Cover

1.

Eine kräftige Brise trieb die toten Enten auf den See hinaus. Der Morgennebel hatte sich fast vollständig aufgelöst. Walter Birgelmeier lehnte die Jagdflinte an einen knorrigen Weidenstamm, kniete sich ins feuchte Ufergras und steckte seinen erhitzten Kopf in das trübe, kühle Wasser. Die Moorfrösche unterbrachen ihr Konzert.

Zwei sehnige, schwarz behaarte Hände packten Birgelmeiers kantigen Schädel an seinen abstehenden Ohren und drückten ihn nach unten. Die Schuhspitzen des Eiernudelfabrikanten ritzten bizarre Muster in den weichen Boden. Gierig schluckte Birgelmeier süßliches Seewasser. Bevor ihm schwarz vor Augen wurde, merkte er noch, wie sich etwas Spitzes glühendheiß zwischen seine Schulterblätter zwängte.

Der Schmächtigere der beiden Männer, die schwarze Masken trugen und geduldig im Schilf gewartet hatten, bis ihr Opfer sich ans Ufer bequemte, wollte auf Nummer sicher gehen. Mit einem Ruck zog er das angespitzte Schilfrohr aus Birgelmeiers Leib und ging suchend ein paar Schritte am Ufer entlang. An einer besonders sumpfigen Stelle stoppte er, bückte sich und ließ das Mordwerkzeug im Schlamm verschwinden. Dann kehrte er zum Tatort zurück, um seinem Kollegen bei der Feinarbeit zu helfen.

Bevor der Korpulente Birgelmeier die Ohren abschnitt, bohrte der Schmächtige mit einer Sicherheitsnadel jeweils ein Loch in beide Ohrläppchen und steckte in das rechte eine Hühnerfeder. Am linken Ohrläppchen befestigte er mithilfe der Nadel einen kleinen, weißen Zettel, auf dem mit roter Tinte geschrieben stand: „Keine Gnade für Hühnerfeinde“.

Ein neugieriger Angler, der seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte, entdeckte am späten Nachmittag die präparierten Ohren im Geländewagen des Fabrikanten. Im Frischhaltefach des gut sortierten Picknickkoffers, der auf dem Rücksitz des nicht abgeschlossenen Fahrzeugs lag, garnierten sie eine Lage geräucherter Wachtelbrustfilets.

In einem kleinen Pappelwäldchen unweit des Sees fand ein Dorfpolizist Birgelmeiers ohrlose Leiche. Ein seltsamer, beißender Geruch hatte den Beamten dorthin geführt. Splitternackt saß der Fabrikant auf dem Waldboden, das spitze Kinn auf die haarlose Brust gesunken, den Rücken gegen einen Baum gelehnt. Beim Anblick des Toten musste der Polizist unwillkürlich an ein verunglücktes Omelett denken.

Man hatte Birgelmeier mit faulen Eiern bombardiert. Sein Körper war vollständig mit Rührei und Eierschalen bedeckt – einer gelblichweißen Masse, die zu einer unappetitlichen Kruste getrocknet war und Heerscharen von Fliegen und anderes Ungeziefer anlockte. Es stank zum Himmel – auch noch, als der Gerichtsmediziner Stunden später fluchend die Arbeitshandschuhe überstreifte.


2.

Inspektor Treibers Entscheidung war gefallen. Behutsam bettete er die Dose Eierravioli in Tomatensauce auf den belgischen Kopfsalat, dem das rostige Gitter des Einkaufswagens bereits ein schmuckes Ornament ins welke Blattwerk gedrückt hatte. Traurig verblieb der Linseneintopf mit Speck im Regal und versuchte, sich mit den fettigen Fingerabdrücken des Inspektors auf seinem Blechmantel zu trösten.

Immer wenn Treibers Kühlschrank leer war und der Hunger den Inspektor in den Supermarkt trieb, stand dieser vor dem Problem, wählen zu müssen. Aus diesem Grund feierte er an einem ganz normalen Mittwoch Überstunden ab, um einmal in aller Ruhe und so stressfrei wie möglich einkaufen zu können.

Mit zusammengekniffenen Augen und gerunzelter Stirn konzentrierte sich der Inspektor darauf, die größte Hürde des schwierigen Warenparcours zu nehmen: Unter einem Dutzend Pasta-Sorten galt es, einer den Vorzug zu geben. Bevor Treiber sich zwischen Fusili und Farfalle entschieden hatte, erzitterte der Boden unter seinen Füßen. Ein Donnerschlag prüfte die Widerstandsfähigleit seiner Trommelfelle, es regnete bunte Pappreklameschilder und Brocken vom Deckenputz.

Gellende Schreie hallten durch den Markt. Von Panik erfüllte Hausfrauen und Rentner ließen ihre Einkaufswagen im Stich und rannten konfus umher. Die Schinkenfachverkäuferin kappte sich vor Schreck mit der Tranchiermaschine die Ringfingerkuppe, so dass drei blasse Schwarzwälderschinken-Scheiben eine Farbauffrischung erfuhren. Der Leiter der Tiefkühlabteilung sprang beherzt in eine Eistruhe, wobei sein Kopf schmerzlich Bekanntschaft mit einer Fürst-Pückler-Torte schloss.

Nur Inspektor Treiber behielt die Ruhe. Geschickt ließ er eine Packung Tortellini in seine Manteltasche gleiten. Dann erinnerte er sich daran, dass er Kriminalbeamter war …

Treibers Erfahrung sagte ihm, dass in der Eierabteilung eine Bombe explodiert sein musste. Wie viele Opfer der Anschlag gekostet hatte, konnte er nicht erkennen, zu groß war die Verwüstung. Wer hier saubermacht, braucht starke Nerven, dachte er, ignorierte das Jammern der Verletzten und kehrte dem Chaos den Rücken zu. Das Risiko einer Salmonellenvergiftung war ihm einfach zu groß.


3.

Lausig, Inspektor Treibers rechte Hand, erfuhr es in den 13-Uhr-Nachrichten. Er hatte den Lautstärkeknopf seines Autoradios bis zum Anschlag aufgedreht und schaute fasziniert zu, wie die riesige orangefarbene Rollenbürste der Autowaschanlage die Antenne umknickte, als sei sie ein Strohhalm. Dass auch die beiden Außenspiegel und der Heckspoiler Opfer der geballten Reinigungskraft des zehn Euro teuren „Gold-Spezial-Pflege“-Programms werden sollten, ahnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht, denn seine Aufmerksamkeit wurde von zwei ganz anderen Dingen in Anspruch genommen: der Meldung von einem erneuten Terroranschlag der Legehennen-Befreiungsfront in einem Einkaufsmarkt mit drei Toten und vierzehn Verletzten – sowie dem Tosen des Wasserfalls, der durch das sich wie von Geisterhand geöffnete Sonnendach auf ihn und die ledernen Sportsitze stürzte.

Während des Wetterberichtes, der abklingende Niederschläge versprach, bemerkte Lausig, dass es nicht mehr weiterging. Erst eine Stunde später, die Haare waren fast trocken, setzte sich sein Auto wieder ruckend in Bewegung. Lausig vermutete, das Waschstraßenpersonal habe endlich seine Mittagspause beendet. Er ärgerte sich, als schlechtbezahlter Kriminalbeamter zwanzig Cent Trinkgeld gegeben zu haben.


4.

Noch eine Viertelstunde. Marco seufzte. Dieser Tag war zäh wie der Rinderbraten seiner Schwiegermutter. Noch 15 Minuten – und er wäre dieser Hölle entronnen. Für ein paar Stunden jedenfalls.

Marco versuchte, seine schmierigen Hände an der Schürze abzuwischen, doch die Fasern des billigen Baumwollstoffes sahen sich nicht in der Lage, noch irgendetwas aufzusaugen. Marco sehnte sich nach frischer Luft. Er würde sich hier noch eine Fettlunge holen.

Gestern hatt er mit Ali noch darüber debattiert, wie hoch wohl der Fettgehalt der Küchenluft sei. „Auf jeden Fall höher als der Sauerstoffanteil“, hatte Ali gemutmaßt. „Merkst du denn nicht, wie unsere Lungenflügel in Tran schwimmen?“ Und er hatte die Augen verdreht und war umher getanzt wie ein trunkener Schwan, mit den Armen so wild herumwedelnd, dass die Bratdunstschwaden sich zu einem Wirbelwind formierten. „Siehst du, sie schwimmen“, rief er – und stieß dann sein meckerndes Lachen aus, ein Lachen, dem nichts Menschliches anhaftete.

Um ein Haar hätte es Ali den Job gekostet. Doch Basowski, der plötzlich hereinstürmende Leiter der „Lucky Fried Chicken“-Filiale, ein fischgesichtiger Zwerg, der noch nicht einmal über sich selbst lachen konnte, war ausnahmsweise gnädig und beließ es bei einer gelben Karte. Am Wochenende Basowskis Geländewagen wienern, hieß das für Ali: blitzblank polieren – von der Monsterstoßstange bis zum vergoldeten Auspuffrohr.

Marco streifte die öligen Latexhandschuhe ab, rieb sich die Augen und bohrte in der Nase, Ständig verklebten ihm die ranzigen Dünste Augen und Nasenlöcher. Doch das war noch nicht alles: Die verstopften Poren seiner Gesichtshaut machten ihrem Ärger Luft, indem sie juckten wie der Teufel. Es war mal wieder höchste Zeit für eine chemische Ganzkörperreinigung!

Noch zehn Minuten. Die Flattermänner im Hightech-Rotationsgrill hatten schon eine bedenkliche Farbtönung angenommen, ohne dass das schrille Warnsignal ertönt war. Doch über Pannen bei der vollautomatischen Hühnerbrutzelei regte sich Marco schon längst nicht mehr auf. Vor ein paar Tagen hatte sich die Grilltemperatur, wie von Geisterhand manipuliert, so erhöht, dass Marco das Malheur erst bemerkte, als die Vögel bereits lichterloh brannten. Marco wusste sich keinen anderen Rat, als zum Feuerlöscher zu greifen. Die unbeschreibliche Sauerei zu beseitigen, hatte ihn einige unbezahlte Übersunden gekostet.

Zwei Minuten vor Feierabend trudelte noch eine Massenbestellung ein. Marco fluchte wie der Trainer vom VFL Wolfsburg. Hastig schaufelte er Kartoffelstäbchen in die Friteuse und warf Bartwürste auf den Grill. Dann zerrte er ein kaffeebraunes Hähnchen vom Spieß und ließ es routiniert auf den OP gleiten. Seine rechte Hand tastete nach der Geflügelschere. Jetzt kam der Höhepunkt. Und auch wenn Marco seinen Job aus ganzer Seele hasste: Das Halbieren der Bratvögel bereitet ihm stets einen Heidenspaß.

Kaiserschnitt nannte Marco diesen posthumen chirurgischen Eingriff. Er liebte es, wenn die beiden Klingen der Schere mit einem sanften aber bestimmten Knacken verbrannte Haut, Knorpel, Sehnen und Knochen durchtrennten, so dass der Blick auf die blasse Leere im Inneren des Huhns frei wurde. Er genoss den Moment, wenn der Vogel fast lautlos in zwei Hälften auseinander fiel.

Marco hatte die Geflügelschere bereits an einer strategisch günstigen Stelle angesetzt, als er einen Luftzug im verschwitzten Nacken spürte. Jemand musste die Hintertür geöffnet haben. Wahrscheinlich mein Boss, dachte Marco. Der will mich bestimmt kurz vor Feierabend noch ein wenig schikanieren. Und er stellte sich vor, nicht der Brustkorb eines toten Hähnchens befände sich zwischen den Klingen der Edelstahlschere, sondern eine Ohrmuschel seines Chefs.

„Schere weg!“ Es war zwar der Befehlston seines Chefs, nicht aber dessen Stimme. Marco ließ das Hähnchen los, legte die Schere auf die Arbeitsplatte und drehte sich um. Was er sah, erinnerte ihn an einen Film, den er sich vor ein paar Wochen angeschaut hatte. Zwei Gestalten in grauen Regenmänteln, die Gesichter schwarz angemalt, richteten Revolver auf ihn. Ein dritter Mann im Tankwart-Overall, das Gesicht unter einem Motorradhelm mit getöntem Visier verborgen, zwängte sich an den beiden vorbei.

Marco rührte sich nicht. Er beschloss, einfach das Ende des Film abzuwarten und dann den Fernseher auszuschalten. Doch als die Männer ihm die Arme brutal auf den Rücke bogen, Handschellen um seine Gelenke schnappen ließen, ihm den Mund mit einem Klebebandstreifen verschlossen und seinen Körper in Richtung Friteuse zerrten, dämmerte es ihm, dass er in diesem Film mitspielte: in einer umbedeutenden, undankbaren Nebenrolle: als Opfer!

Der Tankwart fischte das Sieb mit den schrumpeligen Pommes aus der Friteuse. Dann holte er zwei leere Limokisten aus der Ecke, drehte sie um und schob sie Marco unter den Hintern. „Hinsetzen!“ Er drehte den Temperaturregler der Friteuse bis zum Anschlag auf, zog ein paar Lederhandschuhe aus der Overalltasche und streifte sie sich über.

Marco hatte nicht mehr die Gelegenheit zu schreien. Kaum hatte sich die rehcte Hand des Tankwarts auf Marcos Hinterkopf gelegt,, war sein Gesicht auch schon in das brodelnden Fett getaucht.

Auf den Steinfließen des Fast Food Restaurants, direkt neben den durchlöcherten Körpern von zwei „Lucky-Fried-Chicken“-Mitarbeiterinnen, fanden die Beamten des Morddezernats auch Marcos Leiche. Marco lag auf dem Rücken, die Arme über der Brust verschränkt Es sollte dem Gerichtsmediziner vorbehalten bleiben, die dicke Schicht Ketschup und Mayonnaise von Marcos Gesicht zu wischen, um das ganze Ausmaß der Zerstörung zu erkennen. Marco hatte sein Gesicht mehr, Dafür steckte in seinem Bauch immer noch der Bratspieß aus dem Hähnchen-Rotationsgrill.
Für den erfahrenen Gerichtsmediziner bereitete es keine Mühe, die Todesursache festzustellen. „Überdosis billiges Pflanzenöl“, sprach er gelangweilt in sein Diktaphon, während sein Magen hungrig knurrte.


Hühner 1.

Die Hühner konnten mit ihrer Freiheit ebensowenig anfangen wie mit ihren Beinen. Unbeholfen staksten sie über den Acker, stolperten über Erdklumpen und fielen in Furchen. Unbarmherzig fuhr der kalte Novemberwind durch ihr verkümmertes Federkleid und bescherte ihnen eine Gänsehaut. Viele Hennen sehnten sich nach der wärmespendenden Enge ihrer Legebatteriebox zurück; ohnehin fragten sie sich, was sie in dieser Mondlandschaft eigentlich verloren hatten.

Während sie skeptisch auf Regenwürmer starrten, die sich unnötig in Todesangst wanden, bemächtigte sich ihnen ein Gefühl, das völlig neu für sie war: Heimweh.

Schon bald hatten sie sich in kleinen Gruppen zusammengefunden und hockten eng aneinander gekuschelt an windgeschützten Stellen. Einige Hennen schmiegten sich hinter einen Findling, andere erinneren sich ihres angeborenen Scharrtriebs und gruben mühsam eine Kuhle, in die sie sich fröstelnd hineinduckten.

Allerdings gelang es den wenigsten, ihre alten Zellengenossen wiederzufinden. Zu ungeordnet war der plötzliche Aufbruch verlaufen, zu sehr regierte das Chaos, nachdem maskierte Männer in wehenden schwarzen Umhängen die schweren Vorhängeschlösser an den Gittertüren ihrer Unterkünfte gesprengt hatten und ihnen durch Megaphone mitteilten, dass sie jetzt frei und nie wieder gezwungen seien, ein Ei zu legen. Gleichzeitig hatten sie die Hennen aber auch in scharfem Ton dazu aufgefordert, unverzüglich die Batterien zu verlassen.


5.

Treiber war übel. Kräftige Herbstböen rüttelten und zerrten am Polizeihubschrauber. Wie eine betrunkene Hornisse taumelte das Fluggerät über die endlosen Felder.

Am Ziel angelangt, traute der Inspektor seinen Augen nicht. Soweit er blicken konnte, verschönerten kleine Federvieh-Grüppchen die triste Ackerlandschaft. Wäre er nicht über den wahren Grund dieser Versammlung informiert gewesen, hätte er geglaubt, die Invasion vom Hühnerplaneten sei in vollem Gange – und es sei ratsam, das Verteidigungsministerium zu benachrichtigen.

Doch Treiber hatte Wichtigeres zu tun, als sich über die kalt ausgesperrten Vögel Gedanken zu machen: Immerhin baumelte der Herr der Hühner, Eierbaron Herbert von Dinkel, an einem Ast der stolzen zweihunterjährigen Eiche, die an zentraler Stelle im Hof seines geräumigen Anwesens thronte und dem Hausherrn jetzt ein letztes Mal Schatten spendete, bevor dieser für immer von der Vertikalen in die Horizontale befördert wurde.

Der Inspektor hatte die Dorfpolizisten angewiesen, den Baron noch nicht abzuschneiden, damit sie mit ihren groben Bauernhänden eventuelle Fingerabdrücke am Gartenschlauch nicht verwischten. Er überließ die spurensichernde Feinarbeit lieber seinem pudelnassen Spezialistenteam, das soeben auf dem klapprigen Hänger eines Ruß spuckenden Traktors eingetroffen war. Ihren Dienstwagen sowie einen Kollegen hatten sie auf halber Strecke in einem Löschteich der Freiwilligen Dorffeuerwehr zurücklassen müssen, weil der Fahrer sich während der Schüttelpartie auf dem holprigen Feldweg nach einer Goldplombe gebückt hatte, die ihm aus dem Mund gefallen war.


6.

Per Handy-Anruf erfuhr Treiber vom unappetitlichen Mord im Imbisslokal. »Schickt doch Müller von der Sitte hin«, knurrte er ins Mobiltelefon, »oder besser noch den Biermann von den Drogis. Die Grillbude ist doch bestimmt ein Oberdealertreff. Ich hab' jetzt Wichtigeres zu tun. Die Weinprobe ruft,over.«

Bester Laune begab sich der Inspektor an den Ort, wo die Ermittlungen am dringlichsten erschienen. Doch bereits nach ersten, oberflächlichen Recherchen in von Dinkels Weinkeller musste er enttäuscht feststellen, dass der Eiermillionär nicht nur eine Vorliebe für süßen Rotwein gehegt, sondern sich auch ganz mit der Lagerung einer einzigen Marke begnügt hatte: Erlauer Stierblut. Gefüllt mit dieser zuckrigen Scheußlichkeit stapelten sich in luxuriösen Tropenholzregalen mehrere tausend Flaschen, und die Fingerprobe an einem Testexemplar bestätigte die Vermutung des Inspektors, dass die gläsernen Zeugnisse eines kranken Geschmacks und verdorbenen Charakters täglich vom Staub befreit wurden.

Treiber drängte sich der Gedanke auf, der Verlust eines Menschen von solcher Kultur- und Stillosigkeit sei im Grunde nicht zu bedauern. Dann entdeckte er die Gattin des Weinkenners.

In einer dunklen Ecke des Kellerraums hockte Frau von Dinkel auf einem Campingstuhl. Ihre Augen starrten Treiber an, als sei sie vom Strahl seiner Taschenlampe überrascht, doch der Inspektor wusste, dass in diesen Augen kein Leben mehr flackerte. Er war überzeugt davon, dass Madame Dinkel sich das Filetiermesser, dessen Griff von ihren schmalen, knochigen Händen umklammert wurde, nicht aus eigener Kraft und freiem Willen in den stattlichen Bauch gestoßen hatte. Zumindest hatte ihr jemand dabei geholfen. Dieser Jemand hatte ihr auch ein Geschenk dagelassen, eine Dose „Hühnersuppe nach Gutsherrenart“, die ein wenig verloren im Schoß der Verblichenen lag.

Der Inspektor beschloss, die Dose in der Küche der Verstorbenen auf ihren Inhalt zu überprüfen, schließlich musste man ja jeder, auch noch so winzigen Spur nachgehen. Doch die Bedienung des chinesischen Mikrowellenherds war ihm nicht vertraut. Und während sich die ungeöffnete Dose in ihrem Strahlengefängnis bedenklich aufzublähen begann, biss Treiber seufzend in sein Leberwurstbrötchen, das er vor Dienstbeginn für zwei Euro fünfzig am Bahnhofsautomaten gezogen hatte. Der hungrig miauenden, um seine Trekkingsandalen streichenden gelben Katze versetzte er einen Tritt, denn er war davon überzeugt, dass Katzen genügend Talente besaßen, um für ihren Lebensunterhalt selbst sorgen zu können.


7.

Eigentlich gehörte der abgelegene Hof nicht mehr zu seinem Bezirk, doch als der Eiermann die telefonische Anfrage erhielt, ob er am Nachmittag sechshundert braune Eier zu dreißig Cent liefern könne, war die Freude über ein zusätzliches Geschäft größer als die Angst vor eventuellem Ärger mit dem Kollegen des Nachbarreviers. Außerdem schuldete ihm dieser ohnehin noch einen Gefallen, schließlich hatte er vor Jahren am Ostermontag dessen schielende Tochter vor dem sicheren Tod bewahrt, als ein aufgebrachter Zuchtbulle das Mädchen auf die Hörner nehmen wollte, weil es mit einem roten, kölnischwassergetränkten Seidentaschentuch provozierend vor den Nüstern des Kolosses herumwedelte.

Bereits mehrmals hatte der Eiermann vergeblich an der Haustür des heruntergekommen Kottens geklingelt. Er wollte gerade verärgert wieder kehrtmachen, als ihm doch noch geöffnet wurde. Eine schwarz gekleidete Gestalt mit Augenmaske trat ihm entgegen, den rechten Arm hinter den Rücken gebogen, als hielte die Hand dort irgendetwas verborgen. Mit eisiger Stimme, in der eine Spur Hohn mitklang, ließ der Mann ihn wissen, er könne die Eier behalten, sein Geld bekäme er trotzdem.

Der Eierlieferant, in dessen koreanischem Kombi sechshundert frische, braune Arbeitsprodukte von glücklichen Legehennen ungeduldig darauf warteten, sich in einen lockeren Biskuitteig, ein saftiges Omelette oder einen pikanten Salat zu verwandeln, kam nicht dazu, sich über die mögliche Bedeutung dieser Worte Gedanken zu machen. Er nahm gerade noch die schnelle Bewegung war, mit der der rechte Arm des schwarzen Mannes aus seiner Deckung nach vorne schoss und einen länglichen Gegenstand auf ihn richtete. Bevor sich unzählige kleine Nadelstiche, die ihn für den Bruchteil einer Sekunde am ganzen Oberkörper kitzelten, in wütende, brennende Messerhiebe verwandeln konnten, hatte sich bereits der Schleier ewiger Dunkelheit über seine kurzsichtigen Augen gelegt: eine Finsternis, in der für Gedanken und Gefühle kein Platz mehr war.

