oben angekommen werde ich die Aussicht genießen, soweit sich mir bei diesem Wetter überhaupt eine nennenswerte Aussicht bietet.
Ohne jegliche Angst, ganz locker und frei von Sorgen würde er dort oben dann eine Weile verharren und aufrecht der Welt entgegen sehen. Er würde sein neu gewonnenes Selbstbewusstsein und seinen frischen Lebensmut genießen. Genau das würde er tun.
Als David die Leiter hinaufstieg, spürte er keine Kälte mehr. Gewissenhaft zählte er die Sprossen. Insgesamt waren es bis zur 10-Meter-Plattform zweiundvierzig.
Am Ziel angelangt durchströmte ihn ein Glücksgefühl. Ganz nah am Plattformrand stehend konnte er sogar das Seeufer erkennen. Auf dem See hatten sich Nebelschwaden gebildet.
David blickte ins leere Becken hinab. Auf dem regennassen Grund war an vielen Stellen die blaue Farbe abgeblättert. Eine tiefe Ruhe erfüllte ihn.
Der Wind hatte ein paar rötlich gefärbte Ahornblätter auf den Betonboden geweht. David fand, dass es ein schönes Muster ergab.
Er dachte, dass jetzt alles gut sei – und .dass es nicht mehr besser werden könne. Er hatte das Gefühl, endlich am Ziel angekommen zu sein.
David streifte die Kapuze seiner Regenjacke vom Kopf und spürte den kühlen Wind auf seinen nassen Haaren.
Zufrieden blickte er einer Krähe hinterher, wie sie das Schwimmerbecken und die großer Liegewiese überquerte und sich auf der Laterne, die neben dem Kiosk stand, niederließ. Dann sprang er.
Tag der Veröffentlichung: 10.03.2021
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