Silber
von Peter Hellriegel
Um halb sieben solle er da, hatte man ihm gesagt, pünktlich um halb, doch jetzt war es schon fünf nach sieben, und er stand immer noch vor dem verschlossenen, rostigen Eisentor, das genau in der Mitte ein Loch hatte. Das Loch sah aus, als sei es das Ergebnis eines Schusses aus einer großkalibrigen Waffe.
Würde mich nicht wundern in dieser abgerissenen Vorstadtgegend, dachte Johnny. Er ließ seinen Blick schweifen: von der leer stehenden Werkshalle, in der vor bis vor ein paar Wochen noch ein Fitnessstudio zum Hantelschwingen einlud, über die Express-Reinigung und den Graveur mit seinen goldenen und silbernen Pokalen im Schaufenster bis zu Willis Imbiss-Stube, über die sich hartnäckig das Gerücht hielt, der fettleibige Wirt scheue nicht davor zurück, für seine Burger auch Katzenfleisch zu verwenden, bis hin zu Macks Tuning-Bedarf und einem unscheinbaren Laden mit dem seltsamen Namen „Indigo Dream“, dessen mit schwarzer Folie zugeklebte Fensterscheiben ihm sagten, dass dort Geschäfte gemacht oder Dienstleistungen angeboten werden, die alles andere legal sind.
Johnny fror. An diesem späten Maitag war es ungewöhnlich kalt, und ein eisiger Wind pfiff ihm um die Ohren. Er ärgerte sich, nicht seinen warmen Wollpullover angezogen zu haben. Der alte Bundeswehrparka, den er fast das ganze Jahr über trug, hatte längst seine wärmende Eigenschaft verloren, so wie er selbst den Glauben daran, dass für ihn irgendwann noch einmal bessere Zeiten anbrechen würden.
Und doch stand er jetzt hier und wartete auf den kleinen Dicken mit der Halbglatze und der dicken Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen, in die man problemlos ein Gummibärchen hineinstecken könnte.
Johnny verfluchte den schmierigen Typen, dessen abgewetzte Lederjacke kaum den fetten Bauch bedeckte. Doch er brauchte das Geld. Er brauchte die Kohle dringend, um seine Schulden bei Marco zu bezahlen, denn er wusste, Marco gewährte einem nur einmal Zahlungsaufschub, ohne dass es mit körperlichen Schmerzen verbunden war.
Er hatte es mit eigenen Augen gesehen, wie sehr Marco einem Menschen wehtun konnte, wenn dieser nicht zahlte. Noch heute klagte der kleine Tim über Schmerzen im ramponierten rechten Arm, den ihm Marco mit einer Eisenstange mehrfach gebrochen hatte. Mit einem fiesen Grinsen im Gesicht und dem Spruch, das nächste Mal sei ein Bein dran, hatte er die Strafe vollstreckt.
Johnny wollte nicht dran denken, was Marco ihm antun würde, wenn er die fünftausend Euronen nicht schnellstmöglich auftreiben konnte. Schnellstmöglich hieß: bis übermorgen. Deshalb hoffte er inständig, dass Mr. Zahnlücke, der ihm den Job angeboten hatte, noch auftauchte.
Was genau er tun sollte, um in ein paar Stunden fünf Riesen zu verdienen, wusste Johnny nicht, aber er würde es bald erfahren. Dass es sich um etwas Gesetzwidriges handeln würde, war ihm klar. Aber er hatte keine Wahl. Doch wo blieb der Dicke bloß?
Johnny erschrak, als sich plötzlich das Eisentor mit einem schrillen Quietschen öffnete. Ein groß gewachsener Mann im Overall trat heraus, blieb etwa zwei Meter vor Johnny stehen und musterte ihn mit undurchdringlicher Miene. „Bist du Johnny?“ Johnny nickte. „Na dann komm rein. Es gibt einen Job zu erledigen.“
Der Mann, der sich nicht vorgestellt hatte und dessen Alter Johnny auf Mitte vierzig schätzte, ging voraus. Er trug einen himmelblauen, neu aussehenden Overall, der mit den angedeuteten Schulterklappen einer Uniform ähnelte.
„Warte hier einen Moment.“ Mitten in einem großen, von einer hohen Mauer umgebenen Hof blieb Johnny stehen und sah, wie der Mann in einem flachen Gebäude verschwand. Johnny blickte sich um. Überall lagen Teile von Fahrzeugen rum, zum überwiegenden Teil verrostet. In einer Ecke des Hofes türmten sich abgefahrene Autoreifen.