Die aus nächster Nähe abgefeuerte Schrotladung katapultierte den Eiermann in die Mitte des Hofs, direkt neben seinen Wagen. Der Maskierte lud seine Flinte nach, machte einen eleganten Schritt über den zerfetzten Körper, öffnete die Hecklappe des Autos, richtete den Gewehrlauf ins Innere und verhalf den sechshundert Eiern zu einem Schicksal, von dem sie nicht unbedingt geträumt hatten: Er machte Rührei aus ihnen.


Hühner 2.

Er hatte es satt. Aufgebracht stellte Karl Spiekerkötter, frisch diplomierter Agrarwirt und nebenberuflich erfolgreicher Rauhaardackelzüchter, den Hühnern, die ohne Genehmigung auf seinem Grund und Boden campierten, ein Ultimatum. Wenn sie nicht vor Ablauf von vierundzwanzig Stunden sein Land verlassen hätten, würde er die Rottweiler auf sie hetzen oder die neue Rübenerntemaschine einsetzen.

Die Vögel schreckte das wenig. Sie hatten mit ganz anderen Schwierigkeiten zu kämpfen. Ein großer Teil von ihnen war bereits Opfer der ungewohnten körperlichen Anstrengungen geworden und an Erschöpfung zugrunde gegangen, viele waren dem Hungertod nahe, andere hatte die Kälte dahingerafft.

Auch die gefräßigen Bussarde halfen, das heimatlose Hühnervolk zu dezimieren. Unter den Greifvögeln hatte es sich im ganzen Land in Windeseile herumgesprochen, dass auf diesem Acker abertausende von lebensmüden Hennen versammelt waren, um sich freiwillig jedem, der über einen kräftigen Schnabel und einen gesunden Appetit verfügte, als kostenloser Pausensnack anzubieten. Eine weise alte Waldohreule äußerte die Vermutung, dass es sich hierbei nur um einen Fall von perfekter Massenhypnose handeln könne und dass der Geheimdienst der Rotfüchse dahintersteckte. Doch die Mehrheit der Greife favorisierte die Theorie eines aufgeweckten jungen Sperbers, ausschließlich bewusstseinserweiternde Drogen spielten hier ein Rolle.

Schon bald fühlten sich Hühnerhabichte, Wanderfalken und Rotmilane wie im Schlaraffenland, und der Acker verwandelte sich in ein Schlachtfeld. Einzelne Hühner, die noch Energiereserven besaßen, versuchten, in Kaninchenbauten Schutz vor den scharfen Krallen der Räuber zu suchen, doch die herzlosen Erdhöhlenbewohner, die auch Angst um ihre Wintervorräte hatten, verwehrten ihnen das Asyl und trieben sie wieder ans Tageslicht.


8.

Von seinem Motordrachen aus konnte sich der Pressesprecher des Tierschutzverbandes ein exaktes Bild vom Ausmaß der Tragödie machen. Er schätzte, dass bereits etwa die Hälfte der Hennen auf ihrer Flucht umgekommen war, und machte sich eine entsprechende Notiz in seinem Berichtsheft. Er wusste nicht, dass diese Mühe vergebens war und die für den nächsten Vormittag angesetzte Pressekonferenz ohne ihn stattfinden würde. Auch als der Motor zu stottern begann, weil eine unaufmerksame Brieftaube den Luftfilter verstopfte, kam ihm nicht der Gedanke, dies könne sein letzter Aufklärungsflug sein.

Die Greifvögel freuten sich über den Absturz des Störenfrieds, brauchten sie sich doch die Schnäbel nicht schmutzig zu machen, um den seltsamen fliegenden Konkurrenten davon zu überzeugen, dass hier für ihn nicht ein einziges Hühnerbein zu holen sei.


9.

Sogar die Tagesschau sendete den Warnhinweis. Niemand wusste genau, wieviele vergiftete Marmorkuchen der badischen Großbäckerei „Goldzahn“, die eine umsatzstarke deutsche Diskountladenkette mit ihren Backwaren belieferte, bereits in Kundenhand waren – auch Lausig nicht, der sich am Nachmittag noch zwei Stückchen „Goldzahn“-Mohnkuchen hatte schmecken lassen. Ebenfalls unbekannt war, wieviele Giftkuchen schon verzehrt waren, und man rätselte, ob sich die Zahl der Opfer – bislang waren sechs Menschen qualvoll ums Leben gekommen – weiter erhöht hatte.

Lausig wusste nur eines: Die Großbäckerei bezog ausschließlich Eier aus Herbert von Dinkels Legefabrik. Und auch der eigentlich nur nach Backpulver schmeckende Marmorkuchen enthielt, wollte man den Angaben des Herstellers Glauben schenken, Eier.

Eine böse Ahnung befiel Treibers Assistenten. Lausig rannte in den Keller und wühlte so lange im Gelben Müllsack, bis er die Verpackungsfolie seines Mohnkuchens gefunden hatte. Auf dem verschmierten Etikett stand unter der Überschrift „Zutaten“, genau zwischen „Backtriebmittel“ und „naturidentische Aromastoffe“, das Wort „Eier“.

Lausig, dessen Magen plötzlich klagende Laute von sich gab, sprach spontan ein Gebet, das er seit seinem siebten Lebensjahr nicht mehr bemüht hatte. Den Text variierte er allerdings leicht: „Mein Gott, das darf doch nicht wahr sein.“ Dann eilte er ins Bad und steckte Zeige- und Mittelfinger in seinen Hals.


10.

Im Büro des Futtermittelgroßhandels sprang der lange Zeiger der Wanduhr auf die Zwölf: Mittagspause. Mitten im Satz stoppte Elke Schwätzer die Tippbewegungen ihrer grazilen Finger.

Seit fast dreizehn Jahren war Elke die Sekretärin des graumelierten Geschäftsführers – und seit dem letzten Betriebsausflug jeden Mittwoch zwischen 18 und 19 Uhr seine Partnerin in diversen erotischen Disziplinen.

Den ganzen Vormittag freute sie sich schon auf das Kantinenessen, denn am ersten Freitag im Monat gab es immer gefüllte Heilbuttmäuler auf Spitzkohlbett mit Curryreisbällchen. Doch vor allem hatte es ihr der Nachtisch angetan, von dem sie sogar in Vollmondnächten regelmäßig träumte: Yorkshire-Pudding mit West-Highland-Sauce.

Aus verständlichen Gründen war Elke nicht besonders erfreut darüber, dass vier Sekunden nach Pausenbeginn noch zwei Kunden ihr Büro betraten. Doch „freundlich und hilfsbereit sein in allen Lebenslagen“ war ihr unumstößliches Grundprinzip, dem sie auch treu geblieben war, als ihr Chef sie nach dem ersten hastigen Beischlaf barsch dazu aufgefordert hatte, ihr schnell noch das Loch im rechten Socken zu stopfen. „Aber gern, Walter“, hatte sie geantwortet. So richtete sie auch jetzt mit flötender Stimme die Frage an die Besucher, was sie denn auf dem Herzen hätten, worauf die Herren antworteten, sie wünschten den Geschäftsführer zu sprechen.

Elke Schwätzer schaute sich die beiden Kunden genauer an. Weil sie in einer Karnevalshochburg aufgewachsen war, hatte sie die Zorro-Maskerade der Männer zunächst nicht weiter irritert. Doch nun fiel ihr ein, dass die tollen Tage längst vorbei waren und man in dieser lustfeindlichen protestantischen Gegend mit Jeckentum und Narretei sowieso nicht viel am Hut hatte. Vor allem konnte sie sich überhaupt nicht erklären, was die Revolver zu bedeuten hatten, mit denen die Maskierten nervös vor ihrer Nase herumfuchtelten.

Elke hielt es für besser, nicht weiter nachzufragen und ihren Chef zu informieren: „Herr Distelmann, hier sind zwei Herren, die nur Ihnen persönlich etwas aushändigen wollen“.

Distelmann, der mittags immer nur eine Erdbeerdickmilch und eine Scheibe Neunkornknäckebrot in seinem Büro zu sich nahm, glaubte, zwei Vertreter mit attraktiven Werbegeschenken in ihren Musterkoffern beehrten ihn. Gutgelaunt forderte er seine Sekretärin auf, sie solle die Herren zu ihm schicken. Er hatte bereits die Cognacflasche und drei saubere Gläser auf den kleinen Konferenztisch gestellt, war sich mit dem pinkfarbenen Taschenkamm zweimal schnell durchs ölige Haar gefahren und wollte sich gerade eine kubanische Zigarre anzünden, als die Bürotür aufflog und er auf eine Weise Feuer bekam, dass ihm die Havanna aus dem Mund fiel.

Distelmanns altmodische Breitwandkrawatte zierten vier frische, schwarzgeränderte Löcher. Der Geschäftsführer taumelte zwei Schritte zurück, um dann seufzend im Hydrokulturkasten Platz zu nehmen: ein taktisches Manöver, das dem ausgemergelten Drachenbaum das enthaltsame Leben kostete.

Elke Schwätzer sparte sich die Frage, ob die Herren Kaffee wünschten. Die durchs Vorzimmer auf den Ausgang zu hastenden Männer hätten ihr ohnehin nicht geantwortet.

Neugierig stakste sie auf ihren nagelneuen goldenen Stilettos in das Büro ihres Chefs. Ganz automatisch öffneten ihre gepflegten, schlanken Hände die beiden oberen Knöpfe ihrer Seidenbluse.. Fasziniert beobachtete sie ihren im Blumenkasten sitzenden Brötchengeber eine ganze Weile dabei, wie er sich eifrig abmühte, noch den einen oder anderen rasselnden Atemzug zu tun.

Das blutspuckende Röcheln erinnerte Elke daran, wie ihr Chef an einem Karfreitag, sie hatten damals gerade recht unbefriedigende gemeinsame Turnübungen auf dem spartanischen Rücksitz seines englischen Sportwagens abgeschlossen, eine winzige Schachtel Pralinen aus dem Aktenkoffer zog und ihr das Präsent mit generösem Grinsen überreichte. Stunden später, allein in ihrer Wohnung und bevor sie den ungeöffneten Karton fluchend dem Müllschlucker anvertraute, fiel ihr Blick auf das Verfallsdatum der grauen Weinbrandbohnen. Neunzehnter September, las sie. Und sie las ihr Geburtsjahr.

Ohne jegliche Gefühlsregung rückte Elke Schwätzer die ramponierte, verrutschte Krawatte ihres Chefs zurecht und erneuerte mit kräftiger Hand den Knoten. Das hässliche Atemgeräusch erstarb.

Während sie von Distelmanns Apparat aus die Polizei verständigte, fiel ihr Blick auf die kleine Visitenkarte, die neben dem Telefon lag. „Ein letzter Gruß“, war in schlichten Buchstaben darauf gedruckt. Und darunter stand, in einer festen, entschlossenen Handschrift: „Zwei Hühnerfreunde“.
11.

Lausig musste Überstunden machen. Er hielt es für überflüssig, dass sein Boss immer noch auf den Toiletten der Großbäckerei nach Spuren der Täter, die Tollkirschensaft in die gigantischen rotierenden Teigschüsseln geschüttet hatten, suchte. Er fragte sich, warum Treiber nicht einfach die Mitarbeiter von der Qualitätskontrolle in die Mangel nahm, das hielt er für effektiver. Seufzend hob er die transparente Plastiktüte mit der durchlöcherten Krawatte gegen die Neonröhre an der Decke, ohne dass ihm dies die Erleuchtung brachte, wie dieser seltsame Fall bloß aufzuklären sei.

Am meisten nervte Lausig, daß die Sekretärin des Ermordeten weiterhin steif und fest behauptete, diesen Mann noch nie in ihrem Leben gesehen zu haben. Zu allem Überfluss goss sie jetzt auch noch zum wiederholten Mal aus einer kleinen Kupferkanne Wasser in den Hydrokulturkasten, als ließe sich so die Wiederauferstehung des niedergemetzelten Grünzeugs erzwingen. Dass sie bei dieser rituellen Tätigkeit unablässig die Melodie von „Like A Virgin“ summte, nahm Lausig schon gar nicht mehr wahr. Es wurde Zeit, dass er die Patronenhülsen fand, welche die Killer am Tatort zurück gelassen haben mussten, nachdem sie die Magazine ihrer Automatikpistolen auf den Futtermittelmanager geleert hatten.

Dabei hatte Lausig die Hülsen beim erstmaligen Betreten des Büros selbst in die eigene Hosentasche gesteckt. Die unheimliche Sammelleidenschaft hatte so sehr von ihm Besitz ergriffen, dass er mittlerweile ganz automatisch handelte, ohne sich seines Tuns bewusst zu sein. Erst wenn er nach Dienstschluss zu Hause seine Taschen leerte und die neuen Hülsen zu den zahllosen anderen in die große blaue Regentonne warf, die im Wohnzimmer direkt neben dem elektrischen Klavier stand, und seine Frau ihren üblichen Spruch aufsagte – wozu das alles gut sein solle, man könne ja niemanden mehr einladen, ohne dass man in Verdacht gerate, den Verstand verloren zu haben undsoweiter – erst dann erinnerte er sich daran, Beweismaterial beiseite geschafft zu haben. Aber er hatte sich nun mal in den Kopf gesetzt, die Tonne bis zum Rand zu füllen, um dann ins Guiness-Buch-der-Rekorde aufgenommen zu werden.

Gähnend blickte Lausig noch einmal in Distelmanns Papierkorb, doch außer einer halb vollen Hamburger-Schachtel, die ein Kollege vor kurzem hineingeworfen hatte, war der Inhalt der selbe: Ein grüner Plastik-Wellensittich, ein in vier Teile gerissenes Foto von Mutter Theresa und eine entwertete Eintrittskarte für die letzte Brüsseler Damenunterwäsche-Messe fürchteten sich davor, der resoluten Raumpflegerin in die rissigen Hände zu fallen.


12.

Zwei Telefonanrufe katapultierten die ohnehin schon gute Laune des Vorstandsvorsitzenden der Laubensänger AG in ungeahnte Höhen: Im ersten Telefonat teilte ihm der farblose Leiter der Exportabteilung in gewohnt leidenschaftslosem Ton mit, soeben habe der brasilianische Minister für Wiederaufforstung einen Vertrag über den Erwerb von fünfzigtausend wassergekühlten Motorsägen der Marke „Lambada“ ratifiziert. Das zweite stimmungsfördernde Gespräch, das der hagere Mittfünfziger im Nadelstreifenanzug vorsichtshalber über sein privates Handy im luxuriösen Bad seiner Bürosuite hoch über den Dächern von Frankfurt führte, informierte ihn über das Gelingen der Operation „Marmorkuchen“. Besonders erfreut zeigte er sich darüber, dass bislang elf Liebhaber des ekelhaft süßen Billigbackwerks für ihren unkritischen Konsum bestraft worden waren – und dass in weiten Kreisen der kariesverseuchten Bevölkerung eine regelrechte Panik herrschte.

Auch die Meldung, die er wenig später bei einem Tässchen Espresso und einem Gläschen Armagnac an seinem gläsernen Designer-Schreibtisch residierend der Tageszeitung entnahm, erfüllte ihn mit Freude: Der Inhaber der Großbäckerei hatte sich in Gegenwart seiner herzkranken Mutter mit einer Jagdflinte in den Mund geschossen und kämpfte auf der Intensivstation der Uniklinik mit dem Leben.

Der Vorstandsvorsitzende drückte dem Kuchenunternehmer die Daumen, dass er es möglichst bald hinter sich haben werde. Für einen Backmogul, der Eier von bedauernswerten KZ-Hennen verwandte, sei dies noch eine recht milde Strafe, fand er – und wies seine Sekretärin an, für zwanzig Uhr einen Tisch im „Donaublick“ zu bestellen. In dem ungarischen Spezialitätenrestaurant trugen die Stehgeiger noch echte Bärte, der Einsatz von Schweineschmalz in der Küche galt noch nicht als Kapitalverbrechen, und der fassbäuchige Chefkoch servierte sein berühmtes flambiertes Hühnerpörkölt höchstpersönlich in einem silbrig-blitzenden Gary-Glitter-Anzug..


13.

Auf Inspektor Treiber lastete ein enormer Druck. Der Staatssekretär des Innenministers hatte sich bereits nach dem Stand der Ermittlungen erkundigt, und der Polizeipräsident befürchtete, das Bundeskriminalamt könne sich schon bald einschalten. Was das für ihn und Lausig bedeuten würde, wusste Treiber nur zu genau. Mindestens ein Dutzend sterbenslangweiliger Fälle nur darauf, endlich gelöst zu werden. Doch der Inspektor war wirklich nicht scharf darauf herauszufinden, wer der Wahrsagerin auf der letzten Frühjahrskirmes mit ihrer Kristallkugel den Schädel eingeschlagen hatte.

Die ständigen Anrufe von aufgebrachten Bäckern und Konditoren, die um ihre Existenz bangten, rüttelten an Treibers Nerven. Die ganze Nation schien im Augenblick ihren Hunger auf Süßes allein mit Gummibärchen zu stillen. Besonders ärgerte es den Inspektor, dass sein Brötchenlieferant gedroht hatte, ihm jeden Morgen eine tote , halb verweste Ratte statt der Croissant-Tüte vor die Haustür zu legen, falls er seinen Job verlieren würde. Treiber beschloss, die aufkommende Depression mit Koffein zu bekämpfen.

Aus dem Gehäuse des Automaten ertönte ein geschäftiges Quietschen und Knarren, doch der Plastikbecher blieb leer. Dafür traf der plötzlich fast vertikal herausschießende, heiße Kaffeestrahl zielgenau Treibers rechte Hand, die gerade damit beschäftigt war, den störrischen Reißverschluss seiner Cordhose zu bändigen. Die Hand des Inspektors nahm die Färbung eines Hummers an, der im siedenden Kochwasser sein letztes Lied pfiff.

Ohne mit der Wimper zu zucken ,versetzte Treiber dem Automaten einen derart heftigen Fußtritt, dass die roten Leuchten neben den Sensor-Bedienungstasten SOS blinkten. Der Inspektor sprach ein Stoßgebet, legte die neulich auf dem Klo gefundene Kaffee-Chipkarte in das Lesefach des High-Tech-Geräts und drückte auf den Latte-Macchiato-Knopf. Ein mahlendes Kreischen und Dröhnen entfuhr dem mannshohen Kasten, als beherberge er ein Sägewerk. Der Automat begann zu zittern und steigerte sich dann in einen Schüttelfrost hinein. Dann stöhnte er kurz laut auf und ließ leise röchelnd drei oder vier Tropfen einer milchig-wässrigen Flüssigkeit in den Becher fallen.

Ein paar Sekunden lang passierte gar nichts, und eine unheimliche Stille breitete sich im Flur des Polizeipräsidiums aus. Der Inspektor wollte gerade wieder zutreten, da schoss ein dunkler, dampfender Strahl zischend in den braunen Plastikbecher. Der Kaffee, der im recyclefähigem PPP-Gefäß keinen Platz mehr fand, ergoss sich in auf Treibers neue, noch nicht imprägnierte Wildlederschuhe.

Dem Inspektor war der Kaffeedurst vergangen. Aber er war froh, am Morgen nach dem Duschen vergessen zu haben, Socken anzuziehen.

Durch das feuchte Gefühl an seinen Zehen ein wenig irritiert, schlurfte er in Richtung Dienstzimmer, ohne zu merken, dass er hartnäckig von einem schmalen Kaffeerinnsal verfolgt wurde. Doch bevor der koffeinhaltige Bach Kontakt mit Treibers frisch gereinigtem Büroteppichboden aufnehmen konnte, wurde ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen.

Es sollte zwei Monate dauern und drei Kundendienst-Crews an den Rand des Wahnsinns bringen, bis der Kaffeeautomat wieder voll funktionstüchtig war. Während dieser Epoche löste im Morddezernat der Teebeutel die filterlose Zigarette als Hauptwährung für innerbehördliche Wettgeschäfte ab, konnte allerdings nicht verhindern, dass sich die Aufklärungsquote bei Tötungsdelikten um fast fünfzig Prozent verringerte.


14.

Mit hochrotem Kopf und verweinten Augen saß Elke Schwätzer immer noch auf dem unbequemsten Sitzmöbel des Präsidiums, einem betagten Klapp-Regiestuhl aus dem Angebot eines erfolgreichen skandinavischen Möbelhauses. Treiber hatte das gute Stück vor längerer Zeit einmal von Zuhause mitgebracht. Um den weiten Weg zur Wertstoffsammelstelle zu sparen, hatte er den Folterstuhl eines frühen Morgens einfach heimlich an der Trauerweide vor dem Haupteingang abgestellt, so als. habe der Schwedenklapper dort eine Verabredung mit einem städtischen Sperrmüllagenten. Irgendwie war der Klappstuhl dann dienstverpflichtet worden,: Man hatte sein Talent als geständnisförderndes Verhör-Accessoire entdeckt. Treiber hatte den Verdacht, dass sein Assistent dahintersteckte.

Verstört blinzelte Frau Schwätzer ins grelle Licht der altertümlichen, metallenen Schreibtischlampe. Ihr Rücken schmerzte höllisch und ihr Gesäß kribbelte unangenehm, als beabsichtige es, gleich einzuschlafen. Um das Verhör noch zu beschleunigen und der Verdächtigen ein Geständnis zu erleichtern, hatte Treiber die 40-Watt-Birne gegen eine Hunderter ausgetauscht, Das überhitzte Lampenblech reagierte mit einer unanständig riechenden Ausdünstung. Erste kleine Blasen zeigten sich auf dem roten Lampenschirmlack.

Doch Treibers Maßnahme war erfolglos. Das einzige, was der Inspektor der störrischen Sekretärin entlockte, war die unter lautem Schluchzen gestammelte Erklärung, sie habe ihrem Chef nur die Krawatte gerade gerückt. Ansonsten täte es ihr wirklich aufrichtig leid, den neuen Azubi um einen kleinen Gefallen gebeten zu haben. Sie habe ihn nur gefragt, ob er für die hungernden Hühner ihrer auf dem Land lebenden Großmutter einen Zwanzig-Kilo-Sack Fischmehl aus dem Lager holen könne – und ihn gebeten, den Sack dann im Kofferraum ihres Wagens zu deponieren. Natürlich sei sie bereit, das Futter zu bezahlen und der Kegelkasse ihrer Abteilung einen Extrabetrag zukommen zu lassen. Ob zehn Euro reichen würden …

Inspektor Treiber zögerte lange mit einer Antwort, schrie dann aber so plötzlich wie unbeherrscht „Nein, das reicht keineswegs“, so dass zwei besorgte Kollegen aus dem Nebenraum mit gezogen Dienstwaffen hereinstürzten. Treiber nutzte die dramatische Situation aus und herrschte die unter Schock stehende Sekretärin an, wo sie eigentlich die beiden Revolver und die leeren Patronenhülsen versteckt habe, und ob sie glaube, ihn für dumm verkaufen zu können.

