Cover

Editorial


Zwischen Jugendwahn und Dienstleistungsnotstand suchen wir 
unseren Platz im modernen Leben, das auch ein Comedy-Programm aus des Teufels Feder sein könnte. Umringt von Wettersüchtigen, nervenden Einweg-Experten und hoffnungslos am Zeitvirus 
Erkrankten taumeln wir durch den immer verrückter werdenden Erdenalltag.

Wir ärgern uns über entwürdigende Verkehrsschilder und widerspenstige Verpackungen – und hadern mit einem falsch verstandenen Konservativismus. Kopfschüttelnd wundern wir uns, dass die 
Gesellschaft endgültig auf das Pferd gekommen ist. 
Wir amüsieren uns über die unerschütterliche Disziplin von Briefmarkenkäufern und ziehen unseren Hut vor der Geduld von Zeitgenossen, die am Pfandflaschenrücknahme-Automaten ihr Glück 
versuchen.

Und mitten in dieser Hölle auf Erden stoßen wir auf einen Überlebenskünstler, der sich viel tapferer schlägt, als er es sich selbst eingestehen mag. Und der in dem seltsamen Vorfilm, den andere 
Leben nennen, klaglos die Rolle spielt, die ihm angeboten wird: 
die des coolen, wütenden, zweifelnden, couragierten, verstörten, begeisterten und schwermütigen Statisten. Manchmal spielt er den hilflosen Handlangers des Gehörnten, der über sich selbst lachen kann. Herzlich willkommen in Hellriegels Hölle!


Inhaltsverzeichnis

:
– Die Absteiger (S. 7)
– Disziplin im Absurdistan-Parcours (S. 13)
– Einfach zu alt (S. 18)
– Die Bärendienstleistungsgesellschaft (S. 33)
– Feuchtigkeitscreme für die Hufe (S. 44)
– Wettersüchtig (S. 52)
– Konservative Kaffeemaschinen (S. 60)
– Kartoffelnholen im Keller (S. 70)
– Vom Zeitvirus erwischt (S. 78)
– Helden der Expertenklasse (S. 101)
– Kleine Arnolds und große Handtuchstrategen (S. 114)
– Sesam, öffne dich (S. 122)


Die Absteiger



Keine Angst, es geht hier nicht um Fußball, ums Absteigen in die zweite oder dritte Liga, um Abstiegsangst und die allerletzte Chance, mit Kampfstärke, Moral, bloßem Willen und – falls nötig – Blutgrätschen den Klassenerhalt in der Nachspielzeit doch noch zu schaffen. Ich rede hier übers Absteigen vom Fahrrad, oder genauer: vom ordnungsbehördlichen Zwangsabstieg.

In Zeiten, wo das Prestige eines jeden Kuhdorfes und der Ruhm des Bürgermeisters stark von der Zahl der ortseigenen Tangenten, Kreisel und Umgehungsstraßen abhängt, vermehren sich Baustellen im Straßenverkehr wie die Karnickel. Natürlich werden die Radwege, ökologisch korrekt, fleißig mitrestauriert, um- oder neuverlegt, aufgerissen und zugeschüttet, frisch geteert oder tiefer gelegt.

Im Vergleich zu den Straßenbauprojekten für den Spritsäuferverkehr allerdings mit Prioritätsstufe Doppelnull: immer schön häppchenweise, damit der schlichte Radler von der Dynamik nicht überrollt wird: Heute den Grobschotter ins nagelneue Radwegebett füllen – und bereits ein halbes Jahr später darf der glückliche Premieren-Radler das Reifenprofil seines Drahtesels in den frühreifen Asphalt drücken: ein Initiationsritus der modernen Freizeitgesellschaft.

Leider haben diese Teerprägungen nur eine relativ kurze Halbwertzeit, denn die Straßenbaumafia fühlt sich durch die Gravierungen milchgesichtiger Downhill-Rider und bärtiger Mountainbiker provoziert. Schon bald ist der neue Weg wieder total gesperrt, mit dem Ziel, alles wieder glattzubügeln. Die komplette Division rückt erneut an, um mit Gerätschaften jeden Kalibers und ohne Rücksicht auf Verluste an Mensch und Material die Oberhand zu gewinnen und die Schlappe wieder auszubügeln: mit der nötigen Präzision und dem erforderlichen Zeitaufwand. Und das kann dauern!

In seiner Frühphase ist so ein tiefbaulicher Marathonlauf immer mit flankierenden Maßnahmen verbunden: Dann kann es passieren, dass vor dem frühaufstehenden Rad-Pendler urplötzlich aus dem Morgennebel unbekannte Baustellen-Objekte auftauchen: Poller und Absperrgitter blockieren den Weg, weiß-rote Signalbänder flattern geschäftig im Wind. Über Nacht sind ganze Schilderwälder aus dem Boden geschossen. Oft steht das erste Schild schon da, wenn die Bauarbeiter noch auf Mallorca neue Kraft tanken und der Bagger auf der Fahndungsliste steht.

Aber dieses erste Schild, das dort steht, da wette ich mit Ihnen, ist ein schlichtes, rechteckiges Blechschild mit schwarzer Aufschrift. »Radfahrer absteigen« lautet seine Botschaft, und es thront dort, fest im Betonfuß verankert, ganz egal ,ob überhaupt schon zu erkennen ist, dass hier demnächst Rüttler und Presslufthämmer lärmen und rotbraungebrannte Unterhemdenträger in ihre schwieligen Hände spucken.

Dieses Schild ist immer präsent, es ist die Allzweckwaffe der Schaufelschwinger, das Breitwand-Antibiotikum der Asphaltcowboys – prophylaktisch jedem Radfahrer, der sich nähert, verabreicht. Es ist bereits zur Stelle, lange bevor ein einsames Hütchen eine winzige Blase im Asphalt markieren wird: Obwohl man satt Platz hat, mit seinem Trekkingrad vorbeizurauschen, einen Baumarkt-Badezimmerschrank quer auf den Gepäckträger geladen. Man muss absteigen! Auch dann, wenn gar nichts – bzw. noch nichts ist.

Ich kann mir das schon vorstellen: Morgens um sechs. Die erste Kolonne rückt im VW-Transporter an. Der Fahrer flucht, weil er sich verfahren hat, die Baustelle ist schließlich noch jungfräulich und wieder mal am »A… der Welt«. Die Mannschaft dämmert gähnend dem Tagwerk entgegen. Keiner gibt auch nur einen Pfifferling auf die ehrenvolle Mission, eine neue Baustelle eröffnen zu dürfen. Und Platoonführer Boris sagt zum Dienstjüngsten: »Maik, wenn wir dann irgendwann da sind, stell doch schon mal das Radfahrer-absteigen-Schild auf.«

Maik, noch etwas unerfahren in Sachen Radwege-Baustellen-Mangement, fragt nach: »Warum denn ausgerechnet das Schild, Boss?«. Darauf der Chef mit erhobener Stimme: «Weil man mit diesem Schild nichts falsch macht, du Depp!« Und, drei Sekunden später, wieder in normaler Lautstärke. »Außerdem kann es nicht schaden, von vornherein klarzustellen, wer hier die Hosen anhat«.

Nun kann ein solches Schild ja durchaus nützlich sein. Wenn es z.B. verhindert, dass ein nagelneues Alu-Mountainbike mit einem ausgewachsenen Cat-Bagger crashgetestet wird. Wenn es dafür sorgt, dass man nicht auf dem steinigen Grund eines breitmauligen, zwei Meter tiefen Baulochs landet. Oder es verhindert, dass in einem plötzlichen auftauchenden Engpass dem Randsteinspezialisten mit dem Fahrradlenker-Ende die Bierflasche aus der Hand geschlagen wird – und die Rache der schaufeltragenden Kollegen bereits zehn Meter weiter wartet.

Doch das ist alles graue Theorie. Die Wirklichkeit sieht anders aus – und ist – auf der Psychoebene – einfach nur bitter. »Radfahrer absteigen«, da steckt keine höfliche Bitte drin, das hat nichts von »Sie würden uns die Arbeit enorm erleichtern, wenn Sie nicht im Schnellzugtempo Slalom durch eine unübersichtliche Ansammlung von hart arbeitenden Menschen und teuren Maschinen fahren würden.«
Die Formulierung auf dem Schild ist reiner Befehlston: »Wenn ich dir jetzt sage, Absteigen, dann hast du gefälligst die Bremshebel durchzuziehen und deinen Hintern vom Sattel zu schwingen. Augenblicklich!«

Und auf eine Art, vielleicht bin ich da ja etwas sensibel, sagt mir diese Aufforderung zum Absatteln: Du da, ja genau dich meine ich, du Radler mit der blauen Goretexjacke und dem schwarzen Stirnband, du darfst froh sein, dass Du noch keine Radwegegebühren bezahlen musst. Und überhaupt: In unserer Straßenverkehrsteilnehmer-Hitparade belegst du Radler immer den letzten Platz, noch weit hinter dem Geländewagen- und Mofafahrer – vom Fußgänger ganz zu schweigen.

So verstanden bleibt mir eigentlich nur eines zu tun, um mein Selbstwertgefühl nicht komplett (und kampflos) zu verlieren. Gleich morgen früh – wenn wieder so ein Schild auf meinem Arbeitsweg auftaucht, dessen Botschaft mir wohl vertraut ist – werde ich durchbrechen: ohne Rücksicht auf Verluste, koste es, was es wolle.


Disziplin im Absurdistan-Parcours



Wir sind ein ordentliches Volk. Ja waren es im Grunde schon immer. Auch wenn uns das Wasser bis zum Hals steht, verlieren wir nicht die Ordnung – höchstens ein wenig die Haltung. Die Geschichte liefert genügend Beispiele.

Da wundert es nicht, wenn wird diesen Ordnungssinn, diesen Hang, Regeln zu befolgen, auch dann bewahren, wenn wir etwa in der Service-Station, die früher einmal Postamt hieß, 200 Euro vom Postsparbuch abheben oder zwei 55-Cent-Briefmarken erwerben wollen, weil der Automat draußen streikt.

Gerade hier wird von uns allerhöchste Disziplin verlangt und ein tadelloses Benehmen erwartet. Hier und heute, an einem freien Samstag vormittag, an meinem Gaumen noch den letzten Geschmackshauch vom knusprigen Erdbeermarmelade-Frühstücksbrötchen. Doch das süße Aroma vom Wochenende soll sich schon bald verflüchtigen.

Denn in der Grauzone halbstaatlicher Dienstleistungen weht mittlerweile ein scharfer Wind. Und ich meine hier nicht nur die neuen PostPoint-Einrichtungen, abgespeckte Mini-Filiälchen, die die sich in einer winzigen Ecke im Tengelmann oder neben der Kasse von 
Elektro-Meier auf 2 mal 2 Metern eingenistet haben, und deren Profi-Mitarbeiter es schaffen, eine großformatige Briefsendung gönnerhaft so (sparsam) zu frankieren, dass sie bereits eine Woche später ankommt: beim staunenden Absender drei Straßen weiter.

Nein, auch die letzten Mohikaner aus der goldenen Ära eines Bundespostministers Bötsch oder Schwarz-Schilling beweisen Stil, Würde und Autorität, indem Sie ihren Kunden genau zeigen, wo es lang geht – in ihren heiligen Full-Service-Hallen: mittels Pfeil-Markierungen, Gittern, Kordeln, Stellwänden, Schildern und anderen signaltechnischen Wegweisern. So hält die Einbahnstraße endlich Einzug ins Postamt, und der Weg, der zum Schalter führt, wird zum Freizeit-Parcours.

Freizeit, weil das Aufgeben des Geburtstagspäckchen für Tante Hedwig schließlich eine Freitzeitbeschäftigung, eine Art Hobby ist. So gesehen sind wir endlich in der Spaßgesellschaft angelangt, die Guido Westerwelle, als er noch große Oppositionstöne spuckte, ja einmal locker in die politische Debatte geworfen hat. Der Spaß allerdings ist hier höchstens der, den man auf einem Verkehrsübungsplatz haben kann.

Es würde mich nicht wundern, wenn in den Post-Filialen demnächst kleine Ampeln den Publikumsverkehr regeln oder jeder Kunde einen Nummernzettel ziehen müssen, wie bei der KFZ-Zulassungsstelle: Nur noch 63 Kunden bis zur neuen Sondermarke für meine Schwiegermutter, hossa!

Aber eigentlich reicht es aus, uns Kunden, von den jetzt einige noch draußen im Regen stehen, ab der Eingangstür mit deutlichen Zeichen den Weg zu weisen: Erst links, an der Infowand vorbei, dann geradeaus zwischen den zwei Grünpflanzenkästen hindurch bis zur breiten, grellroten Stop-Linie auf den Steinfließen und dem Schild »Abstand wahren« – jetzt schon drei Meter vor dem Schalter 1, der bewirtschaftet ist.

Während des ganzen Parcourslaufes sind wir natürlich schön brav und geduldig, und alle paar Minuten geht‘s in der Schlange wieder einen Schritt nach vorn Richtung Endziel. Und jetzt, so nah am Schalter 1, nur noch warten, bis der zweite besetzte Schalter (Nr. 4), das ist der ganz rechts außen, frei wird. Dann möglichst schnell dorthin!

Falls aber die ältere Dame am Schalter 1, die bereits zehn Minuten lang detailreich über die Vorzüge des neuen Quartalssparen aufgeklärt wird, eher fertig sein sollte – dann natürlich sofort ran an diesen Schalter!

Nach dem Ewigkeits-Parcours, der lediglich stumpfe Gefolgschaft voraussetzt, wird jetzt also auf einmal Aufmerksamkeit und Eigeninitiative verlangt. Das sorgt für Abwechslung, herzlichen Dank. Wenn aber der unrasierte Schlaks an Schalter 4 zeitgleich abgefertigt ist, dann muss der Bauch die Entscheidung treffen.

Doch der Dicke mit Trachtenhut hinter mir nimmt mir die Entscheidung ab, verlässt erstaunlich flink seine Warteposition an der Demarkationslinie, zwängt sich an mir vorbei und trägt schon sein Anliegen dem Postler an Schalter 1 vor. Also schnell zu Schalter 4, (wir erinnern uns, 2 und 3 sind ja nicht besetzt), bevor irgendein Sponti etwas Unüberlegtes tut. Geschafft! Verschwitzt bitte ich um einen kleinen Teil meiner schlecht verzinsten Ersparnisse.

Während Liesel von der Post auf ihrer PC-Tastatur tippt und ich durchschnaufe, kommt mir ein Gedanke. Was wäre, wenn wir Kunden in Postämtern und Banken, Finanzämtern und Waschsalons, Supermärkten und Sonnenstudios die Regeln einfach ignorierten, die Ordnung links liegen ließen, das Sinnvolle als puren Unsinn abtäten, auf Pfeile pfiffen und Schilder nach Schilda schickten, dorthin, wo der Bürokratie-Pfeffer wächst? Ja was wäre denn dann eigentlich?

Ich sage es Ihnen. Wir würden uns nackt und verlassen vorkommen, mitten im totalen Chaos, uns sau-unwohl fühlen, ja richtig unglücklich sein. Und der süßliche Hauch von Freiheit und Selbstbestimmung wäre nichts gegen die schmerzliche Gewissheit, aus der Reihe zu tanzen, aus dem Rahmen zu fallen, es maßlos zu übertreiben, der Anarchie Vorschub zu leisten.

Wir würden denken, nein, wir sind halt keine Italiener, und wo kämen wir hin, wenn jeder machen würde, was er wollte. Lieber ab und zu mal in den Absurdistan-See tauchen, als im Chaos-Meer untergehen. Schließlich muss man ja nicht immer alles haargenau analysieren und hinterfragen. Und die Kunden-Einbahnstraßenregelung im Postamt wird schon für irgendetwas gut sein. Oder?


Einfach zu alt!



Es geschah am Stehtisch der kleinen Bäckerei schräg gegenüber dem Matratzen-Shop – an einem verregneten Samstagmittag vor drei Wochen, bei Cappuccino und klebrigen Amerikanern. Mein Freund Franz drängte mir ein Gespräch über die Vergreisung unserer Gesellschaft auf, obwohl ich eher Lust verspürte, mit ihm über meinen Lieblings-Gitarristen zu plaudern.Der hatte auf den Tag genau vor zehn Jahren an die Pforte des Rockhimmels geklopft – mit Erfolg.