Johnny hörte einen Pfiff und registrierte, dass der Mann im Overall in der offenen Tür des Flachbaus stand und ihn herbeiwinkte. Er folgte ihm ins Haus und eine nur notdürftig beleuchtete Treppe hinunter – bis in einen düsteren Kellerraum. Mitten im Raum blieb Johnny stehen. „Hey Mann, warte mal. Bevor ich hier einen Schritt weiter gehe, will ich wissen, was ich überhaupt für die fünf Riesen tun soll.“
Der Overall-Mann drehte sich um. Er lächelte. „Was du tun sollst? Das wirst du gleich sehen. Auf jeden Fall wirst du für noch nicht mal eine Stunde Arbeit fürstlich entlohnt werden.“ Das Lächeln verschwand. „Aber eines solltest du wissen. Wenn wir durch die nächste Tür gegangen sind, wird es für dich kein Zurück mehr geben. Du tust, was wir von dir verlangen, bekommst dein Geld und verschwindest wieder. Ist das klar?“
Johnny nickte. Doch er hatte auf einmal ein ungutes Gefühl. Der Overall-Mann ging zu einer Metalltür und tippte einen Zahlencode in eine Tastatur, die neben der Tür in der Wand blau leuchtete. Die massive Tür öffnete sich wie von Geisterhand, gleißend weißes Licht strömte in den düsteren Kellerraum.
Johnny folgte dem Mann. Sobald er den Raum betreten hatte, glitt die Metalltür mit einem Zischen hinter ihm zu. Seine Augen brauchten einen Moment, um sich an das grelle Licht zu gewöhnen. Was er dann sah, beunruhigte ihn.
Der große, von Deckenstrahlern hell erleuchtete Raum erinnerte ihn an einen Operationssaal. An einer Wand reihten sich verschiedene Apparaturen und Monitore aneinander. An einer anderen standen zwei Krankenhausbetten. Und in der Raummitte befand sich ein OP-Tisch, der extra von oben angestrahlt wurde. In Johnnys rechter Gesichtshälfte begann etwas rhythmisch zu zucken.
„Was soll das, was habt ihr mit mir vor? Wollt ihr etwa ein medizinisches Experiment an mir durchführen?“ Der Overall-Mann, der direkt hinter Johnny stand, legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Kein Grund zur Beunruhigung. Du wirst diesen Raum in spätestens einer Stunde völlig gesund und unversehrt wieder verlassen, das garantiere ich dir. Und jetzt atme ein paar Mal tief durch, bevor ich dir erkläre, was geschehen wird.“
Johnnys Mund war plötzlich ganz trocken. Er brauchte einen Moment, um seine Gedanken zu ordnen, dann legte er so viel Entschlossenheit wie möglich in seine rau klingende Stimme: „Okay, dann schieß mal los. Aber eins sage ich dir: Was auch immer ihr machen wollt, die Kohle will ich vorher sehen. Am besten gebt ihr mir das Geld gleich.“
Der Overall-Mann, der jetzt direkt vor ihm stand und ihm mit leeren, wässrig-grauen Augen anstarrte, hatte wieder sein merkwürdiges Lächeln im Gesicht, was Johnnys Misstrauen eher noch verstärkte.
„Kein Problem, mein Lieber, deinen Lohn für die klitzekleine Gefälligkeit sollst du gleich bekommen. Und nur keine Angst, Johnny, wir machen keine schlimmen Experimente mir dir. Was passieren wird ist Folgendes. Du legst dich hier gemütlich hin“, und dabei wies er auf den OP-Tisch, „erhältst eine kleine Spritze mit einem harmlosen Mittel, nur ein kleiner Piekser in den Arm, schläfst gemütlich ein und wachst nach einer guten halben Stunde wieder auf. Gesund und munter. Während du schläfst, werden bei dir lediglich ein paar Messungen vorgenommen, alles nichts Dramatisches. Du brauchst wirklich keine Angst zu haben – aber“, und jetzt verengten sich die Augen des Overall-Mannes, und ein brutaler Zug flammte in seinem breiten Gesicht auf, „der Deal steht. Ohne den völlig ungefährlichen, kleinen Test im Dienst der Wissenschaft wirst du diesen Raum nicht verlassen.“
Johnny glaubte nicht, dass der Mann bluffte. Er war sicher, dass sich die Metalltür ohne den richtigen Zahlencode nicht öffnen lassen würde. Und doch wollte er noch einen Versuch wagen: „Hey Mann, was ist, wenn ich dir jetzt ganz klar sage, sorry ich bin nicht der Richtige für eure Untersuchungen – behaltet das Geld, sucht euch lieber einen anderen.“
Der Overall-Mann knipste wieder sein Lächeln an, diesmal noch strahlender als zuvor. „Wenn du mir das sagst, Johnny, dann zeige ich dir dies.“ Er griff mit beiden Händen in die geräumigen Taschen an den Seiten seines Overalls, zog mit der linken Hand ein Bündel Geldscheine hervor und mit der rechten eine Pistole.
