Das Geschrei der Möwen war ohrenbetäubend. Zu Tausenden stürzten sie sich auf den frischen Abfall, den ein riesiger Laster der Müllmafia soeben ausgespuckt hatte.
Eine plötzliche Brise wehte die fauligen Gerüche der Wegwerfgesellschaft direkt in Inspektor Treibers Nase. Für eine halbe Minute stellte er das Atmen ein.
Treiber wusste genau, dass sich irgendwo auf dieser illegalen Müllhalde, verborgen unter stinkenden Abfallbergen, der Eingang zur größten Falschgeld-Kopieranstalt der EU befand. Eine unterirdische Euro-Noten-Fabrik, deren High-Tech-Produkte auch die Experten der Europäischen Zentralbank nicht mehr von den Originalen unterscheiden konnten.
Der Inspektor hatte den Auftrag, die Anlage zu eliminieren, bevor die falschen Fünfziger und Hunderter die Geldmärkte überschwemmten und die Bankdirektoren und Finanzminister in den Wahnsinn trieben. Um den Fuchsbau auszuräuchern, musste er allerdings erst einmal herausfinden, wo der Fuchs hineinschlüpfte.
Lausig, Treibers Assistent und rechte Hand, bekam schlecht Luft. Seit fast eine Stunde steckte er schon in dem Plastiksack mit Fischabfällen. Er war nicht sicher, ob er je wieder eine Frutti di Mare in seiner Lieblingspizzeria bestellen würde.
Mit der letzten Ladung hatte Lausig sich von dem Lkw mit dem gefälschten Nummernschild direkt ins Schmarotzerparadies katapultieren lassen. Die gefräßigen Möwen wussten seine aufopferungsvolle Undercover-Tätigkeit nicht zu würdigen und versuchten, mit ihren kräftigen Schnäbeln an die verlockend duftenden Herings- und Kabeljaureste heranzukommen. Es war ihnen egal, ob sich im Schlemmersack noch ein falscher Fisch befand – eine Geisteshaltung, die Lausig jetzt körperlich zu spüren bekam.
Mit Hilfe seiner Nagelfeile versuchte er, sich aus dem stinkenden Gefängnis zu befreien, doch die Vögel hackten auf ihn ein, als hielten sie ihn für eine geräucherte Makrele.
Im unterirdischen Kontrollzentrum registrierte der rothaarige Security-Vize-Chef der Falschmünzer auf einem seiner Monitore eine Bewegung, die sich von dem üblichen Wuseln und Wühlen der Ratten und Tausendfüßler unterschied. Er sah, wie sich eine schuppige, verschmierte Gestalt mit Grätenfrisur aus einem zerrissenen Müllsack pellte und wild um sich schlug, um die kreischenden Möwen abzuwehren. Sofort drückte er auf den roten Alarmknopf.
Treiber, der seinen Beobachtungsposten am Rand der Müllkippe immer noch nicht verlassen hatte, sah, wie sich das Abfallmeer an einer Stelle hob. Zwischen dem Unrat tauchte eine metallene Kuppel auf, auf deren Oberfläche sich eine Klappe öffnete.
Aus der entstandenen Öffnung schwebten zwei Konstrukte, die den Inspektor an fliegende Jet-Skis erinnerten. Auf jedem Gerät hockten zwei behelmte Männer in schwarzen Uniformen, auf dem Rücken langläufige Schusswaffen geschnallt.
Schnurrend steuerten die Luftmobile auf einen Schwarm Möwen zu, der sich um einen ganz besonderen Leckerbissen zu streiten schien.
Treiber entsicherte seinen Mini-Raketenwerfer. Zwischen den aufgeregten Vögeln erkannte er eine wild gestikulierende Gestalt, die Ähnlichkeit mit einer entschuppten Sardine hatte. Himmel, dachte, Treiber, das ist Lausig!