Elke Schwätzer rutschte bewusstlos vom Stuhl. Die Kollegen, die ihre Walther-Pistolen längst wieder eingesteckt hatten, wünschten Treiber viel Glück bei der Mund-zu-Mund-Beatmung und verließen grinsend sein Büro. Der Inspektor öffnete die Schreibtisch-Schublade, nahm einen kleinen Handspiegel heraus, zog die Stirn in Falten und fragte das zersprungene Spiegelglas, warum er nicht Schuhverkäufer geworden sei.

Statt einer Antwort klingelte das Telefon. Es war Lausig.. Gelangweilt berichtete er seinem Chef von den Morden im Hühner-Grill, nicht ohne zu kommentieren: »Das waren bestimmt vegetarische Lesben, da wett‘ ich drauf.« Und er hatte noch eine interessante Neuigkeit parat: Vor einer Viertelstunde sei die Abfüllanlage der Eierlikörfabrik in die Luft geflogen.. »Eine Riesensauerei«, bemerkte Lausig trocken..
Treiber legte auf und wählte die Nummer der Telefonseelsorge.. Während das Besetztzeichen ertönte, erwachte Elke Schwätzer aus ihrer Ohnmacht und stammelte etwas von Weinbrandbohnen.


Hühner 3.

Die Greifvögel waren satt wie lange nicht mehr. Einige hatten Mühe, ihre Schlafbäume zu erreichen, zu sehr zerrte die Schwerkraft an ihren aufgeblähten Leibern. Ein betagter Mäusebussard versuchte erst gar nicht, zu seinem Lieblingsast, der sich in der Krone einer majestätischen Blutbuche sanft im Wind wiegte, empor zu flattern. Gähnend machte er es sich im Löwenzahn einer an den Hühneracker angrenzenden Kuhweide bequem. Ein leichtes Sodbrennen hinderte ihn daran, sofort einzuschlummern. Er nahm sich vor, das nächste Mal etwas weniger von der Leber zu nehmen und mehr von dem mageren Brustfleisch zu essen, das war bekömmlicher.

Die von einem großen Fast-Food-Konzern gemieteten Helikopter warfen ihre Fangnetze ab, doch im Grunde hätte sich die Firma diesen aufwändigen und teuren Einsatz sparen können. Die Hennen, die überlebt hatten, waren viel zu matt um zu fliehen. Es hätte genügt, sie einfach auf dem Acker einzusammeln wie reife Kartoffeln.

Das Bodenpersonal fluchte. Schnell und unbürokratisch hatte die Bundesagentur für Arbeit eine Hundertschaft langzeitarbeitsloser Geisteswissenschaftler zur Verfügung gestellt, desillusionierte Hartz-IV-Empfänger, die sich gern eine warme Mahlzeit verdienten. Doch für die Akademiker war es jetzt schwierig, die ausgemergelten Körper aus den Netzen zu ziehen. Füße und verbliebene Federn verhedderten sich häufig in den Maschen, so dass einige Hühnerfänger entgegen ausdrücklicher Anweisung der Einsatzleitung zum Taschenmesser griffen, was allerdings keinerlei Auswirkungen auf ihre Vergütung hatte: Ihren Teller dünne, lauwarme Hühnersuppe plus Semmel vom Vortag erhielten sie trotzdem.

Ein paar Hühner besaßen noch letzte Energiereserven. Sie lagerten nicht weit vom Rand eines Maisfeldes entfernt, dort, wo sich ein schmaler netzfreier Streifen befand. Es gelang ihnen, ihren Häschern zu entkommen. Zwischen den dichtstehenden Maispflanzen war es den Fängern unmöglich, nach einzelnen Vögeln Ausschau zu halten, außerdem hatten sie keine entsprechenden Instruktionen.

Eine Henne mit noch erstaunlich dichtem Federkleid blieb, kurz bevor sie den schützenden Mais erreichte, mit den Beinen in einem frisch ausgeworfenen Maulwurfshügel stecken, so dass sie den bleichen, sehnigen Händen eines Diplom-Soziologen hilflos ausgeliefert war. Brutal packte der arbeitslose Gesellschaftswissenschaftler den Vogel an den Flügeln, riss ihn aus der Erde und steckte ihn kopfüber in einen Kartoffelsack, in dem bereits mehrere gefangene Hennen um Atem rangen.

Sie alle ahnten nicht, dass ab der kommenden Woche in sämtlichen Filialen der Fast-Food-Restaurant-Kette eine Sonderaktion startete, die von einer gewaltigen Fernseh-, Radio- und Internet-Werbekampagne begleitet wurde: Sechs zarte Hähnchenbrustfiletstäbchen in knusprig gebackenem Teigmantel mit Pußtasauce und Maisbrötchen für schlappe drei Euro fünfzig.


15.

„Blinded by the light.“ Zum tausendsten Mal schob der hagere Mann hinterm Steuer des cremefarbenen Beetle-Cabrios seine Sonnenbrille zwei Zentimeter nach oben. Zweifellos war seine Nase der Körperteil, der über die fleißigsten Schweißdrüsen verfügte.

„Revved up like a deuce, another runner in the night.“ Der Rocksender spielte im Bordradio einen absoluten Favoriten aus Hans Vanhortens wilder Jugendzeit, doch das konnte den Unternehmer nicht aus seiner düsteren Stimmung reißen. Er war immer noch sauer, dass seine Gattin ihm den Porsche vor der Nase weggeschnappt hatte, um die paar hundert Meter bis zum Promi-Coiffeur stilgerecht zurückzulegen. Ihm war nur noch der Volkswagen geblieben. Denn der Ferrari war zur Inspektion – und der klobige englische Geländewagen taugte nur zum Katzenjagen bei Sauwetter.

„Helga, Helga“, murmelte der Eierlikörfabrikant, „allein dafür hast du die Scheidung verdient“. Sofort fiel ihm der Ehevertrag ein. „Verdammt“, brüllte Verhorten, knüppelte den dritten Gang rein und drückte das Gaspedal durch. „Lahme Karre“, knurrte er, als er einen Tanklastwagen überholte.

Am Himmel zeigten sich jetzt immer mehr dunkle Wolken. Vanhorten schätzte, dass er noch mindestens eine Stunde bis zur restaurierten alten Wassermühle unterwegs sein würde. Die Mühle war nicht nur ein gemütliches Wochenendhäuschen mit Sauna und Schießstand, sondern diente auch als kuscheliges Liebesnest.

Gut dass ich nicht die Autobahn genommen habe, dachte Vanhorten, sonst wäre ich ja verrückt geworden mit dieser Krücke. Er erinnert sich daran, dass er sich den Mund fusselig geredet hatte, um seine Frau davon zu überzeugen, die Finger von diesem Wagen zu lassen. Dem Vehikel fehlten eindeutig die Muskeln, hatte er argumentiert, ohne die man im modernen Straßenverkehr nur Fischfutter sei.

Natürlich hätte er sich die Worte sparen können, er war noch nicht eimal überrascht von der Hartnäckigkeit, mit der seine Frau ihren Wunsch verteidigte: Schließlich war Helgas Sternzeichen der Stier. Ihr gefalle eben die Linienführung des Wagens, hatte sie geflötet, außerdem sei der Zigarettenanzünder in einer optimalen Position angebracht, Vanhorten hatte nur noch die Augen verdreht.

Das ist eine Verschwörung dachte er, und seine Laune erreichte einen neuen Tiefpunkt. Die Wolken hatten sich zu einer geschlossenen Decke zusammengerottet und trugen jetzt dunkelstes Trauerschwarz. Vanhorten wusste, dass sie nichts Gutes im Schilde führten.

Bang fragte er sich, ob seine Frau endlich das Verdeck hatte reparieren lassen, das seit Ewigkeiten schon klemmte. Doch viel Hoffnung hatte er nicht, und das machte ihn wütend. Vielleicht hilft Beten ja, dachte er – und musste über diese absurde Idee grinsen. Doch während er im Spaß noch überlegte an welchen Heiligen er ein derartiges Gebet richten solle, tauchte etwas auf der Straße auf und veranlasste ihn zu einer Vollbremsung.

Kurz vor der Tanne, die quer über der schmalen Landstraße lag, kam Vanhortens Wagen zu stehen. Erste dicke Regentropfen klatschten auf das spärlich behaarte Haupt des Unternehmers, doch Vanhorten dachte überhaupt nicht daran, den Verdeckmechanismus auszuprobieren, Gebannt starrte er auf die Schiefertafel, die zwischen den Zweigen des gefällten Baumes steckte. Auf der Tafel stand irgendetwas geschrieben.

Vanhorten stieg aus. Jetzt stand er unmittelbar vor der Schiefertafel und konnte erkennen, dass es genauso ein Modell war, wie er es in der Volksschule benutzt hatte. „Wir warten auf dich, Vanhorten“, las er. Und: „Folgen den Pfeilen, dann findest du Eva.“

Vanhorten begann zu schwitzen. Er fühlte sich wie in der Sauna. Eva ist entführt worden, dachte er. Oder umgebracht. Meine Frau hat etwas erfahren. Oder Evas Mann. Oder ich werde verrückt … Ihm war ganz schwindelig.

Dann bemerke er den großen weißen Pfeil auf der grauen, löchrigen Asphaltdecke. Der Kreidepfeil zeigte direkt zu einem kleinen Trampelpfad, der vom Straßenrand in den Nadelwald hineinführte.

Wie ferngesteuert marschierte Vanhorten mit steifen Beinen in den Wald. Nach vielleicht hundert Metern entdeckte er wieder einen Pfeil aus Sägespänen. Er verließ, den schmalen Weg und kletterte einen Hang empor. Mühsam kämpfte er sich durch dichtes Brombeergestrüpp, zwischen den Fichten wuchs. Vanhorten wusste genau, warum er kaum noch Luft bekam. Kein Sport, die vielen Kippen, der gute Cognac …

Auf die Rinde einer besonders dicken Fichte war mit leuchtend weißer Farbe ein Pfeil gemalt. Vanhorten kam sich vor wie auf einer Schnitzeljagd. Die Nostalgieabteilung seines Hirns spuckte eie wahre Bilderflut aus: Pfadfinderlager, Lieder am abendlichen Feuer, durchnässter Schlafsack, Waschen im eisigen Wildbach, Brombeerensammeln bis die Finger bluten, Panikattacken bei Blitz und Donner, die Übelkeit nach dem Rauchen getrockneter Waldmeisterblätter, der folgenschwere Tritt ins Wespennest, die Mutprobe und das komische Gefühl, wenn ein Regenwurm sich im Magen windet …

Vanhorten riss sich zusammen. Er blieb stehen und gönnte sich eine Minute zum Durchatmen. Dann dachte er wieder an Eva. Es wäre schon schade um sie, aber er war eher neugierig als besorgt. Neugierig auf das, was passiert war, oder das, was ihn erwartete. Und er hatte Angst, sich zu erkälten, denn der kühle Regen war längst bis auf seine Haut vorgedrungen.

Vanhorten folgte einem weiteren Pfeil. Diesmal hatten die Fährtenleger Stoffhandtücher, wie sie in Handtuchspendern von Autobahnraststätten-Klos oder Restaurant-Toiletten verwendet wurden, abgeschnitten – und die weißen Stoffbahnen mit rostigen Zeltheringen passend im Waldboden festgesteckt.

Vanhorten erreichte eine Waldlichtung, in dessen Mitte eine Art Blockhütte stand, Er sah, dass vor der Tür der aus groben Stämmen gezimmerten Hütte etwas lag, und blieb stehen.

Er wusste, was dort lag. Zumindest war er ziemlich sicher, dass es das war, was er sich vorstellte. Nicht, weil er es sich wünschte,. eher, weil er es irgendwie logisch fand. Es würde dem ganzen einen Sinn geben. Doch jetzt wollte er Gewissheit, er wollte den Beweis für seine Vermutung.

Als er auf die Blockhütte zuging, zitterten seine Beine und er hatte einen dicken Kloß in der Kehle. Der Regen legte eine Pause ein. Vanhorten sah jetzt, dass er mit seiner Vermutung richtig lag. Und doch war er überrascht.

Auf dem mit Sägespänen übersähten kleinen Vorplatz der Hütte lag Eva. Vanhorten erkannte sie an dem extravaganten Brillengestell, das er für sie ausgesucht hatte. Ein Vermögen hatte er für das Designer-Modell hingeblättert. Aber als Dankeschön hatte ihm Eva für das nächste Wochenend-Rendezvous in der Wassermühle auch etwas ganz Besonderes versprochen.

Eva lag ausgestreckt auf dem Waldboden, den Blick in den grauen Himmel über der Waldlichtung gerichtet. Sie war nackt. Und doch nicht ganz. Ihr Körper war, bis auf den Kopf, von etwas Undefinierbarem bedeckt.

Hans Vanhorten trat ganz nah an die Liegende heran. Und dann hatte er eine Ahnung, um was es sich handelte, mit dem der wohlgeformte Body seiner Freundin dekoriert war.

Als er sich hinunterbeugte und an der Masse, die Eva bedeckte, schnupperte, wusste er es: Es war Eierlikör. Es sag so aus, als seien mehrere Eierlikörflaschen auf Eva entleert und die klebrige, zähe Flüssigkeit gleichmäßig auf ihrem Körper verteilt worden: auf Armen und Beinen, auf Hals, Brust und Unterleib … Nur nicht auf ihrem Kopf. Lediglich ein kleiner, gelber Likörspritzer hatte sich auf das linke Glas von Evas getönter Brille verirrt.

Der Regen hatte die Eierlikörschicht in einen unappetitlich aussehenden Brei verwandelt. Doch das war noch nicht alles. Als Vanhorten sich ein zweites Mal zu Eva herab bückte und sich prüfend einen kleinen, leichten Gegenstand vor Augen hielt, den er vorher mit spitzen Fingern aus der schleimigen Schicht gefischt hatte, wurde er von Ekel gepackt.

Kein Zweifel, es war eine Feder, was er da fassungslos anstarrte, eine gelblich verschmierte, widerliche Feder. Von einem Huhn vielleicht, oder von einer Ente.

Vanhorten kämpfte gegen einen Brechreiz an. Der noch zunahm, als ihm klar wurde, dass noch viele weitere dieser ekligen Federn die likörverkleisterte Eva schmückten. „Geteert und gefedert“, murmelte der Unternehmer und mühte sich, die kleine Feder abzuschütteln, die hartnäckig an seiner rechten Hand klebte. Es gelang ihm schließlich, sie an einem abgebrochenen Ast, der neben Evas Kopf lag, abzustreifen.

Jetzt erst entdeckte er den kleinen Pfeil, der in der bleichen Haut unterhalb von Evas rechtem Ohr steckte. Vanhorten erinnerte sich an einen Abenteuerfilm, in dem wilde Buschmänner derartige Pfeile mit Blasrohren auf ihre Feinde geschossen hatten. Und weil die Pfeilspitzen in Gift getaucht waren, hatten sie die Getroffenen in Windeseile dahingerafft.

Ob Eva auch auf eine solche Weise…? Vanhorten führte den Gedanken nicht zu ende, denn in diesem Augenblick machte er eine weitere Entdeckung. An dem Pfeil, der aus Evas schlankem Hals ragte, war ein schmaler Streifen Papier angebracht, ein winziger Zettel.

Vanhorten erinnerte dieses Papierfitzelchen an die Miniaturausgabe eines Zettels, wie er an Sträuchern oder Topfblumen befestigt war, wie man sie in einer Gärtnerei oder einem Baumarkt kaufen konnte – und wo der Name der Pflanze aufgedruckt war, die Pflegeanleitung oder Information über den richtigen Standort.

Der Eierlikör-Fabrikant erkannte, das auf dem winzigen Stück Papier etwas geschrieben stand, so klein, dass er die Schrift nicht entziffern konnte. Ich muss näher heran, dacht er. Da er den Pfeil nicht aus Evas Hals herausziehen wollte, um die Zettelschrift lesen zu können, blieb ihm nur eine Möglichkeit: Er musste sich ganz dicht neben Eva legen, die er für tot hielt, daran hatte er gar keinen Zweifel.

Hauptsache, ich berühre sie nicht, dachte er. Die Vorstellung, dass er mit der widerwärtigen Eierlikör-Feder-Masse in Kontakt kam, trieb ihm den Schweiß auf die Stirn.

Als Hans Vanhorten sich ganz behutsam und vorsichtig neben Eva ausstreckte, sein Gesicht so nah wie möglich an ihrem Kopf, fragte er sich, in welchem B-Movie er hier die Hauptrolle spielte. Doch seine Neugier war stärker als der Wunsch, fluchtartig diesen seltsamen Ort zu verlassen und der alptraumhaften Szene den Rücken zu kehren.

Vanhortens Nase nahm den Hauch eines vertrauten Geruchs wahr: Evas Parfum. Normalerweise weckte dieser fruchtig-süßliche Duft sämtliche Lebensgeister in ihm, doch jetzt, in dieser Situation und in anbetracht der ekligen Eierlikörschwaden, die von Evas Körper hochstiegen und sich mit den Parfümresten an ihrem Hals zu einem morbiden Aroma vermischten, verstärke er nur seine Übelkeit. Dann konnte der Fabrikant die winzige Schrift auf dem Mini-Zettel entziffern. „Hühnerschänder, du bist tot!“ las er.

Vanhorten erstarrte vor Schreck. Eine böse Vorahnung packte ihn, und sein Herz begann zu rasen. Er hörte, wie sich Schritte näherten, leise Schritte, gedämpft durch die Sägespäne, die den Platz bedeckten, unheimliche Schritte, die direkt auf ihn zusteuerten. Doch er drehte sich nicht um und richtete sich auch nicht auf. Es wäre sinnlos, dachte er.

Der Eierlikörfabrikant lag da wie gelähmt, wie am Boden festgeklebt. Er hörte, wie sein heißes Blut laut in den Ohren rauschte. In seiner unmittelbaren Nähe verstummten die Schritte. Vanhorten stockte der Atem.

Er wusste, was jetzt passieren würde. Jetzt gleich. Ihm war klar, dass er nur noch Sekunden zu leben hatte. Doch statt ein letztes Gebet zu sprechen, so kurz vor der Reise ins Ungewisse, verwünschte er sich selbst – sich und seine Schwäche, seine erbärmliche Schwäche. Er hasste sich, weil er sich damals von seinem sterbenskranken Vater hatte dazu überreden lassen, die Fabrik zu übernehmen. Wo er doch viel lieber sein Architekturstudium beendet und elegante Hochhäuser gebaut hätte – majestätische Wolkenkratzer für die Ewigkeit, Kunstwerke aus Glas,Metall und Beton in Shanghai, New York, Kapstadt …

Verdammte Fabrik, dachte er, verfluchtes glibberiges Zeug, Und dann spürte er den Schmerz – und sein stummer Zorn auf sich selbst verwandelte sich jäh in eine brennende Neugier: Was hatte sich bloß so überaus peinvoll in seinen Rücken gebohrt?

Hans Vanhorten blieb keine Zeit mehr, dieses Rätsel zu lösen. Nie würde er erfahren, dass ihn ein rostiger Grillspieß ins Jenseits befördert hatte. Ein Spieß, an dem noch die verkohlten Reste von Hühnerfleisch wie Pech klebten.


16.

Die Luft in der geräumigen Jagdhütte war zum Schneiden dick. Trotz der ausdrücklichen Bitte eines asthmakranken Kollegen, aufs Rauchen zu verzichten, hatten sich viele der hier Versammelten eine Zigarette angesteckt. Der am Ende des langen Tisches unter einem Elchgeweih thronende Gastgeber allerdings rauchte Pfeife.. Trotzig blies er ein blaues, süßlich duftendes Wölkchen Richtung Garderobe, doch bereits nach einem Meter wurde es von den grauen Schwaden der Glimmstengel verschluckt.

Weil es die Statuten ihrer Vereinigung so vorsahen, hatten alle Mitglieder der „Legehennen-Befreiungsfront“ ihre schwarze Maske, die sie auch während der Einsätze trugen, über die Augen gezogen. Auf den dazugehörigen dunklen Umhang durften sie hingegen verzichten. Das weite Kleidungsstück aus nachtschwarzer Viskose lag frisch gewaschen, gebügelt und sorgsam zusammengefaltet genau dort, wo es hingehörte: in der ledernen Einsatztasche, die sich im Autokofferraum, in der Fahrradpacktasche oder im Motorroller-Topcase befand.

Einige Frontkämpfer präsentierten sich im weißen T-Shirt, auf dem das Vereinslogo gedruckt war: ein roter Hahnenkamm hinter Gitterstäben, darunter eine Bombe mit brennender Lunte.

Der Vorsitzende erläuterte gerade seinem zur Rechten sitzenden Stellvertreter die Vorteile einer elektronisch gesteuerten Motorsäge, als der Kassenwart die lautstark in Privatgespräche verwickelten Anwesenden ermahnte, endlich mit der Sitzung zu beginnen. Doch erst seine Frage, wer denn heute das Protokoll schreibe, ließ das Geschwätz verstummen.

Ein wenig gekränkt über die Zurechtweisung durch den Kassenwart, einen kinderlosen Apotheker, der in seiner Freizeit Kuckucksuhren reparierte, räusperte sich der Vorsitzende. Dann forderte unter Tagesordnungspunkt Nummer 1 in betont kühlem Ton die Vereinsmitglieder auf, Vorschläge für künftige Aktionen zu machen. Gleichzeitig erinnerte er noch einmal an den erfolgreich verlaufenen Anschlag auf die Eierlikörfabrik und an die von den Medien vielbeachtete Aktion in der Fast-Food-Filiale und regte an, man solle mit dieser harten Linie ruhig fortfahren.

Im Laufe der folgenden Debatte wurde eine ganze Reihe von Vorschlägen geäußert, doch weder der Vorschlag, einen Eierkartontransporter zu überfallen und die erbeuteten Pappen demonstrativ vor dem Berliner Kanzleramt zu verbrennen, noch die Idee, zu Ostern in Marktl am Inn einen riesigen Fesselballon in Hühnergestalt steigen zu lassen, von dem aus man hoch über dem Geburtsort des Papstes rote Hahnenkämme aus Weingummi abwerfen könne, stießen auf allgemeine Zustimmung. Nur ein einziger Vorschlag fand eine breite Mehrheit: Während seines Herbsturlaubs im Altmühltal solle der Bundeslandwirtschaftsminister gekidnappt werden. Und die Forderung an die Bundesregierung solle lauten, den gewerblichen Handel mit Hühnereiern unter Androhung der Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft zu untersagen: Andernfalls werde man ihren Eierminister in Legeboxen portioniert ans Kanzleramt schicken.

Begeistert beschlossen die organisierten Hühnerfreunde, die Erörterung der weiteren Tagesordnungspunkte auf das nächste Treffen zu verschieben. Und während sie mit ihren Burgunderwein-Pokalen so kräftig anstießen, dass der rote Rebensaft munter herumspritzte und Dutzende von teuren Designer-Sakkos und Seidenblusen ruinierte, begann das jüngste Frontmitglied, die Vereinshymne zu intonieren. Schon bald stimmten alle ein. „Hühner zur Sonne zur Freiheit“, hallte es durch Wald und Flur. Ein junges Rebhuhn fragte sich besorgt, ob es auch gemeint sei.