»Diese Veralterung verläuft nicht mehr schleichend, sondern hat jetzt direkt schon sprunghaften Charakter«, dozierte Franz, während er vergeblich versuchte, mit der dünnen Papierserviette den Zuckerguss des Amerikaners von seinen Fingern zu rubbeln. »Schau dir doch nur die Bäckereifachverkäuferinnen an. Das waren vor kurzem alles noch junge, hübsche Dinger, für deren Lächeln ich liebend gern zehn Cent mehr für das Croissant gezahlt hätte. Aber jetzt sind sie anscheinend über nacht um dreißig Jahre gealtert – und schauen so griesgrämig drein, als müssten sie nach Feierabend noch einen Riesenberg Hemden bügeln. Da springt einen ja schon morgens beim Brötchenholen die nackte Vergreisung an.«

»Du übertreibst«, erwiderte ich, »das ist doch nur ein weitere Arie aus deiner Früher-war-alles-besser-Oper.« »Nein, nein«, protestierte Franz, »das ist doch ein völlig anderes Thema. Mach einfach mal die Augen auf, wenn du durch die Welt taumelst.«

Franz, und jetzt hatte er anscheinend seine chronische Mittags-Müdigkeit abgeschüttelt, steckte sich fahrig eine Zigarette zwischen die Lippen, ohne sie anzuzünden, und fuhr erregt fort. »Achte doch nur mal auf die Postboten, die ihren Job mit dem Fahrrad erledigen. Fällt dir da denn nichts auf?«

Ich überlegte kurz. »Na ja, vielleicht dass sie immer noch mit diesen seltsamen, völlig veralteten Bikes unterwegs sind, tonnenschweren Drahteseln die eigentlich schon längst ins Museum gehören«, antworte ich. »Ja ja, das auch«, meinte Franz, »aber das meine ich jetzt nicht. Ich meine die Briefträger selbst.«

Wieder dachte ich einen Moment nach. »Okay, mag sein, dass jetzt mehr Frauen als früher mit dem Postkörbchen am Lenker unterwegs sind.« »Ach, du hast wirklich Scheuklappen vor den Augen», schimpfte mein Freund. »Ich rede natürlich von ihrem Alter. Die heutigen Postboten, vor allem die auf Rädern, sind einfach viel älter als früher. Man könnte meinen, die Hälfte von ihnen ist kurz vor der Pensionsgrenze.«

Ungläubig schüttelte ich den Kopf und drehte am Zuckerstreuer herum. »Ist mir ehrlich gesagt bisher noch nicht aufgefallen. Und außerdem, Franz: Wir werden auch nicht jünger.«

Franz Miene signalisierte eine Mischung aus Traurigkeit und beleidigter Leberwurst. Vorsichtig löste er seine feucht gewordene Zigarette von der Unterlippe, holte tief Luft und sagte scharf: »Träum ruhig weiter, Kollege.« Und etwas moderater: »Auch wenn du es nicht wahrhaben willst. Für mich ist das alles völlig klar – ja geradezu 
überdeutlich. Als hätte man uns urplötzlich, zack-bumm, direkt auf einen Seniorenplaneten gebeamt, genau so kommt mir das vor. Ich glaub‘, ich muss da mal was in unserem Käseblatt drüber schreiben.«

Ich orderte noch einen Cappuccino bei der missmutig dreinschauenden rothaarigen Dame hinterm Backtresen, deren Alter ich auf Mitte 60 schätzte. Verzweifelt versuchte ich, das was mein Freund mir mitgeteilt hatte, ernst zu nehmen, und mühte mich ab, wenigstens ein einziges Beispiel aus meinem eigenen Erlebnisspeicher abzurufen, das seine These bestätigen würde. Doch mit fiel nur die Lady am Kiosk ein, die dort schon seit Ewigkeiten Zeitungen und Süßigkeiten verkaufte, und die von den Stammkunden »Tante Frieda« genannt wurde.

»Aber was ist mit Tante Frieda vom Kiosk«, meinte ein, »die sah doch schon vor Jahrzehnten so alt aus wie heute.« Franz schaute mich entgeistert an: »Tante Frieda zählt nicht. Die war immer schon die gute alte Tante Frieda.« Darauf fiel mir keine sinnvolle Erwiderung ein.

Franz begann wieder, über seinen Artikel zu reden – einen Text, den er in dem Revolverblättchen, für das er hin und wieder einen Lifestyle- oder Klatsch-Beitrag verfasste, veröffentlichen wollte.

»Das könnte was ganz Großes werden«, faselte er, während seine weit geöffneten Augen unnatürlich glänzten, »damit würde ich der ignoranten Öffentlichkeit den Schleier von den Augen reißen und endlich die ganze heuchlerische Alterungs-Debatte auf ein solides, reales Fundament stellen. Und dann wäre Schluss mit dem kollektiven Realitätsverlust.«

Ich konnte nicht glauben, was ich da hörte. Hatte der gute Franz so früh am Tag schon die falschen Drogen genommen? »Noch einen Kaffee, Franz?« versuchte ich ihn zu bremsen. Doch Franz hörte mich gar nicht und fabulierte unverdrossen weiter, jetzt schon richtig euphorisch: »Damit könnte ich ganz groß rauskommen, und das Schöne ist, ich habe die zentralen Bausteine des Artikels schon im Kopf, muss sie nur noch in die Tastatur hacken und ein bisschen Feinschliffarbeit machen. Mensch, das wird echt der Megahammer!«

Dann verfinsterte sich plötzlich sein Gesichtsausdruck, und er schaute mich ernst und erwartungsvoll an. »Aber du musst mir unbedingt einen Gefallen tun, Johnny.« Der Blick von Franz bekam etwas Zwingendes. »Du kennst ja meine alte Schwäche. Auch bei den ernsthaftesten Themen bricht bei mir immer wieder mal die Satire durch.« Ich nickte. »Deshalb musst du unbedingt meinen Artikel lesen, bevor ich ihn der Redaktion präsentiere.«

»Kein Problem, Franz», erwiderte ich in der Hoffnung, dass wir nun endlich das Thema wechseln könnten – um zum Beispiel über die neuesten Gerüchte zu reden, die sich um die geheime Brasilien-Reise des umtriebigen Bayern-Präsidenten rankten, der den Stiefvater des blutjungen neuen brasilianischen Wunderstürmers besucht haben soll.

Doch Franz schaute auf seine Armbanduhr, rief erschrocken »Mensch, ich muss ja noch Blumen für Susi kaufen«, bat mich hektisch für ihn mit zu zahlen, und rief, während er eiligen Schrittes die Bäckerei verließ: »Vielleicht bringe dir übermorgen schon den Text«. Dann war er im Wochenendregen verschwunden.

In der Tat steckte bereits zwei Tage später der Artikelentwurf in meinem Briefkasten. Gut, dass ich den Text als erster in die Finger bekam. In dieser Form hätte das Manuskript in der Redaktion meinem Freund nur Ärger eingehandelt. Warum? Diese Frage werden Sie selbst beantworten können, denn ich möchte Ihnen die so bemerkenswerten wie bedenklichen Zeilen vom guten Franz nicht vorenthalten.

Ob mein Freund wirklich so blind in die Satirefalle getappt ist – ob er einfach nur verwirrt oder bereits vollständig durchgedreht war, als er seinen Text schrieb – das können Sie gleich selbst beurteilen.

Planet Viagra


Die Invasion ist nicht mehr zu stoppen. Unsere Welt wird erobert von Greisen. Mit dem Schlachtruf »Wir sind jung« dringen sie in sämtliche Bereiche unserer Gesellschaft ein. Immer häufiger gelingt es ihnen sogar, die Jungen alt aussehen zu lassen.

Nimmermüde Veteranen, die noch Hitlers V2-Raketen am Himmel gesehen haben, tummeln sich munter in aktuellen Hitparaden. Geliftete Methusalems aus der Wirtschaftswunderzeit drängeln sich in TV-Shows. Totgeglaubte Autoren führen plötzlich wieder die Bestsellerlisten an. Und Staatschefs im Ruhestand regieren schon wieder, mit ‘nem schönen Gruß vom Murmeltier.

Wenn schon Mittvierziger glauben, höhere Mächte hätten sie über Nacht in ein vergreistes Paralleluniversum geschleudert, wie sollen sich da erst Twens oder Teenies fühlen? Wahrscheinlich wie ein sechsjähriger Bub, dem Papa zu erklären versucht, warum die Musik der Westcoast-Rocklegende Grateful Dead vor 40 Jahren so einzigartig war und es heute noch ist.

Überall stößt man auf sie: alte Menschen, die sich jung fühlen – oder vorgeben, sich jung zu fühlen. Vielleicht ja auch wirklich glauben, jung zu sein. Das sind dann die Allerschlimmsten! Die schrecken auch mit Ende 70 vor der Alpenüberquerung nicht zurück.

Mir tun da ja vor allem die Bergführer leid, die dafür sorgen müssen, eine gichtgeplagte Wandergesellen-Rentnergang sicher durch den Wildbachtobel und über den schmalen Berggrat zu lotsen.

Wenn man heutzutage nur kurz das sichere Terrain der eigenen vier Wände verlässt, um z. B. mit Waldi Gassi zu gehen oder den Lottoschein abzugeben, stößt man schon auf sie: Biker im Streetfighter-Dress, die sportlich vor der Eisdiele stoppen, steif von ihrer Ducati steigen und die schwere Maschine mühsam auf den Hauptständer wuchten. Cafe-Racer-Seniorpiloten, die ihren feuerroten Integralhelm abnehmen, das runzlige Gesicht den pretty girls in Shorts zuwenden und auf deren sonnenstudiogebräunte Beine starren. Natürlich schütteln die Eisschokolade schlürfenden Mädels den Kopf und wundern sich, dass Männer in diesem Alter noch Motorrad fahren dürfen.

Am Samstagnachmittag nerven dich verwitwete Nordern-Walking-Ladies in Pink, die – paarweise oder in ganzen Kolonnen – Feldwege blockieren, Mountainbiker zur Weißglut treiben und mit ihren gefährlich hin und her schwingenden, spitzen Stöcken harmlose Spaziergänger rigoros aus dem Weg bugsieren – oder ihnen zumindest zeigen, wer hier Vorfahrt hat.

Am Sonntag ärgerst du dich über zerknitterte, hohlwangige Bergwanderer mit Vogelgesicht, schlohweißen Haaren und Spinnenbeinen, die auf der Gipfeltour wie Roboter an dir vorbeimarschieren, obwohl sie wahrscheinlich mit Luis Trenker in eine Klasse gingen.

Später, wenn du dich endlich bis zur Jausenstation auf 1700 Meter hochgequält hast, begrüßen sie dich hämisch grinsend mit ihrem dritten Weißbier und raunen ihrem Kaiserschmarren-mampfenden Banknachbarn ins Hörgerät: »Schau sie dir an, die heutige Jugend: nichts als saftlose Memmen und bleichgesichtige Waschlappen.«

Überhaupt sonntags: Sobald sich die Sonne zeigt, beginnen sie auszuschwärmen: fettleibige, rotgesichtige Cabrio-Piloten mit weißen Baseballkappen, die, nachdem sie sich mit eingezogenem Bauch hinters Lederlenkrad gequetscht und die neueste Amigos-CD in den Bordplayer geschoben haben, raus auf die Landstraßen rollen – und Füchse, Hasen und Radfahrer in tödliche Gefahr bringen, weil sie jederzeit ein Infarkt ereilen kann.

Dieses gesundheitliche Risiko tragen insbesondere auch in die Jahre gekommene Rock- und Popstars. Neulich ging mir mein Freund Paul auf die Nerven, weil er nicht aufhören wollte, ein Chuck-Berry-Konzert, das er besucht hatte, über den grünen Klee zu loben. Wie kraftvoll und agil der Rock’n’Roll-Veteran auf der Bühne noch gewesen war, schwärmte Paul, und das mit über 80!

Ich erwiderte nur trocken, wie merkwürdig ich es fände, dass der Veranstalter keinen jüngeren Rockgitarristen aufgetrieben hätte. Und ob Paul, der von Beruf Rettungssanitäter ist, nicht Angst gehabt habe, dem rockenden Urgestein Erste Hilfe leisten zu müssen, wenn er nach den ersten Akkorden von »Sweet Little Sixteen« auf die Bühnenbretter sinkt und schon Elvis winken sieht.

Wenn das so weiter geht, wandere ich aus. In ein Land, wo es mehr Kinder gibt als Greise. Wo man sich alt fühlt, wenn man es ist. Wo nicht ständig Oldie-Shows im Fernsehen und Radio laufen. Wo einen nicht das faltige Gesicht von Mick Jagger anglotzt, wenn man ein Musik-Magazin kauft. Wo im Jeans-Laden nicht Bob Dylans »Forever Young« aus den Deckenlautsprechern knarzt. Wo man nicht im Fitness-Studio am Rudergerät schuftet und denkt, man sei aus Versehen in das Klassentreffen der 1951er Abiturienten vom Klein Kleckersdorfer Gummigymnasium hineingeraten.

Noch weiß ich nicht, wo ich dieses Land finde. Doch eines weiß ich mit Sicherheit: Am Schlagbaum werden die Grenzbeamten dieses Landes jedem Greis konsequent die Einreise verweigern.



Soweit der Artikelentwurf meines Freundes Franz, ein Text, der mich, wie Sie sicherlich nachvollziehen können, während der Lektüre mehr und mehr aus der Fassung gebracht hat.

Ich rief gleich bei Franz an und fragte ihn, ob er kürzlich von Außerirdischen in deren Raumschiff entführt und dort irgendwelchen Experimenten ausgesetzt gewesen wäre. Franz verstand nicht. »Franz, dein Artikel«, wurde ich konkreter, »diesen Text darfst du keinesfalls der Redaktion geben, unter gar keinen Umständen.«

»Wieso?« fragte Franz erstaunt. »Weil dein zuständiger Redakteur mit Sicherheit über 60 ist und dich mit Sicherheit für derartig boshafte Zeilen büßen lassen wird«, antwortete ich erregt.

»Ach so«, erwiderte Franz und lachte, »jetzt versteh’ ich. Du nimmst das alles tatsächlich bierernst! Kaum zu glauben«. Und er lachte sich halb schlapp am Telefon.

Ich verstand jetzt überhaupt nichts mehr. Doch Franz hatte seinen Lachanfall überwunden und sagte jetzt in tröstlichem, auch ein wenig schuldbewusstem Ton: »Mensch, tut mir wirklich leid. Aber ich hab ja nicht ahnen können, neulich, bei dem Kaffeeplausch in Ellis Backstube, dass du mein Gequatsche wirklich für bare Münze genommen hast.«

Ich schluckte, und in meinem Magen begann sich Ärger zusammenzubrauen. »Das war doch nur«, fuhr Franz fort, »um mich in Schwung zu bringen für die Glosse, die ich schreiben sollte. Hab mich nur etwas warm gemacht, kleines Brainstorming mit Sparringspartner. Sorry, Alter.«

Ich redete eine Woche lang kein Wort mit Franz, bis er dann plötzlich abends mit zwei Flaschen Bordeaux, einem Baguette und edlem Käse vor meiner Haustür stand und mir mitteilte, sein Zeitschriften-Redakteur habe die Veröffentlichung der Glosse mit der Bemerkung abgelehnt, ältere Menschen seien heutzutage clever genug, um zu merken, ob ein Text in seiner Grundausrichtung ironisch gemeint sei – oder nicht.

Zehn Minuten später hatten wir das Thema abgehakt, entkorkten gut gelaunt die zweite Rotwein-Flasche und amüsierten uns königlich über den empörten Kommentar eines Illustrierten-Schreiberlings, der einem in die Jahre gekommenen Rockgitarristen die 17-jährige Freundin nicht gönnte.


Die Bärendienstleistungsgesellschaft oder:
Wir dienen uns jetzt selbst



Ach wie mir das noch in den Ohren klingt, was vor Jahren Soziologen, Wirtschaftsexperten, Journalisten und Politiker laut heraus posaunt haben – in allen Medien und an jedem Biertisch: »Wir leben bald in einer Dienstleistungsgesellschaft. Und wir sind schon ganz nah dran – am Dienstleistungsparadies.«

Die so laut besungene, von so viel naivem Optimismus begleitete 
Vision ist längst Wirklichkeit geworden – doch ganz anders, als gedacht.

Im Alltag und in unserer Freizeit werden wir keineswegs verwöhnt von einem Heer professioneller Dienstleister:von freundlichen, fleißigen Experten,die uns –zu fairen Preisen – die ein oder andere Last, die das moderne Leben so mit sich bringt, von den Schultern nehmen. Nein, wir müssen jetzt selbst das leisten, was eigentlich andere für uns tun sollen, bzw. bislang für uns getan haben. Wir dienen uns jetzt quasi selbst!

Oder verbringen Sie etwa gern den halben Samstagvormittag in der Schlange vor dem Pfandflaschen-Rücknahme-Automaten des Getränkemarktes? Irgendwann sind sie dann ja am Ziel, legen brav ihre Limo-, Bier- und Wasserflaschen aufs Transportband des emsig summenden Einzugsschachtes und nehmen murrend circa jede dritte Flasche zurück, weil das Gerät sie als nicht kompatibel erkennt und ihr die Legitimation verweigert.

Sie seufzen vor Erleichterung, denn der sensible Automat hat den Bierkasten im unteren großen Schacht problemlos geschluckt und nicht wieder ausgespuckt – fluchen allerdings gleich darauf laut und unchristlich, weil just in diesem Moment die Elektronik versagt und der Apparat sich nicht in der Lage sieht, den Bon mit Ihrem Pfandguthaben herauszugeben. Leider sind die beiden Getränkemarkt-Fachkräfte, die vielleicht in der Lage wären, das technische Problem zu lösen, gerade nirgends zu sehen.

Während Ihr Adrenalinpegel steigt, macht sich in der Warteschlange der umweltbewussten Pfandleergut-Zurückbringer Unruhe breit. Erste Unmutsäußerungen sind zu hören. »Muss man alles selber machen?« ruft eine füllige Dame im engen Kostümkleid mit hochrotem Gesicht. Ich sage da klar und deutlich: Ja! Heutzutage müssen wir alles selbst machen – auf jeden Fall das Allermeiste.