Der Inspektor sah klar: die Tarnung seines Assistenten war aufgeflogen, die Geldfälscher hatten ihn entdeckt – allerdings hatten sie auch den Zugang ihres Schlupfloches verraten. Für Treiber war der Zeitpunkt gekommen einzugreifen.
Lausig konnte nichts mehr sehen. Schleimige Fischschuppen und Möwenkot verklebten ihm brennend die Augen.
Blind stolperte er durch den Müll, immer wieder sank er in ekligen Küchenabfällen ein und musste sich schmierige Klarsichtfolien aus dem Gesicht wischen. Von seinen Händen, mit denen er den Kopf vor den Attacken der gierigen Vögel schützte, tropfte Blut.
Als Lausig einer fetten Ratte ausweichen wollte, rutschte er aus und schlitterte in eine Mulde. Erschöpft blieb er in dem weichen Bett aus Teebeuteln, Mullbinden und Styropor-Flocken liegen.
Die Männer auf den fliegenden Mopeds hatte ihre Beute aus den Augen verloren. Auch der Möwenschwarm war verschwunden.
Wütend richtete der auf der ersten Maschine hockende Sozius den Lauf seines automatisches Gewehrs auf die Stelle, wo er noch kurz vorher eine Bewegung registriert hatte, und feuerte sein Magazin leer. Dann gab er dem Piloten per Handzeichen Anweisung kehrtzumachen. Beide Maschinen nahmen Kurs auf die Kuppelschleuse.
Lausig entging, dass eine Kugel genau den grünen Punkt des Bio-Joghurtbechers traf, der einen Meter von seinem Kopf entfernt vor sich hin gammelte. Der Assistent war davon überzeugt, er sei Jonas und befinde sich im Bauch des Wals. Die Rattenpatrouille war da anderer Ansicht.
Währenddessen betätigte Treiber den Mechanismus, der sich im Absatz seines rechten Trekking-Stiefels befand. In Sekundenschnelle hatten sich seine Boots in kleine Surfbretter verwandelt.
Den Raketenwerfer fest mit beiden Händen umklammernd, sauste der Inspektor den Müllberg hinab, dabei geschickt größere Gegenstände wie Gefrierschränke oder Campingwagen umkurvend.
Etwa zweihundert Meter vom Eingang der Untergrund-Blütenfabrik entfernt, warf ihn eine tote Siamkatze aus der Bahn. Das war sein Glück, denn sonst wäre er direkt in das Starkstromnetz gerast, das die Fälscherbande rund um die Stationsschleuse gespannt hatte.
Fast am Ziel angelangt, verunglückte eine der fliegenden Gangster-Kisten. Das Flugmobil geriet mitten in einen Schwarm Nordmeer-Pelikane hinein, der sich auf seiner Urlaubsreise nach Kenia über der Vulkaneifel verflogen hatte.
Vergebens versuchte der Pilot noch eine Notlandung, seine Maschine stürzte mitten in einen Batteriesäure-Teich.
Der Inspektor entfernte Zwiebelringe von seinen Ohren und schnippte Maden von der Softshell-Jacke. Bis auf eine Schramme auf der linken Wange hatte er den Sturz glimpflich überstanden. Ein summendes Geräusch ließ ihn nach oben schauen.
Die beiden Männer auf dem zweiten Flugmobil hatten schlechte Karten. Treiber wartete, bis sich die Maschine genau im Fadenkreuz der Zieloptik seines Raketenwerfers befand, und feuerte ein todbringendes Geschoss ab.
Die Lautstärke der Explosion und der grelle Feuerball hoch über den Müllbergen ließen nicht wenige vierbeinige Einwohner von Garbage City annehmen, der Weltuntergang habe begonnen.
Rotschopf hatte das klägliche Scheitern der Mission seiner beiden Abfangjäger auf dem Bildschirm genau verfolgt. Er beriet sich kurz mit seinem Chef und schickte dann seine beiden treuen Kamikaze-Dobermänner ins Feld.