17.

Ein heftiger Wind kam auf. Das Ruderboot, in dem der Minister seit mehr als vier Stunden darauf wartete, dass ein Fisch anbiss, begann leicht zu schaukeln. Wenigstens ein Stichling könnte sich erbarmen, es muss ja nicht unbedingt gleich ein fetter Barsch sein, dachte der Agrarexperte, der eine Ziege nicht von einem Schaf unterscheiden konnte und immer noch glaubte, Rübenkraut sei das, was auf den Feldern im Sommer so schön gelb blühte. Aber schließlich stammte die Idee, dieses Ressort zu übernehmen, von dem Vorsitzenden seiner Partei, er wäre ja damit zufrieden gewesen, das Verkehrsministerium zu übernehmen. Immerhin hatte sein Vater fast sein ganzes Leben lang als Gleisarbeiter geschuftet, bevor ihn der Euro-City nach Bern drei Tage vor seiner Pensionierung überrollte. Und er selbst hatte im Hobbykeller eine riesige Modelleisenbahn stehen, um die ihn sogar der Fraktionschef beneidete.

Während die beiden muskelbepackten Bodyguards am Seeufer nervös mit ihren Campingstühlen hin und her kippelten, weil sie sich bei der sechsten Halma-Partie taktisch so verstrickt hatten, dass beiden nur der kontrollierte Rückzug blieb, löste der Minister seufzend den verschmähten Wurm vom Haken,. Behutsam legte er den Köder zurück in die Butterbrotdose und begann ernsthaft zu überlegen, ob er es nicht doch einmal mit einem Stückchen Emmentaler als Appetithappen probieren solle. Dann bemühte er sich, sein eingeschlafenes Gesäß zu neuem Leben zu erwecken.

Die Bewacher des Ministers hatten es längst aufgegeben, jede Minute einen prüfenden Blick auf ihren im Boot dümpelnden Boss zu werfen. Während sie nach einer Möglichkeit suchten, die festgefahrene Halmapartie wieder in Gang zu bringen, achteten sie nicht auf die falsche Kuh, die sich ihnen von der Seite her näherte.

Eine kühle Brise erlaubte sich den Spaß, das Innenleben der weiten Bermudashorts, die die Bodyguards trugen, zu erforschen. Und für einen Moment erinnerte sich der ältere der Bodybuilder selig lächelnd an die goldenen Zeiten, als er den damaligen Bundespräsidenten auf dessen ausgedehnten Deutschland-Wanderungen begleiten und ihm die Kühltasche mit den Bierdosen tragen durfte. Inzwischen hatte sich das buntgefleckte Rind gehäutet und in zwei schwarz gekleidete, maskierte Männer verwandelt.

Die Leibwächter kamen weder dazu, ihre Automatikpistolen zu zücken, noch ihre Nahkampf-Künste zu demonstrieren. Die Wurfmesser, die sich ihnen zeitgleich in die unrasierten Hälse bohrten, veranlassten sie dazu, den Klapptisch mit dem Spielbrett umzuwerfen und sich selbst mitten zwischen die Halmapüppchen ins feuchte Gras zu legen.

Der Boss aller Landwirte und Weinbauern war mit der Angelrute in der Hand eingenickt. So merkte er nicht, dass sich eine dunkle Wolkenwand vor die Sonne schob und zwei, nur mit schwarzen Augenmasken und einem Kälberstrick bekleidete Männer brustschwimmend Kurs auf seinen Kahn nahmen.

Als der Minister erwachte, waren seine Hände auf dem Rücken gefesselt und das Boot hatte Fahrt aufgenommen. Er unterließ es, die beiden komischen Gestalten zu fragen, wohin die Reise ging. Man muss ja nicht alles wissen, dachte er, erst recht nicht als Regierungsmitglied.


18.

Über mangelnde Fanpost konnte sich der Bundeskanzler nicht beklagen. Nicht selten legten die Verehrerinnen, die fast alle blond und blauäugig waren, eine Haarlocke zum Liebesbrief. Doch das Haarbüschel, das der Regierungschef an diesem verregneten Montagmorgen aus dem mit rosa Herzen bedruckten Briefkuvert zog, während ihm der zerknautschte Generalsekretär im geblümten Bademantel den Irish Coffee servierte, war grau meliert, und es erinnerte ihn an jemanden. Aber der Kanzler kam nicht darauf, an wen.

Ratsuchend wandte er sich mittags an seine Gattin, die für Details ein viel besseres Gedächtnis hatte, doch die errötete, als er ihr fragenden Blicks die rätselhafte Locke vor die Nase hielt. Stammelnd beteuerte sie, diese Haare noch nie in ihrem Leben gesehen zu haben – ein Fehler, der ihren Mann blitzschnell darauf brachte, wer Besitzer dieser abgeschnitten Tolle war. Kein Zweifel, sein Landwirtschaftsminister hatte da ein paar Haare lassen müssen.

Der Kanzler mochte den Minister nicht besonders. Für ihn war er nur ein eitler Gockel, Typ ewiger Junggeselle, der in den Kabinettssitzungen selten den Mund aufmachte, aber seiner Frau auffallend oft Rosen schickte. Den Regierungschef packte die Wut, die sich auch nicht legen sollte, als er vom Kanzleramtsminister die Hintergründe dieser seltsamen Post erfuhr.

Die Bundesregierung ist nicht erpressbar, waren seine ersten Worte, nachdem man ihn über die Entführung aufgeklärt hatte.


19.

Der Landwirtschaftsminister sah keinen Ausweg aus dem Dilemma: Seit drei Tagen hatte er nichts mehr zu sich genommen, und sein Magen fühlte sich an wie frisch ausgepumpt. Doch die Suppe, die ihm sein stummer, strumpfmaskierter Wärter in einem giftgrünen Camping-Plastikteller serviert hatte, konnte er unmöglich essen. In einer blutroten Brühe schwammen Zwiebelringe und kleine gelbe Knäuel, die bei näherer Begutachtung Schnäbel und Beine aufwiesen. Nein, ehe würde er verhungern, als auch nur einen Löffel dieses ekelerregenden Kükeneintopfes herunterzuwürgen.

In einem plötzlichen Wutanfall schleuderte er mit seinem gesunden Fuß den Teller an die Kellerwand. Einige der Suppen-Ingredienzien blieben an dem ausgefransten Wandputz hängen, als seien sie dort herausgewachsen: Kükenfuß-Schimmelpilze, die blutige Tränen weinten.

Ein heftiger Schüttelfrost packte den Minister. Am ganzen Körper zitternd ließ er sich auf die schmierige Matratze fallen, die ihm seine Kidnapper als Schlafstätte auf den eiskalten Betonboden geworfen hatten. „Der Kanzler wird mich nicht im Stich lassen“. Wieder und wieder murmelte er den Satz, doch je öfter er ihn wiederholte, desto weniger war er von seinem Wahrheitsgehalt überzeugt.

Er presste die Fäuste gegen die Schläfen, bis es in seinem Schädel bedrohlich knackte. Dann brüllte er es gegen die kahlen, feuchten Wände an, so als hoffe er, ein Zeichen der Bestätigung erscheine auf dem porösen Mauerwerk. „Er wird mich nicht im Stich lassen!“ Doch als das Geschrei in seinen Ohren verhallt war und eine völlige Stille eintrat, stockte ihm der Atem. Er wusste, dass er verloren war. Denn er kannte den Kanzler. Er kannte ihn ganz genau.

Die Gewissheit des baldigen Todes übte eine beruhigende, ja fast schon tröstliche Wirkung auf den Landwirtschaftsminister aus. Sein Kopfschmerz hatte nachgelassen. Der Minister setzte sich auf, beugte sich herab und betastete vorsichtig seine geschwollenen Zehen. Er war sicher, dass zumindest der mittlere Zeh gebrochen war.

Er wusste längst, dass seine Entführer es mit ihren Drohungen ernst meinten. Seinen Fuß in der Stahltür einzuklemmen, war nur die erste Warnung gewesen. „Mach uns keine Schwierigkeiten“, stand auf der kleinen, alten Schiefertafel, einer von der Sorte, auf die er selbst vor ewigen Zeiten die Buchstaben des Alphabets gekritzelt hatte. Und: „Wenn du unseren Regieanweisungen genau folgst, lassen wir dich nicht verhungern.“

Leider war während der Video-Dreharbeiten das Temperament mit ihm durchgegangen: „Ich scheiß auf euer Geschreibsel von Volksgefängnis und Massenmord,“ plärrte er vor laufender Kamera. „Ihr könnt mich mal mit eurem Gelaber von vogelfreien Hennen und Eiersalat-Verbot.“ Und er warf das Pappschild mit der Botschaft an Regierung und Medien sowie die aktuelle Tageszeitung dem Entführer mit der Franz-Josef-Strauß-Maske vor die Füße.

Mit Gewalt musste der Kameramann und Kommandoführer der Legehennen-Befreiungsfront von seinem Strumpfmasken-Kollegen davon abgehalten werden, dem Minister auf der Stelle eine Kugel in den Kopf zu jagen. Doch um eine Abmahnung kam der Politiker nicht herum.

Der Minister wusste nicht, wie lange er bereits Gefangener dieser durchgedrehten Karnevalisten, die sich als Tierschützer ausgaben, war. Er hatte keine Ahnung, wie viele Tage oder Wochen er schon in diesem nasskaltem Verlies hockte. Alles was er wollte, war, dass dieser Alptraum ein Ende hatte. Wie auch immer. Und dass endlich die höllischen Schmerzen in seinem Fuss und diese unbeschreibliche Übelkeit aufhörten. Eine Übelkeit, die ihn quälte, seitdem er in einem Anflug von Verzweiflung den stinkenden Fraß heruntergeschlungen hatte, den die Entführer ihm hingestellt hatten. Und jetzt war auch noch ein heftiger Schluckauf dazu gekommen.

Zum ersten Mal fragte er sich, wie ihn die Entführer wohl ins Jenseits befördern würden. Er stellte sich vor, wie zwei der Maskierten ihn auf die Matratze werfen und ihm Arme und Beine fesseln würden, während ein dritter die lange Injektionsnadel einer riesigen Spritze in die grüne Flüssigkeit einer gläsernen Ampulle tauchte. Er konnte bereits den Schmerz des Einstichs in seinem Arm spüren und fühlen, wie das Gift behend durch seinen Blutkreislauf strömte und sein Herz erreichte, und wie seine Gedanken von einem gelblichen Nebel umhüllt wurden, der immer undurchdringlicher wurde – bis ihm nur noch der eine, schwache Gedanke blieb: Schlaf, unendlicher Schlaf …

Aber es kam ganz anders. Brutal rissen ihn die Männer aus seinen Gedanken, stopften ihn in einen Kartoffelsack, zerrten ihn an den Füßen von der Matratze, schleiften ihn über den Kellerboden, zogen ihn die Steintreppe hinauf und schleppten ihn über die rissigen Korridorfließen und den pfützenübersäten Hof der ehemaligen Futtermittelhandlung.

Vor dem Pickup ließen sie ihre Gefangenen einen Augenblick liegen. Sein Stöhnen mischte sich mit dem Geräusch der aufs Wellblechdach der Garage prasselnden Regentropfen. „Halt‘s Maul“ brüllte der Kommando-Führer und traktierte den Sack solange mit Fußtritten, bis kein Laut mehr aus seinem Inneren drang. Zu dritt beförderten sie den verpackten Minister auf die Ladefläche und bedeckten ihn mit einer schwarzen Plastikplane, auf die sie Schaufeln, Spitzhacken, Schläuche und Kabeltrommeln warfen.

Mit einem Höllentempo bog der Pickup in einen steinigen Feldweg ein. Dem Minister, der erst vor kurzem das Bewusstsein wiedererlangt hatte, kam es vor, als rotiere er in der Trommel einer Waschmaschine – bei 1200 Umdrehungen pro Minute, und das Schleuderprogramm hatte gerade erst begonnen.

Als das Fahrzeug endlich abbremste, war der Politiker in einen lethargischen Zustand geraten, der ihn sogar von seinen Schmerzen ablenkte, die in seinen angeschlagenen Knochen und verdrehten Gelenken wüteten.

Mächtige Blutbuchen versperrten dem Pickup den Weg. Doch die beiden Männer waren am Ziel. Im kühlen Schatten der Bäume wuchteten sie ihren Passagier von der Ladefläche und warfen ihn ins hohe Gras am Waldrand. Dann schlitzte der Fahrer den Sack mit der scharfen Klinge seines Schweizer Offiziersmessers auf und zerrte – gemeinsam mit seinem Kollegen – den Inhalt ins milde Spätnachmittagslicht.

Der Minister konnte dem Befehl nicht Folge leisten. Seine Beine sahen sich außerstande, den massigen Körper in die Höhe zu hieven, geschweige denn, ihn fortzubewegen. So blieb den Front-Aktivisten nichts anderes übrig, als ihren Gefangenen – motiviert durch heftige Fußtritte – dazu zu bewegen, tiefer in den Wald zu kriechen: mitten durch stacheliges Brombeergestrüpp, schmierige Fliegenpilzkolonien und wehrhafte Ameisenstaaten.

Unter dem spärlichen Blätterdach einer altersschwachen Eiche verließen den Politiker die Kräfte. Selbst die aufmunternden Schläge mit einer frisch geschnittenen Weidenrute zeigten keine Wirkung. Da hatten seine Begleiter ein Einsehen. Fachmännisch schauten sie sich um, bis sie in wenigen Metern Entfernung einen geeigneten Platz für die Abschiedszeremonie gefunden hatten. Dann zerrten sie ihren schwach stöhnenden Gefangenen unter eine Trauerweide und betteten dessen hochroten Kopf auf eine moosbedeckte Wurzel.

Mit einem bedauernden Lächeln im unrasierten Gesicht legte der Größere der beiden eine welke Hagebuttenblüte, die er unterwegs aufgelesen hatte, auf das zerrissene Sakko des Liegenden: genau dort, wo das ängstliche Herz hektisch schlug.

Der Rest war schnell erledigt. Der Kleinere montierte die Spezial-Schrotflinte zusammen, die er in einem selbstgenähten Ziegenleder-Bag auf seinem Rücken getragen hatte, und fütterte sie. Der plötzlich aufkommende Nachmittagswind nötigte die Äste und Zweige der hoch aufragenden Laubbäume, früher als gewöhnlich mit ihrem zittrigen Feierabendtanz zu beginnen.

Eine Handvoll müder Ahornblätter verlor ihren Halt. Lange Sekunden taumelten die gelblich-roten Blätter durch die Luft, in einem wirren Kurs dem Waldboden entgegenstrebend. Zwei von ihnen landeten allerdings nicht im kühlen Moos, sondern auf dem erhitzten Gesicht des zum Tode Verurteilten.

Der Landwirtschaftsminister musste niesen. Seit einem Kanada-Urlaub reagierte er auf Ahorn allergisch. Ein Blatt flog ins Moos, das andere blieb an seinem speichelbedeckten Kinn kleben. Der Nieser hatte den Minister wieder zum Leben erweckt – doch dieses Leben sollte nur noch Sekunden währen.

Der letzte Blick des Verschleppten galt der klaffenden Mündung einer Flinte, die sich wie in Zeitlupe über ihn senkte. Doch die Frage, in welchem Film noir er diese Szene schon einmal gesehen hatte, konnte weder er selbst, noch jemand anders beantworten.

Der Schuss weckte ein frischverliebtes Ringeltauben-Paar aus seinem Nachmittagsschläfchen. Aufgeschreckt und benommen flatterten die Vögel einige hundert Meter durch den Wald, bis sie sich ein beruhigt hatten und das verwaiste Elsternnest im Wipfel einer Sibirischen Fichte als Ausweichquartier wählten.

Die Männer schwitzen und fluchten, als sie ihr Opfer an den Füßen durch stacheliges Gestrüpp und widerspenstiges Gras, über glitschige Wurzeln und morsche Äste zerrten. Nach seinem Ableben schien der Körper des Ministers schwerer geworden zu sein.

In einem dichten Holundergebüsch endete der Leichentransport. Dieser Ort sollte gut genug sein, um den Minister für eine Weile vor den neugierigen Blicken umherstreunender Pilzesammler zu verbergen, entschied der größere der beiden. Und der Kleinere fand, dass der Platz sogar als letzte Ruhestätte gewisse Qualitäten aufwies.


20.

Ausgerechnet Lausig hatte das Vergnügen, die Leiche des Landwirtschaftsministers zu finden, wo er doch schon genug Probleme am Hals hatte, seitdem seine Frau festen Willens war, die bereits eingereichte Scheidung wieder zurückzuziehen. Jeden Abend kochte sie ihm sein Lieblingsessen und brachte ihm morgens im Négligé das Frühstück ans Bett, so dass er permanent eine Stunde zu spät zum Dienst erschien. Er hatte schon dunkle Ringe unter den Augen und musste sich von einem Kollegen die Frage gefallen lassen, ob er das Koksen aufgegeben habe und jetzt Klebstoff schnüffele.

Lausig hatte den Minister am Sonntagnachmittag entdeckt, beim Pile-Sammeln in Wald, als er und seine Schwägerin sich gerade auf einer kleinen Lichtung eine Ruhepause vom vielen Bücken und Herumwühlen in fauligem Laub gönnten und er Mühe hatte, die Zudringlichkeiten seiner attraktiven Begleiterin abzuwehren.

Zunächst war es ihm als Glücksfall erschienen, im Moment größter Bedrängnis ein paar nackte Zehen zwischen den Holunderbüschen hervorlugen zu sehen, doch als er merkte, dass an den bleichen Füßen ein Regierungsmitglied hing, das irgendein Sportsmann mit einer Tontaube verwechselt hatte, bereute er seine Entdeckung. Überhaupt nahm Lausig sich vor, in Zukunft mit Dosenpfifferlingen vorlieb zu nehmen.

Zunächst war es ihm als Glücksfall erschienen, im Moment größter Bedrängnis ein paar nackte Zehen zwischen den Holunderbüschen hervorlugen zu sehen, doch als er merkte, dass an den bleichen Füßen ein Regierungsmitglied hing, das irgendein Sportsmann mit einer Tontaube verwechselt hatte, bereute er seine Entdeckung. Überhaupt nahm Lausig sich vor, in Zukunft mit Dosenpfifferlingen vorlieb zu nehmen.


21.

Der 1. Vorsitzende der Legehennen-Befreiungsfront war immer noch erzürnt über die Entscheidung der Bundesregierung, in der Entführungsangelegenheit auf stur zu schalten und einen der Ihren zu opfern, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber er war auch überzeugt davon, dass bei der fatalen Entscheidung noch etwas anderes eine Rolle gespielt haben musste als politische Prinzipientreue. Zu gut kannte er die Schlitzohrigkeit des Kanzlers.

Gegen erhebliche Widerstände von Kritikern und Skeptikern aus den eigenen Reihen setzte er Kraft seines Amtes, auch ein wenig mithilfe von gezielten Einsätzen seiner schlagkräftigen Werkschutztruppe, im Vorstand eine teuflische Idee durch. Als der verhängnisvolle Plan ausgeführt wurde, hatte das in der Bevölkerung einen kollektiven Aufschrei zur Folge und versetzte jede Familie in Angst und Schrecken. Politiker, Polizei, Psychologen und sogar der Mann von der Straße waren sich einig: Nur ein Wahnsinniger war zu derartigem fähig.

Ein Krisenstab unter Leitung des Bundesinnenministers befasste sich mit dem „menschenverachtenden Anschlag auf unseren Staat, unsere Gesellschaft und unsere christlichen Grundwerte“, wie der Kanzler es während einer Sonderansprache an die Nation im Fernsehen mit entschlossener Miene formulierte. Und bei Bundesnachrichtendienst, Verfassungsschutz und Bundeskriminalamt herrschte hektische Betriebsamkeit wie schon lange nicht mehr. Nur in Treibers Morddezernat war es ruhig, denn bis auf den Inspektor hatten sich sämtliche Beamte krank gemeldet, feierten Überstunden ab oder nahmen ihren Resturlaub.

Ratlos saß Treiber an seinem Schreibtisch, den die füllige Raumpflegerin, die in der Volkshochschule zweimal die Woche abends einen Kurs über die Chaostheorie leitete, aufgeräumt hatte.. Er spitzte bereits den fünften nagelneuen Dienstbleistift so gewissenhaft an, dass nur noch ein unbrauchbarer Stummel übrig blieb. Missmutig schnippte er den Bleistiftrest in den Papierkorb.

Der Inspektor sah sich in einer Zwickmühle: Die Ereignisse überschlugen sich, der Fall hatte sich in eine schier unüberschaubare Anzahl von Fällen verwandelt, die sich zu einem gigantischen politischen Komplott zu verdichten schienen, ein Komplott, wie es bislang kaum vorstellbar war. Die anfangs zumindest in ihren Konturen sichtbaren Motive hüllten sich mehr und mehr in dichten Nebel. Das einzige was Sinn machte, war die Erkenntnis, dass hier Geisteskranke am Werk sein mussten, Irre, die mittlerweile wohl nur noch ein Ziel verfolgten: Angst und Schrecken zu verbreiten.

Treiber sah den Polizeistaat schon zum Greifen nah, das Problem war nur, er selbst war die Polizei, zumindest ein Teil von ihr. Und es gab da noch ein Dilemma: Er war mit dem Fall betraut, und doch wiederum nicht. Man hatte ihn weder von den Ermittlungen entbunden, noch ihm mitgeteilt, worauf sich seine Arbeit denn jetzt konzentrieren solle – und was man angesichts der Aktivitäten im BKA und anderswo überhaupt noch von ihm erwarte. Bereits bei der Untersuchung des Futtermittel-Mordfalls hatte ihn das Glück verlassen.

Der Inspektor wusste nicht mehr weiter. Auch von Lausig, der sich seinen jährlichen Keuchhusten genommen hatte, war keine Hilfe zu erwarten. Er fühlte sich von allen im Stich gelassen. Er fühlte sich wie der letzte Cowboy von Gütersloh: ein Cowboy ohne Pferd, Colt, warme Decke – und ohne Kautabak.

Als Treiber den metallischen Geschmack der Bleistiftmine auf seiner Zunge spürte, spuckte er die zerkauten Restbestandteile des Stummels angewidert auf den Teppichboden. Hoffentlich habe ich mich nicht vergiftet, dachte er bestürzt – und konnte sich gar nicht erinnern, das Stiftrudiment in den Mund gesteckt zu haben.

Während er in seiner Not versuchte, das scheußliche Aroma, welches sich in seiner Mundhöhle eingenistet hatte, mit einem Schluck abgestandenen Blumenwassers zu verscheuchen – die einzige Flüssigkeit, die sich in Reichweite befand – musste er auf einmal an den niedlichen Leberfleck denken. Der schokoladenfarbene herzförmige Fleck, der die zarte Innenseite des rechten Oberschenkels von Helga so unwiderstehlich machte. Und er nahm sich vor, seine Cousine mal wieder ins Kuschelkino zur Spätvorstellung einzuladen. Zu „Ben Hur” oder „Hängt ihn höher“.