Wir drucken unsere Kontoauszüge und Überweisungsformulare in der Bank selbst aus und ziehen Briefmarken aus dem Automaten neben der verwaisten Postfiliale, wenn wir das passende Kleingeld haben. Im Biergarten schleppen wir Bierkrüge und Wurstsalat-Teller selbst an den Tisch und bringen das Geschirr nach Verzehr brav wieder zurück.

Im Supermarkt wiegen wir höchstpersönlich die chilenischen Birnen und spanischen Tomaten ab, tüten alles in widerspenstig zusammenklebende Plastikbeutel ein und pappen gewissenhaft die entsprechenden Etiketten drauf. Manchmal auch die falschen, was später einen bösen Blick der Niedriglohnempfängerin an der Kasse zur Folge haben wird .

Ach herrje, wir sind ja so selbstständig! Auf dem Feld neben der Umgehungsstraße schneiden wird die Gladiolen für Tante Hedwigs Geburtstagsstrauß selbst, was mit dem stumpfen, alten Taschenmesser alles andere als leicht ist. Leider suchen wir Einwickelpapier für die Blumen vergebens und lassen unseren Frust aus, indem wir der Überwachungskamera über der Geldbox die Zunge zeigen.

Im Herbst liegen immerhin die Kürbisse schon griffbereit am Straßenrand: große Exemplare für den Halloween-Grusel, kleine für die traditionelle, immer gleich-gruselig schmeckende Suppe. Allerdings kostet die Auswahl aus dem Berg von zehntausenden Trend-Gemüse-Trumms wertvolle Freizeit. Je mehr man da wühlt, umso unsicherer wird man, welcher Kürbis wirklich der schönste ist. »Du Klaus, ich weiß nicht so recht. Lass uns doch einfach morgen noch mal herkommen. Vielleicht gibt’s ja dann diese grünen, mittelgroßen … Die harmonieren im Gratin einfach besser mit den Biokartoffeln.«

In unser Freizeit sind wir eigentlich immer im Dienst. Wir helfen sogar der Arzthelferin, bei der Elektrotherapie für den schmerzenden Tennisarm die richtige Stromstärke am High-Tech-Gerät einzustellen. Nach Ablauf der Behandlungszeit befreien wir uns selbst von der Manschette und dem Kabelsalat, weil die Expertin weder den durchdringenden Summton hört noch auf unser lautes Rufen reagiert. Schließlich wollen wir nicht die Nacht in der stickigen, völlig überheizten Allgemeinmedizinpraxis verbringen.

Es wird noch soweit kommen, dass wir im Therapiezentrum den Fangobrei selbst anrühren, wenn die Rückenmuskulatur nach Überstunden am Büro-PC mal wieder hart wie Kruppstahl sein sollte. Und zu Hause lassen wir uns kostengünstig von Schwiegermutters rumänischer Putzfrau massieren – auch auf das Risiko hin, dass sie uns mit ihren beherzten Knetgriffen einen Bärendienst leistet – und unser geplagter Rücken hinterher noch mehr schmerzt als zuvor.

Apropos Bärendienst: Die viel beschworene Dienstleistungsgesellschaft ist nur eine Fata Morgana, eine Seifenblase. Piekt man sie an, um zu sehen, was in ihr steckt, platzt sie und hinterlässt nur laue Luft. Versucht man sie zu greifen, tappt man ins Leere.

Aber dafür haben wir ja jetzt die Bärendienstleistungsgesellschaft. Indem wir das tun, was eigentlich andere für uns tun sollten oder könnten, erweisen wir uns selbst einen Bärendienst. Leider haben wir uns schon zu sehr an vieles gewöhnt!

Zum Beispiel daran, dass der Tankwart gar nicht mehr tankt! Den Ölstand überprüft er auch nicht, vom Ölwechsel ganz zu schweigen, ja eigentlich ist der Tankwart überhaupt nicht mehr existent. Als eine Art Geist vergangener Tage schwebt er in seinem ölverschmierten, blauen Overall über der Tankstelle, die heute eigentlich eher ein Mini-Supermarkt ist, der nebenbei auch noch Benzin verkauft. Nur in irrealen Werbespots taucht der freundlich grinsende Tankwart hin und wieder in einer nostalgischen Rolle auf.

Ihn ersetzen jetzt blutjunge Damen hinter der Tankstellenkasse, die dir mit einem strahlenden Lächeln die falsche Scheinwerferbirne verkaufen und von destilliertem Wasser noch nie etwas gehört haben. Dafür wissen sie genau, wie herum man die EC-Karte in den Schlitz des Lesegerätes stecken muss und wie viele Kreuzchen man auf dem Lottoschein machen darf.

Wer einen Baumarkt aufsucht, bekommt vielleicht am deutlichsten zu spüren, was Dienstleistung heutzutage bedeutet. Der Wunsch nach einer fachlichen Beratung mag vielleicht unmodern anmuten, doch einmal geäußert, zeigt er, wie freundlich und zuvorkommend Service heute sein kann. »Da ist der Kollege zuständig«, flötet der angesprochene Baumarkt-Mitarbeiter zuckersüß, »ich bin aus einer anderen Abteilung«.

Aber es ist ja erst früher Samstagnachmittag, und es bleibt noch genügen Zeit bis zur Sportschau, die großen Regale mit den Millionen verschiedener Schraubenarten so lange durchzuforsten, bis man meint, eventuell die passenden Schrauben für die Fassung von der Flurdeckenlampe gefunden zu haben: zwei kleine Schräubchen, welche die beim Umzug verloren gegangenen Originalschrauben ersetzen sollen.

Alternativ kann man natürlich versuchen, den »zuständigen« Experten im Baumarkt-Labyrinth ausfindig zu machen: Das kann allerdings noch bis zur Tagesschau dauern. Hätte man den Profi dann 
aber tatsächlich geschnappt, würde er wahrscheinlich dazu raten, gleich eine neue Deckenlampe zu kaufen. »Da sind dann die passenden Schrauben schon mit dabei.«

Wo soll das alles eigentlich noch enden? Ich hab’ da so eine Zukunftsvision: Der Schornsteinfeger trägt künftig einen weißen Arztkittel und misst nur noch irgendwelche wichtigen Werte im Heizungskeller, Daten, die er in sein Laptop tippt. Den Kamin soll man gefälligst selbst reinigen. Verunglückt man dabei, weigert sich natürlich die private Unfallversicherung, für Folgeschäden aufzukommen.

Beim TÜV darf man in Zukunft sein Auto selbst auf eventuelle Mängel hin überprüfen und sogar die Plakette aufkleben: Natürlich sind die Prüfgebühren dann dreimal so hoch wie früher, und jede Fahrt nach einer solchen Hauptuntersuchung wird zur nervenaufreibenden Abenteuersause: Waren die Bremsen wirklich noch in Ordnung? Können die Löcher im Bodenblech gefährlich werden? Könnte das komische, metallische Geräusch von hinten links sich unter Umständen in irgendeiner Weise negativ auf unseren Italienurlaub auswirken?

Auch am Arbeitsplatz könnte man selbst die ein oder andere »Dienstleistung« übernehmen. So ließe sich in der Firma während der Mittagspause prima eine Art Mitarbeiter-Suppenküche einrichten, nach dem Rotationsprinzip natürlich. Heute kochen die zwei Azubis aus der Buchhaltung Erbsensuppe mit Speck, und morgen brutzeln Kollege Meuser und Kollegin Kaiser-Beierle aus der EDV Vegetarisches im Wok.

Die Einsparungen, die mit einem solchen freiwilligen »Arbeitsdienst« für die Firma verbunden wären, könnten helfen, unsere Arbeitsplätze zu sichern. Könnten, unter Umständen …

Denkbar wären auch Freiwilligen-Putzkolonnen, die Vorteile liegen da auf der Hand: Endlich werden Tastaturen einmal gründlich von klebrigen Schokocroissant-Krümeln und eingetrockneten Milch-
kaffeeresten befreit. Es wird auch mal unter dem Schreibtisch gesaugt und auf oben den Bücherregalen gewischt.

Nach dem Ausstempeln um 17 Uhr könnten die Firmen-Putzteufel loslegen: Eine wohltuende Abwechslung vom ungesunden Hocken am Schreibtisch.

Den Wach- und Schließdienst könnten die Mitarbeiter auch gleich mit übernehmen. Die erforderliche Ausrüstung, Waffe, Uniform etc., müsste allerdings der Betrieb stellen – ebenso sollte die Firma die entsprechende Ausbildung finanzieren: Schießtraining mit dem G 36, asiatische Kampfsport-Techniken, psychologische Erstbetreuung von Opfern terroristischer Anschläge …

Bei der Übernahme derartiger Dienstleistungen verwischen die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit in unserer Gesellschaft: Dienstleistung wird zur allumfassenden, modernen Klammer unseres Alltagslebens. So gesehen ist dann die Frage, ob wir uns mit dem ein oder anderen persönlichen Engagement einen Bärendienst erweisen, überflüssig.

Wir sollten uns endlich den Realitäten stellen – um für die Zukunft gerüstet zu sein. Und wir sollten keine Angst haben. Denn was ist schließlich so schlimm daran, sich selbst zu dienen!

Also – packen wir’s an! Am besten beginnen wir mit dem Rinnstein vor unserem Haus, den die Straßenreinigungsmaschine der Stadtwerke mal wieder mehr als schlampig von den Nadeln der nachbarlichen Kiefer befreit hat.

Und gleich im Anschluss knöpfen wir uns das Wartehäuschen der Städtischen Buslinie 47 vor, dessen trüb-schmierige Glaswände dringend mal wieder von Feinstaub, Spinnweben und rechtsradikalen Schmierereien befreit werden müssen.


Feuchtigkeitscreme für die Hufe


Kennen Sie das auch, wenn sich auf Gartenpartys diese Grüppchen bilden? Da ist zum Beispiel die Bande der klatschsüchtigen Arbeitskollegen, die sich natürlich schön eng um den qualmenden Holzkohlengrill geschart hat, um die brandheißen Infos über die Affäre des Abteilungsleiters mit der neuen Praktikantin hämisch kommentieren zu können.

Ein wenig abseits findet man die Gruppe der Bierflaschen haltenden Fußballbegeisterten. Bratwurstgestärkt wird dort hochemotional darüber gestritten, welcher Club jetzt schon so gut wie abgestiegen ist und wie lange sich der Trainer vom Rekordaufsteiger noch halten kann. Wird der Sportdirektor vielleicht auch gleich mit in die Wüste geschickt?

Die Mitglieder der Toscanafraktion hocken natürlich in bequemen Korbsesseln am runden Gartentisch. Zwischen einem Schluck lauwarmen Chianti und einem Biss vom Tomaten-Mozzarella-Häppchen werfen sie hin und wieder einen klugen Satz ein – etwa über die Energiepolitik der Bundesregierung, die Verantwortung von hoch bezahlten Konzernmanagern für Staat und Gesellschaft oder das soziale Engagement von George Clooney.

Vielleicht auch über die beste Methode, einen triebigen Marder vom Knabbern an der Autoelektrik abzuhalten.

Und dann ist da noch eine vierte Gruppe, in der am lautesten gekichert und gelacht, am leidenschaftlichsten erzählt – und gern auch mal – proseccobefeuert – schrill gekreischt und durchdringend gewiehert wird. Ich spreche von den Damen, die in der Regel ihr Pferd mehr lieben als ihren menschlichen Lebensabschnittsgefährten. Frauen, die Lebensglück und -erfüllung mit dem Fünf-Tages-Wanderritt durchs verregnete Allgäu oder dem Auskratzen der Hufe ihres ach so treuen Wallachs definieren.

Recht lustig geht’s da zu, wenn die sympathisch-dynamischen Reitersfrauen sich die Marotten und Wehwechen, Launen und Lieblingsleckerli ihrer Vierbeiner zuwerfen wie Jongleure die Kegel. Da werden Durchgeh-Abenteuer und Kolik-Katastrophen geschildert, da wird über Ziegenhaar-Kardätschen und Longierbrillen gefachsimpelt.

Eine simple Fliegenhaube mit Fressbremse kann da schon mal Gegenstand einer längeren, hochgeistigen Debatte sein. Und für die gründliche Erörterung der Frage, ob Nylon wirklich ein geeignetes Material für eine Nierendecke sei, ist das Öffnen einer weiteren Prosecco-Flasche unbedingt erforderlich.

Wenn der Schaumwein dann irgendwann müde macht und in die Reiterbeine geht – Reiterinnen können in geselliger Runde eine erstaunliche Kondition an den Tag bzw. die Nacht legen – dann verabreden die Pferdefreundinnen sich schnell noch für die nächste Geburtstagsparty: Lola, Petras Fuchsstute, wird in 14 Tagen acht Jahre alt. Und an ihrem Festtag soll sie ordentlich verwöhnt werden, mit erlesenen Delikatessen und schönen Präsenten. Vielleicht bekommt sie einen neuen Soft-Führstrick geschenkt oder eine Vorratspackung Struktur-Energeticum in Müsliform.

Überhaupt ist der Bereich Pferdeernährung und -pflege ein weites Feld – und das Angebot für den Laien so unüberschaubar und rätselhaft wie amüsant. Da gibt’s ReVital Cubes und granulierten Leinkuchen, Horse Refreshment Muskelfluid und Fellglanzspray, Power Striegel-Spray (mit Kamille für helle Pferde) und »Intensive Hoof Moisturiser«, eine spezielle Huf Feuchtigkeitscreme.

Wussten Sie eigentlich, dass sich die Pferdepopulation in Deutschland in den vergangenen 40 Jahren vervierfacht hat? Mittlerweile reiten rund elf Millionen Deutsche oder interessieren sich zumindest für Reitsport. Kein Zweifel, wir sind auf das Pferd gekommen!

Bei der geballten Zuwendung, Pflege und Liebe, wie sie ein Pferd heutzutage erfährt, können Kinder und Senioren nur neidisch werden. Sogar der heimische Stubentiger wird nicht so stark verwöhnt wie der eigensinnige Haflinger im Mietstall beim Bauern draußen auf dem Land.

Die Liebe zum Pferd hat Folgen: Der Familienkombi wird umfunktioniert zum Pferdezubehör-Dauertransporter – inklusive Reiterhof-Lehm- und Dreckbatzen auf Bodenmatten und an Fußpedalen, widerborstigen Pferdehaaren auf den Sitzbezügen und überall herumvagabundierenden Pferdeleckerlis, allgemein auch als »Hohos« bekannt. Tritt man auf die zylindrisch gepressten Belohnungs-»Bonbons« drauf, hat man wunderschönes, feinstrukturiertes Hoho-Granulat, das selbst wattstarken Staubsaugern alles abverlangt.

Im Kofferraum ist für den Bierkasten kein Platz mehr, weil sich dort ein ausgewachsener Westernsattel eingenistet hat, umzingelt von Klappkisten mit verdreckten Hufschuhen und staubigen Säcken voller Futtermöhren.

Der Briefkasten ist verstopft von Reitzubehör-Katalogen, so dass sich die dicken Quelle- und Otto-Wälzer auf der Fußmatte vor der Haustür stapeln.

Spontanes Fotografieren mit der Familienkamera ist nicht mehr möglich, weil die Speicherkarte ständig voll ist: prall gefüllt mit Pferdefotos und Bildern vom letzten Ausritt mit Gaby und Sabine. Und weil man ja schließlich keine ernste Beziehungskrise heraufbeschwören möchte, lässt man schön brav die Finger von den wertvollen Fotodaten.

Statt des gewohnten Apotheken-Monatskalenders, dessen biedere Natur-Fotos eigentlich nie gestört haben und sogar eine gewisse Abwechslung boten, hängt jetzt ein Reiterkalender an der Küchenwand. Jeden Monat ein Pferdefoto im Megaformat, von Januar bis Dezember. Und heute ist erst der 4. Februar!

Vorzeitig Feierabend machen zu können, ist auch nicht mehr so schön wie es früher war. An der heimischen Haustür ein Paket in Empfang nehmen zu dürfen, zählte bislang zu den Freuden eines kurzen Bürotages. Doch wenn einem heute der USP-Mann grinsend ein Paket in die Hände drückt, weiß man schon, was es enthält, bevor man die Absenderschrift gelesen hat: irgendetwas fürs Pferd oder für die Reiterei. Fesselkopfgamaschen oder eine feine Ziegenhaar-Kardätsche zum Beispiel.

Vielleicht auch ein Paar dick gefütterte Paddockboots für die ungemütlichen Wintertage auf der windigen Koppe. In einem kleineren Päckchen könnte auch eine coole Longierbrille stecken – oder ein schicker Soft-Führstrick.

Es würde mich übrigens auch nicht wundern, wenn der Paket-Mann eines schönen Tages, während ich zufällig gerade aus dem Küchenfenster auf die Straße schaue, mit seinem schokoladenbraunen Transporter vor unserem Haus hält, aussteigt, die Schiebetür öffnet, in den Wagen klettert – und einen stattlichen Kaltblüter am Führstrick herauszieht. So ein in die Jahre gekommenes Pferd, das stumpfe Zähne hat und nicht mehr gut sieht – und unbedingt gerettet werden muss, bevor es der herzlose Besitzer an den Schachthof verhökert. Aber wir haben ja noch Platz im Geräteschuppen!

Dass ein Pferd das mit Abstand wichtigste Mitglied einer Familie ist, zeigt sich immer dann, wenn es sich verletzt hat oder krank wird. Für die Dame des Hauses ist dies viel schlimmer, als lägen die Kids samt Papa gleichzeitig mit der spanischen Vogelgrippe im Bett. Frauchen ist dann dauergereizt und mit den Nerven völlig am Ende. Und das sensible Familienklima schlingert ganz eng am Abgrund entlang.