Durch einen operativen Eingriff waren die durchtrainierten Hunde so präpariert, das bei der leichtesten Berührung ihrer Zähne mit einem Hosenbein, Arm oder Hals eine hochdosierte Sprengladung hochging. Bommi und Wommi trugen die explosive Ladung in einem kleinen Spezialrucksack auf dem Rücken.
Die Rattenpatrouille gab Fersengeld. Mit ausgewachsenen, zähnefletschenden Dobermännern wollte sie es nicht aufnehmen.
Die Ratten hatten jedoch nicht mit der Schnelligkeit der Hunde gerechnet. Kurz bevor die Nager ihr heimisches Schlupfloch erreichten, packte Bommi die Langsamste am Schwanz.
Treiber ahnte, dass er den üblen Geruch nie ganz aus seiner Jacke herausbekommen würde. Um das Starkstromnetz zu überwinden, war ihm nichts Besseres eingefallen, als sich unter ihm durchzugraben. Trotz der Zuhilfenahme eines abgenagten Schildkrötenpanzers war dies ein hartes Stück Arbeit.
Rotschopf war mit seinen Zigaretten und seinem Latein am Ende. Doch sein Chef hatte eine Idee.
Der Inspektor wollte gerade seinen Raketenwerfer wieder startklar machen, um den Ganoven einen Luftpostgruß in den Briefkasten zu jagen, da sah er, dass die silberne Schleuse geschlossen wurde. Über die Kuppel zog sich eine braune Hülle.
Während überall straßenlaternenähnliche Gebilde aus dem Abfall wuchsen, versank die Kuppel im Müll.
Aus einer Laterne in Treibers Nähe sprühte plötzlich eine Flüssigkeit zischend heraus. Auch alle anderen Laternen spritzen jetzt wild um sich.
Eine Geruchsprobe an seiner nassen Hand gab dem Inspektor Gewissheit: Es handelte sich um Benzin. Jetzt wusste Treiber, was die Gangster im Schilde führten – und er hatte es auf einmal furchtbar eilig.
Rotschopf ächzte und fluchte, während er sich durch das enge Belüftungsrohr zwängte. Er nahm sich vor, auf Light-Bier umzusteigen und seinen Kartoffelchipsvorrat an die Enten zu verfüttern.
Warum ihn sein Boss nach oben geschickt hatte, war ihm schleierhaft. Er solle sich ein wenig umschauen und Verdächtiges sofort per WhatsApp melden, lautete sein Auftrag.
Dabei war die Gefahr durch die beiden Eindringliche eigentlich behoben, dachte er. Er selbst hatte ja die Schwingungen der Explosion gespürt und den Lichtblitz auf dem Monitor gesehen.
Er war froh, dass der Boss ihm sein fast volles Päckchen Zigaretten und auch eine Schachtel Streichhölzer mitgegeben hatte, denn ohne Glimmstengel würde er es keine Viertelstunde aushalten.
Kaum hatte Rotschopf das Gitter wieder auf der Öffnung des Klimaschachtes befestigt, griff er auch schon gierig nach der Zigarettenschachtel, zog eine Filterlose heraus und steckte sie sich genüsslich zwischen die Lippen.
Während seine zittrigen Finger das erste Streichholz abbrachen, stellte er fest, dass der Müll anders roch als sonst – und dass es leicht regnete.
Mit dem zweiten Streichholz hatte er mehr Glück, doch bis zum ersten tiefen Lungenzug kam er nicht.
Aus dem Müllmeer ragte sein brennender Körper wie ein Mahnmal empor.
Treiber spürte, wie die Hitzewelle seine Nackenhaare ansengte. Zusammen mit Heerscharen von panisch quietschenden Ratten floh er vor der Feuerwand, die sich unaufhaltsam durch die Müllhalde fraß.