22.

Der Briefträger atmete tief durch und schaute auf die Armbanduhr.. Ein zufriedenes Lächeln huschte über sein gerötetes Gesicht: Neue Rekordzeit! Allerdings hatte er heute auch besonders tief in die Trickkiste greifen müssen. Er hatte nicht gezögert, gewöhnliche Briefe ganz ohne Portoaufschlag in Luftpostbriefe zu verwandeln und in unüberschaubaren Mietskasernen das altbewährte Verfahren der Sammelzustellung anzuwenden. Auch die eine oder andere Fachzeitschrift, deren Existenzberechtigung und Informationswert er ohnehin in Frage stellte, war im Altpapiercontainer statt im Briefkasten gelandet.

Er freute sich, die Live-Übertragung des Länderspiels von Anfang an sehen zu können, doch um seine liebe Familie nicht unnötig mit seiner ungewöhnlich frühen Heimkehr zu verärgern, beschloss er, seiner Frau und seinem Sohn etwas mitzubringen. Seiner Gattin Helga wollte er einen Strauß schwarzer Tulpen schenken, Blumen, die sie sicherlich an ihr erstes romantisches Rendesvouz auf dem zugigen Gelände der alten, verlassenen Friedhofsgärtnerei erinnerten.

Der urplötzlich beim ersten Zungenkuss vom Himmel herabstürzende eiskalte Regen hatte damals Helgas nagelneue Dauerwelle zunichte gemacht und ihn den sicheren Halt seines Toupets gekostet. Bei der hektischen Suche nach dem Haarteil war er in ein Frühbeet gefallen und hatte sich die Stirn an einer zerbrochenen Glasscheibe aufgeschnitten. Es hatte fast einen Monat gedauert, bis Helga wieder einer Verabredung mit ihm zugestimmt hatte. Zu groß war die Wut auf ihn und die hartnäckigen Blutflecken auf den sandfarbenen Sitzbezügen ihres Minis.

Seinem fünfjährigen Sohn wollte er mit einem Kinder-Überraschungsei eine Freude machen.

Die Überraschung sollte gelingen, in mehrfacher Hinsicht. Als der Briefträger nach Hause kam und seine Frau nicht wie erwartet beim Kartoffelschälen in der Küche vorfand, nahm er an, sie wische im Wohnzimmer Staub. Doch er fand sie mit anderen Dingen beschäftigt und sah sich genötigt, die ursprüngliche Bestimmung des Blumenstraußes zu überdenken. Völlig außer sich haute er seinem Nachbarn, der nackt auf dem Sofa lag, die Tulpen um die Ohren. Seiner Gattin, die nur mit einer kurzen Küchenschürze bekleidet war und vor dem Sofa kniete, würdigte er keines Blickes.

Das Weinen seines kleinen Sohnes, der plötzlich in der Zimmertür stand, hielt den Postboten davon ab, zu härteren Maßnahmen zu greifen, um seine Wut zu besänftigen. Er nahm den bereits im Pyjama steckenden Jungen zärtlich auf den Arm und trug ihn, dabei beruhigende Worte flüsternd, ins Bett. Als er ihm das Geschenk zeigte, versiegten die Tränen des Kleinen, und ein glückliches Lächeln erstrahlte auf seinem stupsnasigen, verheulten Gesicht.

Mit ungeduldigen Händen entfernte das Kind die Umhüllung vom Überraschungsei. Dann fiel idem Jungen ein, dass er es ja noch gar nicht prüfend geschüttelt hatte, doch auch sein Vater konnte die Geräusche, die aus dem Innern der gefüllten Süßigkeit drang, nicht näher deuten. Herzhaft biss der Junge in die Schokolade, um dem eiförmigen Schatz sein Geheimnis zu entreißen – ein Biss mit Folgen.

Die Wucht der Explosion ließ in sämtlichen Nachbarhäusern die Fensterscheiben zerspringen. Im Bungalow der Briefträger-Familie bot sich Feuerwehrleuten und Rettungssanitätern ein Bild des Grauens. Eine große Boulevardzeitung schlagzeilte am nächsten Tag, noch ohne den wahren Hintergrund der Tragödie zu kennen: „Eifersüchtiger Postbote sprengt seine Familie in die Luft“. Was dahinter steckte, wurde den Redakteuren des Blattes wie auch vielen anderen Menschen erst klar, als noch an anderen Orten Deutschlands mit Spielzeug gefüllte Schokoladeneier explodierten und Kindern wie Erwachsenen den Tod brachten.

Zu diesem Zeitpunkt dachte der Innenminister zum ersten Mal an Rücktritt – und Treiber daran, den Dienst zu quittieren, nach Bottrop zu ziehen und eine Trinkhalle aufzumachen. Nur der todkranke Lausig, der zu Hause gemütlich im Bett ein Fix-und-Foxi-Heft nach dem anderen verschlang und gerade feststellte, dass sein Vorrat an Paprikachips und Erdbeersekt aufgebracht war, hatte andere Sorgen.


Hühner 4.

Das Huhn im Maisfeld lebte noch. Es wusste nicht, wie viele von seinen Kolleginnen sonst noch die Zwangsumsiedlung, die Überfälle der mordlüsternen Raubvögel und die grausame Hetzjagd der Menschen überstanden hatten. Längst war der Kontakt zu den anderen Hennen abgebrochen.

Noch zu atmen, verdankte die Henne nicht zuletzt ihrem ausgeprägten, ja fast schon störrisch zu nennenden Überlebenswillen sowie ihrer Fähigkeit, sich auch in extremen Situationen behaupten zu können – zur Not auch zu Lasten anderer. Im Legebatteriegefängnis hatte sie sich immer die größte Menge Fischmehl erkämpft, wenn Mittagszeit war, der Wärter die Futterschale in den Käfig schob und das nicht selten von Krallenhieben und Schnabelattacken begleitete Gerangel und Geschiebe begann.

Natürlich hatten Rücksichtslosigkeit und mangelnde Solidarität anfangs dazu geführt, dass ihre Kolleginnen sie hassten. Nach einiger Zeit jedoch wurden ihre Durchsetzungsfähigkeit, ihr Führungswille und ihre körperliche Überlegenheit von allen anerkannt. Und in den letzten Wochen ihres Gefangenendaseins überließ man ihr wie selbstverständlich und ganz ohne Proteste den größten Anteil am Futter.

Ein Unwetter hatte einige Maisstauden umgeknickt, sodass die Henne mühelos an die saftigen Körner gelangen konnte. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so etwas Köstliches gegessen. Satt und ausgeruht nahm sie ihr Wanderung wieder auf, doch sie hatte keine Ahnung, wann sie das Ende dieses Maisfeldes erreichen würde.

Natürlich wusste sie auch nicht, was danach käme. Nur eines war gewiss: Solange sie sich zwischen den dichtstehenden Maispflanzen bewegte, befand sie sich in relativer Sicherheit.

Die Henne erkundigte sich bei einer jungen Wachtel, die ihr über den Weg lief, wie lange sie noch laufen müsse, um aus dem Feld herauszukommen, wenn sie weiterhin immer parallel zu den Maisreihen marschieren würde. Doch der erst vor kurzem aus dem elterlichen Nest geflüchtete Jungvogel hatte selbst keine Orientierung: „Hauptsache weg von zuhause“, teilte die Wachtel der enttäuschten Henne mit.

Zwei anstrengende Fußmarschstunden später lichtete sich der Mais. Es war geschafft. Doch als die Henne vorsichtig nach allen Seiten spähend den schützenden Maiswald verließ, blickte sie direkt in einen tiefen, wassergefüllten Graben. Auf der anderen Seite des Hindernisses stand ein riesiger schwarzer Hund, der ihr den Rücken zukehrte. Doch der Hund musste Witterung von ihr aufgenommen haben, denn er drehte seinen Kopf in ihre Richtung und hob schnüffelnd die große Nase in die Luft.

Bevor das Huhn umkehren konnte, um sich im Mais zu verstecken, hatte es der Hund entdeckt. Vielleicht kann er ja nicht schwimmen, dachte die Henne. Doch der Hund konnte.


23.

Der Vorstand der Legehennen-Befreiungsfront war hoffnungslos zerstritten. Nicht nur, dass man dem 1. Vorsitzenden Rücksichtslosigkeit, Arroganz und diktatorisches Gebaren vorwarf, insbesondere die Anschuldigung, mit seiner Politik habe er sich mittlerweile meilenweit von den Vereinszielen entfernt, sprengten die ehemalige Harmonie der Frontkämpfer und sabotierten jede weitere Zusammenarbeit.

In einer hastig einberufenen Krisensitzung entzog die Mehrheit der Anwesenden dem Vorsitzenden das Vertrauen, erklärte ihn für abgesetzt und nicht mehr der Vereinigung angehörig.

Einstimmig wurde der Apotheker zum neuen 1. Vorsitzenden gewählt. Empörte Rufe des gestürzten Monarchen, alle sollten sofort sein Jagdschlösschen verlassen, sonst rufe er die Polizei, gingen im tosenden Applaus unter.

Während der frisch gekürte Vorsitzende in seiner improvisierten Antrittsrede von neuem Teamgeist und der Rückbesinnung auf alte Werte faselte, schlich sich der gedemütigte Motorsägenmanager aus seiner Hütte, setzte sich hinters Steuer seines Geländewagens, streichelte noch einmal zärtlich die am Rückspiegel baumelnde Kaninchenpfote, die ihm bislang treu und erfolgreich als Talisman gedient hatte, und drückte das Gaspedal durch. Zu den erbaulichen Klängen von „Take It Easy“ raste er zielstrebig auf die nächste Buche zu. Ein Manöver, das sogar die Eagles-CD ins Jenseits beförderte.


24.

Der Jurastudent hielt es nicht mehr aus. Die Gewissensbisse, die ihn immer heftiger plagten, drohten bereits, den erfolgreichen Abschluss seines Studiums zu gefährden: Die Klausur in Vereinsrecht musste er im nächsten Semester wiederholen.

Bereits als man ihn in die Elitegruppe der Frontaktivisten aufgenommen hatte, war der Student von Zweifeln an der Rechtmäßigkeit seines Tuns geplagt worden, und doch hatte er alle Entscheidungen des Vorstands loyal befolgt. Erst die Mitwirkung an der Ermordung des Ministers, er selbst hatte ja dem bereits völlig durchlöcherten Politiker den Gnadenschuss gegeben, war für ihn ein Einschnitt. gewesen. Seitdem litt er an Schlaflosigkeit und mangelndem Interesse an seiner Freundin. Eine Paartherapie hatte nicht geholfen, im Gegenteil: Die Gespräche mit dem Psychologen hatten eine anhaltende Appetitlosigkeit beim Jurastudenten ausgelöst.

Er war mit den Nerven am Ende, Vor allem seine zunehmende Aggressivität bereitete ihm Sorgen. Seine Mutter, die er im Grunde anbetete, da sie ihn unter vielen Entbehrungen allein und immer voller Verständnis für seine Sorgen und Nöte aufgezogen hatte, zog nach mehreren Ohrfeigen ins Frauenhaus um. Lebte sein Vater noch, wäre das alles vielleicht nicht passiert, dachte der Student. Sein Papa war ein allseits respektierter Richter, der früh eines tragischen Todes gestorben war: Ein kurzsichtiger Jäger hatte ihn während einer feuchtfröhlichen Wildschweinjagd im niederrheinischen Reichswald mit dem aus den Abruzzen frisch importierten Keiler verwechselt.

Er nahm noch einen beherzten Schluck aus der Doppelwacholderflasche, dann wusste er, was zu tun war. Entschlossen griff er zum Handy, wählte die Nummer der Polizei und verlangte mit fester Stimme, mit der Mordkommission verbunden zu werden.


25.

Treiber ergriff die Chance beim Schopf, eine Chance, die sich ihm so schnell nicht wieder bieten würde. Er spürte, wie die Lethargie von ihm abfiel und sämtliche Depressionen wie Seifenblasen zerplatzten. Dieser Anruf ist ein Geschenk des Himmels, dachte der Inspektor – und er fragte sich, womit er dies eigentlich verdient hatte.

Egal, dachte er, einer muss den Fall der Fälle ja schließlich lösen. Und er sah sich bereits in seinem besten Anzug lässig und souverän dastehen, von Presseleuten umringt und vom Blitzlichtgewitter geblendet, mit stolzgeschwellter Brust und einem Blick, der sagt, das war doch ein Kinderspiel. Er konnte es förmlich fühlen, wie der Bundespräsident persönlich ihm einen Orden um den frischrasierten, nach teurem Aftershave duftenden Hals hängte, während sein nervös auf der Unterlippe kauender Chef unterwürfig hinter ihm darauf lauerte, ihm ein Gläschen Schampus in die Hand zu drücken.

Aber noch war es nicht soweit. Erst die Pflichterfüllung, und dann die Kür – zum Mann des Jahres, mindestens, freute Treiber sich. Tatendurstig wählte er die Nummer seines Assistenten, klingelte ihn aus dem Schlaf und befahl dem unsanft aus süßen Erdbeerschaumweinträumen gerissen Bettlägrigen in schneidendem Offizierston, augenblicklich wieder gesund zu werden und an seinen Arbeitsplatz zurückzukehren. Andernfalls werde er ihn nie wieder väterlich darauf hinweisen, dass sein Hosenstall offen stehe, wenn sie mittags gemeinsam zur Kantine eilten, um sich von der gertenschlanken Brünetten mit dem Schlafzimmerblick und dem verheißungsvollen Grübchen am Kinn Wiener mit Sauerkraut und Pürree oder andere Spezialitäten des Hauses verabreichen zu lassen.

Ungeduldig auf Lausig wartend, übte sich Treiber fleißig im Händereiben. Er würde ein Nationalheld sein – ein verdienter Ruhm, der natürlich auch auf seine Abteilung, ja auf den ganzen Verein abfärbte. Alle anderen Behörden sind angeschmiert, frohlockte er, Bundesfuzzis, Nachrichtenheinis und die ganze geheime Bande blamieren sich bis auf die Knochen. Ausgerechnet ein kleiner Kriminalinspektor muss ihnen zeigen, jauchzte er, wo der Treiber den Most holt.

Entschlossen presste er den letzten Tropfen Flüssigkeit aus dem Teebeutel: Ein wahrer Held kennt keinen Schmerz, dachte er, blies dann aber doch ein paar Mal auf die brennende, stark gerötete Daumenkuppe: ohne Erfolg. Treibers Blick fiel auf den Ventilator, der ihm im vergangenen Sommer schon einmal das Leben gerettet hatte, als heiße afrikanische Winde sein Dienstzimmer in ein Treibhaus verwandelt hatten, sodass es ihm unmöglich war, von Tatverdächtigen Fingerabdrücke zu nehmen. Er hatte deshalb auf die veraltete und zeitraubende Methode der Bleistiftskizze zurückgreifen müssen. Der therapeutische Einsatz des drehfreudigen Ventilators, dessen Schutzgitter immer noch als verschollen galt, zeigte Wirkung: zunächst schmerzlindernde, dann schmerzsteigernde.

Lausig taumelte ins Büro, ohne dem großzügig verbundenen Daumen seines Chefs und den gleichmäßig über den Schreibtisch verteilten Blutspritzern Beachtung zu schenken. Seine Augen waren glasig, und seine zerknitterte Gesichtshaut erinnerte an weggeworfenes Butterbrotpapier.

Noch etwas bleich im Gesicht fragte ihn Treiber, ob er genügend Munition eingesteckt habe. Und er wies ihn an, einen Fünfzigerkarton Handschellen mitzunehmen.

26.

Die frisch gebackene Witwe des Ex-Vorsitzenden, eine moderne, aufgeschlossene Frau, hatte den Idealismus ihres Mannes in Sachen Tierschutz stets geteilt. Während der Beisetzung wurde sie von einem starken Zorn gepackt, einer Wut, die viel stärker war als Trauer. Noch bevor der schwere Eichensarg mit den unappetitlichen Überresten ihres Gatten sich mit einem vulgärem Schmatzen in den schlammigen Boden des Erdloches drückte, schwor sie blutige Rache.

Dass ausgerechnet der Apotheker ihren Mann aus dem Amt gedrängt und in den Tod getrieben hatte, machte sie rasend. Nie hatte sie ihm verziehen, dass er ihr vor zwanzig Jahren, sie war gerade unsterblich in sein Clark-Gable-Bärtchen verliebt gewesen, bei der Tanztee-Damenwahl einen Korb gegeben hatte.

Aber auch die anderen Vereinskollegen hatten sich in ihren Augen nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Auch sie sollten bezahlen. Und die resolute Dame wusste auch schon wie.


27.

Seitdem seine Vollkornbäckerei Pleite gemacht hatte, verdiente sich Grabowski beim Bundesnachrichtendienst die Brötchen. Den Tip eines Informanten nahm er zunächst gar nicht ernst. Außerdem gehörte er nicht zu der Sondereinsatzgruppe, die mit den Anschlägen der militanten Tierschützer befasst war. Die Beschattung von weißrussischen Uranhändlern war seine Aufgabe, ein Job, mit dessen Erledigung er alle Hände voll zu tun hatte, denn mittlerweile wurde das Zeug an jeder Straßenecke angeboten wie Sauerbier.

Noch vor ein paar Tagen hatte er einen aus Minsk stammenden Gemüsehändler dabei erwischt, wie er auf dem Wochenmarkt außer Weißkohlköpfen und Rote-Beete-Knollen auch den Stoff feilbot, aus dem die Bombe ist. Auf einem kleinen Pappschild neben der Zwiebelkiste hatte sogar in krakeliger Bleistiftschrift der Kilopreis gestanden.

Nach reiflicher Überlegung war der Geheimdienstmann zu der Überzeugung gelangt, es sei besser, die Plutoniumdealer und Uranologen für kurze Zeit unbeaufsichtigt zu lassen und sich stattdessen um den Mann zu kümmern, der den Landwirtschaftsminister auf dem Gewissen hatte – und der vielleicht sogar behilflich sein konnte, die ganze hirnkranke Vogelschutzgang auffliegen zu lassen.

Grabowski wusste, dass er sich auf seinen Informanten, der hauptberuflich mit Satellitenschüsseln handelte, hundertprozentig verlassen konnte. Doch er hatte keine Ahnung, dass die Honorarkraft seit vielen Jahren ein Skatbruder von Werner Lausig und momentan auf den Kriminalisten alles andere als gut zu sprechen war. Lausig hatte immer noch Spielschulden in vierstelliger Höhe bei ihm und war bereits dreimal hintereinander nicht mehr zur Skatrunde im Hinterzimmer der Imbiss-Stube „Rot-weiß-gold“ erschienen.

Grabowski versuchte, sich die Adresse einzuprägen, die sein Informant hastig auf das Toilettenpapierblatt gekritzelt hatte, während er in der Nachbarkabine auf dem Klo hockte. Es hatte viel Nerven gekostet, die Nachricht unbemerkt in Empfang zu nehmen, denn die Bemühungen des Schnüfflers, das Blatt unter der Kabinentrennwand durchzuschieben, war längere Zeit durch energische Störmanöver der dynamischen Raumpflegerin vereitelt worden. Die kompakte Dame im lindgrünen Kittel hatte es sich anscheinend in den Kopf gesetzt, ausgerechnet den Fußboden der besetzten Toiletten besonders gründlich mit Schrubber und Aufnehmer reinigen zu müssen. Der unablässig hin und her quirlende Aufnehmer zog sich merkwürdigerweise erst dann zurück, als die dreckverschmierten Schuhe des Agenten in neuem Glanz erstrahlten.

Warum man seinen Informanten Stunden später leblos in der Bahnhofstoilette gefunden hatte, mit frisch gewaschenem Kopf und einer Überdosis WC-Reiniger im Blut, war dem Geheimdienstmann immer noch ein Rätsel. Doch er machte sich keine Vorwürfe, sofort nach der Informationsübergabe das Bahnhofklo verlassen zu haben. Schließlich hatte er zu diesem Zeitpunkt bereits den Mann, der ihm die gefälschten Länderspiel-Tickets besorgte hatte, fünf Minuten am Zeitungskiosk warten lassen. Und mit so einem Typen durfte man es sich nicht verscherzen. In vier Wochen war Qualifikationsspiel gegen die dribbelstarke Nationalelf von Moldawien.

Lausigs Privatadresse im Kopf und die Uzi-Maschinenpistole im Cellokasten, marschierte Grabowski zur Straßenbahnhaltestelle. Der lauwarme Regen, der ihm in den offenen Hemdkragen lief und wenig Gefallen an der spärlichen Brustbehaarung fand, konnte seiner guten Laune nichts anhaben – im Gegenteil. Übermütig sprang Grabowski mit beiden Beinen in eine Pfütze und ruinierte einer pausbäckigen Frischvermählten, die gerade aus einem blumengeschmückten Ami-Straßenkreuzer stieg, das schneeweiße Brautkleid.

Als er sich später breitbeinig an Lausigs Haustürschloss zu schaffen machte, bereute er es, dem Bräutigam nicht den Inhalt seines Cellokastens gezeigt zu haben, nachdem ihm dieser einen schmerzhaften Tritt in den Unterleib verpasst hatte.

Grabowski musste niesen. Der Mottenkugelgeruch des Pelzmantels stach ihm in die Nase. Trotzdem versuchte er, es sich in Lausigs Kleiderschrank so bequem wie nur möglich zu machen. Er nahm sich vor, Lausig die Daumenschrauben anzulegen. Ich brauche höchstens zwei Minuten, dachte er, dann hat er alles gestanden und seine Kumpanen verraten.

Während sich ein neuer Niesanfall bedrohlich in der Nase kitzelnd ankündigte, klammerte sich Grabowski mit der rechten Hand hilfesuchend an die Kleiderstange, ein Fehlgriff, auf den das von Lausig und Treiber persönlich zusammengesetzte sensible Möbelstück mit dem Verlust seines inneren wie äußeren Gleichgewichts reagierte.

Der Agent brauchte eine Viertelstunde, um sich aus dem Trümmerhaufen und Kleiderberg zu befreien. Da er noch nicht einmal imstande war, die Batterien seiner DVD-Player-Fernbedienung zu wechseln, hütete er sich davor, eine Restaurierung des zusammengebrochenen Schranks auch nur zu versuchen.

Frustriert hielt Grabowski Ausschau nach einem neuen Versteck – und entschied sich für den schweren Samtvorhang, der ihm bis zu den Knien reichte.


28.

Die Aktivisten der Legehennenbefreiungsfront hatten beschlossen, sich einen neuen Treffpunkt zu suchen. Auf die räumliche Enge der Jagdhütte hinweisend, verlangten einige Mitglieder schon seit geraumer Zeit ein neues Domizil. Angesichts der personellen Veränderung an der Spitze ihrer Vereinigung hofften sie, ihre Forderung durchzusetzen.