Da hilft nur: Mitgefühl zeigen (notfalls auch heucheln), sich regelmäßig nach dem Gesundheitszustand des Vierbeiners bzw. den Fortschritten des Heilungsprozesses erkundigen – und ansonsten: Bier trinken und abwarten, bis die Globoli Wirkung zeigen, das Tierchen wieder fit und munter ist und seine Menschenmama ihr inneres Gleichgewicht wieder gefunden hat. Dann darf man sich wieder 
über den Normalzustand freuen.

Normalzustand wäre dann z.B., wenn ich trotz Pferd in der Familie immer noch Sportschau gucken, einen Krimi lesen oder die Chromteile meines Motorrads polieren darf, während meine Anvertraute auf ihrem Wallach durch den öden Fichten-Nutzwald trabt, dem widerspenstigen Gaul das verhasste Wurmkur-Gel ins Maul spritzt oder schwitzend den Stall ausmistet.

In solchen Momenten erscheint mir die Welt halbwegs in Ordnung zu sein. Bis ich auf dem Gartenweg über den Eimer stolpere, in dem lehmverkrustete Hufschuhe darauf warten, aus der Seifenlauge befreit zu werden.


Wettersüchtig



Mein Freund Gerd ist Wetter-Junkie. Ohne sich nicht permanent über den aktuellen und zukünftigen Stand des Wetters zu erkundigen, übersteht er keinen Tag. Ich glaube sogar, wenn er sich nicht mit dem Wetter beschäftigen könnte, erschiene ihm das Leben als völlig leer und sinnlos.

Würde der technische Fortschritt es ermöglichen, ein konstantes Wetter für immer vorzuprogrammieren, sagen wir mal 25 Grad, leicht bewölkt, mäßiger Wind aus Südwestest, geringe Luftfeuchtigkeit – und vielleicht für die Landwirte und Hobbygärtner einmal im Monat zwölf Stunden lang kräftige Niederschläge, bei gleicher Temperatur natürlich – ich bin sicher, Gerd würde sich das Leben nehmen. Tag für Tag das gleiche Wetter, das könnte er nicht aushalten, da würde er schwerste Depressionen bekommen.

Wenn Gerd Radionachrichten hört, ist der Wetterbericht für ihn immer das absolut Wichtigste. Rundfunksender, die jede halbe Stunde Wetter-News verkünden, bevorzugt er. Mit seinem MP3-Player-Radio hält er sich meteorologisch stets auf dem Laufenden.

Schaut Gerd abends die Tagesschau im Fernsehen, macht es ihm nichts aus, die ersten Hauptmeldungen verpasst zu haben. Mega-Ereignisse wie die Pleite der Bahn AG, der Atomraketenangriff auf Tel Aviv oder die Entführung von Dieter Bohlen interessieren ihn kaum. Wichtig ist es für ihn, um 20.14 Uhr vollkonzentriert vor der Flimmerkiste zu sitzen..

Dass er sich nicht allein auf die Prognosen der ARD verlässt, ist klar. Nicht selten seien die Voraussagen der ZDF-Wetterexperten genauer, behauptet jedenfalls Gerd – und erklärt auch nicht ohne Stolz, er könne das sogar nachweisen, denn er habe mal ein halbes Jahr lang die Prognosen verglichen, Daten ausgewertet und Statistiken erstellt.

Alle Ereignisse habe er fein säuberlich in seinen Computer getippt sowie auf Festplatte und CD-ROM gespeichert. Den Ordner mit den Ausdrucken sämtlicher Daten und Resultate könne ich mir gern einmal ausleihen, hat er mir angeboten. Ich habe dankend abgelehnt.

Auf seinem Internet-Browser hat Gerd rund zwei Dutzend Homepages von deutschen und ausländische Wetterdiensten als Favoriten gespeichert. So kann er sich am PC jederzeit schnell und gründlich ein aktuelles und recht genaues Bild über flinke Tiefausläufer und hartnäckige Hochdruckgebiete machen, sich frühzeitig über zu erwartende Unwetter mit hoher Hagelschauer-Wahrscheinlichkeit und erhöhte Windgeschwindigkeiten informieren.

Wenn man Gerd nicht stoppt, doziert er stundenlang über die Unterschiede zwischen donnerwetter.de und wetter.com, die Vor- und Nachteile von wetteronline. de und wetter.net – solange, bis man nur noch ein dumpfes, nebliges Gefühl im Kopf hat.

Gerds besonderes Interesse gilt allerdings den so genannten gefühlten Temperaturen. Die zählt er zu den »einzig wahren« Werten. Alle anderen Angaben seien doch recht theoretisch und lebensfremd, behauptet Gerd – und außerdem nicht besonders praktisch.

Leider hätten nicht alle Wetterdienste gefühlsechte Temperaturen im Angebot. Gerade der wichtige Faktor Wind würde oft leichtsinnig unter den Tisch gekehrt, meint Gerd. Dabei sei es doch ein riesiger Gefühlsunterschied, ob man sich bei 23 Grad nackt auf einer romantischen Uferwiese am Rhein aale und es windstill sei, oder ob – bei gleicher Temperatur – ein Sturm mit Windstärke 10 brause und das Badehandtuch von Köln nach Leverkusen wehe.

Mit persönlich leuchtet das ein. »Gefühlsecht« sei immer besser, war glaube ich mein Kommentar.

Wenn Gerd frühmorgens bei Marmeladentoast und Milchkaffee die Tageszeitung aufschlägt, tut er diese zielgenau auf der Seite mit den Wetterprognosen. Statt über Börsenkurs-Kapriolen und weltpolitische Eruptionen, Verbrechen aus Leidenschaft und Amokläufer in Schulklassen, statt über Klatschgeschichten und den Stand der Ermittlungen im Serienroman-Mord informiert er sich über zu erwartende Höchsttemperaturen in Bozen und Palma, über prognostizierte Windrichtungen im unteren Allgäu, die Gewitterwahrscheinlichkeit in der norddeutschen Tiefebene und die Nebelgefahr an der mittleren Donau.

Er braucht das alles, wie der Trinker den Frühstücks-Doppelwacholder, er saugt das alles auf, wie eine Zecke, die ein Jahr lang auf dem Trockenen saß, das Blut der Haselmaus, auf die sie sich im Unterholz hungrig gestürzt hat.

Auf der Arbeit, in seiner Abteilung ist Gerd der Wettergott, und es vergeht kein Tag, an dem so gut wie jeder Kollege, der ihm über den Weg läuft, nach dem Wetter fragt: »Was meinst du, Gerd, bleibt es trocken, kann ich heute abend noch Rasen mähen?« »Gut dass ich dich treffe, Gerd, hält sich der Föhn bis zum Wochenende? Wir würden gern in die Berge fahren.« »Ach Gerd, was meinst du, reichen Badesachen, Shorts und T-Shirt nächste Woche für Sri Lanka, oder muss ich doch Pullover einpacken?«

Gerd hat immer eine Antwort parat. Und noch nie ist eine Beschwerde laut geworden, es wäre ja ganz anders gekommen, als Gerd prophezeit habe.

Gerds Bürojob, er macht irgendetwas in der Buchhaltung, erlaubt es ihm auch, diverse Medien für seine Recherchen zu nutzen. Und sein Chef drückt sowie ein Auge zu, wenn Gerd öfter mal bei wetter.com reinschaut oder sich regelmäßig die MP3-Player-Ohrhörer in die Lauscher drückt, um die Bayern-3-Wetter-News zu erfahren: Schließlich ist der Boss als passionierter Wochenendsegler auf Gerds zuverlässige Dienste angewiesen.

Nur in der Mittagspause, wenn sich alle in der Kantine mit Cordon Bleu, Lasagne oder Szegediner Gulasch stärken, sitzt der gute Gerd immer allein am Tisch, wie er mir einmal nach nach ein paar Gläsern Rotwein traurig gestanden hat. Ich kann mir schon denken, warum.

Dabei kann man sich mit Gerd wunderbar über ganz andere Themen als das Wetter unterhalten. Über gute und schlechte Regenkleidung zum Beispiel. Über die nicht zu unterschätzende Bedeutung von Windrädern bei den erneuerbaren Energiequellen. Oder auch über die Gefahren von billigen Sonnenschutzcremes aus der Kettendrogerie. Aber das wissen die Arbeitskollegen von Gerd vielleicht einfach nicht!

Gerd behauptet immer, schlechtes Wetter gäbe es nicht, es sei denn, die Metereologen würden mit ihren Prognosen einmal komplett daneben liegen. Wenn etwa für den Nachmittag Regen angekündigt worden sei, dann aber den ganzen Tag die Sonne vom Himmel herab gestrahlt hätte, sei dies für ihn ein Schlechtwettertag gewesen.

Umgekehrt empfinde er ein korrekt vorhergesagtes Gewitter mit Sturm, Hagel, Blitz und Donner als allerbestes Wetter. Schließlich habe man sich ja mental und technisch darauf einstellen können, so Gerd.

Ich kann dieser Theorie, ehrlich gesagt, wenig abgewinnen. Eigentlich will ich es am frühen Morgen gar nicht wissen, was Petrus sich so für den Tag ausgedacht hat. Ich gehe immer davon aus, soviel anders als gestern wird das Wetter heut‘ schon nicht werden. Und mir kommt es so vor, als treffe dies auch meistens zu.

Am vergangenen Sonntag bin ich auf meinem Nachmittagsspaziergang ohne Schirm und Regenjacke in einen plötzlichen, sintflutartigen Regenschauer geraten. Im Nu war ich völlig durchnässt. Pech gehab, hab‘ich gedacht – und mich auf einen heißen Tee mit Rum und Schoko-Muffins gefreut

Für meinen Kumpel Gerd war es bestimmt ein Traumwetter gewesen. Mit Sicherheit hat der alte Wetterfuchs vorher genau gewusst, dass sich pünktlich um 15.36 Uhr mitteleuropäischer Zeit über dem kleinen Erlenbruchwäldchen nahe der alten Wassermühlenruine in Heimatshausen, Ortsteil Schnuckenweiler, die Himmelsschleusen öffnen werden.

Ich kann mir gut vorstellen, wie Gerd fröhlich pfeifend in seine Gummistiefel geschlüpft ist und sich sein altes, zeltartiges Regencape übergeworfen hat. Und wie er dann draußen, im strömenden Regen, Petrus grinsend den Stinkefinger gezeigt hat.


Konservative Kaffeemaschinen



Pappsatt und glücklich führte ich die letzte Gabel Tagliatelle mit Lachs-Sahnesauce zum Mund. Mein Freund fummelte mit fettigen Fingern auf seinem wagenradgroßen Teller herum und versuchte, die länglichen Randstücke der Monsterpizza der Länge nach zu sortieren. Dann plötzlich, ganz aus heiterem Himmel, diese Frage: »Sag mal, Alter, was ist für dich heutzutage eigentlich noch konservativ?«

Ich hätte mich fast verschluckt – und hielt es für notwendig, erst einmal bei Giovanni Espresso und Grappa sowie eine neue Flasche Orvieto zu ordern, bevor mir eine unüberlegte Antwort herausrutschte.

Nach Schnaps und Kaffee fühlte ich mich gewappnet, die von Franz so beiläufig wie hinterhältig in die himmlische Zeit zwischen Hauptgang und Dessert hineingeworfene Frage zu beantworten.

»Konservativ«, begann ich, wobei ich mich bemühte, meiner Stimme einen betont gelangweilten, abgeklärten Ton zu verleihen. »Nun ja, als konservativ hab ich mir eigentlich immer einen Buchhalter vorgestellt, vielleicht Anfang 50. So einen unscheinbaren Typen mit Stirnglatze, der Union wählt, einen Audi A4 fährt, Mitglied in mindestens zwei Vereinen ist, sagen wir mal einem Minigolfclub und dem örtlichen Schützenverein. Ein farbloser Zeitgenosse, der – abgesehen von seiner Tageszeitung – vielleicht noch ein Buch im Jahr liest, wahrscheinlich einen amerikanischen Justiz-Thriller, weil er das für große, moderne Literatur hält und nicht hinterm Mond leben möchte.

Ab und zu hört dieser Mensch, nennen wir ihn einfach mal Klaus Saubermann, abends am Kaminfeuer eine seiner acht Klassik-Langspielplatten und trinkt ein oder zwei Gläser Chantré, wenn seine Frau zu einer Tupper-Party aufgebrochen ist oder sich im Bauch-Beine-Po-Kurs der örtlichen Volkshochschule quält.

Seinen Sommerurlaub verbringt Mr. Saubermann ganz unspektakulär mit Gattin, Rauhaardackel und Wohnwagen wie immer am Gardasee, seit drei Jahren ohne Sohnemann, der lieber etwas erleben und von der Welt sehen möchte. Im Fernsehen sieht er sich am liebsten Krimis und Sportsendungen an. Die Sportschau am Samstag und der Tatort am Sonntagabend sind ihm heilig.«

Da ging mir erst einmal die Puste aus.

Franz schaute mich mit gerunzelter Stirn an, um dann verächtlich den Mund zu verziehen. »Was du da abspulst sind alles nur lächerliche Klischees, Zerrbilder von Merkmalen, die vielleicht früher einmal dafür herhalten mussten, einen Konservativen zu beschreiben, im Grunde aber nichts weiter als billige Satire waren.«

»Ich hab keine Ahnung, worauf du hinaus willst, Franz«, warf ich leicht verunsichert ein und nippte an meinem Vino. Franz riss die Augen auf, so dass seine buschigen Augenbrauen nach oben gezogen wurden, und schaute mich an wie mein alter Deutschlehrer Willenbrod, wenn ich eine seiner irren Fragen nicht zufriedenstellend beantwortet hatte.

»Worauf ich hinaus will, Alter?«, antworte Franz leicht erregt, »das will ich dir sagen. Ein Konservativer hört heute Death Metal und Gangster-Rap, wählt die Grünen, fährt einen Touareg oder einen Cayenne, verbringt seinen Urlaub mit seiner Lebensabschnittsgefährtin, deren Tochter und seinem Sohn am Roten Meer, wo alle zusammen in die Korallen tauchen und abends lautstark Patchwork-Family-Monopoly spielen, bis die Fetzen fliegen.

Wenn er in der Woche abends von seinem Job als Produktdesigner nach Hause kommt, setzt er sich an seinen Laptop und doktert an einem Krimi herum, der im Frankfurter Drogenmilieu spielt. Und wenn ihm mal eine momentane Schreibhemmung befällt oder seine Fantasie streikt, lässt er sich von seiner Schweizer 2000-Euro-Kaffeemaschine einen latte macchiato brauen, schmiert sich ein Nutella-Brot, öffnet eine Flasche Weißbier und ruft im Internet www.reife-hausfrauen.com auf.«

Ich war nicht sicher, ob Franz mich durch den Kakao ziehen wollte, oder ob er es ernst meinte. Doch sein stierender Blick signalisierte: ernst!

Ich seufzte und hob die Espressotasse, doch die war längst leer. »Mensch Gerd«, bemerkte ich vorsichtig, um meinen Freund, dem die Röte ins Gesicht geschossen war, nicht unnötig aufzuregen, «kann es sein, das du da etwas durcheinander bringst?«

»Wieso das denn?«, erwiderte Franz und schaute grimmig drein. »Weil dir vielleicht die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs ‘konservativ‘‚ nicht ganz klar ist«, erklärte ich. «Und was ist deiner Ansicht nach die ursprüngliche Bedeutung von konservativ?«

Ich überlegte einen Moment und sagte dann, so sachlich wie möglich: »Konservativ bedeutet ja im allgemeinen, etwas bewahren zu wollen, an etwas festzuhalten. Das kann in der Politik sein, aber auch im Privaten. Was du vorhin als konservativ umschrieben hast, ist nichts anderes als eine, vielleicht sogar recht typische, Lifestyle-Variante des betuchten Mittelstandes, einer Kaste, die sich sowieso auf Abschiedstournee befindet.

Was ist denn konservativ daran, eine teure Espresso-Maschine zu besitzen und sich Nutella aufs Brot zuschmieren? Macht mich der Fair-Trade-Honig auf meinem Aldi-Toast etwa zur Avantgarde des gesellschaftlichen Fortschritts, zum Hoffnungsträger einer neuen No-Future-Generation?«

Franz schüttelte mit dem Kopf und setzte sein überhebliches, besserwisserisches Lächeln auf, das ich so sehr an ihm hasse.

»Du faselst etwas von bewahren«, sagte er und grinste weiter, »na gut, dann lass uns als Stockkonservative halt mal was bewahren. Wie wäre es zum Beispiel mit dem Reinheitsgebot des Deutschen Bieres, was uns als routinierte Wein-, Schnaps und Biertrinker ja nicht piepegal sein sollte – schließlich wissen wir beide ja nur zu gut, wie scheußlich kroatisches oder italienisches Chemiebier schmecken kann.