„Du hast die Wahl: Fünftausend Euro und eine kleine Beruhigungsspritze, und du kannst unversehrt nach Hause gehen – oder eine Kugel ins Knie plus Spritze, und später wachst du hilflos als blutender Krüppel mit höllischen Schmerzen in irgendeinem dunklen, dreckigen Hinterhof wieder auf und verfluchst nicht nur Gott und die Welt, sondern auch dich selbst. Vielleicht rufst du ja auch verzweifelt den Namen deiner Mutter.“
Johnny sah ein, dass er in der Klemme steckte. Und zwar richtig. „Das hab’ ich mir aber anders vorgestellt“, sagte er, doch in diesem Satz klang schon sehr viel Resignation mit.
„Okay, dann kann’s ja endlich losgehen. Zieh deine Jacke und Schuhe aus, mach deinen rechten Arm frei – und leg dich auf die Liege. Auf den Rücken, los.“ Der Overall-Mann hatte auf Befehlston umgestellt, sein ernstes Gesicht drückte Entschlossenheit aus.
Johnny folgte den Anweisungen, was blieb ihm auch anderes übrig. Er hatte sich kaum auf der Liege, die er eher wie ein OP-Tisch aussah, ausgestreckt, als ein weiß gekleideter Mann neben ihn trat. Johnny hatte keine Ahnung, woher dieser so schnell aufgetaucht war. Der Mann trug Kittel, Haube, Handschuhe und Gesichtsmaske, wie ein Chirurg – und hielt eine Spritze in der rechten Hand.
Direkt über Johnny flammten plötzlich Strahler auf, deren grelles Licht ihm blendend in die Augen fuhr. Panik ergriff ihn. „Nein“ schrie er und richtete sich ruckartig auf, wurde aber sofort von starken Armen in die Liegeposition zurück gezwängt.
Ehe er sich versah, waren seine Arme mit Gurten am OP-Tisch fixiert, und auch an seinen zappelnden Beinen machte sich jemand zu schaffen.
Dann wurde Johnny etwas über den Kopf gezogen. Er konnte sich jetzt nicht mehr bewegen und auch nichts mehr sehen. Er zitterte am ganzen Körper. Er spürte, wie sein linker Arm festgehalten wurde und sich etwas Spitzes in seine Armbeuge bohrte.
Hitzewellen durchströmten Johnny. Bevor er sich darüber Gedanken machten konnte, was ihm da Teuflisches in die Venen gejagt wurde, verlor er das Bewusstsein.
Als Johnny aufwachte, wusste er zunächst nicht, wo er war und was passiert war. Erst als er sich auf der Liege aufrichtete und sein Blick auf die medizinischen Apparaturen fiel, begann er, sich zu erinnern. Man hatte ihn gefesselt und ihm eine Spritze gegeben. Die Gurte waren gelöst, und bis auf einen leichten Kopfschmerz fühlte er sich ganz passabel.
Er sah, dass man seinen Parka über die Lehne eines Klappstuhles gehängt hatte, der neben der Liege stand. Aus der rechten Jackentasche ragte ein Geldbündel heraus. Das werden die fünftausend Euro ein, dachte Johnny, mein Lohn!
Er registrierte, dass sich außer ihm niemand im Raum befand und dass die Sicherheitstür offen stand. Zeit, sich aus dem Staub zu machen, dachte er. Er zog seine Jacke an und zählte das Geld. Genau fünftausend! Und während er auf noch etwas wackligen Beinen die steile Kellertreppe erklomm, den Flachbau verließ und den Hof überquerte, achtete er nicht auf das welke, feuchte Laub, das den staubigen Boden wie einen Flickenteppich bedeckte.
Bevor Johnny durch das weit geöffnete Eisentor trat, hatte er das Gefühlt, jemand würde ihn beobachten. Er blieb stehen, drehte sich um und ließ seinen Blick über den Hof streifen, doch er konnte niemanden entdecken. Er sah, wie eine Windbö Laub spiralförmig noch oben trieb, als hätte ein Tornado die Blätter erfasst.