Zum ersten Mal tagten sie in ihrem neuen Heim, einem am Stadtrand gelegenen alten Pornokino, das der Betreiber vor einem halben Jahr geschlossen hatte. Das Reinigungspersonal hatte sich geweigert, weiterhin für ihn zu arbeiten. Sogar die angebotene Erhöhung des Stundenlohn um 20 Prozent hatte die Hausfrauen und Studenten nicht von ihrer Kündigung abhalten können. Und die vier Langzeitarbeitslosen, die ihm die Bundesagentur für Arbeit geschickt hatte, hatten sich hartnäckig geweigert, für ihren Job Latexhandschuhe anzuziehen, die in der Volksrepublik China hergestellt waren. Einer hatte den Kinoinhaber wissen lassen, dass er lieber auf dem Bauch liegend bei strömendem Regen den ganzen Tag Spreegurken pflücken würde, als den Dreck von gottlosen, notgeilen Werbeheinis und Rechtsverdrehern zu beseitigen. Ein anderer Hartz-4-Mann hatte sich darüber entrüstet, dass im Filmprogramm kein einziges Werk aus der ehemaligen DDR zu finden sei.

Mit dem Besitzer waren sich die Tierschutz-Aktivisten über die Höhe der Miete schnell einig geworden. Sie hatten sich ihm als „Vereinigung dichtender Dentisten“ vorgestellt, deren Organisationsziel es sei, eine Brücke zwischen Zahnmedizin und Lyrik zu schlagen, und deren Mitglieder sich einmal die Woche zwecks künstlerischen Austauschs, lyrischer Erbauung und kollektiver Zahnsteinentfernung trafen. Und nichts im Verhalten des Ex-Kinobetreibers hatte darauf hingedeutet, dass er an der Richtigkeit dieser Angaben zweifelte.

Einige Aktivisten hatten ein wenig Mühe, sich mit dem ungewohnten Ambiente des neuen Versammlungsraumes anzufreunden. Auch der merkwürdige Geruch, der im ganzen Raum hing und einfach nicht zu verscheuchen war, so heftig sie auch an ihren Zigaretten und Zigarren zogen, trug dazu bei, dass sie sich nicht sofort heimisch fühlten.

Andere Frontkämpfer irritierte die rote Lampe auf jedem Tischchen oder mehr noch die Tatsache, dass sie trotz Knopfdrückens nicht auszuschalten war. Der Alterspräsident des Vereins, ein zweiundachtzigjähriger, erimitierter Geologie-Professor, der immer noch regelmäßig auf Veranstaltungen des Alpen-Vereins und anderer Organisationen packende Vorträge über die Ursachen wiederauflodernder Gletscherbrände hielt, versuchte vergeblich, per rosa Telefon eine Verbindung mit seiner Nichte herzustellen. Zu seiner Überraschung hatte er statt Elke den Kassenwart an der Strippe, der zwei Tische hinter ihm die fleckige Getränkekarte studierte, die er auf dem von Brandlöchern verunstalteten Teppichboden gefunden hatte. Irritiert legte der Alterspräsident auf.

Zur Begrüßung im neuen Heim und um seinen Einstand zu geben, spendierte der 1. Vorsitzende jedem Kollegen einen gelblich-blassen Cocktail. Seine Frau habe diesen Cocktail erfunden, erklärte er stolz. Im eleganten roten Abendkleid und mit einem silbernen Tablett bewaffnet, servierte die Gattin des Vorsitzenden die selbstgemixten Drinks. Trotz wiederholter Aufforderung neugieriger Herren blieb sie standhaft und behielt die Rezeptur für sich, schließlich enthielt sie Eierlikör. Ein wissendes Grinsen konnte sie sich allerdings nicht verkneifen.

Um keinen unnötigen Ärger zu verursachen, hatte der Apotheker extra bei seinen Vorstandskollegen eine Ausnahmegenehmigung eingeholt, normalerweise war die Anwesenheit von Frauen während ihrer Versammlungen untersagt. Keiner der Cocktail schlürfenden Herren ahnte jedoch, dass sich noch ein zweites weibliches Wesen Zutritt zu ihrem Vereinstreffen verschafft hatte.

Als Kellner verkleidet, von dem jeder dachte, der Vorsitzende habe ihn zur Premiere im Kino engagiert, damit er seiner Gattin ein bisschen unter die Arme greife, und von dem der Vorsitzende glaubte, der Besitzer habe ihn als eine Art Einweihungsgeschenk herbeordert, eilte die Witwe des Ex-Vorsitzenden emsig von Tisch zu Tisch. Mit anmutigen Bewegungen tauschte sie die vollen Aschenbecher gegen saubere neue aus.

Im schummrigen rötlichen Dämmerlicht achtete niemand darauf, dass es sich bei den ausgewechselten Aschenbechern um ein ganz anderes, wesentlich klobigeres Modell handelte.

Der falsche Kellner hatte seine Arbeit erledigt. Auf jedem Tisch thronte ein schwerer, metallener Aschenbecher. Hastig verließ die Witwe das Kino, ohne sich darum zu kümmern, dass einige vom gehaltvollem Cocktail der Apothekersfrau schon leicht benebelte Herren ihr verdutzt hinterherschauten, weil sie sich nicht vorstellen konnten, dass der Kellner schon Feierabend machte, bevor die Party richtig losging. Doch ihre Aufmerksamkeit wurde auf ihren Vorsitzenden gelenkt, der unsicher lächelnd vor der Leinwand stand und darauf wartete, dass endlich Ruhe einkehrte.

Er kam gerade noch dazu, seine Vereinskollegen herzlich zu begrüßen, dann endete seine Ansprache mit einem Knalleffekt. Die Druckwelle warf ihn an die Leinwand, und der ganze Kinosaal schien ihm in Einzelteilen um die Ohren zu fliegen.

Als der 1. Vorsitzende wieder zu sich kam, sah er den Boden vor der Leinwand mit Holz- und Glassplittern, verbeulten Tischlampen, Fetzen von Sitzbezügen und abgerissen Körperteilen übersäht – Fingern, Ohren und Nasen von Kollegen, die sich selbstständig gemacht hatten. Dann blickte er auf das spitze, gezackte Stück eines metallenen Aschenbechers, das sich in seine Brust gebohrt hatte. Er wunderte sich, dass er gar keinen Schmerz, sondern nur eine Art lästiges Jucken verspürte. Die Lausprecherbox, die über ihm baumelte und nur noch an einem dünnen Kabel mühsam Halt fand, riss sich endgültig los. Mit einem dumpfen Aufprallgeräusch landete sie auf seinem Kopf und bereitete dem Juckreiz ein jähes Ende.

Die Witwe hatte längst ihre Kellnerkluft abgelegt und sich wieder in eine trauernde, verhärmte Frau in den Vierzigern verwandelt. Allerdings fiel es ihr schwer, ihrem Gesicht eine Maske von Leid und Gram überzustülpen, zu stark war das Glücksgefühl, dass sie durchströmte, seit der Klang der gewaltigen Explosion an ihre Ohren gedrungen war.

Innerlich beglückwünschte sie sich dazu, dass sie sich von einem großen Medien-Versandhaus die Elektronik-DVD »Funkgesteuerte Zündmechanismen für Einsteiger« hatte schicken lassen. Mit Hilfe der Anleitungen des Basiskurses, der laut Begleitheft von einem ehemaligen Mossad-Agenten zusammengestellt worden war, konnte sie sich optimal auf die Aktion vorbereiten.

Die Witwe grinste. Lässig warf sie die Fernbedienung in einen Altglascontainer und lauschte fasziniert der lieblichen Musik, die in sicherer Entfernung den Martinshörnern der Polizei- und Feuerwehreinsatzwagen entströmte. Es war ein tödlicher Fehler des Apothekers, ihrem Mann auch noch nach dessen Ermordung per Brieftaube den geheimen Vereinsrundbrief zukommen zu lassen, wo doch die aktuelle Ausgabe von „Stolze Federn“ die Adresse des neuen Vereinslokals enthielt. Wahrscheinlich hatte er einfach vergessen, den Namen ihres Gatten aus dem entsprechenden Computer-Programm zu löschen, vermutete sie. „Pech gehabt“, sagte sie leise und stieg zufrieden in ihr nachtschwarzes Sport-Cabrio.


29.

Es lief nie ganz ohne Komplikationen ab, wenn Treiber und Lausig gemeinsam die Dienste des altehrwürdigen Pater Noster in Anspruch nahmen. Vielleicht war es seine pausenlose Geschäftigkeit, die sie irritierte und ihnen gleichwohl imponierte.

Auch ein wenig unheimlich schien er ihnen zu sein, schließlich hatte er bereits ein halbes Dutzend herzschwacher, cholerischer Polizeipräsidenten überlebt und kannte die zwei Gesichter eines jeden Beamten: das unausgeschlafene, verkaterte und verquollene morgendliche Dienstantrittsgesicht und das genervte, frustrierte, von Koffein- und Nikotinmissbrauch gezeichnete Endlich-Feierabend-und-warum-hab‘-ich-nicht-was-Anständiges-gelernt-Gesicht.

Bereits der Einstieg in den rotierenden Dauerläufer bereitete Treiber und Lausig Mühe, vor allem fehlte ihnen das exakte Timing,, wenn es abwärts gehen sollte. Nicht selten stand einer von beiden, meist war es Lausig, schon sicher mit beiden Füßen auf dem Boden der luftigen Liftkabine, während der andere, also in der Regel Treiber, sich nur durch einen mutigen, metertiefen Sprung die Mitfahrgelegenheit sichern konnte.

Schon mehrere Male hatte er sich beim Einstieg oder besser Einsprung das Fußgelenk verstaucht oder war mit der hohen Stirn an der Kabinendecke langgeschrammt. Treiber hatte auch nie begriffen, warum dieser Lift keine Türen wie andere Aufzüge besaß. Und auf mehrere seiner Initiativen, diesen Misstand zu beseitigen, zuletzt sogar schriftlicher Art, hatte der Polizeipräsident entweder geantwortet, es fehle an finanziellen Mitteln, auch die Kripo bliebe von der Sparwelle nicht verschont, außerdem könne er ja das Treppenhaus benutzen, er arbeite ja nicht im Rollstuhl. Oder er hatte auf die Möglichkeit verwiesen, man könne ja die Geschwindigkeit des Pater Noster erhöhen, das käme bei entsprechender Tempoforcierung aufs gleiche raus, als würde man Türen einsetzen.

Der Inspektor konnte sich noch genau daran erinnern, wie sein oberster Boss so komisch gegrinst hatte, als er dies vorschlug, und wie er selbst, reichlich irritiert, schnell das Gespräch auf ein anderes Thema gebracht hatte, was den Alten aber unerklärlicherweise noch mehr amüsierte. Dabei sprach für die Anschaffung eines Motorrades mit Beiwagen nach Treibers Auffassung eine ganze Reihe von einleuchtenden Gründen.

Doch der Inspektor, der für seine Hartnäckigkeit in gewissen Dingen bekannt war, hatte sich letztlich in diesem Punkt durchgesetzt. Um mit dieser an den Nerven zerrenden Angelegenheit nicht länger belästigt zu werden, willigte der Polizeipräsident in den Kauf eines dreirädrigen Dienstfahrzeuges ein. Schließlich hatte Treiber ihn jedes mal, wenn die Scheiben eines Dienstwagens zu Bruch gegangen waren, etwa durch feindlichen Beschuss oder unaufmerksames Einparken in der Polizeitiefgarage, hämischen Tons daran erinnert, dass Motorräder nicht verglast waren – und auch ein Beiwagen nur einen kleinen Windschutz aus Plastik besaß. Vorraussetzung für das Okay des Präsidenten war allerdings dessen Forderung, Treiber dürfe nur im Beiwagen mitfahren, steuern solle Lausig, der könne wenigstens schon Fahrrad fahren und eine Parkuhr von einem Hydranten unterscheiden.

Sekundenbruchteile, bevor die Liftdecke ihre Köpfe berührte, sprang das händchenhaltende Beamtenduo zeitgleich aus der Hocke in die Kabine. Es hatte viele Minuten gedauert, bis die beiden sich darauf einigen konnten, wer das Kommando für den Absprung geben solle. Treibers Argument, sein Großvater sei damals über Kreta mit dem Fallschirm abgesprungen, und nur eine verirrte feindliche Kugel habe seine sichere Landung verhindert, gab nach anfänglichen Protesten Lausigs, dies sei in Kriegszeiten gewesen, jetzt herrsche Frieden, schließlich den Ausschlag. Aber auch unter Treibers Befehlsgewalt holten sich beide blaue Flecken.

Einmal mehr hatte Lausig den Überredungsversuchen seines Vorgesetzten widerstanden, das Motorrad-Gespann selbst lenken zu dürfen, Mit finsterem Gesicht hockte Treiber im Beiwagen. Aus reinem Trotz hatte er es unterlassen, den Schutzhelm aufzusetzen, der in seiner Form verblüffende Ähnlichkeit mit einem alten Wehrmachtshelm hatte. Dabei wusste er genau, dass er sich ohne Kopfbedeckung im kühlen Fahrtwind im Nu erkältete. Seit ihm vor zwei Jahren ein arbeitsloser Schuster, der sich in betrügerischer Weise als Hals-Nasen-Ohren-Arzt ausgab, ambulant in seiner Garagenpraxis die vereiterten Mandeln ohne Betäubung entfernt hatte, reagierte sein Hals auf Zugluft äußerst sensibel.

Da nur er das Ziel ihrer Tour kannte, oder zumindest eine ungefähre Ahnung davon hatte, in welcher Gegend die Jagdhütte zu suchen sei, brüllte Treiber seinem Assistenten regelmäßig Anweisungen zu, wie dieser zu fahren habe. Das schadete nicht nur seinen Stimmbändern, denn der Nordostwind heulte sich die Seele aus dem Leib, sondern war im Grunde auch völlig überflüssig, zumal es eine von Lausigs ausgeprägtesten Schwächen war, rechts und links zu verwechseln.

Der Inspektor wurde sich dieses Umstandes schon bald bewusst, doch auch die Überlegung, Lausig ausschließlich geradeaus fahren zu lassen, erschien ihm wenig geeignet, das Problem in den Griff zu bekommen. Er probierte es fortan mit hektischen Wedelbewegungen seiner Arme, was den Piloten jedoch noch mehr verwirrte, da er glaubte, sein Chef ermittle entweder die Windgeschwindigkeit oder versuche, das heftige Schlingen des Gespanns in den Kurven durch Gewichtsverlagerung zu reduzieren. Im Rahmen des Möglichen hielt er auch, dass Treiber ständig irgendwelchen Damen zuwinkte, mit denen er einmal gefrühstückt hatte.

Nachdem sie zweimal in aufgeweichtem, sandigem Boden eines Reitweges steckengeblieben waren, drei Förster vergeblich um Orientierungshilfe gebeten hatten – alle drei gaben an, nur Statisten in einem Heimatfilm zu sein und sich während der Dreharbeiten verlaufen zu haben – und sie einmal von einem aufgebrachten kapitalen Hirsch aus dessen Revier gejagt worden waren, erreichten sie ein großes, dunkles Holzgebäude, das genau der Beschreibung entsprach, die der Student Treiber gegeben hatte. Es musste sich um die Jagdhütte handeln, die sie suchten.

Die Kriminalisten parkten ihr Gespann hinter einem dichten Haselnussgebüsch, so dass man es von der Hütte aus nicht sehen konnte, und zogen sich die Eichenlaub-Tarnanzüge über, die Treiber vom Dezernat für Umweltkriminalität ausgeliehen und in einer großen Jutetasche mitgenommen hatte. Sie entsicherten ihre Dienstpistolen, besprachen kurz die Angriffsstrategie und robbten los: der Inspektor auf die Hütte zu, Lausig von der Hütte weg. Erst ein Pfiff Treibers, der perfekt den kehligen Gesang eines brünstigen Rotkehlchenmännchens imitieren konnte, machte Lausig auf seinen Irrtum aufmerksam: Doch da war er mit dem rechten weiten Hosenbein seines grünbraunen Schafwoll-Overalls bereits in einer Stockschwämmchenpopulation hängengeblieben.

Als Treiber die Veranda der Jagdhütte erreicht hatte, hing ihm der Tarnanzug in Fetzen vom Körper, und das Blut rann aus zahlreichen Wunden an Brust, Armen und Beinen. Viel zu spät hatte er erkannt, dass er durch unzählige Glassplitter gekrochen war, deren Kanten scharf wie Rasierklingen waren.

Halblaut verwünschte Treiber die Kollegen des Umwelt-Dezernats. Immer müssen sie es mit ihrer Liebe zur Natur maßlos übertreiben, dachte er. Und warum ist denn keiner dieser Ökos auf die Idee gekommen, die Strampelanzüge an Knien und Ellbogen mit robustem Bisonleder zu verstärken?

Vorsichtig spähte der Inspektor durch das Frontfenster er Jagdhütte, doch im Inneren war alles dunkel. Plötzlich wurde die Hüttentür aufgestoßen. Instinktiv machte Treiber einen Satz zur Seite und landete bäuchlings neben der Veranda, auf einer Stelle, wo Brennnesseln den idealen Nährboden gefunden hatten.

Einen Moment lang war der Inspektor benommen. Diesen Augenblick nutzte der vor einer Woche aus dem städtischen Zoo geflohene Gorilla. Er hatte nachgeschaut, ob es in der Hütte einen Fernseher gab, und griff nun neugierig nach der Pistole, die Treiber bei seinem Hechtsprung aus der Hand gefallen war.

Prüfend blickte der Affe in den Lauf der Waffe, entschloss sich aber dann, die Mündung auf die komische Gestalt zu richten, die dort unten stöhnend in den Brennnesseln lag.

Der Schuss streifte Treibers rechte Wade. Fast zeitgleich ertönte eine laute Explosion. Erschrocken schleuderte der Affe die Pistole von sich und ergriff die Flucht. Dabei rannte er Lausig über den Haufen, der sich gerade mühsam aus den hartnäckigen Umklammerungen der Pilze befreit und aufgerichtet hatte.

Die Kugel aus Treibers Waffe hatte nicht nur seine Wade verletzt, sondern war auch in den Benzintank des Motorrads gedrungen, und hatte ihn zur Explosion gebracht. Die brennende Sitzbank, die haarscharf am Scheitel des von Panik erfüllten Gorillas vorbeiflog, landete auf dem geteerten Hüttendach, das sofort qualmend in Flammen aufging.

Treiber hatte sich aufgerappelt und presste jammernd sein Taschentuch auf die Schusswunde am Bein. Wie zur Salzsäule erstarrt blickte Lausig abwechselnd auf die brennende Hütte, die ebenfalls in Flammen stehenden Überreste des Motorrad-Gespannes und seinen Chef, dem Tränen über die Wangen liefen. Lausig wusste allerdings nicht, ob aus Schmerz – oder weil Treiber der beißende schwarze Rauch in die Augen stach, der sich jetzt rund um die Hütte stinkend ausbreitete.

Lausig fiel der Affe ein, doch von dem Tier, dem sie zweifellos dieses Fiasko verdankten, war keine Spur mehr zu sehen. Vielleicht habe ich mir ja alles nur eingebildet, dachte der Assistent, oder ich, befinde mich mitten in einem verrückten Traum. Als ihn sein Chef allerdings wütend anbrüllte, um von ihm zu erfahren, wo zum Teufel er gesteckt habe, als es brenzlig wurde, ahnte Lausig, dass dies alles nackte Realität war.

Zu dieser Realität gehörte auch, dass er auf einmal einen heftigen Schmerz in seiner Brust verspürte, dort, wo der schwergewichtige Affe auf seine Rippen geprallt war, bevor er sich feige aus dem Staub gemacht hatte. Lausig hielt es für angebracht, augenblicklich in Ohnmacht zu fallen.


30.

Den Feuerwehrleuten blieb nicht mehr viel zu tun. Bei ihrer Ankunft bot sich ihnen nur noch der Anblick eines qualmenden Haufens verkohlter Holzbalken. Trotzdem ordnete der Einsatzleiter an, den gesamten Wasservorrat des Löschzuges auf den harmlos vor sich hin kokelnden Überresten der Jagdhütte zu verteilen, um Ballast abzuwerfen, wie er mit ernster Miene mitteilte, damit die Rückfahrt schneller ginge.

Der Gorilla, der auf eine Kastanie geflüchtet war und die Löscharbeiten von oben kritisch beäugte, trauerte um den Verlust des LCD-Fernsehers mit der sensationellen Bildschirmdiagonale, den er in der Hütte entdeckt hatte. Die Vorstellung, in seinem Zookäfig wieder mit dem uralten, winzigen Röhrengerät Vorlieb nehmen zu müssen, stimmte ihn depressiv. Doch noch schlimmer war das Heimweh, das immer stärker wurde. Dagegen war er völlig machtlos.

Machtlos war auch Lausig, machtlos gegenüber den hartnäckigen Überredungskünsten der jungen Ärztin, seine Brust auf mögliche Rippenverletzungen hin durchleuchten zu lassen. Widerwillig stellte er sich vor den Röntgenschirm. Doch erst, als er von zwei kräftigen Krankenpflegern festgehalten wurde und es der Ärztin gelang, ihm das Hemd über den Kopf zu ziehen, konnte die Untersuchung beginnen.

Während Frau Doktor die passende Strahlen Dosis einstellte, konnte sie ein Grinsen nicht unterdrücken: So eine Hühnerbrust hatte sie noch nie gesehen. Und um ein Haar hätte sie Lausigs schmächtigen Oberkörper zum Leuchten gebracht.


31.

Grabowski waren die Beine eingeschlafen. Der Agent wusste nicht, wie lange er schon hinter dem Vorhang auf den mutmaßlichen Chef der mordenden Tierschützer wartete. Die goldene Armbanduhr, die ihm sein Patenonkel zur ersten Heiligen Kommunion geschenkt hatte, signalisierte ihm, dass es 14.32 Uhr war. Doch das tat sie schon seit sieben Jahren.

Er verspürte plötzlich einen Heißhunger auf Spiegeleier mit Zigeunersauce, doch in seinem Zustand – das Kribbeln in den Beinen war mittlerweile einer absoluten Gefühllosigkeit gewichen – sah er keine Möglichkeit, sein Verlangen zu befriedigen. Stöhnend bückte er sich und massierte die tauben Beine.

Als das Blut allmählich wieder in seinen Zehen zu pulsieren begann, unternahm Grabowski einige wackelige Probeschritte, wobei er seine Deckung aufgeben musste. Sein Hunger ließ ihm keine Ruhe. Er beschloss, in der Küche nach Eiern zu suchen.


32.