Also wollen wir das deutsche Reinheitsgebot aus dem Mittelalter erhalten, bewahren – und das bayerische gleich mit dazu. Am liebsten für die nächsten 1000 Jahre, mit EU-Kommissionssiegel und Einverständnisurkunden vom US-Präsidenten, chinesischen KP-Chef und indischem Regierungschef. Aber glaubst du etwa im Ernst, mein Lieber, das wäre dann wirklich konservativ?«

«Ja natürlich«, entfuhr es mir, »was denn sonst?«

Franz goss sich Wein nach und trank einen Schluck, wobei es ihm gelang, den Orvieto genießerisch von einem Mundwinkel in den anderen zu bugsieren und gleichzeitig sein fieses Grinsen aufrechtzuerhalten. Dann lehnte er sich lässig zurück und sagte im Oberlehrerton: »Das hab ich mir gedacht.«

Ich wurde allmählich sauer und antwortete scharf: «Was hast du dir gedacht, Gerd?« »Na, dass du das für konservativ hältst«, sagte Franz.

»Und warum ist die Erhaltung des Deutschen Reinheitsgebotes deiner Ansicht nach nicht konservativ?», wollte ich wissen und war wirklich gespannt auf die Antwort.

»Ganz einfach«, meinte Franz, »weil deutsches Bier ohne chemische Zusätze, künstliche Aromen, Gen-Soja und das ganze Teufelszeug, was im Ausland immer so gern in den Gerstensaft reingepanscht wird, viel besser mit einer Welt harmoniert, wie wir sie in Zukunft anstreben: mit einer intakten Natur und einem ausgeglichenem, grundehrlichen Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt.«

Mit stand der Mund offen. Franz war durchgedreht. Oder er hatte den zweiten Grappa nicht vertragen, doch das war nicht sehr wahrscheinlich, denn mein Freund konnte jeden Schweden unter den Tisch trinken.

Also nahm ich an, er spielte nur ein Spielchen mit mir, beflügelt durch das gute Essen, den doppelten Espresso und die geistvollen Getränke. Ich beschloss, Franz Spiel mitzuspielen und hatte auch schon eine Idee, wie es weitergehen könnte.

Ich winkte Giovanni heran, der gerade dem übergewichtigen Pärchen am Nebentisch die Rechnung servierte, und fragte den in Deutschland aufgewachsenen, perfekt unsere Landessprache sprechenden Sohn vom Restaurantinhaber. «Sag mal, Giovanni, was ist für dich eigentlich konservativ?«

Giovanni machte große Augen, zog die Stirn in Furchen, murmelte »Was ihr alles wissen wollt«, dachte einen Moment nach – und dann erhellte ein strahlendes Lächeln sein Dreitagebart-Gesicht.

»So, ihr Experten wollt wissen, was konservativ ist. Ich werde euch Schmalspurphilosophen sagen, was konservativ ist. Konservativ ist, wenn ich die Pesto alla genovese so zubereitet, wie sie meine Vorfahren im schönen Casella bereits seit Jahrhunderten im guten alten Marmormörser zusammenrühren: Also nur mit Basilikum, Olivenöl, Pecorino Sardo, Pinienkernen, Knoblauch und Salz. Und nicht mit so neumodischen Geschmacksverwirrungen wie Rucola, Bärlauch oder gar Petersilie.

Das hat in einer traditionellen Pesto-Sauce nichts zu suchen. Und am wichtigsten ist: Pinienkerne nehmen – und um Himmelswillen keine Walnüsse. Wir sind doch hier nicht in Kalifornien! So, Freunde, jetzt wisst ihr, was konservativ ist.«

Franz und ich schauten uns an und schwiegen. Giovanni war wieder in der Küche verschwunden, und mir war der Appetit auf ein Dessert vergangen. Nachdem ich eine ganze Weile den Goldfischen im Aquarium, das in der Nähe unseres Tisches stand, beim Rundendrehen zugeschaut hatte, riss mich Gerds Stimme aus meiner Meditation: »Glaubst du eigentlich, dass Schalke Bayern am Samstag schlägt?«


Kartoffelnholen im Keller oder: 

Konservativ bis auf die Knolle



»Brennpunkt«-Interview mit Karl-Michael Weinkirch, Vorsitzender der DWK (Die wahren Konservativen).

Brennpunkt: Herr Weinkirch, seit rund einem halben Jahr gibt es in Deutschland eine neue politische Partei, »Die wahren Konservativen«, deren Bundesvorsitzender Sie sind. Warum braucht unser Land überhaupt noch eine zusätzliche Partei, wo doch inzwischen alle politischen Strömungen im Parteienspektrum vertreten sein sollten – und was sind die Ziele der DWK?

Karl-Michael Weinkirch: Wir sind angetreten, um den fatalen Bedeutungswandel des Begriffs »Konservativ«, der sich in den letzten Jahren vollzogen hat, zu korrigieren – und um damit die Basis für eine zukunftsorientierte Politik zu schaffen, eine Politik, die unser Land und unsere Gesellschaft dringend benötigen.

Mit dem im Grunde ja positiv besetzenden Begriff des »Konservativen« ist in der Vergangenheit viel Schindluder getrieben worden, ja ich möchte sogar sagen, das Konservative wurde verraten und verkauft. Dafür sind nicht zuletzt Parteien, die das christliche C in ihrem Namen tragen, verantwortlich, aber auch viele prominente und einflussreiche Zeitgenossen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Medien müssen hier zur Verantwortung gezogen werden.

Die Befreiung von der fatalen, meist schleichenden Umdeutung und mutwilligen Neudefinierung des Konservativen ist unsere einzige Chance, die großen politischen Probleme, mit denen wir heute zu kämpfen haben, lösen zu können.

Auf Herausforderungen, die mit der fundamentalen Veränderungen in unserer Gesellschaft zusammenhängen, ich nenne nur das Stichwort »Seniorenrepublik«, aber auch auf Missstände in den Bereichen Wirtschaft, Finanzen oder Gesundheitssystem, kann nicht erfolgversprechend reagiert reagiert und agiert werden, wenn man konservative Politik so versteht, wie es so genannte liberale Politiker und führende Vertreter der Union tun.

Brennpunkt: Das war jetzt sehr theoretisch, Herr Weinkirch, nennen Sie doch vielleicht einmal ein praktisches Beispiel für den auch in ihrem neuen Buch »Die Zukunft ist konservativ« verwendeten Begriff vom »Ausverkauf des Konservativen«.

Karl-Michael Weinkirch: Konservativ heißt ja vom Ursprung her bewahrend, doch etwas zu bewahren oder zu erhalten, bedeutet ja nicht zwangsläufig, es genauso zu machen wie mein Vater oder Großvater. So gesehen ist das, was vor 20 Jahren vielleicht als fortschrittlich galt oder fortschrittlich war, heute alles andere als innovativ.

Aber ich sehe schon an ihrem Gesichtsausdruck, Sie wollen etwas Konkreteres, Herr Häuser. Nun gut. Eine Ampelanlage an hochfrequentierten Straßenkreuzungen könnte man als konservative, relativ sichere Methode bezeichnen, den Verkehr zu regeln. Der Kreisverkehr erscheint da als vergleichsweise fortschrittliche Variante, die sicherer ist – und zudem noch Kosten reduziert. Dabei ist so ein Kreisverkehr im Grunde genommen konservativ im allerpositivsten Sinne. Konservativ bis ins Mark sozusagen.

Deshalb haben wir in unserem Parteiprogramm die Forderung verankert: Alle Ampelanlagen in Deutschland sollen Kreisverkehren weichen. Wir sind optimistisch, dies innerhalb von zwei Jahren umsetzen zu können, ohne den Bundeshaushalt zusätzlich zu belasten. Ein Schritt dahin könnte der Verkauf der Ampeln sein, z.B. an Diskotheken, Schrebergärten oder Verkehrsübungsplätze.

Auch im Bereich Energiepolitik muss ein radikales Umdenken stattfinden. Hier könnte konservativ bedeuten, die Wohnraumtemperatur nicht mehr auf unnatürliche 24 Grad Celsius hochzuregeln und wertvolle Ressourcen unsere Erde wie Gas, Erdöl oder Uran zu verschleudern, sondern sich auf das eigentlich Notwendige zu beschränken.

Wir denken da den Einsatz von kleinen Holzkohleöfen an besonders kalten Wintertagen. Im Sommer muss dann natürlich auf das volksschädigende Grillen mit Holzkohle verzichtet werden, das versteht sich von selbst. Gegrille Lammspieße oder knoblauchgespickte Hackfleischröllchen sind sowie undeutsch. Da muss man der Balkanisierung des traditionellen Grillfestes ganz klar einen Riegel vorschieben.

Gegen einen Landsberger Leberkäs’, der über einem gemütlichen Buchenholz-Lagerfeuer knusprig geröstet wird, ist ja überhaupt nichts einzuwenden. Auch eine kross gegrillte Nürnberger Rostbratwurst hat durchaus ihre nationale Berechtigung.

Brennpunkt: Herr Weinkirch, ich fürchte, wir schweifen jetzt ein wenig vom eigentlichen Thema ab. Um noch einmal auf den Kern des politischen Anliegens ihrer Partei zu sprechen zu kommen: Warum sehen sie die etablierten Volksparteien heute nicht mehr in der Lage, eine Politik zu machen, die das stabilisierende Element des Konservativen zeitgemäß umsetzt – und so die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Weichen für die Zukunft stellt?

Karl-Michael Weinkirch: Weil die Chefpolitiker dieser Parteien den positiven Wert des Konservativen, insbesondere für unsere Volkswirtschaft, einfach nicht mehr erkennen – oder ihn nicht mehr erkennen wollen.

Statt tatenlos zuzuschauen, wie eine deutsche Pommesbude nach der anderen schließen muss, und der traditionsreiche Würstchengrill an der Straßenecke nach und nach aus dem Stadtbild verschwindet, beschließen Sie Förderprogramme für die Gründung von Asia-Imbisshallen, Döner-Schuppen und Mitnehm-Pizza-Hütten. Wo doch jeder weiß, dass da so getrickst wird, dass die meiste Kohle die Mafia einsackt oder in die Taschen der Triaden wandert.

Der Löwenanteil fließt auf ein Nummernkonto in Liechtenstein – und das heimische Finanzamt muss sich mit einem Alibigroschen begnügen. Und was wird aus dem guten alten deutschen Kiosk, der Trinkhalle mit ihrem konservativen Warenangebot, wo man von der Bockwurst über das Käseblatt und Klopapier bis zum Kaffeefilter alles kaufen kann, was eine deutsche Familie so braucht? Sie muss einem vietnamesischen Schnellimbiss weichen, der neben Schweinefleisch süßsauer auch noch Baguettes, Pizza, Cevapcici und Chili con carne auf der Karte stehen hat.

Da bleib ich doch lieber ganz konservativ zu Hause, schieb mir ein Königsberger-Klopse-Fertiggereicht von Lidl in die Mikrowelle und genieße mein TV-Dinner mit Günter Jauch oder einem Tatort-Kommissar.

Brennpunkt: Herr Weinkirch, noch eine letzte Frage, bei der ich sie um eine möglichst kurze Antwort bitte. Was bedeutet ihrer Ansicht nach konservative Politik im Zusammenhang mit der Klimaveränderung und deren Folgen?

Karl-Michael Weinkirch: Um den Klimawandel in die richtigen Bahnen lenken zu können, müssen wir uns nur von lieb gewordenen Gewohnheiten verabschieden. Kühlschrank und Gefriertruhe ausschalten – und Butter, Koteletts und Kopfsalat runter in den Keller bringen. Bei Bedarf müssen halt neue, tiefere und damit kühlere Keller oder Vorratshöhlen ausgehoben werden.

Das kurbelt die Wirtschaft an und schafft Arbeitsplätze, spart außerdem Strom und schützt die Umwelt. Und ist eine zutiefst konservative Maßnahme. Statt der gewohnten Tiefkühlkost werden wir halt mit Konservendosen vorlieb nehmen oder müssen oder uns saisongerecht ernähren.

Ach, wie köstlich werden uns die Spargelspitzen aus dem Glas zu Allerheiligen wieder munden. Und das Kartoffelnholen im dunklen Keller wird wieder zum Event: Abenteuerausflug für die ganze Familie, inklusive Versteckspielen und «Wer findet die Knolle mit den längsten Keimen?«

Brennpunkt: Herzlichen Dank, Herr Weinkirch, und viel Glück bei der kommenden Bundestagswahl.


Vom Zeitvirus erwischt oder: 
Keine Zeit für gar nichts



Ich denke ernsthaft darüber nach, Marcus, den ich schon seit ewigen Zeiten kenne und von dem ich sogar mal eine Freundin übernommen habe, ohne dass er die Radmuttern meines Volkswagens gelöst hat, aus meinem Freundeskreis auszuschließen.

Ich bin drauf und dran, die vier Telefonnummern von Marcus (die vom Büro, seiner stickigen Mansarden-Wohnung, seinem Edel-Handy und die vom »Westend«, Marcus Stammkneipe) aus meinem Adressbüchlein zu streichen und sie auf PC und Handy zu löschen.

Ich bin festen Willens, nie wieder ein Sterbenswörtchen mit Marcus zu reden, auch nicht über Fußball, Frauen, Fonduesaucen-Rezepte und verblichene Rockgitarristen. Ich will diesen elenden Kerl nie wieder sehen. Zumindest nicht in diesem Leben.

Dabei begann alles ganz harmlos. Bereits vor Monaten hatte ich für Marcus und mich sündhaft teure Karten für das Münchener Springsteen-Konzert besorgt. Marcus ist ein Hardcore-Fan vom »Boss«, und schon lange lag er mir in den Ohren, da müssten wir unbedingt hin, Bruce käme mit der kompletten E-Street-Band, samt Gattin und Sandkasten-Kumpels, das dürften wir uns keinesfalls entgehen lassen, wer weiß, wie lange der gute Bruce noch Lust auf kräfteraubende Welttourneen verspüre …

Mit blieb keine Wahl. Ich sah es praktisch und erklärte das Springsteen-Ticket für Marcus kurzerhand zu seinem künftigen Geburtstagsgeschenk. Damals hatte ich allerdings noch nicht die leiseste Ahnung, in welchen Preisdimensionen sich so eine Boss-Karte bewegt.

Egal, ich überwand meinem Schock und freute mich sogar drauf, den alten Haudegen auf der Bühnen rumturnen zu sehen und ihm zuzuhören, wie er seine legendären Song-Geschichten von Autorennen und Besäufnissen, spießigen Eltern und der nicht tot zu kriegenden Hoffnung auf ein besseres Amerika hemdsärmelig zur Telecaster rausheult.

Doch dann kam der Abend vor dem Konzert. Marcus rief mich an, und bereits am Tonfall seiner Stimme, als er sich mit dem üblichen »Hi Alter, ich bin‘s« meldete, merkte ich , dass irgendetwas nicht stimmte. Und ich behielt recht. »Du es tut mir schrecklich leid», eröffnete mir Marcus, »aber du musst morgen leider ohne mich nach München fahren.«

Ich verstand nicht. »Warum, was ist denn passiert?«, fragte ich, ernsthaft besorgt, etwas Schlimmes könne geschehen sein. »Ist was mit deiner Mutter?« fragte ich.

»Nein nein«, erwiderte mein Freund, »es ist nur einfach so, dass ich morgen abend gar keine Zeit habe. Überhaupt keine Zeit«, und die letzten drei Worte klangen irgendwie trotzig

Ich verstand immer noch nicht. Nach einer kleinen Gesprächspause, in der meine Gedanken im luftleeren Raum hilflos hin und her schwappten, hakte ich nach. »Was heißt das denn, Marcus, du hast keine Zeit? Meinst du damit etwa, du hast keine Zeit, mit mir zum Bruce Springsteen Konzert zu fahren, dem Live-Event des Jahres, für das ich zwei Karten im Wert einer Luxusyacht erstanden habe, das Mega-Konzert, auf das du dich seit Monaten freust wie ein Schneekönig auf die erste Nacht mit der Schneekönigin? Meinst du das etwa?«

Kleinlaut antwortete Marcus: »Tut mir wirklich leid, Alter, aber vielleicht fährt Helga ja mit. Aber ich hab morgen echt keine Zeit, das musst du mir einfach glauben. Nicht böse sein, und viel Spaß beim Boss.« Dann legte er auf.

Ich war völlig perplex. Nachdem ich meinen ersten Ärger runtergeschluckt hatte, begann ich mir Sorgen um Marcus zu machen. Irgendetwas Schlimmes muss geschehen sein, dass er dermaßen durchdreht, dachte ich. Aber warum erzählt er mir nicht einfach, was los ist?

Ich grübelte und grübelte – und entschied mich dann, ihn anzurufen und ihm die Wahrheit aus der Nase zu ziehen. Doch als ich es den ganzen Abend bei allen mir zur Verfügung stehenden Telefonummern vergeblich versucht hatte, kochte Wut in mir hoch.

Ich holte die Springsteen-Tickets aus meiner Brieftasche, legte sie in meinen großen gläsernen Aschenbecher, kramte mein altes Sturmfeuerzeug, das Marcus mir mal geschenkt hatte, aus der Schreibtischschublade – und opferte die Karten dem Gott des Feuers.

Als sich die kostbaren Tickets in schwarze, stinkende 
Aschefetzen verwandelt hatten, fühlte ich mich elend. Ich begoss meinem Kummer mit ein paar Gläsern Armagnac aus einer Flasche, zu der ich nur in ganz besonderen Notfällen greife.

Der gute französische Weingeist sorgte dafür, dass ich ich mich viel früher als gewöhnlich ins Bett legte. Trotz eines Anflugs von Weltschmerz gelang es mir noch, mir fest vorzunehmen, gleich morgen Marcus einen Besuch abzustatten und bei meinem Freund nach dem Rechten zu sehen.