Immer wieder fielen dem Inspektor verkohlte Möwen vor die Füße. Die beißenden Dämpfe schmelzenden Kunststoffs benebelten seine Sinne, schwarze Rauschwaden ließen seine Augen tränen.
Trotzdem sah Treiber den Graben, der sich vor ihm auftat, gerade noch rechtzeitig, um nicht hineinzustürzen. Er sah auch, wie sich eine verlumpte, verdreckte Gestalt bemühte, auf allen Vieren den Hang empor zu krabbeln.
Der Chef des Sicherheitsdienstes hatte sich zu früh über das flammende Inferno da draußen gefreut. Hustend taumelte er auf den Schrank mit den Gasmasken zu, doch seine Kollegen hatten ihm keine übrig gelassen.
Bis zum Notausgangslift schaffte er es nicht. Im Giftnebel, der sich bereits in sämtlichen Gängen des Falschmünzerbunkers ausgebreitet hatte, sank der Security-Boss röchelnd zu Boden. Die Frage, wie das Filtersystem der hochmodernen Belüftungsanlage versagen konnte, nahm er unbeantwortet mit ins Grab.
Den Technikern und IT-Spezialisten im Fahrstuhl erging es nicht besser. Bevor der völlig überfüllte Lift die Notausgangsstation mit dem Fluchthelikopter erreichen konnte, rissen die Transportseile.
Zusammen mit den Bündeln frisch kopierter Fünzig-Euro-Scheine, die sie sich beim Heulen der Alarmsirenen hastig in Hosen- und Kitteltaschen gestopft hatten, stürzten die Falschmünzer in die Tiefe.
Sich gegenseitig stützend hatten es Treiber und Lausig bis zu den Gleisen der Kleinbahn geschafft – angetrieben durch die höllische Hitze, die sie im Rücken spürten. Doch auch auf der gegenüberliegenden Seite wütete das Feuer.
Treiber hievte seinen Assistenten in eine nur halb mit aussortierten Smartphones gefüllte Lore, koppelte sie von den anderen ab, schob sie an, zog sich mit letzter Kraft an dem bereits Fahrt gewinnenden Wagen hoch und ließ sich erschöpft ins Innere neben Lausig fallen.
Mehr schlafend als wach verbrachten sie die rasante Fahrt durch die brennende Müllkippe. Immer wieder leckten riesige Flammenzungen an dem eisernen Gefährt, das sich mehr und mehr in einen Glutofen verwandelte. Die ersten Handys begannen bereits zu schmelzen.
In einer engen Kurve warf es das führerlose, viel zu schnelle Schienenfahrzeug aus den Gleisen. Während die Lore sich überschlug, um dann von dem rostigen Wrack eines Kreuzfahrtschiffs gestoppt zu werden, flogen die beiden Passagiere in hohem Bogen in den Karpfenteich, den sich der Eigentümer der Müllhalde am Randes des Betriebsgeländes erst kürzlich hatte anlegen lassen.
Angesichts der Höhe der von seiner Brandschutzversicherung zu erwartenden Schadenssumme rieb sich der erfolgreiche aber geizige Abfallunternehmer bereits die Hände. Ob er sich auch darüber freute, neben der Hundertschaft nimmersatter Jungkarpfen jetzt auch noch zwei ausgewachsene Kriminalbeamte in seinem Weiher füttern zu müssen, darf bezweifelt werden.
Wenig erfreut zeigte sich auch Kriminalrat Wannemann, der Vorgesetzte von Treiber und Lausig. Der dringenden Empfehlung des Dezernatspsychologen folgend sah er sich veranlasst, seine lädierten Mitarbeiter für vier Wochen zur Kur zu schicken. Nach Timaukel auf Feuerland, wo der Innenminister, ein Kegelbruder von Wannemann, eine geräumige Jagdhütte besaß.
Tag der Veröffentlichung: 16.02.2021
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