Johnny verließ den Hof und ging die hundert Meter bis zum Tattoo-Studio, vor dem er seinen Wagen abgestellt hatte, doch sein alter Kombi war verschwunden. Er konnte nicht glauben, dass Autodiebe sich für eine vierzehn Jahre alte Klapperkiste interessieren würden, und ein Abschleppen seines Autos schloss er aus, denn es gab hier kein Parkverbot, keine Parkuhr oder die Pflicht, eine Parkscheibe zu verwenden, da war er sicher.
Ein Jucken in der linken Armbeuge lenkte ihn von seinem Pech ab. Er zog seinen Parka aus und blickte auf die Stelle, wo sie ihm die Spritze mit dem Was-auch-immer verpasst hatten. Eine silbrige Kruste bedeckte dort die Haut. Johnny traute sich nicht zu kratzen und verdrängte den Juckreiz.
Er hatte jetzt andere Sorgen. Kein Auto, und er musste bei Marco schnellstmöglich seine Schulden begleichen. Doch Marco wohnte am anderen Ende der Stadt, und es war ein langer Fußmarsch bis zur nächsten Straßenbahnhaltestelle.
Das Jucken am Arm wurde stärker. Johnny fluchte. Er hatte auf einmal einen schrecklichen Durst. Als er den „Goldenen Anker“ erreichte, eine Kneipe, die bereits früh am Morgen öffnete, beschloss er, hier kurz einzukehren. Nur auf ein schnelles Bier.
Trotz des in der heruntergekommenen Gaststube herrschenden Schummerlichtes erkannte Johnny, dass er der einzige Gast war. Hinter dem Tresen stand nicht Paul, der ihm vertraute Wirt mit der knallroten Narbe auf der rechten Wange und den muskelbepackten Armen eines ehemaligen Gewichthebers, sondern ein spindeldürres Kerlchen mit knallroten Haaren und Segelohren.
„Wo ist Paul?“ fragte Johnny. „Ich kenne keinen Paul“, antwortete der Dünne mit glockenheller Stimme. Johnny wunderte sich zwar, meinte aber nur „Ach so“ und bestellte ein großes Pils.
Er merkte, dass der Dünne keinerlei Anstalten machte, Johnnys Bier zu zapfen, und ihn stattdessen unverhohlen anstarrte. „Was ist?“ entfuhr es Johnny, der auf einmal wütend war, „gefällt dir mein Gesicht nicht?“
„Das ist es nicht, mein lieber“, entgegnete der Dünne sanft und nahm ein Bierglas aus dem Regal hinter ihm. „Es geht mich ja vielleicht nichts an, aber du hast da etwas Merkwürdiges im Gesicht. Sorry, aber ich habe halt so etwas noch nie gesehen.“
Johnny Laune war auf einem Tiefpunkt. „Was soll ich im Gesicht haben, spinnst du, Spargeltarzan?“
Der Dünne zuckte mit den Schultern. „Entspann dich, Mister. Aber schau dich doch mal selbst im Spiegel an – und dann sag mir, was andere Menschen über dein Gesicht denken sollen.“
Jetzt war Johnny verunsichert. „Gib ein bisschen Gas mit meinem Bier“, rief er dem Dünnen in harschen Tonfall zu, „bin sofort wieder da“ – und eilte in Richtung Herrentoilette.
Johnny wollte nicht glauben, was er im dreckigen Spiegel des Herrenklos sah. Es zwar sein Gesicht, dass ihn da anstarrte, aber es stimmte, was das Männlein hinterm Tresen gesagt hatte: Dieses Gesicht hatte sich auf höchst merkwürdige Weise verändert.
Die komplette Nase war von einer silbrigen Schicht bedeckt, und auch über seiner rechten Augenbraue und auf einem Teil seiner linken Wange glitzerte es silbern, als habe jemand einen Lack oder eine Lasur aufgetragen.
Johnny dachte, er habe den Verstand verloren. Vielleicht hatte er ihn ja in dem Keller gelassen, wo sie ihm fünftausend Riesen für eine Injektion mit fataler Wirkung verabreicht haben.
Während er nicht aufhören konnte, sich im Spiegel anzustarren, merkte er, wie in seinem Kopf irgendetwas vor sich ging. Er glaubte, ein seltsames Knirschen zu hören, das direkt aus dem Innern seines Schädels zu kommen schien, und senkte seinen Kopf, der ihm auf einmal viel schwerer vorkam.
Und dann lief ihm etwas aus der Nase und tropfte ins Waschbecken. Eine silberne Flüssigkeit entwich zunächst seinem rechten Nasenloch, um sich Sekunden später aus beiden Nasenöffnungen rinnend einen Weg in Richtung Kanalisation zu suchen.
Johnnys Beine begannen zu zittern, ihm wurde übel. Er hielt sich mit beiden Händen krampfhaft am Waschbecken fest. Er sah noch, wie auch aus seinem rechten Ohr etwas Silbriges floss und sich auf den Steinfließen in einer kleinen Pfütze sammelte, bevor ihn ein heftiger Würgereiz erfasste.
Johnny wankte in die Toilettenkabine, schaffte es aber nicht mehr, den Klodeckel aufzuklappen. Vor der Keramikschüssel brach er zusammen. Bevor seine Wahrnehmungen komplett aussetzten, hatte er das Gefühl, in seinem Kopf sei ein Feuer entbrannt, dessen höllische Hitze die Augäpfel schmelzen ließ.
Der Dünne fand Johnny leblos in der Klokabine liegend. Er griff zum Handy und wählte die Nummer des Doktors.
„Hallo Doc, hier ist Henry vom ‚Goldenen Anker’. Da ist ein Typ bei mir aufgetaucht … Ja genau. Das muss der sein, den ihr vor einem knappen halben Jahr behandelt habt, dieser Johnny, glaube ich … Ja, bin mir ziemlich sicher. Hat nen Abgang gemacht. Mit allem drum und dran. Da scheint das Testmittel nicht richtig gewirkt zu haben. Hat ziemlich viel Silber verloren, der Arme … Nein, natürlich verstehe ich davon nichts, Professor, nicht die Bohne, und ich will das auch gar nicht wissen … Einen Bart? Nein, einen Bart hat er nicht getragen … Soll ich ihn jetzt entsorgen, wie vorgeschrieben? … In Ordnung, und selbstverständlich mach ich noch ne Mitteilung an den Boss, äh ich meine natürlich den Professor, für die Statistik, ist wichtig, logo, geht klar, Doc … per eMail, alles klar … Ja, bis demnächst, Wiederhören, Doc.“
Als Henry seinen Job erledigt hatte und von Johnny und den Spuren, die er auf dem Klo hinterlassen hatte, nichts mehr zu sehen war, genehmigte er sich einen doppelten Wodka, auch weil er sich über die Sonderprämie der Kurpfuscher freute. Die hatte er sich mit dem dummen Kerl wirklich leicht verdient.
Während er darüber nachdachte, wie praktisch es eigentlich war, sich ein halbes Jahr lang nicht rasieren zu müssen, hörte er nicht, dass ein kleiner dicker Mann mit Halbglatze die Kneipe durch den noch offenen Hintereingang betrat und sich ihm von hinten leise näherte.
Zwei Kugeln, eine in den Rücken, dort wo das Herz saß, und eine in den Hinterkopf reichten aus, um einen weiteren Mitwisser hundertprozentig auszuschalten.
Seitdem der Professor allen Team-Mitgliedern mitgeteilt hatte, das Projekt stehe kurz vor einem erfolgreichen Abschluss und man dürfe jetzt kein unnötiges Risiko eingehen, hielt er sich jeder streng an diese Order. Und er würde einen Teufel tun, den Professor zu enttäuschen.
Außerdem war er überzeugt davon, dass die Entdeckung des Profs sich als hochprofitabel erweisen würde, wenn eine Vertriebsstruktur vorhanden wäre, um das Mittel zu verkaufen.
Nebenwirkungen hin oder her, dachte der kleine Dicke, die Leute werden sich hoch verschulden, um an den neuen Wirkstoff zu gelangen. Ja sie würden für das Mittelchen sogar töten, davon war er überzeugt. Denn nur mit ihm hätten sie eine Chance, das nächste Jahr überstehen zu können. Und vielleicht noch das übernächste. Wer wusste das schon.
Das Smartphone des Dicken vibrierte. Es war der Professor. Während der Dicke die Anweisung entgegennahm, den Goldenen Anker samt Wirt in die Luft zu jagen und einen Unfall mit einer defekten Gasleitung vorzutäuschen, entdeckte er den kleinen Blutfleck auf seinem Overall. Er war sicher, dass es sich um Blut vom dürren Wirt handelte, der jetzt mausetot war.
Er ärgerte sich, da er genau wusste, die Kosten für die Spezial-Reinigung selbst tragen zu müssen. Doch noch mehr ärgerte er sich darüber, dass er bisher immer zu feige gewesen war, den Professor einmal darauf anzusprechen.
Tag der Veröffentlichung: 09.02.2021
Alle Rechte vorbehalten