Dann schlief ich ein und träumte, ich sei auf dem Bruce-Springsteen-Konzert. Direkt vor der Bühne war ich Teil einer schwitzenden, hin und her wogenden Fanmasse. Und als der Boss seinen Hit »I‘m On Fire« anstimmte, erlebte ich hautnah mit, wie er bei einer Berührung mit dem Mikro plötzlich heftig zusammenzuckte und mit verzehrtem Gesicht hart auf die Bühnenbretter schlug. Während mich die völlig hysterisch gewordene Fanschar drückte, walkte und würgte, verlor ich das Bewusstsein. Und erwachte am Morgen schweißgebadet und mit eingeschlafenen Armen.

Nach einer Reihe vergeblicher Besuchsversuche gelang es mir nach einer Woche endlich, Marcus telefonisch zu erreichen. Mein Freund tat so, als könne er sich nur mühsam an mich erinnern. Obwohl er ständig beteuerte, momentan überhaupt keine Zeit zu haben, ließ er sich widerwillig zu einer Verabredung überreden.

Am nächsten Freitag wollten wir uns abends um acht Uhr bei Kostas treffen, auf einen Grillteller und ein paar Bier. »Aber spätestens um halb zehn muss ich wieder los», sagte Marcus. Ich erwiderte nichts, nahm mir jedoch vor, den Guten bei Kostas gehörig in die Mangel zu nehmen. Notfalls mit Ouzo-Wahrheitsserum, bis er ausspuckt, was mit ihm eigentlich los ist.

Am Freitagabend stocherte Marcus, der ungewohnt blass aussah, lustlos in seinem Grillteller herum und nippte immer noch an seinem ersten Bier, während ich bereits dreimal nachgeordert hatte.

Wir plauderten unverfänglich über das Wetter, den Nachwuchs von Tante Hannelores Labradordame und die Dönerqualität vom neuen türkischen Imbiss in der Cheruskerstraße, bis es mir zu blöd wurde und ich bei Kostas vier doppelte Ouzo orderte.

Nachdem Markus brav und ohne Murren seine Medizin genommen hatte, kehrte die Farbe in sein Gesicht zurück, und er wirkte endlich, als könne man mit ihm ganz normal reden.

Ich versuchte es mit der direkten Methode: »Hast du Krebs, Marcus? Hat Laura mit dir schluss gemacht? Ist dir deine Harley umgefallen? Nun sag endlich, was los ist!«

Markus schluckte und seine Augen wurden feucht. Dann brach es aus ihm heraus. »Du verstehst das nicht, es ist einfach so, dass ich mit der verdammten Zeit nicht mehr so richtig klarkomme. Ich hab ständig das Gefühl, dass sie nicht ausreicht, egal, was ich angefangen habe. Ich fühle mich permanent unter Zeitdruck, egal, was ich tue, ich kenn‘ das gar nicht von früher.

Die Tage kommen mir auf ein mal so verdammt kurz vor. Und die Wochen auch. Am liebsten würde ich immer mehrere Dinge gleichzeitig erledigen, doch das ist verdammt schwierig. Außerdem muss ich ständig auf die Uhr schauen, und jedes Mal denke ich, Himmel, schon wieder so verflucht spät, und dann werde ich noch nervöser – und es klappt überhaupt nichts mehr. Sag mal Johnny, ging es dir auch schon mal so?«

Ich dachte, ach du heiliger Hendrix,der Gute ist ja reif für die Couch, zog es aber vor, diplomatisch zu antworten. »Na klar, Marcus, das kenn‘ ich«, log ich, »aber das geht vorüber. Ich glaube, dich plagt einfach nur so eine kleine depressive Verstimmung, aber das ist ja kein Beinbruch und kommt in den besten Familien vor. Da bist du bald wieder drüber weg, wirst sehen.

So eine leichte Stimmungstrübung ist im dunklen Winter übrigens ganz normal, und wenn dann noch ein bisschen Stress dazukommt … Vielleicht hast du dich in letzter Zeit auch etwas überfordert, einfach zu viel vorgenommen. Immer dran denken, Marcus, wir sind keine achtzehn mehr, und sollten es ab und zu etwas ruhiger angehen lassen.«

Ich kam mir schon wie ein Seelenklempner vor und machte erst mal eine Pause. Marcus nickte, und dann nickte er noch einmal – und ein zaghaftes Lächeln erschien auf seinem jetzt ein wenig entspannter wirkenden Gesicht. »Und du glaubst wirklich nicht«, fragte er zögernd, »dass mich der Zeitvirus erwischt hat ?«

Ich war nicht sicher, richtig gehört zu haben. »Der was?« »Der Zeit-Virus«, wiederholte Marcus – und seine Augen blitzten dabei.

Er klang jetzt fast so wie der gute, alte Marcus, der gerade zu einem seiner geliebten Vorträge über Gott und die Welt anhebt, kolossale Monologe, in denen er sich zu den abstrusesten Theorien versteigt und hanebüchene Thesen in Zeit und Raum schleudert.

Als Folge solcher Predigten, bei denen er sich ungern unterbrechen lässt, ergeben sich oft kräftezehrende Debatten und hitzige Dispute, die bis in die frühen Morgenstunden dauern können.

»Hast du etwa noch nie etwas vom Zeitvirus gehört?« Ich schüttelte den Kopf und meinte, »da hast du bestimmt etwas von den Zeugen Jehovas aufgeschnappt, aus dem Wachturm vielleicht?«

Marcus schaute mich böse an. »Willst du mich auf den Arm nehmen?« »Aber nein, das würd‘ ich mir erlauben«, erwiderte ich , mühsam ein Grinsen unterdrückend. »Ich glaube, es ist besser, wir lassen uns jetzt noch etwas Stärkendes bringen.«

Und dann erfuhr ich, was es mit dem Zeitvirus auf sich hatte. Markus hatte irgendwo gelesen, wo genau, wusste er selbst nicht mehr, amerikanische Wissenschaftler hätten eine neue Zivilisationskrankheit entdeckt, den so genannten »Zeitvirus«.

Die Erkrankung befalle in erster Linie Männer mittleren Alters, die einen überdurchschnittlichen Intelligenzquotienten aufwiesen und in der Regel über eine hoch qualifizierte Berufsausbildung verfügten. Viele der vom Zeitvirus Befallene seien musisch begabt, künstlerisch tätig oder arbeiteten in besonders verantwortlichen Leitungsjobs.

»Du sprichst nicht etwa von der guten alten Managerkrankheit, mein Lieber», wand ich ein. Markus war entrüstet. »Was soll der Quatsch? Wie leben doch nicht mehr im 20. Jahrhundert.« »Okay«, sagte ich, wenig überzeugt. »Aber um einen richtigen Virus handelt es sich wahrscheinlich nicht, oder?«

»Natürlich nicht, das hab‘ ich auch nie behauptet. Das Kind muss halt einen Namen haben.«

»Und was so sind die Symptome dieser neu entdeckten Krankheit?« fragte ich.

»Nun ja«, antwortete Marcus, »die Erkrankten haben, wenn der Virus sie sozusagen gepackt hat, so habe ich es jedenfalls in dem Artikel gelesen, sie haben auf einmal das Gefühl, dass ihnen die Zeit in den Händen zerrinnt, sie hören ständig die Uhr ticken und haben Angst, mit dem, was sie angefangen haben, nicht fertig zu werden.

Das macht ihnen Stress, mit allen denkbaren Folgen, natürlich auch körperlichen Beschwerden, alles was man sich nur vostellen kann. Von Kopf- bis zu Magenschmerzen, Müdigkeit, Kreislaufprobleme, Verdauungsstörungen, das ganze Programm halt.«

»Und du glaubst, dich hat es auch erwischt?« fragte ich, bemüht einen ernsten Ton zu finden.

Marcus blickte mich überrascht an. »Woher soll ich das wissen?«

Ich hatte keine Ahnung, was das jetzt wieder bedeuten mochte, und hielt es für besser, den verständigen Doktor raushängen zu lassen. »Okay, Markus, vielleicht ist es ja gar keine schlechte Idee, wenn du mir einfach mal erzählst, wie genau sich deine Probleme mit der guten alten Zeit in letzter Zeit geäußert haben. Nenn doch einfach mal ein Beispiel aus deinem Alltag.«

Markus unklammerte mit beiden Händen sein leeres Bierglas und schien in sich hineinzuhorchen. Dann gab er sich einen Ruck und sprach mit flackerndem Blick und ungewöhnlich hoher Stimme: »Morgens zum Beispiel, wenn ich da gerade gefrühstückt habe und mir die Zähne putzen will, fällt mir ein, dass ich dabei ja schon mal die ersten zwei oder drei Zeitungsseiten lesen könnte, dann hätte ich nach Feierabend etwas mehr Zeit, um an der Harley zu basteln, an meinem Krimi-Manuskript zu feilen, mich um den kaputten Gartenzaun zu kümmern und auf den Brief vom Finanzamt zu antworten.

Und wenn ich dann Zähne putze und Zeitung lese, fällt mir ein, dass ich ja, bevor ich ins Büro fahre, die Regenjacke noch neu imprägnieren wollte, und dann habe ich Angst , ich könnte das alles nicht schaffen, und muss das Rad nehmen, weil mein Auto vielleicht wieder mal nicht anspringt.

Und dann erinnere mich plötzlich daran, dass ich ja gestern abend, als es angefangen hat zu regnen, vergessen habe, die Gartenstuhlpolster hereinzuholen, und ich denke, ich sollte sie jetzt gleich zum Trocknen auf den Dachboden bringen und über die Wäscheleine hängen.

Und dann läutet die Türglocke, ich öffne die Haustür, und der Schornsteigerfeger steht da und will irgendwelche Werte im Heizungskeller messen – und glotzt mich so komisch an: Und da wird mir bewusst, wie ich da vor ihm stehe: die Zahnbürste noch im Mund stecken, die völlig zerknitterte Zeitung kranpfhaft in der linken Hand haltend, die Spraydose unter die Achsel geklemmt, die nach Chemie stinkende Regenjacke um die Hüften gebunden, die Brotzeitbox fürs Büro mit der rechten Hand umklammert – und meine Füße in schlammverkrusteten Gummistiefeln stecken, weil ich ja noch in die matschige Wiese hinaus will, um die verdammten Polster reinzuholen.

Und ich schaue auf meine Armbanduhr und sage zum Schornsteinfeger, »ich hab‘ jetzt keine Zeit«, mach ihm die Haustür vor der Nase zu, rufe im Büro an und sage, ich fühle mich krank und könne heute nicht kommen.

Und dann hole ich das Bügelbrett aus dem Keller und bügle alle Hemden, die ich finden kann, egal ob gewaschen oder nicht.«

Ich fand erst einmal keine Worte und mir kam die Story vom Zeitvirus auf einmal gar nicht mehr so verrückt vor. Marcus hat es wirklich ernsthaft erwischt, dachte ich, vielleicht braucht er ja professionelle Hilfe. Doch ich war sein Freund, saß dem armen Kerl gegenüber und musste ihm irgendeinen Rat geben.

Ich schaltete auf Autopilot und redete einfach drauflos. »Marcus, ich glaube, es wäre gut, wenn du erst einmal Prioritäten setzen würdest. Fang doch einfach mit dem an, was dir am wichtigsten erscheint. Vielleicht solltest du dich vorrangig um deine alte Harley kümmern?

Du machst die Mühle fahrbereit, nimmst dir ein paar Tage frei, düst an den Gardasee oder die Ostsee, lässt dir frischen Wind um die Ohren und durchs Hirn pusten – und relaxt einfach ein bisschen. Pack deinen Walkman und paar Schweden-Krimis ein – und ab geht die Post!«

Marcus wirkte wenig überzeugt – und schwieg.

Ich versuchte es anders. »Sieh mal, Marcus, das mit der Zeit solltest du vielleicht einmal aus einer anderen Perspektive sehen. Du redest immer davon, dass du zu wenig Zeit hast, und dass dich das ganz fertig macht. Aber ist es nicht, objektiv betrachtet, so, dass wir im Grunde alle heute, in diesen verflixten modern times, viel zu wenig Zeit haben – auf jeden Fall zu wenig für die angenehmen Dinge des Lebens?

Mach dir doch einfach mal bewusst, dass es deinen Nachbarn, deinen Arbeitskollegen , ja auch deinen Freunden nicht anders geht als dir, aber wollen die sich deshalb gleich das Leben nehmen? Ich glaube, es kommt auch darauf an, sich auf die Kleinigkeiten zu konzentrieren, auf die schönen Dinge, die das Leben würzen, es lebenswert machen.«

Hier stoppte ich einen Augenblick, denn es wurde mir bewusst, dass ich jetzt schon redete wie Pater Anselm Grün. Ich sollte nicht predigen, sondern die Kurve wieder kriegen – hin zum gesunden Pragmatismus.

»Ich meine damit ja nur, sich zum Beispiel einfach zu freuen, wenn Steely Dan noch einmal eine neue CD herausbringen. Oder wenn Bayern zu Hause gegen Arminia vergeigt. Oder wenn du bei Ebay Original-Lederpacktaschen für die Road King für schlappe 10 Euro ersteigerst. Oder wenn Laura mit dir … – na das lassen wir hier mal lieber. Aber du verstehst doch, was ich meine, oder?«

Marcus schaute mich an, wie man den Weihnachtsmann anschaut, an dessen Existenz man schon seit Jahren nicht mehr glaubt, der aber Heiligabend urplötzlich in voller Montur vor der Haustür steht und mit Papas Stimme krächzender Raucherstimme »Hohoho« ruft. Doch Marcus sagte auch: »Ich glaube, ich verstehe, was du meinst.«

Ich war nicht sicher, ob ich das glauben sollte. Also machte ich weiter.

»Okay Marcus. Ist dir überhaupt klar, dass es besser ist, den Faktor Zeit nicht überzubewerten? Hast du mal darüber nachgedacht, dass Zeit nur so viel Macht über uns hat, wie wir ihr das gestatten?«

Irgendetwas sagte mir, dass ich jetzt auf der richtigen Spur war. Der aufmerksame und erstaunte Ausdruck in Marcus Augen bestätigte mein Gefühl. Und so machte ich weiter.

»Gib der alten Lady Zeit einfach nicht die Gelegenheit, sich dir an den Hals zu werfen. Versuche, sie gar nicht erst zu beachten, wenn sie beginnt, ihren Charme zu versprühen, anfängt, dich zu umgarnen.

Gib ihr einen Korb und sage ihr, wenn du dich zum Beispiel gerade am Samstag morgen mit frischen Croissants und einem Cappuccino an den Frühstückstisch gesetzt hast und den Sportteil der Zeitung aufschlägst: ‘Liebe Lady, bei aller Sympathie, aber ich werde jetzt in Ruhe mein Zeitungsfrühstück genießen, und das dauert ungefähr eine Ewigkeit, mindestens aber anderthalb Stunden.

Und erst wenn ich die letzte Todesanzeige gelesen habe und meine dritte Tasse Kaffee getrunken habe, bin ich vielleicht bereit, darüber nachzudenken, was es wert sein könnte, in diesem Leben noch zu tun – außer alle meine Lieblingsromane noch einmal zu lesen, sämtliche Gebrüder-Coen-Filme zusammen mit meinem besten Freund noch einmal anzuschauen, meine besten Rezepte aus dem blauen Ringbuch noch einmal zu kochen, meine Lieblings-CDs noch einmal zu hören und dazu einen soliden Gaillac-Wein zu trinken.

Und dann werde ich deine Zuneigung zu schätzen wissen aber noch nicht einmal Händchen mit dir halten. Und wenn du mir ein unzweideutiges Angebot machst, werde ich alter Sack mich vielleicht geschmeichelt fühlen, trotzdem aber erst einmal den Müll rausbringen, denn der stinkt schon seit drei Tagen in der Küche. Und danach vielleicht in Ruhe überlegen, welche Songs ich mir bei iTunes runterlade, um sie für meinen geplanten »Time Is On My Side« Sampler zu verwenden.«

Ich musste erst einmal Luft holen und nutze die Gelegenheit, um mir den Ouzo einzuverleiben, den Kostas mit den Worten »Geht aufs Haus, Jungs» hingestellt hatte. Marcus, der seinen Schnaps ignorierte, schaute mich gebannt und mit großen Augen an. »Du hast mir noch gar nichts von deinem neuen Sampler erzählt.«

Ich war verwirrt. »Aber das war doch nur ein Beispiel, Marcus», meine ich. »Es ging mir doch um die Zeit, und wie man damit lockerer umgeht.« »Aber die Idee ist super», fuhr Marcus unbeirrt fort und strahlte, »warum fällt mit so etwas nicht mal ein!«

»Hör mal Marcus…«, aber mein Freund ließ mich gar nicht weiterreden. »Lass uns die Sache doch zusammen angehen, das wird der beste Sampler aller Zeiten. Alles Stücke, die das Wort Time im Titel haben: Rock, Country, Blues … alles mit Time. Mann, das wird ein Megading, die beste selbst zusammengestellte CD aller Zeiten, zeitlos schön. Darauf sollten wir anstoßen.» Und Marcus hob sein Ouzoglas, prostete mir zu , kippte sich den Anis grinsend hinter die Binde und rief gutgelaunt »Kostas, bitte noch zwei davon.«

Ich verstand die Welt nicht mehr. Marcus wirkte auf einmal so, als sei eine Last von ihm abgefallen. Wie neue geboren, schoss es mir durch den Kopf, aber warum nur? Egal, dachte ich, irgendwie musste ich den richtigen Nerv getroffen haben.

