Das pfefferminzgrüne Kajak kippte seinen Inhalt in den eiskalten Gebirgsfluss. Es blieb ihm auch gar nichts anderes übrig, zu plötzlich hatten sich die harmlosen Stromschnellen in ein brodelndes Wasserinferno verwandelt.
Hans-Günther Steckenpferd, stellvertretender Geschäftsführer des südhessischen Inkassoverbandes, der mit seiner achtzehnjährigen Sekretärin in einem durchsichtigen Kanu folgte, sah, wie sein Chef samt Boot, Paddel und Schminkköfferchen in der Gicht verschwand – und nicht wieder auftauchte. Schnell manövrierte er an eine sichere Uferstelle.
Der Vize nutzte die Gelegenheit und umklammerte zärtlich das ausladende Becken seiner Mitpassagierin – eine Geste der Nächstenliebe, nach der sie sich schon seit fünfzehn Flusskilometern sehnte.
Inspektor Treiber schickte seine gehbehinderte Nichte zum Bier holen ins nächste Bergdorf. Er musste sich über den Verlust seines siebenundzwanzigsten Pferdebremsenköders hinwegtrösten. Eine Wasseramsel hatte ihm den Köder weggeschnappt.
Jetzt blieb dem Inspektor nur noch der Reserveköder: das vertrocknete Ohr einer Haselmaus. Doch schon zerrte etwas an Treiber Angelrute. Es war ein Fisch, der lediglich im Kopfhaar Schuppen trug und längst nicht mehr zappeln konnte.
Interessiert blickte der Inspektor in das runde Gesicht seiner Beute, einem Wildwassersportler, der wohl ein wenig über den Durst getrunken hatte. Just in diesem Moment fiel ihm seine Verabredung wieder ein: Er hatte seinem Assistenten Lausig eine gemeinsame Spritztour mit dem nagelneuen Gummiboot versprochen. Und so beschloss er, dem falschen Fisch die Freiheit zu schenken.
Kaum hatte er den Haken aus der Knollennase gelöst, begann mehrere Dutzend Wasserschlangen, die sich nach geeigneten Nistplätzen umschauten, in die Körperöffnungen des Sportinvaliden zu schlüpfen. Schon bald war der Inkasso-Vize von neuem Leben erfüllt.
Jacques Deflor hasste Paddler und Ruderer, die keine Schwimmwesten trugen. In seiner Kindheit hatte er einmal zuschauen müssen, wie sein Lieblingshamster im Goldfischglas ertrank: ein Experiment seiner älteren Schwester Jacqueline.
Jetzt kostete ihm der freudige Luftsprung auf dem Felsplateau hoch über dem Flusslauf fast das Leben. Durch seinen Feldstecher hatte Deflor genau beobachten können, wie präzise seine Unterwasserhochdruckanlage funktionierte. Die Apparatur war in er Lage, jede müde Pfütze in ein tosendes Meer zu verwandeln.
Dass die hungrige Gänsegeiertruppe, die fünfhundert Meter über Jacques Kopf für die nächste Kieler Woche trainierte, bereits heftig über Gewicht und Güteklasse seiner Leber debattierte, blieb ihm verborgen. Er freute sich darauf, sein tödliches Wasserspielzeug ein weiteres Mal mithilfe der Fernsteuerung zu aktivieren. Diesmal sollte ein Schlauchboot dran glauben – natürlich inklusive Besatzung!
Lausigs Laune war nicht die beste. Ohne Mittagessen im Bauch musste er für die chronische Vergesslichkeit seines Chefs büßen. Lustlos paddelte er mit den Händen, die bereits Ansätze von Schwimmhäuten zeigten. Schon vor dem Stapellauf hatte er sich völlig verausgabt, da Treiber statt der Bootspumpe den Wagenheber eingepackt hatte.