Wortlos stellte die Kellnerin dem jungen Mann, der bereits seit mindestens eienr Stunde an die Wand starrte, eine weitere Tasse mit lauwarmem Kaffee hin. Längst hatte sie es sich abgewöhnt, mit Gästen mehr Worte zu wechseln als unbedingt nötig, auch wenn es sich um interessante, attraktive Männer handelte. Doch diesen Typ fand sie alles andere als gutaussehend. Seine hängenden Mundwinkel und sein stumpfer Blick waren ihr unheimlich. Wahrscheinlich hat er mit seinem Leben bereits abgeschlossen, dachte sie. Vielleicht ist auch einfach nur sein Wellensittich gestorben. Doch was kümmert mich das alles eigentlich, dachte sie, ich habe selbst genug Probleme.

Das größte Problem der Kellnerin war ihr kahlköpfiger, korpulenter Chef, der immer einen schlechten Atem hatte und den sie einfach widerwärtig fand. Unter der Androhung, ihr zu kündigen, bestand ihr Boss darauf, sie jeden Donnerstag nach Feierabend mit seiner cremefarbenen Luxuslimousine nach Hause zu fahren: Allerdings nicht ohne einen Umweg durch den Bruchwald zu machen, wo er immer für ein paar zähe Minuten neben einem angesägten Schießstand anhielt und seine Bord-Stereo-Anlage mit einer Madonna-CD fütterte. Und heute war Donnerstag!

Der Jura-Student merkte nicht, dass der Kaffee kalt war. Auch dass die Kellnerin vergessen hatte, ihm ein neues Plastikdöschen Kondensmilch mitzubringen, fiel ihm nicht auf, obwohl er Kaffee schwarz eigentlich nicht ausstehen konnte. Längst hatte er es bereut, seine ehemaligen Kameraden verpfiffen zu haben. Gewissensbisse hin, moralische Bedenken her: Auch wenn er an einem Mord beteiligt war, ein Verräter wollte er keinesfalls sein.

Sein verhängnisvolles Telefonat mit dem Kriminalbeamten konnte er natürlich nicht wieder rückgängig machen. Vielleicht war der ganze Verein bereits verhaftet, dachte er. Doch für so schnell hielt er die Kripo nun auch wieder nicht. Unter Umständen hatte er ja doch noch eine Chance, das Schlimmste zu verhindern. Denn wenn nur einer der Frontkämpfer ungeschoren davonkam, konnte er sich seines Lebens nicht mehr sicher sein. Er musste jetzt ganz schnell handeln.

Er hatte die Frau des Vorsitzenden, an dessen Selbstmord er ja auch eine gewisse Mitschuld trug, auf einem Empfang kennengelernt, den ihr Gatte aus Anlass seines Fünfzigsten Geburtstags in seinem Landhaus gab. Nur die engsten Freund und einige ausgesuchte Vereinskollegen waren eingeladen. Der Sympathiebeweis freute ihn, und doch argwöhnte er, dass hinter der Einladung, schließlich war er ja noch recht neu in der Frontkämpfer-Vereinigung, vielleicht noch etwas anderes stecken könnte: eine Vermutung, die sich allerdings als gegenstandslos erwies.

Beim Aperitif im Foyer prallte er aus Versehen mit der Gastgeberin zusammen, wobei er ihr den Inhalt seiner Champagnerschale in den weiten Ausschnitt ihres kirschroten Abendkleides schüttete. Darauf schien die Dame des Hauses nur gewartet zu haben: Unter vorgetäuschtem Zorn und dem Vorwand, er persönlich müsse ihr dabei behilflich sein, die Flecken zu entfernen, führte sie ihn in ihr Schlafzimmerlabyrinth. Im Saal der tausend Spiegel bestand sie darauf, dass er die Socken anbehielt. Dann ermahnte sie ihn, zärtlich zu sein, und wies lächelnd auf ihr Wasserbett.

Und diese Frau hatte er ins Unglück gestürzt. Hätte er sich doch wenigstens der Stimme enthalten, als die Mitgliederversammlung ihrem Gatten den Vorsitz entzog.

Der Student zerrte einen Geldschein aus der Brieftasche, legte ihn neben den Aschenbecher, verließ fluchtartig das Café und holte sein Handy aus der Tasche seiner Cargohose. Vielleicht konnte er wenigstens etwas wiedergutmachen, wenn er der Lady seinen schmählichen Verrat gestand, und sie die Möglichkeit hatte, die Vereinskollegen ihres Mannes zu warnen. Dass die Witwe sich dieser Möglichkeit selbst beraubt hatte, da sie alle Legehennen-Befreiungsfrontler höchstpersönlich in die Luft gejagt hatte, konnte er natürlich nicht ahnen.

So teilte er ihr telefonisch mit, die Polizei sei mittlerweile darüber informiert, dass die geheimen Versammlungen in der Jagdhütte ihres Mannes stattfänden, außerdem kenne der Geheimdienst die Privatadresse eines Vereinskollegen, den er persönlich nicht kenne, Lausig oder so ähnlich sei sein Name. Er wüsste dies von einem Freund, dessen kokainabhängiger Bruder hin und wieder Informationen an den Nachrichtendienst verkaufe.

Die Witwe bedankte sich herzlich für das Geständnis und die interessanten Neuigkeiten und versprach, sofortige Schritte zu unternehmen, um die drohende Verhaftung der Frontkämpfer zu vereiteln und diese zu warnen, das sei sie schließlich als treue Anhägerin der Bewegung schuldig. Sie schlug vor, demnächst mal wieder ein Gläschen Champagner miteinander zu trinken. Bevor sie auflegte, ließ sie sich noch die Adresse von dem angeblich in akuter Not befindlichen Kollegen namens Lausig geben.

Eine Zigarettenlänge dachte sie intensiv nach – mit dem Ergebnis, dass sie es für besser hielt, sich für ihren Besuch bei diesem Lausig die Maschinenpistole ihres Ex-Gatten auszuleihen. Mit dem Gebrauch der automatischen Waffe hatte ihr Mann sie vor Jahren vertraut gemacht, um der lästigen Amseln im Garten Herr zu werden, die immer alle Kirschen fraßen, sobald sie auch nur einen Hauch von Rot trugen.

Sollte dieser Schlingel dem letzten Treffen im Pornokino ferngeblieben sein und als einziger der ganzen Bande noch leben, fragte sich die Witwe besorgt. Wenn dies wirklich so war, musste sie eingreifen. Entschlossen klingelte sie nach dem brasilianischen Dienstmädchen und ließ sich Hut und Schleier reichen.


33.

Grabowski fand, dass dieser Tag, der so bescheiden begonnen hatte, eine durchaus günstige Wendung erfuhr. Eine halb volle Packung Eier von glücklichen, freilaufenden Hühnern hatte er im ansonsten recht leeren Kühlschrank gefunden, gerade genug, um den kleinen Hunger zu stillen, der ihn in regelmäßigen Abständen während einer wichtigen Beschattungs- oder Bespitzelungsaktion befiel. Zufrieden schaute er den Spiegeleiern, die in einer gusseisernen Pfanne brutzelten, dabei zu, wie sie ordinäre Blasen warfen und durch eine abrupte Braunfärbung ihrer Ränder zu verstehen gaben, dass sie es satt hatten, noch länger in billiger Margarine zu schwitzen.

Da er im Kühlschrank keine Zigeunersauce gefunden hatte, schlang Grabowski seine etwas zu knusprig geratenen Spiegeleier ersatzweise mit einem dicken Klecks Creme Fraiche und einer kräftigen Prise Cayennepfeffer hinunter. Dem zu erwartendem Nachdurst versuchte er, mit einer Flasche Apfelwein vorzubeugen.

Die Türklingel schrillte. Erschrocken ließ Grabowski die halb leere Flasche fallen. Ganz automatisch schob sich sein schwieliger Daumen zwischen die kariösen Zähne und legte sich auf die belegte Zunge. Durch sein Hirn jagte Starkstrom. Gleich zwei Fragen drängten auf eine schnelle Antwort: Wer konnte das in Teufelsnamen bloß sein? Und wo habe ich eigentlich meinen Cellokasten gelassen?


Hühner 5.

Von Panik erfasst vergaß das Huhn, dass seine flugtechnischen Möglichkeiten sehr eingeschränkt waren. Die Angst vor dem Hund, der sich soeben mit wütendem Gebell in den Wassergraben gestürzt hatte, war so groß, dass es dem Federvieh gelang, verborgene Kraftreserven zu mobilisieren. Doch für mehr als ein paar Meter Flatterflug reichten sie nicht, und die verzweifelte Henne kam kaum über die Spitzen der Maispflanzen.

Der Flug hatte sie an ihre endgültige Leistungsgrenze gebracht. Zu Tode erschöpft machte sie eine Bauchlandung und streckte ihre untauglichen Flügel aus. Das Blut rauschte ihr in den Ohren. Die Müdigkeit lähmte ihr Denken, doch es war ohnehin nur noch ein einziger Gedanke in ihrem Kopf: Endlich schlafen!

Und so schloss die Henne mit ihrem Leben ab. Eine wohltuende Gleichgültigkeit durchströmte sie. Jetzt war sie bereit für alles, was geschehen würde: mit ihr geschehen. Hauptsache, es war bald vorbei.

In Erwartung des baldigen Endes schloss die Henne die Augen. Sie war jetzt von einer nie zuvor gekannten Ruhe erfüllt, einer Ruhe, die sich auch von dem schnell näher kommenden Kläffen des Hundes nicht erschüttern ließ.


34.

Der Hausmeister senkte den Blick. Fast lautlos schwebte die trauerbeflorte, ganz in schwarz gekleidete Frau an ihm vorbei. Er hatte das Gefühl, als streife ein kalter Hauch des Todes seinen frisch ausrasierten Nacken. Er bekam eine Gänsehaut, die auch noch anhielt, als sich die Schiebetüren der Liftkabine bereits quietschend hinter der unheimlichen Dame geschlossen hatten.

Von seltsamer Unruhe und einer merkwürdigen Vorahnung gepackt, so als passiere in diesem Haus schon bald irgend etwas Schreckliches, bückte sich der Hausmeister und hob eine weiße Chrysantheme auf. Die Frau hatte sie verloren, als sie auf den Lift wartete. Einen so großen Blumenstrauß, wie die Dame in schwarz ihn in ihren Armen trug, hatte der Hausmeister noch nie gesehen.

Wahrscheinlich ist kürzlich ihr Mann gestorben, und sie kommt gerade von der Beerdigung, dachte er. Eine tiefe Trauer umklammerte sein Herz, denn er musste plötzlich an Irene denken, seine erste Frau, die vor 13 Jahren Opfer eines tragischen Unfalls wurde. An einem schwülen Nachmittag Anfang September war sie beim Wäsche aufhängen im Garten von der scharfkantigen Tragfläche eines notlandenden Segelflugzeuges am Kopf getroffen worden. Er selbst hatte das Unglück aus drei Metern Entfernung miterlebt. Der Luftzug des niedergehenden Segelfliegers hatte nicht nur zwei lose Ziegel vom Hausdach gefegt, sondern auch den Liegestuhl umgeworfen, in dem er sich vom anstrengenden Pflaumenpflücken erholte.

Mit einer verstohlenen Handbewegung wischte sich der Hausmeister eine Träne aus dem Augenwinkel, um sich dann wieder seiner Arbeit zu widmen. Die Beseitigung der Spuren des Brandanschlags auf den Briefkasten des Kriminalbeamten machte mehr Mühe, als er gedacht hatte. Sein Blick fiel auf das rußverschmierte Namensschildchen des metallenen Kastens. Trotz der trüben Stimmung, in der sich befand, huschte ein Lächeln über sein pausbäckiges Gesicht. Ein Bulle, der Lausig hieß, darüber konnte sich der Mann im verwaschenen Blaumann immer wieder köstlich amüsieren. Und weil er merkte, dass sich seine Gemütslage besserte, steckte er sich erst einmal eine ägyptische Filterlose zwischen die rissigen Lippen.


35.

Mit dem Rest der wie Ziegenleder schmeckenden Pizza Funghi warf Lausig die Tube Salbe, die ihm die Ärztin im Krankenhaus für seine Rippenprellung mitgegeben hatte, neben den überquellenden orangefarbenen städtischen Abfalleimer, wo bereits eine mittelgroße, stinkende Müllhalde entstanden war.

Er hatte seine eigene Medizin zu Hause: flüssig, bernsteinfarben und zwölf Jahre in Eichenfässern gereift. Sie schmierte und fettete nicht und hatte auch keinen unangenehmen Geruch, im Gegenteil.

Die Aussicht auf ein paar Gläser dieses flüssigen Golds, seinen bequemen Ohrensessel sowie den letzten Teil von „Allein gegen die Mafia“ im Free-TV ließen Lausig den Tag, der beruflich eine einzige Katastrophe war, in etwas hellerem Licht erscheinen.

Im Hausflur fiel ihm sofort auf, dass der Hausmeister ihm einen neuen Briefkasten installiert hatte. Im Gegensatz zu allen anderen war er nicht rostbraun, sondern leuchtend rot lackiert, rot wie die Feuerwehr. Lausig verdächtigte den Iraker aus dem dritten Stock, mit Streichhölzern gespielt zu haben. Denn er hatte ihn am vergangenen Sonntagmorgen dabei erwischt, wie er gerade ein Anzeigenblatt aus dem Briefkasten der spindeldürren Zahnarzthelferin zog. Seine in freundlichem Ton gestellte Frage, ob er mit Saddam Hussein verwandt sei, hatte der Mann wohl in den falschen Hals bekommen, vermutete Lausig.

Aber nachweisen konnte er ihm die Brandstiftung natürlich nicht, obwohl es bestimmt einen Zeugen für die Tat gab. Denn in diesem Hochhaus blieb einfach nichts unbemerkt – es sei denn, es geschah in einem fensterlosen Klo der hundertzehn Komfortwohnungen oder im verliesartigen Fahrradkeller, wo an sieben Tagen die Woche das Licht nicht funktionierte – und in den deshalb die Mehrzahl der Hausbewohner nie auch nur einen einzigen Schritt gesetzt hatte. Lausig konnte sich durchaus vorstellen, dass der unheimliche Raum im Kellergeschoss der ein oder anderen spurlos verschwundenen Studentin als letzte Ruhestätte diente und die Ratten bei guter Gesundheit und blendender Laune hielt.

Sein Blick fiel auf die rote Digitalanzeige neben der Aufzugtür. Die 13 leuchtete auf. Seine Traumwohnung befand sich im dreizehnten Stock, und so entschloss er sich, etwas für die Gesundheit zu tun. Außerdem war Warten nicht gerade sein Hobby.

Schwungvoll nahm er die ersten Stufen in Angriff. Die abgestandene Treppenhausluft und sein unsteter Lebenswandel stellten seine Kondition auf eine harte Probe. Bereits in der dritten Etage musste Lausig eine kleine Pause einlegen. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn, und seine ruhigen Atemzüge hatten sich in hektisches Hecheln verwandelt.

Im fünften Stock, Lausigs Tempo hatte sich auf das einer Weinbergschnecke reduziert, wurde die Luft noch schlechter. Ein beißender Geruch von Bratfisch stieg ihm in die Nase. Aus irgendeinem Grund werden die von Küchenabzugshauben eingesaugten Kochschwaden auf direktem Wege in das Treppenhaus geleitet, vermutete er. Gegen aufsteigende Übelkeit ankämpfend, marschierte er weiter. Er überlegte, wie groß wohl die Chance sei, sich eine Fischvergiftung einzufangen.


36.

Die Witwe drückte ein zweites Mal auf den Klingelknopf. Lautlos zählte sie bis zehn. Dann richtete sie ihre Maschinenpistole auf das Türschloss und betätigte den Abzug.

Die Kraft der Salve riss die Wohnungstür aus den Angeln. Ihre Waffe im Anschlag überquerte die Witwe elegant die auf dem Boden liegende, durchlöcherte Tür. Sie entschied sich, zuerst in der Küche nachzusehen, und kickte lässig mit der Spitze ihres hochhackigen schwarzglänzenden rechten Schuhs einen größeren Holzsplitter zur Seite.

Die Türklingel ertönte ein zweites Mal. Grabowski fühlte sich unwohl. Seine Waffe war nicht in Reichweite, ausgerechnet jetzt, wo der Täter in die Falle lief. Die Säure des billigen Apfelweins stieg ihm brennend die Speiseröhre hoch. Außerdem drückte sich die kalte Kante des Metallregals in seinen Nacken, und die spitzen Borsten des kopfüber an der Tür hängenden Schrubbers bohrten sich unangenehm in seine Nasenspitze. Vielleicht war es nicht die beste Idee, sich in der engen Vorratskammer zu verstecken. Aber von hier aus kommt das Überraschungsmoment noch mehr zur Geltung, machte sich der Agent Mut, das kann entscheidend sein. Denn er wusste sehr wohl, dass seine Absicht, Lausig mit bloßen Händen zu fangen, Risiken barg.

Hoffentlich kommt er überhaupt in die Küche, dachte Grabowski. Plötzlich krachten Schüsse. Grabowski zuckte zusammen. Er hörte, wie etwas Schweres auf die Steinfließen schlug und dachte, es sei die Tür. Die Tatsache, dass Lausig seinen Haustürschlüssel nicht benutzte, hielt er für kein gutes Zeichen.

Grabowski hörte, wie sich Schritte näherten. Er atmete jetzt so flach und lautlos wie möglich, doch irgendetwas begann, ihm in der Nase zu kitzeln. Er roch auf einmal rote Zwiebeln. Panik überfiel ihn. Seit der Pubertät war er gegen Knoblauch, Porree und Schnittlauch allergisch. Besonders jedoch gegen rote Zwiebeln. Und musste er erst einmal niesen, so konnte es bis zu einer halben Stunde dauern, bis der Anfall vorbei war. Der Agent stellte das Atmen ein.

Die Witwe war zu allem entschlossen. Irgendetwas sagte ihr, dass der Verräter sich in diesem Raum versteckte. Der Gestank von gebratenen Eiern hing in der Luft und vermischte sich mit dem süßlichen Geruch der auf dem Fußboden verdunstenden Apfelweinpfütze.

Während die Witwe prüfend ihren Blick im Raum kreisen ließ, testete sie schnüffelnd die Duftkreation. Sie musste würgen. Ihr Blick blieb an der Kühl-/Gefrierkombination hängen, als könne ihr Opfer sich dort verborgen halten. Die Detonation eines lange unterdrückten Niesens fuhr ihr in die Ohren. Die Witwe zuckte zusammen. Dann wirbelte sie herum. Instinktiv krümmte sich der Zeigefinger ihrer rechten Hand.

Grabowskis Luftanhalten hatte nicht geholfen. Die Allergie des Agenten war mächtiger als ein alter Trick, der sowieso nur selten funktionierte. Beim Niesen drückte sich Grabowskis Gesicht tief und schmerzhaft in die harten Schrubberborsten. Doch dann kam es noch schlimmer.

Die Kugeln durchschlugen die dünne Spanplattentür der Vorratskammer und machten es sich im Bauch des Agenten bequem. Grabowski hatte das Gefühl, als füttere jemand sein Magengeschwür mit mexikanischen Chilischoten. Die Wucht der Geschossgarbe hatte ihn gegen das Lebensmittelregal gedrückt, so dass es ins Wanken geriet. Ein großes Glas schlesischer Salzgurken, das Lausig auf dem letzten Polizei-Flohmarkt gegen einen Christbaumständer eingetauscht hatte, kam ins Trudeln.

Für einen kurzen Moment wurde der Agent von seinen höllischen Bauchschmerzen abgelenkt. Er presste seine blutverschmierten Hände, die er eben noch auf seinen löchrigen Leib gedrückt hatte, auf den Kopf – denn dort hatte eine Bombe eingeschlagen. Während es in seinem Schädel dröhnte wie im Glockenturm des Petersdoms, merkte Grabowski, dass ihm eine warme Flüssigkeit über das Gesicht lief, ihm Brust und Rücken hinunter rann.

Die Augen des Agenten begannen zu brennen, doch das war noch nichts gegen die Qualen, die der scharfe, salzige Gurkensud in den frischen Schusswunden rund um den Bauchnabel verursachte.

Grabowskis Lippen formten sich zu einem stummen Schrei, dann atmete er aus – zum endgültig letzten Mal. Eine Salzgurke, die eine Weile auf seiner Schulter balanciert hatte, verlor das Gleichgewicht und rutschte in die Brusttasche des dunkelblauen Blazers, den der Agent erst gestern aus der Schnellreinigung geholt hatte.

Behutsam öffnete die Witwe die siebartige Kammertür, um ihr Werk zu begutachten. Wie in Zeitlupe kippte ihr der tote Grabowski vor die Füße, die blutig-nassen Hände immer noch auf seinen Kopf gepresst, als seien sie dort festgeklebt.

Ein teuflisches Grinsen erstrahlte auf ihrem Gesicht. Irgendwie fand sie es lustig, dem letzten Mohikaner der Verräterbande ausgerechnet in Trauerkleidung das Lebenslicht ausgepustet zu haben.

Gutgelaunt verließ die Witwe die Wohnung. Der im Flur versammelten neugierigen Nachbarn, die sich Mutmaßungen über die Anzahl der gefallenen Schüsse zuraunten und hofften, einen Blick auf die in ihrem Blut liegende Leiche werfen zu können, beachtete sie nicht. Erst als sie sich, bereits am Lift angelangt, umdrehte, die Maschinenpistole auf die Leute richtete, „Penpeng“ sagte und danach in schallendes Gelächter ausbrach, verstummte das Tuscheln der Gaffer. Doch sie wichen keinen Zentimeter zurück.

Stumm sahen sie zu, wie die schwarze Dame ihren Hut samt Trauerschleier vom Kopf riss und ihn einem kleinen blonden Mädchen zuwarf, das die Kopfbedeckung mit erstaunten großen Augen auffing und fest an die Brust drückte, so als könne ihm jemand die Beute streitig machen.

Erst als sich der Aufzug mit der unbekannten Besucherin in Bewegung gesetzt hatte, löste sich die Menge aus ihrer Starre. „Hat eigentlich jemand die Polizei gerufen?“ fragte eine Hausfrau in Berufskleidung. Doch sie erhielt keine Antwort. Ihre Nachbarn eilten entweder zurück an ihre Fernsehgeräte, um ihre Reise nach Bollywood fortzusetzen, oder drängelten sich in Lausigs Wohnung. Die Hausfrau schlurfte zurück in ihre Küche, um einen allerletzten Versuch zu starten, das Glas Pfälzer Leberwurst zu öffnen, ohne ihren Mann um Hilfe bitten zu müssen, der Vegetarier war, seit er eine Hitler-Biografie gelesen hatte.


37.

Der Lift hielt im zehnten Stock. Quietschend glitten die Türen auf. Es war niemand zu sehen. Die Witwe drückte auf den EG-Knopf. Nichts. Sie drückte noch mal, fester. Wieder nichts. Sie versuchte es ein drittes Mal. Heulend nahm das Gebläse in der Kabine seinen Betrieb auf. Kalte, abgestandene Luft wirbelte ihr ins Gesicht. Fluchend verließ sie den Aufzug. Bereits nach den ersten Stufen ärgerte sie sich, keine bequemeren Schuhe angezogen zu haben.