»Komm Alter«, sagte Marcus und seine Augen blitzen vor lauter Tatendrang, »lass uns doch schon mal überlegen, welche Songs in Frage kommen.«

Und so ließen wir die Time Lady eine gute Frau sein, schmissen die Depressionen in die brodelnden Lavamassen von Saurons Feuerberg, ertränkten die dumpfen Keine-Zeit-für-gar-nichts-Gefühle in frisch servierten Bieren und tüftelten und feilten an der ultimativen Liste von Songs, die das Wort Time im Titel tragen, und unseren Zeit-Sampler zum Jahrhundertwerk machen sollten.

Das Ergebnis hielten wir an diesem Abend auf einem halben Dutzend Bierdeckeln fest, allerdings änderten wir später noch die Reihenfolge der Songs und ergänzten die Liste um drei oder vier wichtige Titel, die uns bei diesem denkwürdigen Besäufnis bei Kostas nicht eingefallen waren.

Der gute Kostas hat uns übrigens zu sehr später Stunde ein Taxi bestellt, dessen griesgrämiger Chauffeur uns Zeitreisende zu 70er Jahre Schlagern aus seinem Bordradio sicher nach Hause chauffiert hat.

Der Monster-Kater am nächsten Morgen ließ mich darüber nachdenken, ob meine Angst, die pochenden Kopfschmerzen und die schreckliche Übelkeit würden mich bis ans Ende aller Zeiten plagen, der Beginn einer ernsthaften Krise sei.

Hier die definitive Titel-Liste unseres Zeit-Samplers, den wir optimistisch »Time Is On My Side« genannt haben:

– No Time (J. J. Cale)
– Time (Pink Floyd)
– The Time Waits For No One (The Rolling Stones)
– This Time Tomorrow (The Kinks)
– Straight Outta Time (John Hiatt)
– We‘re Gonna Have A Real Good Time Together 
 (Velvet Underground)
– Time Loves A Hero (Little Feat)
– A Matter Of Time (Los Lobos)
– In Time (Jefferson Airplane)
– The Last Time (The Rolling Stones)
– Time Out Of Mind (Steely Dan)
– Time In A Bottle (Jim Croce)
– It‘s Not Time Now (The Lovin‘ Spoonful)
– Any Time At All (The Beatles)
– The Last Time I Saw Richard (Joni Mitchell)
– Time Will Tell (The Black Crowes)
– Isn‘t It About Time? (Stephen Stills & Manassas)
– High Time (Grateful Dead)
–Time Passages (Al Stewart)

Nachdem wir unser Meisterstück gemacht hatten, verhielt sich Marcus übrigens wieder relativ normal. Mein Vortrag bei Kostas und unser Time-Sampler schien ihn irgendwie aus der bösen Zeitschleife befreit und wieder ins richtige Leben zurück gebeamt haben.

Nur ich bin seit dem Abend nicht mehr ganz der Alte. Bereits der Gedanke an Ouzo lässt Übelkeit in mir aufsteigen, vom Geruch ganz zu schweigen. Und die Bemerkung eines Mitmenschen, keine Zeit zu haben, für was in Teufelsnamen auch immer, macht mich aggressiv, verdammt aggressiv.


Helden der Expertenklasse



Eigentlich saßen wir nur gemütlich zu sechst am runden Küchentisch, knabberten Pistazien, tranken sizilianischen Rotwein und plauderten über Urlaubspläne. Doch dann passierte es mir.

Ehe ich mich versah, hatte ich Lukas aus Versehen das Stichwort für einen seiner berühmt-berüchtigten Monologe gegeben. Und so eine Chance, mit seinem brotlosen Wissen glänzen zu können, ließ sich Lukas natürlich nicht entgehen, insbesondere wenn die heimlich von ihm angebetete Anna anwesend war.

Warum habe ich Trottel auch nur erwähnt, dass Marion und ich nach einem vergnüglichen Wood-Allen-Film in Champagnerlaune mit der Idee geflirtet hatten, vielleicht einmal nach Mexiko zu fliegen, statt das x-te Mal nach Menorca. Wahrscheinlich war der süffige Wein schuld, dass mir das so rausgerutscht ist.

Dass ich allerdings ganz konkret von Acapulco gesprochen haben soll,habe ich, als unsere Gäste längst auf dem Heimweg waren, Marion gegenüber, vehement bestritten. Hat natürlich nichts genutzt.

Stinksauer warf sie mir vor, ich sei ein Trottel und Schuld daran, dass Mexiko für sie einfürallemal gestorben sei. Ich könne ja mit Lukas zu den Azteken fliegen, das wäre doch ein super Bildungsurlaub für mich.

Aber irgendwie muss ich an diesem Abend Lukas den Ball zugespielt haben, ob mit oder ohne Acapulco.

»Und im nächsten Jahr wollt ihr wirklich nach Acapulco fliegen? Dann müsst ihr aber unbedingt einen Ausflug nach Mexiko-City machen. Den schrecklich-schönen Charme der Megastadt sollte man sich nicht entgehen lassen, einschließlich des fetten Smogs.

1968 hatten wir ja ziemliches Pech in Mexiko-City, beim Stabhochsprung meine ich natürlich . Überspringt der Claus Schiprowki doch glatt 5,40 Meter – das war glatt Europarekord – und holt damit aber nur die Silbermedaille, ist das zu fassen! Und wisst ihr, wer unserem Mann von Bayer Leverkusen das Gold vor der Nase weggeschnappt hat? Der lange Kalifornier natürlich, Bob Seagren. Dafür hat der vier Jahre später bei der Olympiade in München nur Silber bekommen: ausgleichende Gerechtigkeit, findet ihr nicht?

Aber, wartet mal, da war doch auch noch diese Sache mit dem neuartigen Stab, dem in letzter Minute die Zulassung verweigert wurde. So ein hochmodernes Katapult-Teil, was der Seagren da aus Amiland mitgebracht hatte. Das Mordsding hätte ihn ja vielleicht direkt in den Athleten-Himmel katapultiert, wer weiß. Ach, wusstet ihr eigentlich, dass der Schiprowsi ursprünglich aus Gelsenkirchen-Buer stammt?«

Nein, wussten wir nicht.

Die Menschheit hat‘s wirklich nicht leicht mit solchen Spezialagenten. Man liebt sie oder hasst sie, bewundert sie oder verachtet sie. Man kann sie als ganz normale Menschen betrachten, was oft verdammt schwer fällt, oder sie als Spinner , Freaks, Angeber oder Besessene bezeichnen.

Am besten ist es vielleicht, sie als einseitig talentierte, häufig nervende, in der Regel männliche Exemplare der Gattung homo sapiens anzusehen: Experten, denen man immer wieder aufs Neue nachsehen muss, dass sie so überaus stolz auf ihr ganz spezielles Wissen sind – und diesen Stolz bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit geschwellter Brust zur Schau stellen.

Was diese Spezialisten von reinen Angebern unterscheidet, die ja immer reichlich aufbauschen und viel zu dick auftragen, ist die Tatsache, dass sie mit ihren besonderen Kenntnissen bei jedem Fernseh-Quiz glänzen würden.

Stellte Günter Jauch einem solchen Wunderknaben die Millionenfrage und träfe zufällig sein Fachgebiet, er würde dem TV-Matador ohne mit der Wimper zu zucken und supercool die Antwort ins siegessicher lächelnde Antlitz spucken, dass dem Großmeister der Kandidatenverunsicherung das Grinsen aus dem Gesicht fiele wie ein fauler, überreifer Apfel vom Baum – oder Möllemann auf die Erde, bei seinem allerletzten Sprung aus den Wolken.

Das besondere Wissen, über das solche Zeitgenossen verfügen, hat meist gar nichts mit ihrem Beruf oder Broterwerbs-Job zu tun. Fast jeder kennt so einen Typen in seinem Freundes- oder Bekanntenkreis, manchmal sogar, wenn das Schicksal gar kein Erbarmen kennt, zwei.

In so einem Fall ist es vielleicht besser, sich auf einer einsamen Südseeinsel zu verkriechen und mit Papageien zu kommunizieren. Oder nach Lappland auszuwandern, wo man einmal im Jahr auf einen Ureinwohner trifft, den man sowieso nicht versteht. Und falls doch, würde sich das Gespräch wahrscheinlich ausschließlich über Fischfang drehen – und allerhöchstens noch über den Anstieg des Meeresspiegels..

Einen Experten um sich herum zu haben, reicht völlig aus – und ist nicht selten schon einer zu viel. Oder macht es ihnen vielleicht Spaß, mit einem Freund einen Abend in einer gemütlichen Kneipe zu verbringen, wo im Hintergrund Rock- und Pop-Oldies aus den Wandboxen tönen, und jedes Mal, wenn die ersten Takte eines Titels erklingen, ihr Gegenüber wie aus der Pistole geschossen Titel, Interpret und Erscheinungsjahr abspult, als werde er dafür bezahlt?

Wenn man solch einen Menschen nicht rechtzeitig stoppt oder in die Schranken weist, ist man schnell der einzige Zuhörer eines nicht enden wollenden Fachvortrages über – zum Beispiel – die einhundertneununddreißig britischen und amerikanischen Bands und Solokünstler, die ein Pianist aus London namens Nicky Hopkins im Studio oder bei Auftritten unterstützt hat. Inklusive Vertiefung der existenziellen Frage, welchen berühmten Aufnahmen sein perlendes Klavierspiel erst die richtige Magie verlieh und sie so in Klassiker verwandelte.

Damit Sie im Bilde sind: Der Spezialist, von dem hier die Rede ist, heißt Klaus und ist Besitzer von rund dreitausend CDs und LPs, die unzähligen Tapes, die noch in verstaubten Kommoden auf dem Dachboden einen Dornröschenschlaf halten, nicht mitgerechnet. Diese Cassetten befinden sich übrigens in guter Nachbarschaft. In den zwei alten Eckbänken lagern auf dem Speicher auch noch , wie ich seit dem letzten Umzug von Klaus weiß, zentnerweise Musikzeitschriften: Sounds, Musikexpress und das ganze alte Zeug, in das sowieso nie wieder jemand hineinschaut, außer Klaus vielleicht.

Ich bin heute noch sauer auf Klaus, dass er mir den Inhalt der so unglaublich schweren Eckbänke solange verheimlicht hat, bis sie endlich auf dem Dachboden waren und ich sicher war , mir einen Bandscheibenvorfall und Hexenschuss gleichzeitig eingefangen zu haben.

Als Klaus bei unserem Kneipenabend so ganz in seinem Element war und mit glänzenden Augen über diesen Rockpianisten dozierte, war ich irgendwann einfach völlig genervt und – was noch viel schlimmer war – ich kam mir schrecklich dumm vor.

Ich bestellte noch einen Drink und noch einen, bis ich, innerlich aufatmend, nach einer kleinen Unendlichkeit darüber informiert wurde, dass der gute Nicky 1994 in Nashville, Tennessee das Zeitliche gesegnet hatte, weil nach einer Operation an seinem maroden Magen Komplikationen aufgetreten waren. »Der Ärmste», gelang es mir noch matt zu murmeln, obwohl ich viel lieber ein ekstatisches »Amen« in den holzvertäfelten Kneipenraum gebrüllt hätte: Doch dafür reichte meine Energie einfach nicht mehr.

Die winzig kleine, noch verbleibende Energiereserve benötigte ich, um zur Toilette zu flüchten, weil Freund Oberspezi nicht locker ließ. »Wusstest du eigentlich, dass Ray Davies von den Kinks dem guten Nicky Hopkins einen eigenen Song gewidmet hat, der treffenderweise ‘Session Man‘ heißt?…« Doch da war ich schon unterwegs zu einer Session der anderen Art, für die ich mir sehr viel Zeit nahm, in der Hoffnung, bei meiner Rückkehr vom stillen Örtchen hätte Mr. Special Agent an der Theke einen Arbeitskollegen entdeckt, der ihm noch ein Bier schuldete und ihm unbedingt den letzten Büroklatsch mitteilen wollte. Leider erfüllte sich meine Hoffnung nicht.

Stattdessen hockte Hannes jetzt mit an unserem Tisch. Leider erkannte ich ihn erst zu spät.

Hannes trug einen drei-Tage-Bart und hatte sich die Haare wachsen lassen. Alles Schicksal, dachte ich, auch weil Hannes mir bereits fröhlich zuwinkte – und die sommersprossige Kellnerin mir ein frisch gezapftes Bier hinstellte. Ihr Lächeln machte mir ein wenig Mut, und noch ehe ich richtig saß, hatte ich bereits mein Glas geleert und presste ein müdes »Hi, Hannes« aus den Lungen.

Unsere Konversation dauerte höchstens zwei Minuten, dann waren wir bereits beim Thema Film gelandet, Hannes Spezialdisziplin. Ich hatte zwar noch versucht, das Gespräch in andere Bahnen zu lenken, doch meine Bemerkung, gestern schon wieder drei Graureiher gesehen zu haben, ob die jetzt bei uns wohl schon heimisch wären, hatte nur eisiges Schweigen geerntet.

Und mir war schmerzlich bewusst geworden, dass ich ich mich in einer aussichtslosen Lage befand: klarer Fall von ein-Drittel-Minderheit. Oder anders ausgedrückt: Endstand im Pokalspiel Experten gegen Unwissende: zwei zu eins. Ausgeschieden also!

Und so ließ ich mich dann darüber aufklären, dass Woody Allen sich nicht als der größte Liebhaber der Welt verstehe, aber mit Platz sieben in der Lover-Hitparade ganz zufrieden sei. Aufmuntern konnte mich diese wichtige Botschaft nicht.

»Habt ihr eigentlich gewusst, dass Woody, damals zu Beginn der 80er, als er die süße Mia Farrow rumgekriegt hatte, überhaupt nicht mit ihr zusammenwohnte? Mia hatte eine Wohnung auf der östlichen Seite vom Central Park, und Woody wohnte auf der westlichen Seite – irre oder? Vielleicht war ja der Park ihr gemeinsames Zuhause, wer weiß …« – und dabei zwinkerte Hannes verschwörerisch. »Irre«, murmelte ich.

»Aber wahrscheinlich hat den guten Woody nur abgeschreckt, dass seine Flamme bereits sieben Kinder erziehen musste, drei eigene und vier adoptierte. Die Vorstellung, dass die alle in seiner Wohnung rumwuseln und seine Jazzplatten-Sammlung durcheinanderbringen, fand Woody wohl alles andere als lustig.« Und Hannes stieß ein meckerndes Lachen aus, wie ich es scheußlicher noch nie gehört hatte.

Doch nachdem es ihm gelungen war, Bier zu trinken und gleichzeitig weiter zu meckern, ohne zu ersticken und den Gerstensaft fontänenartig auf der Tischdecke zu verteilen, ging es munter weiter. »Das Techtelmechtel zwischen Woody und Mia hat übrigens ganze zwölf Jahre gedauert – immerhin. Doch als Mr. Stadtneurotiker«, und wieder grinste Hannes augenzwinkernd, diesmal eher lüstern als verschwörerisch , »als der Herrscher von Manhattan höchstpersönlich Madame Farrows Stieftochter an die Wäsche ging, war bei Mia Schluss mit lustig. Für die Medien war die Geschichte natürlich ein gefundenes Fressen.«

Ich hatte auf einmal Hunger, war gleichzeitig hundemüde – und hörte gar nicht mehr richtig hin.

Hannes schwadronierte unermüdlich weiter. Ab zu drangen noch einzelne Worte wie »Schlammschlacht« oder »Prozess« in den Randbereich meines Bewusstseins, doch ich konzentrierte mich mehr auf die Frage, was ich gleich Essbares bei der hübschen Kellnerin bestellen solle. Höchste Zeit, den Alkohol, der meinen Blutkreislauf kräftig aufmischte, mit etwas Hardware zu besänftigen. Schließlich musste ich am nächsten Morgen ins Büro, und das Wochenende war noch Lichtjahre entfernt.

Während ich zwischen Käse-Schinken-Tomaten-Baguette und Wiener Würstchen mit Kartoff-Gurkensalat hin und her schwankte und mit heftigen Gähnattacken kämpfte, hörte ich noch, wie Hannes irgendetwas über eine Sexkomödie schwafelte. Meine Augen, mit denen ich vergeblich versuchte, die verschwimmendem Zeichen auf der Speisekarte zu deuten, brannten und wurden immer schwerer. Ich beschloss, sie zu schließen, nur für einen kurzen Moment …

Mein Erinnerungsvermögen setzte erst wieder ein , als mein Freund Klaus mich auf den Rücksitz eines Taxis bugsierte und sich neben mich setzte. »Du verträgst aber auch nichts mehr, Alter«, meinte er., währen der Taxifahrer Gas gab. »Schläfst einfach am Tisch ein. Nimmst du vielleicht irgendwelche Medikamente?«

«Quatsch», antwortete ich benommen, »ich war einfach nur hundemüde. Lag wahrscheinlich an der sauerstoffarmen Kneipenluft. Und am penetranten Rasierwasser von Hannes. Davon wurde ich ganz benebelt.«

»Ach«, meinte Klaus, » dann hast du es doch noch mitbekommen.« »Was mitbekommen?« fragte ich. »Na, dass Hannes irgendwie herausgekriegt hat, welches After Shave Woody Allen immer benutzt, und dass er sich das extra übers Internet aus den Staaten hat schicken lassen. Hat Hannes wohl eine kleines Vermögen gekostet. Einfach stark, oder?«

Ich schloss die Augen, seufzte, murmelte »stark« und stellte mir vor, die Sommersprossen der hübschen Kellnerin zu zählen.


Kleine Arnolds und große Handtuchstrategen


»Jürgen, gib mir bitte noch ein Eiweiß!« Der kurzgeschorene Mittzwanziger, der in Jürgens Muckibude täglich Eisen stemmt und gewissenhaft darauf achtet, dass seine Muskelpakete die richtige Sonnenbank-Bräune aufweisen, steigt auf die Personenwaage – und verzieht das Gesicht. Zugenommen, abgenommen, ich habe keine Ahnung. Es bereitet mir immer noch Probleme, mich in die Psyche von Männern hineinzudenken, die einen Körper haben wollen wie Schwarzenegger.

Klein Arnold kippt seinen Drink, in dem außer Eiweiß wer weiß was noch alles enthalten ist, und stolziert wieder zum Wandspiegel, vor dem eine Hundertschaft Hanteln in allen erdenklichen Größen und Gewichtsklassen in ihren chromblitzenden Ständern auf den Einsatz wartet.

Natürlich greift sich Arnie die größte. Irgendjemand muss schließlich den Drecksjob machen! Außerdem hat er bestimmt gerade die beiden Studio-Novizinnen bemerkt, die sich schüchtern von Jürgen die Geräte erklären lassen, dabei aber immer wieder verstohlene Blicke auf Mr. Bizeps werfen. Und Mucki-Man weiß genau, wie man 17-jährige Blondinen beeindruckt: die ganz großen Dinger schwingen und dazu stöhnen, als gelte es, die Goldreserven der Bundesbank auf einmal zu schultern.

Am Butterfly müht sich ein blasser 15-jähriger Spargeltarzan mit erbärmlich dünnen Ärmchen verzweifelt, die 20 Kilo zu bewältigen. Ich kann gar nicht hinschauen.

Dann sehe ich meine Chance, eine optimale Gelegenheit, mein Selbstwertgefühl zu steigern und mir einen Schuss Adrenalin zu gönnen. Ein Typ um die 30 mit Stirnglatze und reichlich Übergewicht zieht sitzend und schwitzend an der Stange, um die silbernen 35-Kilo-Platten per Seilzug in die Luft zu hieven. 35 Kilo: lächerlich!

Schnell entere ich das baugleiche Gerät nebenan – und zeige dem Klops, wie eine untergewichtige Hühnerbrust 60 Kilo zieht, ohne einen Seufzer zu tun, einen Tropfen Schweiß zu verlieren und krebsrot im Gesicht zu werden.

Ich spüre förmlich, wie mein Nachbar innerlich flucht und gegen die aufkommende Depression ankämpft. Weil ich so gut gelaunt bin, zeige ich ihm gleich noch mal, was möglich ist, wenn man es unbedingt will!

Jetzt aber an die Bar. Schließlich hab’ ich mir eine kleine Stärkung redlich verdient. Ich ordere Espresso und Mineralwasser. Der Kerl neben mir lässt sich irgendetwas mit Kiwi mixen und schiebt sich bereits den zweiten Energie-Riegel rein. So ein Ding hat wahrscheinlich nicht mehr Power als ein Mars, kostet aber viermal soviel. Da rühr ich mir doch lieber zwei Löffel Zucker in meinem Espresso. Ist ganz umsonst.

Der Tresen in Jürgens Fitness-Studio erinnert mich immer an die Verkaufstheke einer Apotheke. Mit dem Unterschied, dass man hier die gewünschte Arznei, Tinktur oder Mixtur gleich an Ort und Stelle einnimmt.

Jetzt hat sich ein Bauarbeiter-Typ mit Bruchband um den Bauch übrigens gerade etwas Ominöses aus einem kleinen, reagenzähnlichen Fläschchen hinter den Binde gekippt. Ich wette, es war kein Kleiner Feigling, sondern etwas ganz und gar Gesundes.

Auf jeden Fall zeigt das Zeug prompte Wirkung: Monsieur Presslufthammer streckt die Brust raus, zieht den Bauch ein und stampft mit seinem stattlichen Hohlkreuz und Beinen wie Marmorsäulen durch das Studio, als wolle er Rom erobern. Dabei will er nur Eisen drücken, die soviel auf die Waage bringen wie mein Motorrad.

Mir fällt auf, dass ich heute mal wieder der einzige Mann im Studio bin, der ein normales T-Shirt trägt – von dem schmächtigen Schuljungen mal abgesehen. Alle anderen Herren haben sich in schwarze, enge, schulterfreie Muscle-Shirts gezwängt, Kleidungsstücke. die nicht unbedingt bei jedem die Beschaffenheit von Schulter- und Oberarmmuskulatur in ein günstiges Licht rücken. Nicht mein Problem.

Langsam füllt sich der Laden. Gerade ist eine ganze Traube von Hausfrauen in den 40ern eingetrudelt, und die Invasion der Stepper, Laufbänder und Crosstrainer steht kurz bevor.

Jetzt, wo die Kinder aus dem Gröbsten raus sind oder sich bereits im Hotel Mama ausgecheckt haben und der Ehemann sich nur noch für sein Hobby interessiert, möchten die Damen wieder die Blicke wildfremder Männer auf sich ziehen – und wollen deshalb an ihrer Attraktivität feilen. Das bedeutet: schwitzen und leiden, Disziplin und Mineralwasser. Und der feste Glaube, dass die Quälereien sichtbare Erfolge nach sich ziehen werden.

Die nette Studentin mit der viel zu engen Jogginghose ist auch wieder da. Mir fällt auf, dass sie ihre langen schwarzen Haare heute zu einem Pferdeschwanz gebunden hat. Während sie hartnäckig ihren nicht zu übersehenden Hüftspeck bekämpft, traue ich mich, ihr ein verhaltenes Hallo zuzuraunen.

Sie lächelt mich freundlich an, doch meine Freude wird im Keime erstickt, denn der stabil gebaute Rotblonde mit dem teigigen Gesicht ist aufgetaucht und zwängt sich in mein Sichtfeld. Ein muffliger, massiger Typ, der nie grüßt und jeden Blickkontakt meidet – und der mir schon öfters negativ aufgefallen ist.

Mr. Universum hat nämlich die Angewohnheit, mit seinem Handtuch Geräte zu reservieren. Gerade jetzt verlässt er den Bizeps-Apparat, legt sein kanariengelbes, verschwitztes Handtuch auf den Sitz der Rudermaschine und watschelt ans andere Ende der Halle, um sich dort an der Stange ein paar halbe Klimmzüge herauszudrücken.

Ich hasse solche Typen mit krankhaftem Besitzanspruch. Und nehme mir fest vor, beim nächsten mal sein Handtuch … Doch anfassen will ich es auch nicht unbedingt.

Fast noch schlimmer als diese vierschrötigen »Erst komm ich«-Typen sind die Boys, die dich, während du an einem Gerät schuftest, hyperfreundlich anquatschen: »Kann ich mal kurz dazwischen?« Und das in einem betont normalen Tonfall, als erkundigten sie sich nach der Uhrzeit.

Eine irre Aktion, wie ich finde, als wäre es für ihren persönlichen Trainingsplan von besonderer Bedeutung und Wichtigkeit, dass sie just in dieser Sekunde an genau dieser Maschine ganz schnell 20 Übungen absolvieren müssten – und wenn nicht, wäre das komplette Trainingspensum der letzten drei Monate für die Katz.

Das erste Mal, dass mich so ein Typ gebeten hat, meine Übung vorzeitig zu beenden, um ihn kurz »ran« oder »zwischen« zu lassen«, war ich einfach nur perplex – und hab irritiert geschaut. Mittlerweile habe ich mich darauf eingestellt und antworte ganz cool und relaxt: »In drei Minuten kannst du ran, okay?!« Worauf immer eine zufriedene Reaktion erfolgt, so als würde der Bittsteller sowieso nicht erwarten, dass ich fluchtartig das Gerät verlasse.

Ja aber warum in aller Herrgottsnamen fragt er mich dann überhaupt, wenn er im Grunde davon ausgeht, dass er sich noch ein paar Minuten wird gedulden müssen? Crazy!

Manchmal bin ich davon überzeugt, ich schwitze nicht in einem öffentlichen Fitness-Studio, sondern in der psychiatrischen Abteilung des Landeskrankenhauses. Aber der Blick auf meinen Mitglieds-Ausweis und die Tatsache, dass keine großgewachsenen, weißgekleideten Männer mich mit Gewalt daran hindern, den Raum zu verlassen, überzeugt mich dann: Ich bin bei Jürgen, ganz freiwillig, umgeben von vollkommen normalen, geistig gesunden Menschen, die nur eines im Sinn haben: körperlich fit zu bleiben oder zu werden.

In solchen Momenten der Erleichterung und der Gewissheit, dass ich jederzeit durch die Tür spazieren kann, um nach Hause oder sonst wohin zu gehen, ist es durchaus möglich, dass ich von meinem festen Trinkgewohnheiten abweiche. Heute einmal keinen Espresso plus Wasser, sondern einen doppelten Low Carb Vital Drink! Der schmeckt mir zwar nicht die Bohne, erzeugt aber, wenn ich ihn bestelle, auf Jürgens Gesicht den Ausdruck ungläubigen Staunens.


Sesam, öffne dich!


Das Leben ist eigentlich schon hart genug – und dann machen einem Dinge wie Schmelzkäse-Ecken alles noch viel schwerer. Oder ist es Ihnen etwa schon einmal gelungen, die silberne Alufolienverpackung einer »Sahne«- oder »Kräuter«-Ecke mit dem gerade mal 5 Millimeter aus der Packung herauragenden, schmalen roten Kunststoffbändchen so zu öffnen, dass Sie problemlos mit dem Messer an den Inhalt gelangen?

Wenn ich es versuche, reißt das rote Band meistens gleich ab – obwohl ich nie fest ziehe, auch wenn meine Frau das Gegenteil behauptet. Hält das dünne Bändchen doch, passiert überhaupt nichts, und ich sehe mich gezwungen, die Zugkraft ein wenig zu erhöhen. Leider stellt sich dann in der Regel immer noch nicht das ein, was gewünscht ist, nämlich dass ich mit Hilfe des roten Streifens die Folienummantelung so teilen kann, dass sie sich der obere Teil davon mühelos hochklappen lässt.

Stattdessen habe ich – zack – die komplette, ungeöffnete Käseecke so stark verformt, dass nur noch rohe Gewalt und der Einsatz unseres ultrascharfen Tomatenmessers hilft, um endlich etwas Schmelzkäse aufs Brot schmieren zu können. Das ist dann erstens nicht besonders appetitlich anzuschauen, und zweitens gerät mir unter Garantie mindestens ein Fitzelchen Alufolie mit auf den Toast – und oft auch in den Mund. Alles schmeckt dann metallisch, und ich bin schon vor der zweiten Tasse Frühstückskaffee äußerst übel gelaunt! Zudem muss ich noch den Hohn und Spott meiner Familie ertragen.

Am besten ist es, denke ich dann, in Zukunft Schmelzkäse-Ecken boykottieren. Sie im Supermatkt einfach links liegenlassen. Aber Sie wissen ja, was aus solchen Vorsätzen wird.

Genervt versuche ich, den Alufoliengeschmack mit einer Scheibe Toast mit dick Butter und extra dick Nussnougatcreme sowie einem weiteren Milchkaffee zu eliminieren.

Auf einer Packung Röstkaffee habe ich übrigens kürzlich gelesen, dass ich, um ans gemahlene, vakuumverpackte schwarze Pulver zu gelangen, »das Kopfetikett bitte am Hinweispfeil abziehen und den Innenbeutel am Einschnitt aufreißen« soll. Gottseidank habe ich mir schon vor langer Zeit eine sichere Methode angeeignet, um auch ohne derartige Anleitungen, dafür mit der Hilfe einer alten Rosenschere die Verpackung zu besiegen.

Wir leben in einer Zeit, in der Ingenieure, Designer und Entwicklungstechniker in der Verpackungsindustrie anscheinend dafür bezahlt werden, ihre Produkte so zu entwerfen, dass sie auch dem cleversten, dynamischsten, kräftigsten und geschicktesten Verbraucher standhalten – und damit jede Klimakatastrophe, jeden Atomkrieg und jedes Erdbeben überstehen. Wir Kunden sind gezwungen, uns immer mehr Tricks und Kniffe einfallen zu lassen, um die Rüstungen und Wehrmauern zu durchdringen und zu bezwingen.

Die Öffnungsanleitungen, falls auf dem gekauften Produkt welche aufgedruckt sind, dienen, davon bin ich überzeugt, lediglich dazu, uns auf eine falsche Fährte zu führen, zum Narren zu halten oder in den Wahnsinn zu treiben. Steht nichts auf der Verpackung, ist das allerdings auch kein gutes Zeichen.

Ein gutes Beispiel sind da die Milch-Tetra-Paks. Um in den Genuss eines Glases frischer oder haltbarer Kuhmilch zu kommen, muss man jetzt bei vielen Milch-Packungen erst einen Drehverschluss entfernen, was noch relativ einfach möglich ist – und dann eine ringförmige Lasche abziehen, was enorm viel Kraft erfordert, insbesondere im Finger, den man in den Plastikring steckt. Ich versuche es immer mit dem rechten Zeigefinger. Falls der Finger zu dick sein sollte, kann man gleich aufgeben. Passt er, hat man eine gute Chance, sich zwischen erstem und zweiten Fingergelenk eine schmerzende rote Einkerbung zu holen: Auf jeden Fall tut das Abziehen weh!

Schlimmer als der Schmerz ist für mich die Tatsache, dass der heikle Öffnungsvorgang der Milchverpackung unausweichlich mit dem Herausspritzen eines kleinen Schwalles Milch ist.Ich gebe zu, dass ich beim Öffnen des Milch-Tetra-Paks auf der Einbauküchen-Arbeitsplatte immer eine mittlere Sauerei veranstalte – und froh bin, wenn zumindest mein Hemd sauber bleibt.

Mit Maisdosen und anderen modernen Konservenbüchsen stehe ich übrigens auf Kriegsfuß. Mag sein, dass hier einmal irgendein schlauer Kopf die Idee hatte, Blechbehältnisse zu entwickeln, die einen Dosenöffner überflüssig machen. Doch das bleibt leider allzu oft graue Theorie. Gerade von diesen modernen Dosen geht eine große Verletzungsgefahr aus. Entweder schneidet der Metallring in den Finder oder er reißt ab. Oder beides. Blut und Tränen. Und die verzweifelte Suche nach dem alten, rostigen Dosenöffner. In allen Schubladen des Küchenschranks, in der Vorratskammer , im Keller in sämtlichen Kisten und Regalen … Oder hab’ ich ihn vielleicht doch beim letzten Umzug entsorgt? Nein, er muss hier noch irgendwo sein … Na, dann eben heute mal Mais-Käsesalat ohne Mais, was soll‘s! Alternativ kann ich ja auch eine Dose Makrelenfilets in Tomatensauce öffnen und mir am rasiermesserscharfen Dosendeckel den Handballen aufschlitzen, haha.

Doch dann geht‘s gleich weiter. Der Drehverschluss der neuen Balsamico-Essigflasche weigert sich beharrlichzu kooperieren. Ich drehe und drehe, doch der untere Teil der runden Blechkappe, der durch eine Perforation vom oberen getrennt ist, bleibt standhaft und löst sich nicht. So kann ich am Verschluss noch munter bis zum Sanktnimmerleinstag drehen! Ich muss den Werkzeugkasten holen.

Am wütendsten machen mich übrigens die Klarsichtfolien-Verpackungen von CDs und DVDs. Wenn man genau hinschaut (ich brauche dazu eine Lupe), kann man einen vielleicht zwei Millimeter breiten Streifen in der Hülle erkennen, der dazu gedacht sein könnte, die Folie zu öffnen. Meist ist dieser Streifen nur eine bloße Attrappe, denn ein hervorstehendes Ende, um den Streifen anzufassen, exisiert nicht.

Häufig ist auch überhaupt kein Abziehstreifen zu entdecken. Rundum nahtlos verschweißt – und damit allerbestens ausgerüstet für die nächste Sintlut. Und Noah kann es sich sparen, die neue CD von Bruce Springsteen mit auf seine Arche zu nehmen.

Doch jetzt ran an den Speck – bzw. die CD. Wildes Herumkratzen mit den Fingernägeln bringt da gar nichts. Ich greife lieber zum Taschenmesser. Leider kosten mich meine Bemühungen unschöne Kerben, Kratzer und Einschnitte im CD-Pastikcase. Aber irgendwie muss ich ja schließlich an die Musik kommen!

Während ich endlich ganz entspannt den neuen Springsteen-Songs lausche, kommt meine Frau und bittet mich, eine Rotweinflasche zu öffnen. »Warum hat ein Qualitätswein aus Württemberg jetzt auch so einen blöden Drehverschluss?« fragt sie mich. »Nur damit ich ein bisschen Spaß habe«, antworte ich ihr.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 02.01.2011

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