Während Jacques Deflors Zeigefinger nervös über dem roten Knopf seiner Fernbedienung zuckte, war der Inspektor wenige Meter vor den Stromschnellen den Anker und gab seinem Bootsmann das Flaggensignal zum Piratenpicknick.
Lausig war so sehr damit beschäftigt, die Bordeauxflasche mit seiner Nagelschere zu öffnen, dass er den enttäuschten Gesichtsausdruck seines Chefs nicht bemerkte. Treiber hatte soeben feststellen müssen, dass die Kühlbox bis zum Rand mit Kühlelementen gefüllt war. Seine Nichte musste da irgendetwas falsch verstanden haben, Ärgerlich zerquetschte er einen jungen Wasserläufer, der den Sicherheitsabstand zum Boot nicht eingehalten hatte.
Deflor war mit seiner Geduld am Ende. Er spielte bereits mit dem Gedanken, ersatzweise einer jungen Schwanenfamilie das Tauchen beizubringen, als er sah, dass die Kriminalisten den Anker lichteten.
Auf die Stromschnellen zutreibend erinnerten sich Treiber und Lausig an alte Pink-Floyd-Gassenhauer. Bald erfüllte ihr von Wein beseelter Gesang den Canyon. Das Felsgestein versuchte sich gegen die grauenvolle Interpretation von Klassikern wie »Another brick in the wall« zu schützen, indem es feine Haarrisse bildete – ein Manöver, das zwei niederländischen Freeclimbern den Halt kostete.
Einem Kolkraben gefiel die Musik. Er dachte, sie käme aus der Fernbedienung, die Deflor immer noch in seiner rechten Hand hielt. Behänd schnappte sich der schwarze Vogel den vermeintlichen MP3-Player und trug seine Beute im Schnabel davon.
Der überraschende Coup des gefiederten Räubers ließ Deflor straucheln. Seine Finger krallten sich in den Fels, während sein Beine hilflos in der Luft zappelten.
Währenddessen zog Lausig zweihundert Meter hinter den Stromschnellen seinen Chef aus dem Wasser. Treibers Versuch, bei voller Fahrt nach einer Lachsforelle zu greifen, hatte das Boot zum Kentern gebracht.
In den Fluten hatte Lausig sich die ganze Zeit an die Kühltasche geklammert. Jetzt, wo er triefend nass und vor Kälte zitternd an einem kleinen Kiesstrand stand, schüttelte er schamlose Flusskrebse aus seinen Bermudashorts.
Lausig versuchte sich daran zu erinnern, wie eine Seebestattung funktionierte, als er den Inspektor röcheln hörte. Lausig war nicht sicher, ob er sich freuen oder ärgern solle. Treibers mühsam artikulierter Frage, ob es noch weit bis zur nächsten Autobahnraststätte sei, verweigerte er die Antwort.
Drei Sekunden, bevor Deflors massiger Körper auf die von der Vormittagssonne erwärmten Uferkiesel schlug, drückte der Rabe in einem letzten Versuch, dem vermeintlichen I-Pod Musik zu entlocken, auf den roten Knopf. Jacques Deflor hörte bereits die Engel singen und konnte deshalb dem Brausen, das seine aktivierte Unterwasserapparatur erzeugte, keine Aufmerksamkeit schenken. So verpasste er auch das seltene Schauspiel eines auf dem Fluss notlandenden Segelflugzeugs, das sich in ein U-Boot verwandelte.
Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit verzichtete der frustrierte Kolkrabe diesmal darauf, den geizigen Gänsegeiern ein paar Bissen von ihrem Leichenschmaus wegzuschnappen. So entging ihm das Vergnügen, das würzige Aroma einer ausgereiften menschlichen Trinkerleber kennen zu lernen.
Der Rabe beachtete die gierigen Geier überhaupt nicht. Zu sehr beschäftigte ihn der Gedanke, ob er sein Liebe zur Musik aufgeben und sich stattdessen in Zukunft ganz der Höhlenmalerei widmen solle.
Tag der Veröffentlichung: 02.11.2013
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