Im achten Stock war Lausig mit den Kräften am Ende. Seine Beine hatten sich in Pudding verwandelt, und in seiner Lunge steckte ein Nadelkissen. Ihm war übel. Zum Fischgestank hatte sich ein penetranter Schmorgurkengeruch gesellt. Lausig hasste Schmorgurken, mehr noch als Bratfisch.

Er blieb stehen und klammerte sich an das Treppengeländer. Sein Versuch, tief durchzuatmen, endete in einem Hustenanfall. Erschöpft sank er auf die Steinstufen. Jetzt roch er plötzlich Bratkartoffeln mit Speck. Ihn schwindelte, und aus seinem Magen drang ein bedrohliches Grummeln.

Lausig hörte Schritte durch Treppenhaus hallen. Er öffnete die müden, schweißverklebten Augen. Die Schritte näherten sich, dann ging eine schwarz gekleidete Frau an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten. Ihre Hand umklammerte irgendeinen dunklen Gegenstand.

Lausig bekam einen Schluckauf. Die Schritte der Frau wurden leiser.

In Lausigs dumpfem Kopf nahm ein Gedanke Gestalt an, arbeitete sich vor, drängte, kämpfte, ließ sich nicht abschütteln. Lausigs Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Die Frau hatte etwas in der Hand. Etwas Dunkles, Metallisches. Es war ...

Lausig fuhr hoch. Es war eine Maschinenpistole. Seine Hand zuckte zum Schulterholster, berührte den kalten Griff der Dienstwaffe. Dann gab er seinen Beinen einen Befehl. Lauft!

Lausig stolperte die Treppe herunter. Er wünschte sich, dieser Tag würde bald zu Ende gehen. Wie auch immer.

Vergeblich versuchte der Lieferant von Pizza-Blitz, über den Stapel fettiger Pappkartons, den er in seinen kurzen Armen balancierte, zu blicken. Er wusste genau, dass er sich im Erdgeschoss befand, aber nicht, in welchem. Er sehnte sich nach einer Zigarette – und prallte auf ein Hindernis. Etwas riss ihn zu Boden. Es war die Witwe.

Sie ekelte sich. Eine lauwarme, aufgeplatzte Pizza Calzone schmiegte sich um ihren Hals. Sie wollte sich von der klebrigen Masse befreien, doch ihr rechter Arm hörte nicht mehr auf ihr Kommando. Er hatte eine seltsame, unnatürliche Krümmung angenommen. Erst jetzt setzten die Schmerzen ein. Der Blick der Witwe verschleierte sich.

Fluchend rappelte sich der unverletzt gebliebene Pizzamann auf. Hastig sammelte er die verlorene Ware wieder ein. Mit einem Ruck löste er das am Hals der leise stöhnenden Frau haftende Pizza-Wrack und stopfte es in einen Pappkarton. „Alles in Ordnung?“ fragte er die hilflos am Boden liegende Dame in Schwarz, schnippte eine Champignonscheibe von ihrer Wange – und kümmerte sich dann nicht weiter um sie.

Er kam nur bis zur Aufzugtür. Die Witwe war wieder zu sich gekommen, zwei Meter zur Seite gerobbt, hatte mit der gesunden Linken die Maschinenpistole gegriffen und sich mühsam aufgerichtet. Ihre Salve kam ungenau, doch eine Kugel traf den Pizza-Fahrer in die Wirbelsäule. Er knickte um wie eine morsche Pappel im Orkan.

Eine Pizza Tonno befreite sich aus ihrem Papp-Gefängnis und rutschte quer über den Steinboden Richtung Treppe. Lausig trat genau hinein. Dass er zu Fall kam, war sein Glück, denn so erwischte ihn der Querschläger der jetzt erneut feuernden Witwe nur in der linken Schulter. Lausigs Kopf knallte auf die Fließen. Sein Bewusstsein nahm eine Auszeit.


38.

Die Streifschusswunde an Treibers Bein begann zu jucken. Der Inspektor hielt dies für ein gutes Zeichen. Obwohl die Verletzung ihn beim Laufen nicht behinderte, zog Treiber das angekratze Bein nach. Der mitfühlende Blick einer alten Frau, die zu dieser späten Stunde noch im Nieselregen Plastik-Maiglöckchen vor Lausigs Mietskaserne verkaufte, tat ihm gut. Sein Hinken wurde stärker.

Treibers schwieliger rechter Zeigefinger zögerte, auf den Klingelknopf zu drücken. Der Inspektor hatte die Bananen vergessen. Und ohne Lausigs Lieblingsobst traute er sich nicht, auch nur einen Fuß in dessen Wohnung zu setzen.

Vor einigen Monaten hatten die Kollegen ein Abkommen getroffen, bei gegenseitigen Besuchen statt Schwarzbrot, Prager Schinken und Doppelwacholder lieber etwas Vitaminhaltigeres mitzubringen, zum Beispiel Obst. Doch seitdem ihn Lausig in der letzten Zeit des öfteren mit matschigen Kiwis beglückte, die er höchstens noch seiner zahmen Dohle Madonna anbieten konnte, sehnte er sich nach den guten, alten Zeiten zurück.

Aber Lausig blieb stur. Von einer Rückbesinnung auf alte Traditionen wollte er nichts wissen. Man saufe schon genug im Dienst, argumentierte sein Assistent. Wenigstens nach Feierabend solle man auf die Gesundheit achten.

Treiber hatte keine Ahnung, wo er zu dieser späten Stunde noch Bananen auftreiben solle. Unschlüssig starrte er auf die fleckige Hausfassade, von der sich ein ofenblechgroßer Lappen Farbe im Zeitlupentempo ablöste, im Fallen zusammenrollte – und mit dem Geräusch einer Ohrfeige auf den nassen Bürgersteig klatschte.

Das Quietschen von Autoreifen ließ den Inspektor herumwirbeln. Treiber hatte zu viele Kriminalfilme gesehen, um nicht zu wissen, dass dieses Geräusch in 99 Prozent aller Fälle Gefahr signalisierte: Gefahr für den unterbezahlten, Berge von Überstunden vor sich herschiebenden und völlig übermüdeten Kriminalbeamten, der sich nach einem randvollen Glas Feierabend-Bourbon und einer Riesenschüssel Pistazien sehnte.

Instinktiv warf er sich auf das harte Bürgersteigpflaster und rollte zur Seite, um in den Schutz eines Altglascontainers zu gelangen – doch soweit kam er nicht. Ein Scherbenhaufen stoppte sein Manöver. Er biss sich auf die Zunge und presste seine zerschnittenen Hände gegen den Trenchcoat. Blut tropfte von seiner skalpierten Nasenspitze.

Der Taxifahrer hatte es eilig, den Fahrgast, der nach dem Lieblingsparfum seiner Frau duftete, loszuwerden. Mit einem Fußtritt beförderte er den Mittvierziger aus seiner Limousine. Er war wütend darüber, auf diese Weise an den Tag erinnert zu werden, an dem ihn seine Gattin mit einem schielenden Teppichverkäufer betrogen hatte: der Tag, der ihn elf Jahre Knast gekostet hatte.

Als sie aus dem Haus trat, wäre die Witwe fast über den Fahrgast gestolpert, der auf sie zuschossen kam. Ein kleiner Sprung bewahrte sie vor dem Fall. Ihr dunkler Schleier war verrutscht, so dass der Taxifahrer direkt in ihre blutunterlaufenen Augen blickte.

Mit ihrer linken Hand umklammerte die Witwe immer noch die automatische Waffe, obwohl sie wusste, dass das Magazin längst leergeschossen war. Der Anblick von zwei Männern, die auf dem Bürgersteig lagen, irritierte sie. Sie blieb stehen. Ihr Blick fiel auf etwas Metallenes, das auf dem Boden lag.

Treiber streckte sich und versuchte mit spitzen Fingern, seine Pistole zu erreichen, die ihn beim Abrollen aus der Hosentasche gerutscht war. Doch die Witwe war schneller.


39.

Der Zeitungsjunge gab Gas. Eine stinkende schwarze Wolke quoll aus dem rostigen Auspuff seiner Mofa. Als er sich dem Haus näherte, in dem der einzige Abonnent des Käseblattes in diesem Viertel wohnte, drosselte er das Tempo.

Lässig fischte er mit der Rechten ein klammes Exemplar des Mitternachts-Kuriers aus dem Korb, den er mit Paketklebeband am Lenker befestigt hatte. Routiniert schleuderte er die Zeitung in Richtung Haustür.

Das Blatt fegte der Witwe die Waffe aus der Hand. Ein Schuss löste sich. Ohne Probleme durchschlug die Kugel den Helm des Mofafahrers. Treiber hechtete nach vorn, bekam die Fußgelenke der Witwe zu fassen, und riss die Dame zu Boden.

Doch die dachte nicht daran aufzugeben. Mit ihrem gesunden Arm drückte sie dem Inspektor den Hals zu. Treibers Gesicht rötete sich. Der Inspektor sah keine Möglichkeit, der Umklammerung zu entrinnen.


40.

Der bärtige Gletscher-Forscher im koreanischen Geländewagen schaute auf seine Armbanduhr. Noch genau drei Minuten und achtundzwanzig Sekunden, dann würde die Bombe hochgehen. Im Frühstücksfernsehen wird es mit Sicherheit nur dieses eine Thema geben, freute er sich.

Der Bekennerbrief war längst abgeschickt. An den Chefredakteur höchstpersönlich. Die ganze Welt würde auf sie aufmerksam werden. Und jeder Dorfdepp würde wissen, was die Ziele der Roten Mastrinder-Rettungsbrigade sind. Wenn die Menschheit schon die Gletscher vernichtete und die Elefanten ausrottete, so sollte es wenigstens den Rindviechern gut gehen, dachte er.

Von diesen Gedanken berauscht, wühlte der drei Mal geschiedene Glaciologe im Handschuhfach nach seiner Mentholzigaretten-Packung. Für ein paar Züge reichte die Zeit noch. In einer Minute war er ja weit genug vom Auto weg …

Der Eis-Experte kam nicht dazu, sich eine anzustecken. Die Bombe explodierte – drei Minuten und elf Sekunden zu früh. Doch noch schlimmer war: Die Bombe befand sich im Kofferraum seines Wagens.

Treiber fühlte die Erde beben und glaubte, genau so kündige sich der Weltuntergang an. Er sehnte sich plötzlich nach erfrischenden fetten Regentropfen, die seine trockenen, rissigen Lippen benetzten. An der schmalen Grenze zwischen Bewusstsein und Ohnmacht merkte er nicht, dass der Druck des Arms, der seinen Hals umklammerte, nachließ.


41.

Das scharfkantige Stück Motorhaube hatte den Kopf der Witwe glatt vom Rumpf getrennt. Treiber hielt das Blut auf seinem Gesicht für Sommerregen. Verschwommen sah er, wie sich eine Gestalt über ihn beugte und etwas, das aussah wie eine zerfledderte Pizza, gegen seine Schulter presste.

Lausig bemühte sich, so gut es ging, das Gesicht seines Chefs mit einem Erfrischungstuch der Deutschen Bahn AG zu reinigen. Treiber reagierte mit heftigen Nieskanonaden.

Lausigs Schusswunde begann zu brennen. Sein Blutkreislauf reagierte allergisch auf Thunfisch. Während er versuchte, dem unverständliche Worte murmelnden Inspektor auf die Beine zu helfen, traf ihn der gebündelte Wasserstrahl eines städtischen Straßenreinigungswagens im Rücken. Er fiel auf seinen Chef – und dann wurde es ihm schwarz vor Augen.

Minuten später sammelte ein nächtliches Räumkommando des City-Händler-Verbandes die stinkenden, völlig durchnässten und hilflos in der Gosse liegenden Kriminalisten ein. Hände, die gelernt hatten, richtig zuzupacken, wuchteten Treiber und Lausig auf die harte Ladefläche eines Kleinlasters. Nach zwanzig Minuten Fahrt hielt der Wagen in der Nähe eines stillgelegten Schlachthofs am Rande der Stadt. Auf einem holprigen Acker, wo nur noch Disteln wuchsen, entledigte sich das Räumkommando seiner Ladung.

Treiber und Lausig hatten die ganze Nacht Mühe, sich hungrige Ratten und verwilderte Hunde vom Hals zu halten. Hauptsächlich dem schier unerschöpflichen Vorrat an Lausigs Erfrischungstüchern verdankten die Beamten ihr Überleben.

Als der Morgen dämmerte, hatte sich der Inspektor soweit erholt, dass er seine Beine bewegen konnte. Lausig, der im Fieberwahn ständig von labyrinthartigen Weinkellern in französischen Schlössern faselte, war nicht in der Lage, auch nur den kleinen Finger zu heben.

Treiber hatte den Kopf seines Assistenten auf ein Kissen aus Distelblüten gebettet. Bevor er sich auf den Weg machte, eine der rar gewordenen Telefonzellen zu suchen, legte er ihm das letzte, saubere Erfrischungstuch auf die Schulterwunde und beschwerte es mit einem Kieselstein.


42.

Der Inspektor schleppte sich über den steinigen Acker, bis er an den Rand eines Maisfeldes gelangte. Weit und breit war weder ein Bauernhof noch eine Telefonzelle in Sicht. Treiber blieb keine andere Wahl, als das Maisfeld zu durchqueren.

Nach ein paar Minuten hatte er die Orientierung verloren. Erschöpft und mutlos legte er sich zwischen die Maispflanzen und fiel in einen leichten Schlummer. Hundegebell ließ ihn hochschrecken. Schnell kam das Bellen näher. Irritiert stolperte ein paar Schritte nach vorn.

Da erblickte er das Huhn. Es hockte einfach auf dem Boden, zwischen zwei Maisstauden, dick aufgeplustert, als friere es. Das Hundegebell war jetzt höchstens noch ein paar Meter entfernt. Treiber meinte bereits, den heißen Atem des Tiers im Nacken zu spüren. Er drehte sich um.

Den schwarzen Hund kitzelte irgendetwas in der Nase. Ein Geruch. Während er darüber nachdachte, was das für ein Geruch sein könnte, vergaß er zu bellen. Ohne es zu merken, verlangsamte er seinen Lauf. Er blieb stehen und streckte die dicke Nase schnüffelnd in die Höhe. Sein Schwanz zuckte rhythmisch.

Jetzt erkannte er den Geruch. Ein wellenförmiges Zucken rollte über sein flauschiges Fell, von der Schwanz- bis zur Nasenspitze – und zurück.

Der Hund wurde von einer ungeheuren Erregung gepackt. Feldhamster, er roch Feldhamster, sein Leib- und Magengericht.

Der Geruch kam von hinten, daran hatte der große schwarze Hund mit der sensiblen Nase nicht den geringsten Zweifel. Mit einem Ruck drehte er sich um 180 Grad – und spurtete los, dem Frühstück entgegen.


43.

Wütend presste der Fahrer des Rettungswagens seine neuen Zähne zusammen. Mit fünfzig Sachen jagte er das frisch gewaschene Fahrzeug über den holprigen Feldweg durch den Morgennebel. Trotz seiner 24 Dienstjahre war dies sein erster Einsatz in einem Maisfeld. Der Wagen schlingerte jetzt so stark, dass seinem Kollegen die Hagebuttenmarmeladenfüllung des angebissenen Frühstückskrapfens auf die blütenweiße Sanitäterhose tropfte.

Die Vollbremsung erfolgte gerade noch rechtzeitig. Zwei Meter vor der Gestalt, die mitten auf dem Feldweg wie ein Gespenst aufgetaucht war, blieb der Wagen stehen.

Die Sanitäter wagten nicht auszusteigen. Der völlig verdreckte Mann mit blutiger Nase und wirrem Blick irritierte sie genauso wie das Huhn, das er in den Armen hielt.

„Bitte versorgen Sie erst das arme Tier“, hörten sie die Erscheinung mit brüchiger Stimme sagen, „es steht unter Schock.“. Nach ein paar röchelnden Atemzügen fügte die Gestalt matt hinzu: „Und dann kümmern Sie sich um meinen Assistenten. Er liegt da hinten.“

Die Rettungssanitäter sahen, wie der Zombie aus dem Maisfeld mit seinem blutverkrusteten Gesicht eine ruckartige Bewegung in die Richtung machte, wo Disteln den Mais ablösten – und hielten den Atem an.

Treiber konnte nicht verstehen, warum die Sanitäter sich bekreuzigten, statt auszusteigen und ihren Job zu tun. Doch als die Henne, die er wie ein Baby in seinen Armen wog, zaghaft zu gackern begann, zog der Inspektor die Stirn kraus, bohrte seinen Blick in den dunstigen Himmel und fragte so laut, dass es sogar die Feldhamster hören konnten, ob er eigentlich im falschen Film sei.


44.

Dass es ihnen erspart blieb, sich von korrupten Volksvertretern wertlose Orden an die Brust heften zu lassen und zu jeder Talkshow der tausendundeinen Fernsehsender eingeladen zu werden, feierten die beiden Kriminalisten wie einen jackpotschweren Sechser im Lotto. Treiber und Lausig waren unendlich froh, diesen Fall abgeschlossen zu haben, ohne dabei draufzugehen.

Zudem hatte jeder von ihnen noch einen besonderen, ganz persönlichen Grund, im „Pretty Flamingo Club“ die sprichwörtliche Sau rauszulassen, ohne auch nur einen einzigen Gedanken an die Rechnung verschwenden zu müssen.

Inspektor Treiber feierte seine runderneuerte Nase, der man nur aus allernächster Nähe ansah, dass er sie kostengünstig in Ungarn hatte instand setzen lassen. Und sein Assistent feierte die Großzügigkeit des Polizeipräsidenten, der ihm als Dank für sein couragiertes „Duell im Treppenhaus“, wie der oberste Boss es ausdrückte, einen nagelneuen italienischen Dienstmotorroller spendiert hatte: Dem Flitzer fehlten zwar Blaulicht und Martinshorn, dafür thronte aber auf seinem Gepäckträger ein bananengelbes Topcase, worüber Lausig sich besonders freute. Nur die Bemerkung des Präsidenten, mit dem neuen Fahrzeug sei in Zukunft die Verfolgung mutmaßlicher Terroristen ja ein Kinderspiel, irritierte Lausig ein wenig.

Bevor das gut gelaunte Kriminalisten-Duo sich auf den Weg zum „Pretty Famingo Club“ machte, beschloss es, sich in Susis Grillpalast für die lange Nacht zu stärken. Lausig schlug vor, Grillhähnchen zu ordern, doch sein Chef blickte ihn streng an und meinte: „Du kannst bestellen, was du willst, außer, es hat Federn.“

So gab Lausig zwei Paar von Susis legendären Chili-Grillern „Mexiko“ in Auftrag, superscharfe Würstchen, von denen er immer behauptete, um sie richtig genießen zu können, brauche man einen Waffenschein, und bestellte noch eine doppelte Portion Pommes-rot-weiß-gelb dazu.

Der Inspektor entschied sich – nach einer kurzen, zwei Pils dauernden Bedenkzeit – für Susis Erbsensuppe Bürgerlich mit Speck und vertrieb sich die Wartezeit an der schmierigen Grillbudentheke, indem er zwei weitere Fläschchen Pils schlürfte und mit Lausig Mau-Mau spielte.

Nachdem Susi am Stehtisch neben dem Spielautomaten serviert hatte, konnte die Schlemmerei losgehen. Lausig spülte seine höllischen Würstchen stilgerecht mit ein paar Tequila herunter, nicht ohne zu bemerken, er wisse was sich gehöre, schließlich speisten sie ja hier nicht in einer Proleten-Imbissbude – worauf Treiber Speckwürfel kauend erwiderte, und er habe schon geglaubt, Lausig wolle sich Mut antrinken, um Susi einen Heiratsantrag zu machen.

Lausig verschluckte sich prompt an einem Kartoffelstäbchen und rang röchelnd um Luft, was Susi, die an der Friteuse hantierte, veranlasste, mit ihrer rauen Gitanes-Stimme herüberzurufen, ob ein Luftröhrenschnitt nötig sei und sie mit der Geflügelschere kommen solle.

Susis Einsatz war nicht erforderlich, und als sich Treibers Bauch unangenehm unter seinem taillierten Jeanshemd spannte und die Mexiko-Griller in Lausigs Magen ein Fegefeuer entfacht hatten, hielten die Kripomänner den richtigen Zeitpunkt für gekommen, um mit Anti-Vampir-Schnaps Gegenmaßnahmen einzuleiten.

„Ein Vampir tanzt nicht gern allein“, meinte der Inspektor und machte mit beiden Händen das Ackermann-Victory-Zeichen, bis Susi „Alles klar, Herr Kommissar« röhrte und vier Kräuterschnäpse brachte.

Treiber und Lausig waren ganz auf die Schwerstarbeit konzentriert, die der Verdauungsschnaps in ihren prallen Bäuchen verrichtete, als Susi ihre Mini-Stereoanlage einschaltete und Rex Gildos Stimme die Kriminalisten aus ihrer Meditation riss. „Hossa, Susi“, plärrte der Inspektor, „jetzt ist Fiesta-Time. Her mit dem Kaktus-Sprit. Eine Flasche und vier Gläser, wenn ich bitten dürfte.“

Treiber und Lausig schafften es nicht mehr bis zum „Pretty Flamingo Club“. Sie schafften es an diesem Abend überhaupt nirgendwohin. Als sie die Flasche Tequila geleert hatten und noch nicht einmal mehr „Hossa“ rufen konnten, erkannte Susi, dass sie ihre Gästen wohl Asyl gewähren musste.

Und so schliefen die beiden ihren Rausch auf den kalten Steinfließen des Grillpalastes aus.


45.

Am nächsten Tag, so gegen 12 Uhr, schloss Susi ihre Imbisshütte auf und sah Treiber und Lausig auf zwei Barhockern sitzen, beide bleich wie der Leibhaftige, mit roten Augen – und jeder eine Literflasche Cola umklammernd. „Freigang, ihr Azteken“, rief Susi gutgelaunt, „ab in die Sonne, ihr Vampirjäger! Aber bevor ich euch an die frische Luft setze, zahlt ihr noch brav die Zeche.“

Die Zeche war nicht von schlechten Eltern. Und während Treiber missmutig ein paar dicke Scheine aus seiner Brieftasche zog und sie auf den Tresen legte, flüsterte ihm Lausig ins Ohr: „Im Flamingo wäre es auch nicht teurer gewesen, inklusive Extraleistungen.“ Treiber antwortete seinem Assistenten nur mit einem Grunzen, doch als er sich an Susi wandte, die sein Geldscheine argwöhnisch begutachtete, hatte er die Sprache wiedergefunden: „Bei der Mordsrechnung sind aber noch zwei frische Pils mit drin, mein Schatz. Und eine heiße Nacht mit dir.“

Dass sich Treiber ausgerechnet bei Susi eine Ohrfeige eingefangen hatte, wusste bald das ganze Präsidium – und sogar der griesgrämige Polizeipräsident grinste, als er die Geschichte hörte.

ENDE

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 30.12.2009

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /