Daniel Neumann
Die wohltemperierte Angst
vor der Gleichgültigkeit
Noch zehn Sekunden
Dann tanzt die Kugel durch die Luft
Wen wird sie treffen?
Ein Kind?
Einen Greis?
Ganz egal sagte er
Und drückte ab.
Bliston Forbes
Der Wagen rollte sanft über die Straße. Jack rutschte unruhig auf dem Rücksitz hin und her, den Gegenstand fest zwischen den Händen. Der Fahrer bog nach links ab. Vierte Ecke Karlstraße, in den Rundweg, nach rechts in die Minen-Allee. Sie fuhren an großen, verglasten Hochhäusern vorbei, an denen die nichtssagenden Firmennamen in großen Lettern prangten.
„Scheiß drauf, jetzt ziehen wir es durch, jetzt kacken wir auf alles.“ Johnson sprach apathisch mit sich selbst, die ganze Fahrt lang. „Wenn du Mut brauchst, nimm das hier.“ Man reichte ihm eine kleine weiße Tube, unbeschriftet. Ohne zu fragen quetschte er sie über seinem Mund aus.
„Hey! Nicht alles!“ rief der Fahrer sich zur Gesellschaft umdrehend. Johnson war sofort still, Jack nahm ihm die Tube aus der Hand, sie war leer. „Können wir ihn jetzt noch gebrauchen?“ „Nein, der hat zuviel, weg mit ihm“. Jim machte die Tür auf, zog Johnson über seinen Schoß und schmiss ihn aus dem Wagen.
Niemand drehte sich um. „Gleich sind wir da, wenn es losgeht, dann schießt erstmal ordentlich, fragen kann man danach immer noch.“ Fred guckte finster, mit dröhnender Stimme: „Fragen kann man danach immernoch.“
Die Bremsen quietschten als das Auto vor einem hundertzehn-stöckigem, grauen Wolkenkratzer zum stehen kam. Die Letter prangten. Als sie ausstiegen prangte nichts mehr.
Jack merkte, wie der Boden unter seinen Füßen ins rutschen kam, als er das Gelände überquerte und geradewegs auf die automatische Drehtür zuging. „Jetzt nicht warten“. Er stieß einen animalischen Schrei aus und ging, Augen auf, durch die Drehtür. Er hörte das Pressen und Bersten der Scheibe neben seinem Ohr. Er bemerkte, das Blut, das sein Gesicht hinunterran. „Scheiß drauf“.
Rechts neben dem Eingang befand sich ein kleiner Schalter, der zugehörige Wachmann las eine Zeitung als ein Besessener einfach durch die Drehtür schritt. Jack erblickte ihn, sein dummes Gesicht, die zittrigen Hände hilflos nach der Waffe tastend. „Fucker!“ schrie die Schrotflinte und spritzte einen roten Blumenstrauß gegen die Wand hinter dem Wachmann.
„Hände!“ schrie Jack. Sein Kommando ging im Knallen der Waffe unter, die anfing, unkontrollierte Schüsse abzugeben. Der Rückstoß der Waffe entzog sich seiner Kontrolle und es knallte einen Schuss nach dem anderen.
Die Würmer lagen auf dem Boden und kreischten. War die Waffe lauter? Das Gesicht zu einer schmerzlichen Grimasse verzerrt, wurde er hin und her gerissen, das Mündungsfeuer leuchtete gelb und rot durch den Raum.
Eine Frau mit schwarzen Haaren im Gesicht verlor ihren Hinterkopf, ein alter Mann versuchte mehrmals aufzustehen aber klatschte jedesmal erneut auf den Boden (sein linkes Bein hing nur noch an wenigen Sehnen).
Die Kugeln wurden durch den Raum gepumpt, prallten ab, änderten ihren Kurs, blieben stecken, flogen weiter, schlugen ein. Beim vierzigsten Schuss verstummte das Gewehr, der Lauf hatte sich erhitzt bis er geschmolzen war und die Kugeln in der glühenden Masse steckenblieben. Das Wummern hörte auf, es herrschte eisige Kälte.
Schreie eilten von außen nach innen. „Jay, Jay biste da? Alles unter Kontrolle? Alles in feinster Ordnung?“ Na klar, hier rührt sich kein Scheißer. Der Kacker (er zeigte zum Wachmann) ist auch mit durch“. „Achso, na dann ist ja gut“. „Alles klar Jungs, an die Arbeit. Los geht’s wir haben zu tun.“ Verbrecherische Euphorie strömte durch den Raum und stach in die Nasen der Würmer. „Hier hab ich das Kommando. Fresse halten!“
Die Waffe zwischen Jacks Fingern platzte in der Mitte des Laufes auf und verteilte glühendes Metall wie ein Springbrunnen rings umher. Der Pullover fing an zu qualmen. Adrenalin schoß durch den Körper, das Gewehr fiel zu Boden. Jack tanzte den Tanz des Schmerzes. Robert fing zu lachen an, als er die klägliche Gestalt springen sah. „Ha ha, guckt mal da tanzt einer den Mambo!“ (er wackelte in imitierenderweise mit den Schultern). „Jay! Jay, wir haben jetzt keine Zeit für solche Spielchen, steck deine Zigaretten weg und schieß die Würmer tot!“ Fleisch schmorrte schwarz, es roch so gut dass man Hunger bekam. Die Glut wischte Jack mit den Händen weg, sein Arm war nicht mehr zu retten.
„Kauf dir später einen neuen, nimm erstmal das hier.“ Ein schwarzes Schießgerät flog in seine Richtung und wurde grazil mit der linken Hand aufgefangen. Ein Schalter zeigte auf Automatik, der andere auf Lass mich dein Hirn kosten. Jack schien das eine gute Einstellung zu sein.
Ein Kriecher fing an sich zu bewegen, löste eine Lawine aus und plötzlich krochen alle Würmer auf den Marmorfliesen umher, wanden sich und stießen gegeneinander. „HA HA!“ schrien die Kriminellen „Hier kommt niemand raus, wenn er leben will!“ Und dann bumsten die Schießeisen aus allen Rohren, jeder Bewaffnete hatte zu schießen angefangen, der Boden platzte auf und Stücke krachten heraus.
Selbst der Wachmann hatte seinen Revolver gefunden und gab ein paar unbehände Schüsse in die Luft ab. Das ganze Foyer wurde blau von Qualm, Blei, gasförmigem Blut und dem betörenden Duft frischer Exkremente.
„Hier lässt es sich leben.“
Robert und Fred waren inzwischen durch den großen Tresor im innersten der Bank, füllten ihre Münder mit der nach Benzin stinkenden Währung bis sie kein Wort mehr entlassen konnten.
Jack bekam, ausgelöst von dem Gedanken, das sich Schrot mit Blut vermengte, einen hysterischen Lachanfall, seine Armverlängerung lachte auch und drei Würmer auf dem Boden lachten danach nie wieder.
Da kamen die beiden Fresser aus dem Innersten in diesen äußeren Schlachtraum. Nervöse Stimmen bahnten sich ihren weg durch den Rauch. Die Truppe türmte, an den Händen das Blut, die Schießeisen und in den Mündern die Kohle. Die Autoreifen quietschten wieder.
„Na, wie war's?“
„Ich hatte 'n guten Spaß.“
Das Radio erbrach den täglich gefunkten Abfall.
Hey you Dolly, won't you be my sweet little bitch?
Hey you Dolly, come and suck my dick.
Kein Ohr schenkte der Musik Interesse, nur ein weiterer Faktor der zur Kakophonie des Straßenlärms beitrug. Gänzlich ungeniert fuhr das Auto der untergehenden Sonne entgegen, die erste Tat war vollbracht.
Zurück im Quartier. Das Gesicht hinter dem Türschieber: „Passwort?“
Jack flüsterte das Kennwort durch den Spalt.
Die Tür wurde aufgemacht. Die Truppe nahm an einem runden Tisch Platz, der spärlich von einer tiefhängenden Deckenlampe beleuchtet wurde.
„Wie ist es gelaufen?“
Die Fresser, denen der Speichel zu beiden Seiten des Mundes herunterlief, spuckten jeweils einen großen Haufen feuchten, schmierigen Papiers auf dem Tisch. Jack nahm einen Batzen und quetschte ihn mit der Faust aus.
„Holt den Alkohol.“
Jemand stand auf und kam kurze Zeit später mit zwei Eimern, bis zum Rand mit Alkohol gefüllt, zurück.
Die Batzen wurden in jeweils einen Eimer gestopft, mit einem Deckel versehen und verklebt.
Machen wir ein kleines Feuerwerk.
Die Tür öffnete sich zum zweiten Mal und sie schleuderten die Eimer hinaus, einer landete in einem Kellereingang, der andere mitten auf der Straße.
Jack nahm die Zigarre, an der er paffte und spannte sie in einen kleine Bogen, legte an, traf den ersten Eimer. Ein roter Feuerball erfasste die dunklen Ziegel des Hauses und sprühte sie in die Luft. Ein heißer Ziegel landete auf dem zweiten Eimer und setzte die Explosion in Gang, der Eimer hob ab und schoss quer durch die Luft, sie verloren seine Spur und hörten das distanzierte Detonationsgeräusch, welches sich bald mit Schreien und Sirenen vermischte. Nach zwei Minuten drehte der Wind und brachte die Kunde an andere Ohren.
„Lasst uns ins 5 Seasons, es wird mal wieder Zeit für gepflegte Unterhaltung.“ Jeder war einverstanden.
Der Weg von ihrem Viertel bis in die nobelste Ecke der Stadt war lang und langweilig. Auf den Bürgersteigen ereignete sich das tägliche Elend mit der Selbstverständlichkeit eines orange-farbenen Uhrwerkes. Prostituierte wurden von Zuhältern verprügelt, Drogensüchtige liefen ohne Orientierung herum und boten jedem Passanten Fellatio an, um sich den nächsten Schuss leisten zu können. Jack fragte sich ob sie sich manchmal auch gegenseitig befriedigten, nur um danach festzustellen, dass weder der eine noch der andere Kohle hatte. Alte Männer bewarfen Kinder mit Süßigkeiten und wurden von aufgebrachten Eltern exekutiert, in jedem zweiten Geschäft hatte mindestens eine Person die Hände oben.
Mein Gott, wie mich diese ganze Scheiße nicht interessiert. Bald würde dies alles sowieso ein Ende haben, wenn sie erstmal aufgeräumt hatten.
Nach dreißig-minütiger Fahrt kam der Wagen vor einem großen, luxoriös aussehendem Gebäude zum stehen, die Herrschaften stiegen aus und überreichten den Schlüssel einem in weiß gekleideten Pagen. Dieser stieg ein, fuhr ungefähr zwanzig Meter am Bordstein entlang, stieg aus, überreichte den Schlüssel dem nächsten Pagen welcher sich in das Auto setzte und das Radio einschaltete.
Robert, Jack und die Anderen waren inzwischen eingetreten. Man nahm ihnen die Jacke ab und verwies sie auf einen Tisch.
Die feine Jazzmusik im Hintergrund wurde auf Dauer so penetrant wie eine juckende Stelle am Hinterkopf, die man kratzen muss bis sie blutig wird.
Ich werd' mir nicht wieder die Frisur versauen.
Sie bestellten frischen Lachs, dazu eine Portion Sauce Hollandaise. „Was wünschen die Herren zu trinken?“ „Wieviele Champagner-Sorten haben sie hier?“
„Wir haben fünfhundertdreiundvierzig, Monsieur.“
Kurzes Schweigen.
Wir hätten gern vier Bier, vier Whiskey.
„Kommt sofort Monsieur.“
An einem Tisch, nicht weit von ihrem entfernt, saß ein Mann mit seinem Hund. Das Tier saß neben dem Mann auf dem Stuhl und die beiden flirteten, lachten und küssten sich schließlich leidenschaftlich. Der Mann machte den Reißverschluss seiner Hose auf, holte sein Geschlecht hervor und ließ etwas Sauce von dem Tellerrand darauf tropfen. Der Hund sprang sofort über den Tisch auf seinen Schoß und begann die Flüssigkeit abzulecken. Der Mann fing an zu stöhnen und grunzen. Ein Ober näherte sich dem Geschehen. „Monsieur, Rauchen und Sodomie sind hier verboten.“
Dem Mann kam es, er zog sanft den Hund weg von seinem Schritt und packte den Kellner unvermittelt am Kragen, presste ihn dann gegen seinen Penis. „Na Bürschchen, wie gefällt dir das, jetzt ist hier nichts mehr verboten, wie?“ Der Kellner würgte und ächzte. Der Mann rieb seinen Kopf mit kreisenden Bewegungen.
Er stöhnte und sprach langsam in einer tiefen Stimme „Jaaa, so ist's gut, hmmm... merkst du jetzt wieviel ich von eurem Restaurant halte? Hmmm... spür meine Liebe, Bastard...“ Dann ballte er des Kellners Haare zusammen und stieß ihn von sich weg. Beschämt verschwand dieser schnell in die Küche.
Das ist einer von der richtigen Sorte.
Sie aßen, der Lachs hatten den modrigen Geschmack ungewaschener Vagina, aber diese Unzulänglichkeiten waren sie von edlen Restaurants wie diesem schon gewohnt. Der Ober tauchte wieder auf.
„Darf ich das abräumen, Monsieur?“ wobei er Jacks halbvollen Teller nahm. Mit gestopftem Mund mampfte er ein paar unartikulierte Worte und zog von der anderen Seite daran.
„Hat es ihnen geschmeckt, Monsieur?“ Die beiden zogen immer noch am Teller. „Ich bringe gleich die Rechnung, Mon-“ „Peng“ intonierte Robert schreiend einen Pistolenschuss. Der Ober schreckte auf und entfernte sich vom Tisch.
„Ich hab die Schnauze voll, ab geht’s.“
„Man, diese Läden bringen mich jedesmal so in Rage“, sagte Jack [oder einer der anderen], „ich brauch jetzt erstmal Erholung“.
„Gut, dann ab ins Big Titties, Hooters, Cunts and Curves“. Autofahrt. Aussteigen. Eintreten. Schlechte Tanzmusik. Blauer Dunst erfüllt die Luft, hier kann man nicht atmen. Ich muss eine Rauchen.
Die Tanzfläche wurde von zehn dendrophilen Blondinen bevölkert, die an Holzstangen tanzten, an denen sie sich Splitter einrissen. Die Stangen stöhnten.
„Wenn die verdammte Bühne doch bloß nicht so weit weg wäre“, grummelte Robert und setzte das Fernglas ab.
Die Musik verstummte, aus dem Lautsprecher ertönte eine mechanisch verzerrte Stimme.
Ladies and Gentlemen, das waren die Tree-Sisters, Autogramme können ihn den nächsten zwanzig Minuten hinter der Bühne ausgegeben werden. Niemand stand auf. Und jetzt möchte ich ein herzlichen Applaus für die Autassassin-Girls. Niemand klatschte. Es herrschte absoluten Ruhe, und wenn wir es nicht besser wüssten, könnte man das fast mit Anspannung verwechseln.
Zwei Minuten vergingen. Drei Minuten vergingen. Zwanzig Minuten vergingen. Die Autassassin-Girls traten nicht mehr auf, sie waren doch schon längst alle tot.
„Ich hätt gern noch 'n Cognac.“
Die Herrschaften schlürften an ihren Getränken. Fred drehte sich zum Nachbartisch, klopfte dem Sitzenden von hinten an die Schulter.
„Sagt mal, ist die Show denn schon vorbei?“
„Show? Welche Show?“
Dacht ich's mir doch.
„Ich will hier nicht länger bleiben. Das ist doch Zeitverschwendung, alles Zeitverschwendung. Wir streifen von einem Restaurant zum nächsten, von einem billigem Strip-Club zum anderen und am Ende schmerzen mir die Ohren von schlechter Musik und der Fusel hinterlässt nichts als Kopfschmerzen und einen widerlichen Geschmack am Gaumen. Ja, ich gehe jetzt. Ihr könnt ja noch hier bleiben und länger dieser vollkommen verblödeten Scheiße zusehen, aber ich verschwinde von hier.“
„Du gehst? Dann hau dem Barkeeper eins auf die Fresse für mich, der kann nichtmal Cognac und Brandy auseinander-halten.“
Jack oder Robert oder Jim oder Bliston entfernte sich, bahnte sich den Weg durch die eng zusammengestellten runden Tische und riss die Tür auf. Sofort hatte er die frische Luft in den Lungen, er fühlte sich besser. Neben ihm lagen ein paar Glasscherben, er nahm sie in die Hand, wobei er sich schnitt [was spielt das schon für eine Rolle], lehnte sich gegen die offene Tür und schmiss sie in Richtung Bar. Ein Wortschwall drang aus der Tür bevor sie sich schloss, eine Ratte hörte Fragmente – astard, Ficker, Schei – und war beleidigt.
Ruhig ging der Aussteiger den Bürgersteig entlang, zu dieser Zeit war die Stadt in blaues Licht gehüllt. Er blickte in die Fenster, die meisten Vorhänge waren zugezogen und aus manchen drang das flackernde inkonsistente Licht der Fernseher. Die Straße war ruhig.
Es war die richtige Entscheidung. Du weißt es, du wusstest, dass es die richtige war noch bevor du dich vorhin auf den Weg gemacht hast. Vielleicht hättest du schon früher richtige Entscheidungen treffen sollen. Aber richtige Entscheidungen sind langweilig, keine Reue, außer die, ein Abenteuer verpasst zu haben. Und das ist die schlimmste. Nein, die Entscheidung die ich vor ein paar Wochen getroffen habe, war die richtige, und wenn ich am Ende dabei draufgehe. Das macht nichts, ich hänge ja nicht an meinem Leben. Wäre ich sonst hier? Wohl kaum. Wahrscheinlich würde ich jetzt, in diesem Moment, vor dem Fernseher einschlafen weil ich so kaputt von der Arbeit bin.
Jedwede Straße war von einer gespenstischen Stille erfasst, es war nicht nur ein Fehlen jeglicher Geräusche wie entfernter Autolärm oder einzelne Schreie aus offenen Fenstern, aber die Stillen schienen alle einen einzigartigen, unterschiedlichen Charakter zu besitzen. Der Gedanke daran ließ ihn erschauern.
Geh jetzt schneller, der Weg ist nicht mehr weit, das weißt du doch. Lass dich nicht von den verwirrenden Kräften der Einsamkeit indoktrinieren, einfach weiter. Ein Schritt nach dem anderen, so ist's gut, sieht du, du machst doch selbst Geräusche [er blieb stehen und sprang ein paar mal auf der Stelle] was stört's dich da, wenn es dir niemand gleichtut. Komm geh weiter, tritt ruhig fest auf. Sieh den Bürgersteig an. Er wurde extra für dich gebaut, für Leute wie dich, die Nachts allein einen Weg zu bestreiten haben. Sie würden dir viele Geschichten erzählen, wenn sie es könnten [höre ich einfach nicht richtig hin?]. Aber du weißt ja, jene, auf denen getrampelt wird, haben immer viel zu erzählen. Das stimmt. Mein Onkel war auch so, zehn Jahre Armee, schwer verletzt. Zwanzig Jahre Privatpflege durch meine Mutter. Wie ich die alten Geschichten satt hatte. Der Stolz, den nichts umzustoßen schien, der feste Glaube an die Notwendigkeit des Militärdienstes und am schlimmsten dieser verdammte Patriotismus.
„Was zum Teufel ist es, worauf du so verdammt stolz bist du vermodernder alter Penner? Guck mich nicht so ungläubig an, sonst hau ich dich vom Totenbett. Du liegst hier seit zwanzig Jahren und tust nichts für uns, immer nur du, du mit deinen beschissenen Geschichten. Tu' uns den Gefallen und verrecke endlich! Mutter zuliebe!“
Tja, damit hatte der alte Sack nicht gerechnet. Dem hast du ordentlich eingeheizt und dann hatte er einen Herzinfarkt [Problem gelöst]. So muss man die Dinge angehen, verstehst du? Improvisieren wenn's nötig ist, betrügen wenn's aussichtslos ist und töten wenn's bedrohlich wird. Lass deine Skrupel fallen [das hab ich schon lange getan], deinen falschen Stolz, die Krankheit, der sie alle unterliegen. Ohne Stolz bist du flexibler. Was ist schon gegen Demütigung einzuwenden, verpasse bloß nicht deine Chancen. Das ist das wichtigste. Sonst bleibst du nichts, wirst du nichts wie all die anderen Verlierer denen du mit diskreter Verachtung (Höflichkeit) begegnest. Keine Angst, ich erkenne die Möglichkeiten, ich nutze sie. Opportunismus hin oder her, am Ende steh ich am Schalter, lege ihn um und lasse sie alle braten.
Wasser. Er hörte das Geräusch fließenden Wasser und reckte seinen Kopf empor, sah an den kargen Hauswänden zu dem winzigen Fleck Himmel das einsam über den Dächern ragte. Das Fließen wurde lauter, jetzt war er sicher, dass es keine Einbildung war.
Es roch nach Ozean, das Wasser, welches langsam unter den Türschwellen, aus den Fensterspalten und zwischen den Ziegeln herauslief. Es war nicht viel, aber beständig. Er sah, dass alle Häuser Flüssigkeit von sich gaben und bekam Angst. Er fing an zu laufen.
Wovor hast du Angst? Vor dem Wasser? Es tut doch niemandem was, kann doch mal vorkommen dass Häuser ein bisschen schwitzen. Was geht dich das überhaupt an? Hör doch auf zu laufen, so ein Unsinn. Nein? Wie du meinst. Dann lauf doch, na los, schneller. Sieh nicht geradeaus, sie auf den Boden. Auf die Steinplatten des Trottoirs. Sieh, wie sie an dir vorbeiziehen, komm, lauf schneller. Verwisch' ihre Konturen. Tauch die Welt in Unschärfe, dann stört dich auch das Wasser nicht mehr. Du hörst es schon gar nicht mehr. Was du hörst, ist dein Puls der in deinem Kopf pocht.
Tut es schon weh? Drücken die Lungenflügel? Du wirst doch nicht schlappmachen. Du bist bald da, bleib in dem Tempo und du hast noch zwanzig Minuten zu laufen. Da vorne links, jetzt rechts. Über die Kreuzung, lauf. Da steht ein Mann auf der Straße, allein. Was hat er da bloß für einen schwarzen Hut auf? Was soll dieser Hut, er sieht ja aus wie ein explodiertes Nagetier. Wechsel lieber die Straßenseite. Man weiß ja nie. Oh doch, ich weiß. Hab doch keine Angst vor so 'nem Kacker. Er kommt immer näher. Nein, ich komme näher. Gleich bin ich an ihm vorbei, noch dreißig Meter, noch zwanzig, noch fünfzehn. Moment mal, was zieht er da aus seiner Tasche. Ein Messer? Eine Pistole? Es ist eine Klinge, ich erkenne es. Was nun? Ich muss weiterlaufen, ich kann nicht mehr umdrehen. Sieh ihm nicht in die Augen. Mach die Augen zu und sprinte so schnell du kannst. Lauf nicht über die Straße, lass ihn nicht die Angst riechen, er nutzt sie gegen dich. Gleich bin ich vorbei.
Er hatte die Augen fest zugepresst.
Bin ich vorbei? Ist er noch da? Langsam öffnete er die Augen. Er war vorbeigelaufen. Dreh dich jetzt nicht um, vielleicht verfolgt er dich. Der Schreck würde dich lähmen, er lässt die Klinge in deine Brust sausen und verschwindet, bevor du zu Atem kommst. So will ich nicht sterben. Ich laufe weiter. Ich kann nicht mehr. Wirklich, ich muss anhalten, sonst fall' ich um. Na komm, die Ecke noch, die da hinten, dann stoppst du. Nicht vorher. Das musst du schaffen. Sonst tötet er dich!
Er lief, man konnte sein Keuchen und Schnaufen von weitem hören. Sein Oberkörper war noch vorne gebeugt, die Beine hinkten leicht, mit jedem Tritt schleifte er den Boden.
Gleich...gleich hab ich's geschafft. Da vorne ist die Ecke. Rum. OK, du hast deine Pause verdient.
Er lehnte sich gegen die Mauer und atmete schwer. Langsam beugte er sich zur Seite und sah um die Ecke, niemand kam. Die Straßen wirkten leerer als je zuvor.
Ich wusste es. Verdammte Paranoia. Da war bestimmt gar kein Mann. Nur eine Silhouette meiner Erschöpfung. Alles Einbildung. Und das Wasser? Ich weiß es nicht. Die Häuser hier sind jedenfalls trocken.
Durch deinen Sprint hast du ganz schön Zeit gewonnen, wenn du jetzt schnell gehst, bist du wahrscheinlich noch vor den anderen zurück.
Die Straße weiter abwärts. Unten eine Kreuzung. Er wählte weder rechts noch links, sondern entschloss sich geradeaus am dem großen Blockhaus auf das schwarze Feld zu gehen, das sich bis zum Horizont in all seiner morbiden Dunkelheit erstreckte.
Langsam durchschritt er die dicht zusammen-wachsenden Stauden, ihre schwarze Farbe blätterte bei seiner Berührung ab und fiel zu Boden. Hier wehte kein Wind.
Was willst du überhaupt auf diesem Feld? Warum bist du nicht nach rechts gegangen wie du es eigentlich vorhattest? Warum sollte ich? Ich gehe wohin es mich zieht. Es zieht mich auf dieses Feld. Diese schwarze Einsamkeit ist es, dich mich reizt. Hör mal. Kein einziges Geräusch. Kein Rauschen, alles ist still.
Er setzte legte sich auf den Rücken, die Arme hinter dem Kopf verschränkt.
Hier gibt es nicht mal Sterne. Der Himmel ist dunkle, alles verschlingende Materie. Er hat die Sterne gefressen und wieder ausgeschissen. Jetzt bevölkern sie die Erde und leben in Mülltonnen.
Die Stille hatte eine entspannende Wirkung. Er lag weiterhin da, seine Gedanken wurden genauso zum Schweigen gebracht wie alles andere hier draußen.
Er schlief ein, wachte auf, schlief wieder. Für wie lange, ist nicht bekannt. Sein linkes Ohr fing an zu jucken. Er kratzte, aber das Jucken verschwand nicht, sondern verstärkte sich. Bald realisierte er, das es kein Jucken war, sondern Musik. Irgendein Instrument wurde leise gespielt, in weiter Ferne.
Eine Violine? Ja, es klingt wie eine Violine. Sie wird immer lauter. Ja, es ist eine Violine. Sie kommt näher. Was ist das für eine Melodie? Ich kenne sie nicht, klingt eigenartig.
Er stand langsam auf, um zu sehen woher der Spieler kam und wie weit er noch weg war. Aber [natürlich] war niemand zu sehen. Aber zu seiner Beunruhigung wich er langsam zurück, auf dem Pfad den er hierher eingetreten hatte.
Was soll das, ich will noch ein wenig hierbleiben. Lass mich in Ruhe, ich bleibe stehen.
Er ging weiter. Mit langsamen und festen Schritten trat er den Rückweg an, rückwärts gehend und die Arme noch vorne ausgestreckt.
Halt, halt verdammt nochmal. Was willst du denn tun? Du kannst dich nicht an der Luft festhalten, sie will dich hier nicht mehr. Verschwinde. Ich will nicht.
Er entfernte sich immer weiter vom Feld [das Feld entfernte sich immer weiter von ihm]. Überwältigt von seiner Schwäche kehrte er schließlich zur Unterkunft zurück.
Hier fand er sich in einem Zustand äußerster Konfusion wieder. Robert stand in der Küche an der Herdplatte. Sie war heiß, seine Hand lag darauf. In der anderen Hand hatte er ein Messer.
„Was machst du da, was zum Teufel ist hier eigentlich passiert?“
„Meine Hand ist mit der Herdplatte zusammengeschmolzen, als ich sie versehentlich berührte. Ich muss mir die Finger abschneiden.“ Seine Stimme klang dabei vollkommen ruhig und unbesorgt.
Langsam setzte er das Messer hochkant neben den kleinen Finger und ließ es hinuntersausen. Es schnitt in die Finger und blieb stecken.
„Hör doch auf mit dem Quatsch, das lässt sich wohl auch anders bestellen.“ Robert hörte nicht. Er begann wie irr an dem Messer zu ziehen, aber es ließ sich nicht aus der Wunde befreien. „Lass gut sein, ich hol eine Säge.“
„Danke.“
Knirschend bahnten sich die Zähne durch die Sehnen und Knochen, es war eine schweißtreibende Arbeit. Schließlich war Robert frei.
Eine halbe Stunde später saßen alle um den runden Tisch, rauchten Zigaretten und tranken Kaffee.
„Was machen wir als nächstes?“
„Ich bin für die Presse, irgend eine von diesen Boulevard-Bastarden.“
„Mir wär das Fernsehen lieber. Welcher Sender? Aber das spielt doch gar keine Rolle.“
„Nein, das Radio. Wir nehmen uns die Rundfunkstation vor.“
„Radio wie? Naja, warum eigentlich nicht. Wär zumindest effizient, läuft schließlich in jedem Auto.“
„Okay, also Radio.“
„Wann?“
„Morgen.“
Jack wachte auf. Freude und Adrenalin beflügelten ihn, er sprang aus dem Bett. Ein neuer Tag, neues Vorhaben. Wir geben ihm einen Sinn. Los geht’s.
Die Ausrüstung wurde ins Auto gepackt, die letzten Vorbereitungen getroffen. Sie quetschten sich hinein und fuhren los (Hey you Dolly...).
Der große Funkturm war schon von weitem sichtbar, er ragte aus der Tristesse des Stadtbildes heraus wie eine besonders geschmacklose riesige Statue.
Da, das ist das Ziel. Schön, wenn man es schon von weitem sieht, lässt den Gedanken an die Konfrontation besser in die Haut einweichen, macht sie glatt und sanft.
Jack streichelte zärtlich den Lauf der Pistole.
Mein lieber Freund, mein Helfer in der Not. Du bist so klein, so leicht und elegant und doch lehrst du so vielen das Fürchten , bläst ihnen für mich das Leben aus wenn ich dich darum bitte, und das fünfzehn mal hintereinander.
Er überprüfte das Magazin der Waffe, es war geladen [natürlich bist du geladen, das erkenne ich doch am Gewicht. Ich kenne doch mein Täubchen. Nenn mich nicht Täubchen. Entschuldigung].
Jetzt fixierte er die Augen an der Spitze des Turmes, merkend, dass er den Kopf immer höher heben musste. Gleich sah er die Spitze nicht mehr. Nun waren sie da.
Aussteigen, die gleiche Entschlossenheit. Sie stampften förmlich über den Boden, traten ihn in Stücke. Die Stunde war gekommen, keine Zeit zum Verhandeln, kein Mitleid, kein Erbarmen. Keine Gnade.
Der Eingang wurde zu ihrer Überraschung nicht bewacht, wie es sonst der Fall war. Jim stieß theatralisch die Doppeltür auf, nacheinander traten sie alle herein.
Zwanzig Meter vor ihnen war der große Schalter, zwei identische Zwillinge mit albernen Uniformen standen nebeneinander und machten dumme Gesichter.
„Feuerwerk!“ schrie Jack.
Alle begannen ihre Waffe auf den Schalter zu entladen, ein Hagel tödlicher Projektile zischte durch den Raum, schwängerte die Luft mit Blei und gab ihr einen metallischen Geruch, dessen Rückstände sich auf der Zunge absonderten.
Der Schalter wurde in seine Einzelteile zerlegt, die Computer schossen Funken in alle Richtungen, die angeschraubten Plastik-Buchstaben platzten auf und verteilten sich, die Zwillinge zuckten vor und zurück, mehrere Sekunden lang. Die Kugeln diktierten ihre Choreographie. Das Orchester verstummte nach und nach bis die letzte Waffe nur noch ein Klicken von sich gab. Ein Meer von Patronenhülsen säumte den Boden. Man musste aufpassen um nicht auszurutschen.
„Was denn, kein Alarm? Schlafen die hier alle?“
Erbost ging Robert hinter den Schalter und fand den versteckten roten Knopf der den Alarm auslöste. Ein hohes Piepgeräusch erklang.
„Wir sind das Ende, und alle sollen wissen dass wir da sind um es zu verrichten.“
Der offene Fahrstuhl lud sie ein, auf in den sechsunddreißigsten Stock. Das kleine Gefährt glitt lautlos durch den Schacht, die digitalen Ziffern zu ihrer Rechten stiegen rapide.
Die schwere Doppeltür ging auf. Jim machte einen großen Schritt nach vorne um seinem Eintritt noch mehr Bedeutung zukommen zu lassen.
Die Truppe befand sich nun in einem Gang, der sich zu beiden Seiten endlos in die Länge zu ziehen schien, es gab an den Seiten keine Türen. Wohin gehen wir? Lasst die Kugel entscheiden. Fred zog seinen Revolver, entfernte drei der sechs Kugeln aus der Trommel, dreht einmal kräftig daran, ließ sie dann in den Revolver gleiten und hielt ihn sich an den Kopf.
„Wenn eine Kugel im Lauf ist gehen wir links, ansonsten-“ er drückte ab. Klick. Damit war die Sache geklärt.
Der Gang hatte etwas diabolisches an sich. Sie gingen weiter und weiter hinab, ohne ein Ende in Sicht zu haben.
„Es reicht, ich hab doch nicht den ganzen Tag Zeit, wir laufen jetzt den Rest des Stückes.“
Schwer trommelten die Schuhe zwischen den Wänden, der Schall trug sie zu allen Enden des Ganges. Laufen, laufen. Dahinten ist das Ende. Oder? Doch nur Einbildung. Aber jetzt kommt es bald. Das Ende ist schwarz. Nein, weiß. Jetzt scheint es die Farbe ganz aufzugeben.
Jim keuchte stark, dann röchelte er, zum Schluss blieb er stehen. Die Hände auf die Knie gestützt und den Kopf zwischen den Schultern gab er auf.
„Was ist? Weiter! Weiter! [er bekam einen Gewehrkolben ins Gesicht und fiel um]. Steh auf, hör doch auf uns aufzuhalten.“ „Es geht nicht mehr, ich bleibe hier.“
„Wir sind nicht hergekommen damit du in diesem Flur sterben kannst. Aber wenn du das willst dann bleib bloß liegen.“
Er sah an Decke.
Dieser Putz und die Lampe da sind das letzte, was ich in meinem Leben sehen werde. Ich hätte mir ein schöneres Panorama gewünscht. Man kann nicht alles haben. Willst du dich damit wirklich abfinden? Ist der Auftrag so wichtig um diesen unästhetischen Tod zu sterben? Nein. Eigentlich nicht. Im Angesicht meiner letzten Sekunden relativieren sich die Prioritäten. Eigentlich will ich aufstehen, zurückgehen und weg von hier. Aber ich bin zu schwach, erschöpft und der Gedanke, nicht mehr aufstehen zu müssen hat in meinem jetzigen Zustand auch etwas für sich. Ich bleibe jetzt liegen. Er schloss die Augen. Tief durchatmen. Nein. Nein, ich will doch nicht so sterben. Ich will hier raus, ich will. Diese letzten Worte versuchte er zu artikulieren, während er sich mit großer Mühe auf die Ellenbogen stütze. Verschwommen nahm er die Personen war, die um ihn herum standen. Eine von ihnen hatte eine Waffe auf ihn gerichtet.
Drück nicht ab. Lass mich gehen (oder gib mir wenigstens die Chance, wegzulaufen). Sein Herz pochte schneller, er richtete sich weiter auf, jetzt war er auf den Knien. Er konnte noch immer nicht klar sehen und fühlte das kalte Metall auf seiner verschwitzten Stirn. Benommen griff er nach dem Lauf, und in dem Moment, als die Finger ihn berührten, begann der Lauf zu vibrieren. Jim fühlte kurz die Hitze, die durch die Waffe schoss bevor das Projektil in seinen Kopf eindrang.
„Ok, weiter geht’s, weit kanns ja nicht mehr sein.“
Sie liefen. Fünf Minuten, zehn Minuten, liefen, bis sie das Gefühl für Zeit verloren hatten. Robert kam es wie eine Ewigkeit vor, als wäre er zu einer langen Reise aufgebrochen und schon seit Tagen unterwegs. Die Monotonie der Räumlichkeit betäubte die Sinne, ihre Augen wollten die Wände nicht mehr wahrnehmen, ihre Ohren nicht mehr die lauten, hallenden Schrittgeräusche hören und ihre Lungen nicht mehr die sterile Luft hinein-und hinauspumpen. Ihre Körper wehrten sich. Nicht nur Robert merkte dies, auch Jack und Fred.
„Haltet- haltet mal kurz.“ sagte Jack außer Atem. „Ich glaube ich kenne ein Mittel das uns jetzt helfen kann.“
Er holte seine Zigarettenschachtel hervor, zündete sich eine an und drückte sie dann auf dem Arm aus. „Schmerz.“, konstatierte er mit verzerrter Miene. „Wir müssen uns ablenken, mit Schmerz.“ Die anderen taten es ihm gleich. Von nun an fiel ihnen das Laufen leichter, jedesmal, wenn sie sich benebelt fühlten, kratzen sie an der Brandwunde und sofort lenkte sie ein brennender Schmerz von der qualvollen Langeweile ab.
Endlich waren sie angekommen, der Gang hatte sie durch ein kleines weißes Vorzimmer in die gigantische Halle geführt, welche von Bäumen überwuchert war. Fichten, Eichen und Kiefern schossen ohne Rang und Ordnung aus dem Boden hervor und bildeten einen geradezu undurchsichtigen Dschungel, der ihnen den Überblick verwehrte. Diese Vegetation schien sich von dem Marmor zu nähren, aus dem der Boden bestand.
Langsam bahnten sie sich den Weg durch das Dickicht, vorsichtig vordringend. Ab und an hörte jemand ein Geräusch und sie versteckten sich hinter einem besonders dickem Baum, lugten dahinter vor und gingen dann langsam weiter.
Die Dichte schien zuzunehmen, je weiter sie vordrangen und irgendwann war jegliche Orientierung verloren. Schließlich konnten sie von weitem eine kleine verglaste Zelle sehen, in denen zwei Leute standen. An der Seite dieser Zelle war eine Art Mikrophon angebracht, in welches die beiden regungslosen Figuren hineinsprachen.
„Leise. Das will ich mir von der Nähe ansehen.“
Behutsam näherte sich die Truppe der Rückseite der Zelle. Die beiden Menschen darin konnten sie nun klar erkennen, einen Mann und eine Frau die so gewöhnlich aussahen, das sie an dieser Stelle keiner weiteren Beschreibung bedürfen.
In dem Glaskäfig befand sich außer den Personen und dem Mikrofon nichts. Jack stand nun dahinter und presste ein Ohr gegen die Scheibe. Er konnte ganz stumpf einige Sprachfetzen vernehmen.
„Die machen da Ansage!“ sagte er verblüfft, „da wird gleich irgend ein Lied gespielt.“ Und tatsächlich erklang dumpf eine Melodie nachdem die beiden verstummt waren. Hey you Dollhouse.
„Gentlemen, ich würde sagen wir sind am Ziel.“
Robert kletterte behände auf die Zelle, klopfte gegen das Glas und erhielt sofort die Aufmerksamkeit der Frau, die ihn nun von unten mit einem recht ungläubigen Blick ansah. Schließlich sah auch der Mann noch oben. Robert zwinkerte den anderen zu, steckte sich dann einen Finger in den Hals und fing an zu würgen. Dicke Speichelfäden fielen auf das Glas und schließlich brach er seine gesamte letzte Mahlzeit heraus, die klatschend und dampfend auf dem Dach Platz nahm.
Die Frau war perplex (ihre glasigen Augen waren vollkommen regungslos), schließlich fing sie an zu schreien. Erst in einer normalen Frequenz, die in immer höhere Oktaven stieg, bis man ihren Schrei, der nur noch ein Quieken war, nicht mehr hören konnte. Sie sah dabei bizarr aus, den Mund zu einem O geformt, das Gesicht immer roter werdend bis es schließlich die Farbe geronnenen Blutes annahm.
Plötzlich platzte die Scheibe, das Glas sprang in tausend Stücke und versteckte sich im Wald. Robert klatschte auf den Boden, bis auf ein paar marginale Kratzer überstanden alle den Unfall unbeschadet.
Die hilflosen Tiere, die sich nun selbst aus ihrem Gefängnis entlassen hatten, waren den Räubern hilflos ausgeliefert. Jack packte ein unerklärlicher, und ihm doch vollkommen natürlich erscheinender Zorn, als er dem Mann am Haaransatz entlang das Gesicht mit einem Messer aufschnitt. Als er ungefähr einen Halbkreis geritzt hatte, packte er den bereits abgetrennten Hautlappen und riss ihn nun komplett ab. Der Radiomann kreischte wie ein wildes Tier.
Die Frau schien mit ihrer Schreiattacke einen Selbstzerstörungsmechanismus ausgelöst zu haben, sie verdampfte kurze Zeit nachdem die Zelle zerstört war.
Noch eine Kugel in den Bauch des Mannes und sie zogen ab, überließen die blutüberströmte, sich auf dem Boden windende Kreatur ihrem Schicksal.
Schicksal? Von wegen Schicksal. Es war nicht sein Schicksal sich das Gesicht zerschneiden zu lassen und langsam auszubluten. Das habt ihr gemacht. Wir? Ja, das waren wir in der Tat. Aber was geht dich das an? Du brauchst es ja nicht Schicksal nennen, ich spiele mich jedenfalls nicht als eine höhere Macht auf. Ich gebe ihm und allen anderen lediglich das, was sie verdienen. Du meinst wohl die Strafe, die du für richtig hälst. Strafe. Strafe ist so ein hartes Wort. Nenn' es Erlösung, schließlich befreie ich sie vom Elend, und was uns umgibt, ist Elend. Warum befreist du dich dann nicht selber?
Mühsam verschwanden sie auf dem gleichen Wege, auf dem sie gekommen waren. Es dauerte allerdings noch einige Zeit, bis sie aus dem Wald herausfanden und den Flur durchquert hatten.
Vor dem Gebäude wartete bereits die Polizei. „Halt, Moment mal Freunde.“ sagte ein Polizist in distinguierter Uniform, vermutlich der Hauptmann. „Wir wissen, was da drin für eine Party stattgefunden hat und haben Befehl, die Ehrengäste zu verhaften.“
„Okay, Officer, sie haben uns. Wir haben den Champagner mitgebracht, und vielleicht haben wir auch zu sehr die Korken knallen lassen, aber es war ja auch ein passender Anlass, nicht wahr? Ich meine, so eine Elimination, dass erlebt man nicht alle Tage, oder besser gesagt, das macht man nicht alle Tage, ja? Sie haben doch Verständnis dafür? Aber warum sind sie denn überhaupt hier, haben sich die Nachbarn über den Lärm beschwert? Hat irgendeine Putzfrau das Geschehen missinterpretiert und sie deshalb hierher beordert?“
„Aber nein, mein Herr, wir sind hier weil die Alarmsirenen geläutet haben, und als verstohlene Parasiten der Staatskasse ist es unsere Pflicht, bei jedem Furz zu springen und mit sinnloser Präsenz in Einsätzen wie diesem möglichst viele Gelder draufgehen zu lassen (ich spendier der Runde nämlich auch öfter mal 'nen Besuch im Puff, wissen sie?)“
„So verhält sich die Sache also, nagut, das hätte ich mir auch denken können. Ich schätze ihre Aufrichtigkeit, mein Herr, die meisten Polizisten sind in der Hinsicht ja ganz suspekte Individuen, finden sie nicht auch?“
„Da muss ich ihnen voll und ganz zustimmen, aber mal unter uns [und dies sagte der der Hauptmann sehr laut], nimmt die Verlogenheit und Heuchelei mit ansteigendem Dienstgrade ja erst zu, denn je länger man bei unserem Verein ist, desto verdorbener wird man im Kopf, dies verhält sich tatsächlich so. Sie können mir da voll und ganz vertrauen. Schauen sie mal in der obersten Etage des Polizeihauptgebäudes vorbei, dort sitzen die verkommensten, korruptesten und moralisch abtrünnigsten Menschen, die ich mir vorstellen kann. Aber wissen sie was? Eines Tages werde ich auch da sitzen, mich bestechen lassen, meine Sekretärin vögeln und sonst gar nichts tun, und bis dahin werde ich auch aufgehört haben, über diese Abwärtsspirale nachzudenken denn mein Gewissen wird mausetot sein, das kann ich ihnen versichern.“
„Da freue ich mich aber für sie, solch eine glänzende Zukunft, und sie sind ja noch in den besten Jahren. Wie dem auch sei, wir müssen jetzt weiter.“
„Nicht so schnell der Herr.“ der Hauptmann packte Jack am Ärmel. „Sehen sie die ganzen Zuschauer? Die erwarten jetzt von uns sowas wie eine Pflichterfüllung, verstehen sie? Kommen sie, ich lege ihnen jetzt Handschellen an und dann fahren wir sie aufs Revier. Sie sollen mal sehen, ein bisschen Papierkram und die Sache ist vom Tisch. Ich wäre auch bereit, ihnen dafür eine kleine Abfindung zu zahlen.“
„Wenn es denn irgend hilft, sind wir bereit zu kooperieren. Aber halten sie sich an ihren Teil der Abmachung, sonst wird unsere Zusammenarbeit, befürchte ich, kein gutes Ende nehmen.“
„Aber natürlich mein Herr, sie können sich da ganz auf meine fachmännische Kompetenz verlassen, das ist ja nicht die erste Scheinverhaftung, die ich im Verlaufe meiner Karriere vorgenommen habe.“
Die Polizisten legten der Truppe Handschellen an, sie wurden in den großen gelben Transporter geführt und fuhren ab. Die Menschenmenge verzog sich langsam.
Der Hauptmann hielt sich wirklich an seine Abmachung, nach kurzer Wartezeit in einer großen Zelle, inklusive Mittagessen, wurden sie einer nach dem anderen vernommen, nach dem Hergang der Geschichte befragt (welchen sie alle wahrheitsgemäß schilderten) und schließlich entlassen. Zwei Stunden später hatten sich alle wieder im Quartier eingefunden.
Die Stille um den runden Tisch herum übertrug sich auf die Wände des Zimmers, auf die abblätternden Tapeten, auf die leeren Regale, auf die umgefallenen Flaschen auf dem Boden, auf den befleckten Teppich, auf die vier regungslosen Personen auf morschen Stühlen.
„Ich bin mit der ganzen Sache absolut unzufrieden.“
„Ich auch, wir haben versagt. Irgendwo auf dem Weg müssen wir entscheidende Fehler gemacht haben.“
„Das stimmt, aber wo? Wo und wann fing es an, falsch zu laufen? Ich hätte doch die Zeichen hören müssen. Ich habe aber nichts gehört, genauso wenig wie ihr.“
„Dann muss der Fehler, der zum Versagen geführt hat, also von außerhalb gekommen sein. Jemand oder etwas hat sich in unser System eingeschlichen und es manipuliert.“
„Ganz recht, so sehe ich die Sache auch. Die Schuld bei uns zu suchen, wäre ja auch vollkommen sinnlos, außerdem ändert es nichts an der Tatsache. Nächstes mal werden wir uns nicht kompromittieren lassen, nächstes mal werden wir wie gewohnt die Zügel in der Hand halten. Alles einer Frage der Kontrolle.“
„Sicherlich ist es eine Frage der Kontrolle, aber behalte mal den Überblick über alles, es ist schlicht unmöglich. Vielleicht war es auch einfach nur Pech.“
„Pech, wie? Durchaus möglich. Aber wenn es sich um Pech handelte, haben wir es mit einem gänzlichen unkontrollierbarem Faktor zu tun. Dann müssen wir dem mit Glück entgegenwirken, da man beides weder kaufen noch schießen kann, muss die Sache wohl oder übel dem Schicksal überlassen werden.“
„Ich bin zwar kein Defätist, aber ich gebe dir recht. Wenn man sich nichts zu schulden kommen lässt, muss es Schicksal sein, was ja nichts anderes heißt, als Glück oder Pech zu haben.“
So hing die Diskussion noch ein wenig im Raum bis die Herrschaften schließlich ihr nächstes Vorhaben besprachen.
An ein Bett gekettet, wachte er auf. Der Raum, den er alsbald als sein Gefängnis identifizierte und anerkannte, wies ihn ab mit seiner Leere, mit seinen kahlen Wänden, der stechend weißen Farbe, welche in den Augen brannte und dem klinischen Geruch von Desinfektionsmitteln, welches man auf sein Bettzeug gespritzt hatte.
Seine Hand- und Fußgelenke waren mit Handschellen an die Bettpfosten geschlossen, eng genug, um sie nicht mehr bewegen zu können, was zur Folge hatte, dass er alle Extremitäten von sich strecken musste.
Anfangs, als sein Geruchssinn von den beißenden Chemikalien betäubt war, seine Augen nur halb geöffnet und seine Gedanken zwischen dem verbleichendem Traum und der heller werdenden Wirklichkeit nicht fähig zu unterscheiden waren, befand er sich in einem Zustand unruhiger Benommenheit. Im Traum war er in einem Käfig mit Tigern eingeschlossen, die ihn langsam zerfleischten während eine neugierige Menschenmenge das Geschehen von außen beobachtete. Er schrie um Hilfe, aber das Knipsen der Fotoapparate der Elendstouristen erstickten seine Schreie mit mechanischer Gleichgültigkeit.
Nun, da er sich von der Gefahr errettet fühlte, störte ihn der Umstand seiner Bewegungsunfähigkeit auch nur noch geringfügig. Nach dem Aufwachen lag er zuerst für ein paar Minuten ruhig da, ohne nachzudenken, seinen Sinnen langsam Herr werdend.
Wenn auch viel Zeit verging, blieb er regungslos liegen, ohne die geringsten Sorgen zu entwickeln. Jemand würde sicherlich bald zu ihm kommen und ihm eine Suppe bringen, oder ihm zumindest eine Spritze in den Arsch jagen.
Er war schon wieder eingeschlafen als ihn das polternde Geräusch der sich öffnenden Tür weckte. Eine dickliche Frau in einem weißen Lederkostüm, welches sich eng über ihre Beine und Bauch spannte, wankelte auf ihn zu.
„Na der Herr, wie fühlt man sich.“ Das Leder streckte und zog sich zusammen als sie sich über sein Bett beugte. Es gab dabei quietschende Geräusche von sich.
„Komm mir nicht zu Nahe, du gaskranke Schlampe!“
Er konnte sich später nicht daran erinnern, ob er diesen Satz so formulieren wollte, aber die Lächerlichkeit, der sie sich mit diesem Aufzug preisgab, machte ihn wütend.
„Aber, aber, wollen wir mal unsere Aggressivitäten im After lassen, sonst jag' ich ihnen da noch eine Faust hinein, nicht wahr? Ich hab nämlich Befugnis dazu, genau genommen, hab ich für alles Befugnis. Mit anderen Worten sind sie mir schutzlos ausgeliefert, also benehmen sie sich lieber anständig.“ Bei diesen Worten setzte sie ein widerlich übertriebenes Grinsen auf.
„Wollen sie mir etwa Angst machen? Willst du mir etwa Angst machen? Merkst du nicht, dass ich dein marodes Spiel schon längst durchschaut habe? Lass deine verdammten Asse im Ärmel, bei mir zieht sowas nicht. Du kannst mir gar keine Schmerzen zufügen. Die Wut über deine Berührungen würde meine Nerven betäuben, wenn nicht sogar abtöten. Und dann werde ich zur rasenden Bestie, verstehst du? Ich reisse mich hier los, die Handschellen halten mich nicht auf. Und dann werde ich Sachen mit dir anstellen, Sachen die dein beschissenes Lederkostüm zum Weinen bringen werden.“
„Nun, der Herr, das sind ja schöne Reden, aber-“
„Jetzt halt endlich dein verdammtes Maul! Was willst du hier überhaupt? Verschwinde! Du verschwendest meine Zeit! Hau ab! Verpiss dich!“ Er schrie, bis sein Kehlkopf schmerzte, und kratzte. Er verlor die Stimme, und bald krächzte er nur noch. Und auch wenn seine verbalen Äußerungen durch das Versagen des Organs an Bedeutung verloren, waren es doch die funkelnden, wütenden Augen, welche die Botschaft klar und unzweideutig herüberbrachten. Ihm wurde langsam schwarz vor Augen, und um nicht Gefahr zu laufen dieser zunehmenden Blindheit zu unterliegen, schloss er sie. Die Frau redete weiter. Er sah sie nicht, aber er spürte die Ströme ihres fauligen Atems über sein Gesicht streifen während er die Luft anhielt.
In seinem Kopf summte eine Melodie, die er sich so laut wie möglich vorzustellen versuchte. Jedoch ereilten ihn einzelne Fetzen ihres Wortschwalls noch immer, und so ließ er die Melodie zu einem lauten Störgeräusch anschwellen, welches alle anderen Frequenzen übertönte. Dieser Trick funktionierte. Fünf Minuten lang schaffte er es, sich diesen Lärm vor Ohren zu führen, bevor er die Realität konfrontieren musste.
Langsam machte er die Augen auf, das Mistvieh war nicht mehr da. Er wusste, dass sie nicht weit weg war, ihre ekelerregende Präsenz war noch immer spürbar. Er gewöhnte sich erneut an das Halbdunkel des Raumes, sah sich um und tatsächlich stand sie am Ende des Raumes, neben der Tür. Die eine Hand, welche den Türgriff umfasste, ließ von diesem ab und sie kam langsam von Neuem auf sein Bett zu.
Jetzt realisierte er, wie sehr ihn die Handschellen behinderten, als er versuchte, sich vom Bett loszureißen. Aber es ging nicht. Noch nicht. Es fehlte an Wut, aber er ahnte, dass es sich mit diesem Umstand nicht mehr lange so verhalten würde. Langsam näherte sie sich ihm, kostete dabei offensichtlich jede Sekunde seiner Hilflosigkeit aus, jede vergebliche Zuckung, die er unternahm um ihr zu entkommen, und ihre Zufriedenheit steigerte sich in dem Maße, in dem sich seine Wut steigerte (wobei der Autor an dieser Stelle nicht für vollkommen proportionale Verhältnisse garantieren kann).
Wieder das abstoßende Grinsen auf dem Gesicht. In seiner Unfähigkeit, sich zu befreien, steigerte sich seine Wut ins Unermessliche. Ihre Schritte, welche auf dem Boden widerhallten und um ein vielfaches lauter zu seinen Ohren drangen, peitschten das Gehirn. Er setzte zu einem Schrei an, konnte aber keinen Laut herausbringen. Sein Mund war ausgetrocknet, seine Zunge schien tot zu sein, nichts geschah. Das einzige Ereignis war ihr Gesicht, welches seinem immer näher kam.
So geht es nicht weiter, so ist es nie passiert. Die Frau war längst verschwunden. Vielleicht habe ich sie mir auch nur eingebildet. Welch sadistische Fantasie! Oder sollte ich sagen masochistisch? Wie dem auch sei.
Langsam machte er die Augen auf, das Mistvieh war nicht mehr da. Er wusste, dass sie verschwunden war, ihre ekelerregende Präsenz war nicht mehr spürbar.
Die Tür öffnete sich abermals. Fred trat schweren Schrittes ins Zimmer, seine Visage wurde in dem trüben Schein der Deckenlampe klarer, als er an das Krankenbett herantrat.
„Na Jim, wie liegt's sich so?“
„Quatsch nicht, mach mich frei.“
Mit einer auseinander gefalteten Büroklammer löste Fred behände die Fesseln, Jim stand auf und rieb sich die Handgelenke. Er äußerte den Wunsch, auf schnellstem Wege von hier zu verschwinden.
Zusammen verließen sie das Zimmer und betraten einen langen Korridor, zu dessen Seiten sich Türen in alle Richtungen erstreckten. Krankenbetten waren gegen die Wand gestellt und bildeten eine Art Hindernisparcour, welchen die beiden allerdings mühelos umgehen konnten.
Der Putz war teilweise von den fensterlosen Holztüren abgeblättert, die Tapete schälte sich und fiel zu Stücken auf dem Boden. Es knisterte leicht, als sie darüber liefen.
Einige Minuten später machte der Korridor eine Biegung nach rechts, an der er sich abermals für viele Meter ausstreckte. Allerdings gab es hier nur auf der rechten Seite Türen, die linke Seite bestand aus einer Fensterfront, die Ausblick auf einen großen Innenhof bot.
Mit Mühe erkannte Jim die Wiese, welche von der Nacht in schwarzen Schlamm verwandelt ward. Ein Lichtkegel fuhr langsam umher, dessen Quelle sie nicht ausmachen konnten.
Sie erkannten auf der gegenüberliegenden Seite die großen weißen Wände des achtstöckigen Komplexes, der dem glich, in dem sie sich in diesem Augenblick befanden. Die beiden Gebäude standen sich isoliert gegenüber und Fred fragte sich, ob der Rest des Trupps in dem zweiten Haus untergebracht war.
„Ich hab jedenfalls keine Lust, nach ihnen zu suchen. Die finden ihren Weg schon alleine heraus.“
Auch diesen Gang bestritten sie mit eiserner Geduld. Manche von ihnen passierte Türen waren leicht geöffnet und man konnte das Ächzen und Stöhnen der mit dem Tode kämpfenden Patienten vernehmen.
Schließlich erreichten sie das Treppenhaus. Es war durch eine Glastür von dem Flur getrennt, und natürlich war diese Tür verschlossen. Fred meinte, dass dies kein Hindernis darstellte und gab sogleich zwei Schüsse auf das Schloss ab, aber zu seiner Unzufriedenheit versperrte ihnen die Tür mit scheinbar gesteigerter Beharrlichkeit den Ausweg.
Ein alter Mann näherte sich ihnen, eine Spritze in der Hand haltend. Sein faltiges Gesicht zeugte von großer Aufregung.
„Wenn sie hinaus wollen, müssen sie wohl aus dem Fenster springen. Diese Tür wurde nicht gemacht, um Leute zu entlassen, nur um sie hereinzuholen. Denn sehen sie, wir befinden uns hier im letzten Stock und bekanntlich werden hier nur die hoffnungslosesten Fälle hergebracht.“
„Wo sind denn die Ärzte?“
„Hier gibt es keine Ärzte, kein Krankenschwestern, keine Betreuung. Wir sollen hier nur verrecken, und das möglichst schnell, denn, wie sie vielleicht festgestellt haben, sind die meisten Betten belegt und der ständige Zuwachs an Patienten provoziert eine große Platznot. Wenn sie dem Trakt also einen Gefallen tun wollen, dann tun sie es den vielen Leuten vor ihnen gleich und springen sie einfach hinaus, bei der Höhe ist ihnen der Tod sicher.“
Der Lichtkegel huschte über einen Fleck unter dem Fenster und offenbarte den Anblick eines beachtlichen, halb zusammengefallenen Leichenhaufens.
„Sie brauchen nicht aufzumachen, ein bisschen frische Luft tut den Übrigen gut. Also, werden sie springen?“
„Das kommt ja gar nicht in Frage, und ich muss mich ernsthaft über ihren geistigen Zustand wundern, alter Mann. Es gibt ganz gewiss noch einen anderen Ausgang als den ihrigen.“ Der alte Mann lachte, sein fauliger Atem stach ihnen in die Nase.
„Ha ha ha, wie sie meinen. Stellen sie ihre Untersuchungen an, aber ich kann ihnen versichern, dass sie in wenigen Tagen aufgeben werden. Und wenn ihr Unglaube, oder besser gesagt, ihr Glaube an die rationale Lösbarkeit der Umstände erstmal gebrochen ist, werden sie sich entweder in eins der noch leeren Betten verkriechen oder hinausspringen.
Wahrscheinlich wird aber eins dem anderen Folgen. Ich hoffe nur, dass in ihrem Fall dieser Prozess nicht allzuviel Zeit in Anspruch nehmen wird, es gab da schon einige Fälle, wo die Insassen sich ihrer Errettung so sicher waren, dass es Wochen wenn nicht Monate dauerte, bis sie zur Einsicht gelangten. Das ist letztendlich nur Schade um den Platz, den sie mit ihrer Einfältigkeit verschwenden.“
„Wenn sie aber nun so weise sind und die Hoffnungslosigkeit erkannt haben, warum sind sie dann noch hier? Sollte sie dann nicht längst mit den anderen verwesenden Leichen unten im Hof liegen?“
„Tja mein Herr, hier unterscheiden wir uns. Während sie nur zwei verdammte Wanderer sind, die durch besondere Umstände in diese missliche Lage gekommen sind und bald ihrem Schicksal überantwortet werden, bin ich hier sozusagen das Oberhaupt. Meine jahrelange Erfahrung in diesem Trakt hilft mir, die frisch hinzugekommenen Menschen von ihrem baldigen Ende zu überzeugen.“
„Sie sind ein Henker, nichts weiter.“
„Nun mein Herr, so einfach kann man die Sache nicht darstellen. Schließlich führe ich in keinem Fall den Tod direkt herbei, letztendlich gebe ich nur diskrete Hinweise, welche die Sache beschleunigen. Abgesehen davon bleibt der freie Wille des Menschen von mir unangetastet, was ihn schließlich bricht, sind diese Räumlichkeiten.“
„Das machen sie sich zu einfach, die Schuld mit dieser Ausrede abzuweisen. Sie nutzen den Moment der Überraschung mit ihren pessimistischen Gefasel, die Sekunden der Unsicherheit und schließlich den Umstand, die erste Informationsquelle zu sein, und dabei wahrscheinlich auch die einzige. Wissen sie, ich glaube es macht ihnen einfach Spaß die Menschen in den Selbstmord zu treiben. Es ist nur die Ausübung des letzten Funken von Macht, deren sie in diesem kläglichen Umfeld Herr sind. Wahrscheinlich sollte sie jemand dafür aus dem Fenster werfen und ihrem heuchlerischen Sadismus die Lichter ausblasen.“
„Aber, aber. Gehen sie nicht so hart mit mir ins Gericht, sparen sie sich ihr Urteil bis sie sich selbst in der von mir geschilderten Situation befinden. Und wenn sie dann nach unten stürzen, werden sie sich noch auf dem Weg bei mir bedanken.“
„Was für dreiste Absurditäten!“ er wandte sich an Fred „Lass uns gehen. Und wenn ich sie hier noch einmal herumlaufen sehe, oder sie gar dabei erwische, wie sie Neuankömmlinge versuchen zu beeinflussen, dann kriegen sie es mit mir zu tun. Und dann wird ihnen ein Sprung aus dem Fenster wie das Paradies erscheinen.“
Der alte Mann grinste hämisch, als sich die beiden von ihm entfernten.
Unentschlossen über den weiteren Verlauf ihres Tuns, begaben sie sich in ein Krankenzimmer, dessen Auswahl sie dem Zufall überließen. Dieses Zimmer, vom Gestank des heranschleich-enden Todes ergriffen, sah Jims Zelle sehr ähnlich. Auch hier gab es nur ein am Ende des Zimmers stehendes Bett das von Verfall umgeben war. Dabei war nicht nur der Raum selbst in einem maroden Zustand, sondern auch die Frau in dem Bett.
Sie hörten gleich ihren pfeifenden Atem, ohne ihn als solchen klassifizieren zu können. Nun, da sie die Kranke aus der Nähe betrachten konnten, ergab sich ein schauderhaftes Bild.
Ihre Augen waren zu einem Spalt geöffnet, ihre Wangen eingefallen, die Stirn verschwitzt und die Haut von einem gelblichen Schimmer überzogen.
Die Frau sah aus, als würde sie in der nächsten Sekunde ihren letzten Atemzug tun, und die inhumanen Geräusche, die sich dabei von sich gab, vermischten sich mit dem Wind der leise durch den Raum wehte zu einer Sonate des Todeskampfes.
Fred fragte sich, ob sie noch lebte, oder ob sich diese fast regungslose Person schon zu den Toten zählte. In diesem Trakt schien ihm der Gedanke an Halluzinationen nur allzu natürlich, und es würde ihn nicht wundern wenn dieser schreckliche Anblick nur eine Falle war, die ihm seine Fantasie stellte.
Als er sie nun allerdings schon für mehrere Sekunden besehen hatte, nahm ihre Erscheinung immer realistischer werdende Formen an, und schließlich konnte er seinen Verdacht ausschließen.
„Meine Herren...“ brachte sie mit erstickter Stimme heraus. Die beiden erschreckten sich, denn obwohl sie die Frau die ganze Zeit angesehen hatten und ihre Äußerung weder laut noch plötzlich erfolgte, war es doch eine große Überraschung, überhaupt ihre Stimme (oder was davon übrig war) zu hören.
Jim überkam ein Gefühl der Kälte, sein Schreck saß ihm noch immer tief in den Nerven und nur schwerlich konnte er sich von dieser Bedrückung lösen. So stand er für kurze Zeit benommen da, mit offenem Mund, ohne sich zu regen.
Als seine Benommenheit abklang, überkam ihn tiefes Mitleid. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er den vergehenden Menschen nur mit Erstaunen und (was er sich schwerlich zugestand) Ekel angesehen, aber ihre Menschlichkeit, die für ihn erst langsam erkennbar wurde, war nun mit solcher Direktheit sichtbar geworden, dass es ihn bestürzte.
Unweigerlich kniete er sich an ihr Bett. „Kann ich etwas für sie tun, Gnädigste?“
„Sie können...“ Ihre Stimme versagte. Sie setze von Neuem an, kam aber nie über diese beiden Wörter hinaus. Ihre Augen wurden dabei jedesmal größer und funkelten vor Verzweiflung. Ihr Blick bohrte sich in seinen Kopf, er konnte sich nicht davon abwenden. Ihr Unterkiefer bewegte sich dabei unruhig hin und her, als würde er ein Eigenleben führen, sie schien ihren Mund vor Aufregung gar nicht mehr schließen zu können.
Jim wollte schreien, wollte ihre Verzweiflung hinfortbrüllen aber wieder setzte die Lähmung ein, gegen die er sich nicht wehren konnte. Er presste seine Hand an das Gestell des Bettes und bewegte seinen Kopf langsam zu ihrem.
Dann küsste er sie. War es aus Mitleid, war seine Psyche zu benebelt, um klar denken zu können? In diesem Moment, und auch später nicht, hätte er mit Gewissheit sagen können, was ihn dazu veranlasste. Er wusste aber, das er bei diesem Kuss den Tod an seinen Lippen fühlte, der sich kalt mit der Körperhitze der fiebrigen Frau vereinte.
Er hatte seine Lippen noch nicht von ihr gelöst, da gab Fred einen Schuß auf sie ab. Das Dröhnen der Waffe hämmerte in Jims Kopf, seine Ohren schmerzten von der plötzlichen Explosion.
Fred hatte die Kranke seitlich am Oberkörper getroffen, wahrscheinlich ihr Herz erwischt. Jedenfalls war sie sofort tot, wobei man beim Anblick ihres Körpers fast auf einen glücklich Tod schließen könnte, denn ihre Mimik hatte die Spur eines leichten Lächelns.
„Du weißt warum ich es getan habe.“
„Ja, ich weiß.“
„Es tut mir absolut nicht leid.“
„Das braucht es auch nicht.“
Fred schwieg. Jim begab sich langsam aus seiner knienden Position und sie schritten zur Tür heraus. Von weitem erkannten sie den alten Mann auf sie zulaufen. Fred fing herzlich an zu lachen. „Was ist denn so lustig?“ „Das.“ sagte er, und schoss dem Alten ins Knie. Seine Euphorie, mit der er ihnen auch bei ihrem ersten Treffen begegnet war, wich einem Ausdruck von Schmerz. Er ging zu Boden, sein Gesicht klatschte auf das kalte Linolium und doch raffte er sich sogleich wieder auf. Ohne sichtliche Anstrengungen zeichnete er das gleiche Grinsen auf sein Gesicht und wenn er jetzt auch nicht so schnell auf sie zulief, konnte man seine Gangart wohlwollend doch als ein eiliges Humpeln bezeichnen.
Fred schoss erneut, verfehlte ihn diesmal jedoch. Irgendetwas grummelnd umschloss er die Waffe nun mit beiden Händen, zielte sehr konzentriert und traf ihn an der Stirn. Der alte Mann sah nun nur noch ungläubig aus, starrte seine Henker voller Entsetzten an, wobei sein Gesicht alsbald von einem tiefroten Gas verschleiert wurde, welches aus der Wunde schoss, ihn schließlich komplett einhüllte und seine zusammenfallende Gestalt in ihrem Nebel verschwinden ließ. Das Gas verzog sich nach ein paar Minuten, allerdings war niemand zugegen, um diesem Spektakel beizuwohnen.
Sie gingen wieder den Korridor entlang, zu dessen linker Seite sich die Fenster zu einem Ausblick trostlosestem Panorama zusammen schlossen. Jim blieb stehen und zündete sich eine Zigarette an. Bei einem flüchtigem Blick aus dem Fenster sah er Jacks Gesicht in dem gegenüberliegenden Block über den schwarzen Hof schweifen. Ohne Aufregung zog er den Tabak ein und wartete bis Jack ihn seinerseits ausmachte. Die Zigarette neigte sich ihrem Ende als man ihn endlich erkannte. Jim sah, wie sein Kollege aufgeregt den Gang entlanglief, in einem Zimmer verschwand und kurz darauf Robert heraustrat. Die beiden schienen sich zu beraten. Indessen holte Jim Fred an das Fenster und genau wie dieser, wusste er nicht, was sie jetzt unternehmen sollten.
[Jack und Robert]
„Die sind dort drüben eingeschlossen, der Trakt ist bekannt.“
„Hoffnung?“
„Nein.“
Jim und Fred sollten bald am eigenen Körper erfahren, dass der alte Mann nicht spaßte, als er ihnen ihr Ende prophezeite. Ihr Schicksal wird an dieser Stelle abgekürzt und es soll nur vermerkt werden, dass die beiden, vom sich manifestierenden Wahnsinn, der von den Wänden, den Schmerzensschreien und der Tristesse ihres Gefängnisses ausging, schlussendlich in Folge eines gemeinsamen Albtraums starben und, beide auf einer dreckigen Pritsche liegend, in ihren Exkrementen und Urin getränkten Laken, Tod und Verwesung fanden. Es sollte mehr als drei Jahre dauern, bevor man ihre Überreste fand und aus dem Fenster in den Hof warf.
„Ein trauriges Ende.“ bemerkte Jack der all dies in dem Moment erkannte. „Aber nicht unser Ende.“
Am gleichen Abend verließen Jack und Robert das Krankenhaus, das eigentlich ein Sanatorium war. Außer ein paar kurzen Bekanntschaften mit anderen Insassen, die in ihrem Gedächtnis wie entfernte Träume verblassten, hatten sie nichts erlebt. Sobald sie ihr Bewusstsein in den kargen Mauern fanden, hatten sie festgelegt, keinen der hier herrschenden Eindrücke zu absorbieren und dies auch konsequent in die Tat umgesetzt. Das Ergebnis war also, dass sie außer ein paar Stunden ihres Lebens vergeudet zu haben, weder bleibende Schäden, noch erhellende Erinnerungen mitnahmen.
War es das, was Jim und Fred in den Tod trieb? Hatte sie der Trakt, der alte Mann und sein Gerede mit solcher Hoffnungslosigkeit infiziert, dass sie ihr Ende akzeptiert hatten, bevor sie darum wussten? War Jim so aufgebracht, weil der alte Mann seinen Tod nicht vorraussah, sondern sogar festlegte und um seine Hilflosigkeit und sein Unvermögen, sich zu retten, wusste?
Jack war das einerlei. Denn mit den Erinnerungen an das Krankenhaus, verschwanden auch die Erinnerungen an Jim und Fred, die zu einem Teil des Krankenhauses geworden waren und ihre körperlichen und geistigen Wurzeln infolge diesen Umzugs auch in den Köpfen all derer löschten, die sich vorher ihre Freunde nannten.
Er hielt es jetzt für seine Aufgabe, an seine letzten intakten Erinnerungen anzuknüpfen. Sie hatten geplant, ein historisches Museum um all seine Schätze der Vergangenheit, nur mit der Waffe mutwilliger Zerstörung, zu berauben. Er erinnerte sich schwach an die vornehmen Ausstellungsräume, die sie, sich einer Tour anschließend, besichtigten.
Die Vitrinen waren leer, beziehungsweise klafften schwarze Löcher anstelle der eigentlichen Ausstellungsobjekte, welche Jack als Lücken in seiner Erinnerung klassifizierte.
Aber was dort, mit angeblich unbezahlbaren Wert, als alte Relikte und Überbleibsel jahrtausende-alter Kulturen ange-priesen wurde, hätte sein Interesse sowieso in keinem Fall wecken können.
Während er versuchte, den Besuch zu rekonstruieren, sah er im Fernsehen eine Game-Show, deren Kandidaten sich gerade um den großen Preis mit Kettensägen attackierten. Der Anblick der sinnentleerten, ausgeschlachteten Gewalt, der abgetrennten Gliedmaßen und dem scheinbar toll gewordenen Moderator, welcher, wild mit dem Mikrofon gestikulierend, um das Geschehen herumlief, sich bald zur Kamera, bald zu den Kandidaten drehte, weckte in Robert Assoziationen orgiastischer Exzesse, die erst von Schwärze umgeben, bald von dem Ausstellungsraum umhüllt wurden, welchen sie damals zu besichtigen vorgaben.
Er sah Jim, seine geliebte Schrotflinte schwingend, wie er die Vitrinen zerschoss, deren Holz und Glas durch den Raum splitterte. Er sah Fred, als er der Gruppenleiterin die Waffe an den Kopf hielt während er sich an ihrem Anus zu schaffen machte.
Jack, der gerade alte Gemälde anzündete und der Museumswärter, welcher sabbernd an seinen Beinen hing, bettelnd, die kostbaren Malereien intakt zu lassen, was Jim mit unaufhörlichen Fußtritten erwiderte, die scheinbar keine Wirkung bei seiner anhänglichen Bekanntschaft hinterließen. Er selbst stand scheinbar paralysiert mitten im Raum, das Geschehen, welches ihn umgab, genießend. Er schloss die Augen und sog die Luft ein, die von salziger Angst und bitteren Tränen der Wut und Verzweiflung angefüllt war.
Seine Gedanken hatten ihn vollkommen beansprucht, als er von einem besonders hohen und langgezogenem Schrei aus dem Fernseher in die Gegenwart zurückgeholt wurde.
Sofort verschwanden der Raum und seine betörende Luft, und in den nächsten Stunden konnte er diese lebensechten Impressionen nicht zurückholen, so sehr er es auch versuchte.
Deshalb beschloss Jack, die verschwommenen Ereignisse dieser Zeit auf sich beruhen zu lassen, und sich anderen Tätigkeiten zu widmen, allerdings immer mit der leisen, fast unbewussten Hoffnung, einen Funken in seinem Kopf entflammen zu sehen und die Lücken seiner Erinnerung schließen zu können.
Auch die Gespräche mit Robert konnten keine weiteren Fakten zu Tage fördern, denn dieser erinnerte sich an nichts. Wage konnte er bestätigen, dass sie einen Plan aufgestellt hatten, wobei auch hier der Inhalt vollständig aus seinem Kopf gelöscht zu sein schien.
Was nun für Jack folgte, waren Tage der Langeweile und der Depression. Es schien ihm, als fehle ein Teil seines Bewusstseins, wobei dieses Fehlen bestimmte Gedanken und Gefühle unterdrückte, indem es die Verbindungen seines Gehirns unterbrach. Sobald in ihm eine Hoffnung, oder ein glücklicher Gedanke aufkeimte, wurde die sich langsam erschließende Euphorie im Keim erstickt, noch bevor er mit Sicherheit hätte feststellen können, dass es sich um solche handelte. So verschwanden mit der Zeit jegliche Spuren von Eifer und Lebensfreude, ein Umstand, der seine Augen müde und seinen Gang träge erschienen ließ. Die Hilflosigkeit, der er sich vollkommen bewusst war, schien seine Existenz in einen Käfig zu sperren, welchen er aber weder sehen noch fühlen konnte. Selbst die Erinnerungen an die Empfindungen, die er mittlerweile so schmerzlich vermisste, fingen langsam an zu verblassen und wurden durch Indifferenz ersetzt. Das war es, wovor Jack am meisten Angst hatte. Wenn er das Verlangen danach verlor, machte das Leben für ihn keinen Sinn mehr, und er schwor sich in einem Moment besonders starker Depression, die ihn kalt überrascht hatte, Selbstmord zu begehen, wenn dieser Zustand irgendwann eintreten sollte.
Als er aber eines Abends den Fernseher einschaltete, lief wieder die Game-Show, welche das letzte mal seinen Geist beflügelt hatte. Wieder tanzende Kettensägen und schreiende Moderatoren, verzweifelte Antworten und wertlose Bargewinne. Er schloss die Augen, ließ sich von der Geräuschkulisse hypnotisieren. Und plötzlich, wundervoll, tauchte der Raum aus der Schwärze auf. Erst sah er den hellen Schein der Deckenlampen, dann langsam die stechend grüne Farbe der Wände, die Statuen und Büsten, die Vitrinen und die Gäste, die bereits tot auf dem Boden lagen.
Ohne zu wissen, ob er die Augen aufgemacht hatte, befand er sich wieder in der Mitte des Ausstellungsraumes. Robert kam auf ihn zu, die anderen schienen verschwunden zu sein.
„Wieder mal aufgeräumt, nicht wahr?“
„Bis auf das letzte Staubkorn, alles sauber.“
Jack wollte sich noch ein bisschen den Raum und ihre Tat besehen, als er realisierte, dass es ihm nicht möglich war, sich von der Stelle zu bewegen.
„Ich stecke fest.“
„Aber das weiß ich doch. Ich stecke auch fest.“
„Wir müssen aber doch hier rauskommen.“
„Du verstehst nicht. Es geht nicht darum hier herauszukommen.“
Was zur Hölle redet er da? Die Esoterik des Raumes nimmt sich meiner an. Ein Entzug scheint unmöglich. Ob ich hier überhaupt weg will? Na sicher, ich will doch vorwärts, jeder will vorwärts [du drehst dich im Kreis]. Allerdings, aber der Kreis ändert jedesmal seine Farbe, und das allein scheint Grund genug für einen Wechsel. Was erwartest du denn? Ein Feuerwerk? Eine Orgie? Ein Abonement der Obskuritäten? Ja. Ja, das tue ich.
Die Wände wechselten langsam ihre Farbe, dann ihre Gestalt. Das blendend helle grün wurde klumpig und rot, fing an zu tropfen und Knochen herauszubilden. Die Decke und die Lampen schienen vom dem gleichen Schicksal ergriffen worden zu sein, die Intensität des Lichts nahm ab als sich die Glühbirnen in Fleisch verwandelten.
Die Leichen lösten sich auf (denn sie bedeuteten nichts). Ach ja, die ganzen kleinen Miseren, die Tragödie der persönlichen Tragödie, kein Theaterstück könnte langweiliger sein. Verschwindet, macht euch klein. Werdet Luft, ich mach derweil das Fenster auf, muss mal ordentlich gelüftet werden. In fünf Minuten bleibt nichts als kalter Rauch.
Die rote, klebrige und kalte Masse umgab sie, der gesamte Raum war nun in dem gleichen Farbton und der gleichen Konsistenz gewachsen [sieh nicht zu lange hin]. Während Robert ungerührt dastand, war Jack von der Überraschung paralysiert. Obwohl die Umgestaltung langsam, fast periodisch vollzogen wurde, traf es ihn wie ein plötzlicher Schlag ins Gesicht. Dann wurde ihm klar, das seine finale Stunde geschlagen hatte.
Mit dieser Erkenntnis verwandelte sich das Fleisch in schwarze, zähe Masse. Die Fetzen rot verdunkelten sich, der Boden, die Wände, alles fiel der Finsternis anheim. Kleine Härrchen wuchsen auf der Oberfläche des Todes.
Robert stand immer noch desinteressiert an seinem Platz, und endlich brachte Jack die Worte heraus, die er schon seit einiger Zeit versucht hatte, an ihn zu richten. „Nein.“ sagte Robert.
Wieder die Erstarrung. Der Mund konnte sich nicht mehr bewegen, die Hände zittern und kalter Schweiß tropfte auf den schwarzen Boden.
Ein Zug mit den Erinnerungen an den Krankenhausaufenthalt rauschte durch seinen Kopf, in den Fenstern sah er Jims und Freds trostlose Visagen, die um ihren Tod wussten, so wie er nun um sein Ende wusste.Trotzdem machte es ihn melancholisch, diese Erfahrung nicht mehr machen zu können, es sollte eine weniger sein.
Jack beschloss, oder besser gesagt, sein Gehirn entschied sich infolge einer Kurzschlussreaktion dazu, sich fallenzulassen. Er berührte die warme Masse der Erde, vergrub seine Hände darin, versuchte sie gleichzeitig zu bekämpfen und zu liebkosen. Ihre Sanftheit konnte ihn nicht über ihr unwiderrufliches Verderben hinwegtäuschen. Er küsste sie trotzdem, wissend, das dies das letzte war, was er tun würde. Leidenschaftlich, leckend und schmatzend schaufelte er die Masse in und um seinen Mund, während ihre Wärme ihn tröstete. Der Tod schien ihm kein allzu schlimme Sache zu sein, wenn er so liebevoll und geduldig seine letzten lebenden Minuten mit ihm teilte. Er breitete seine Arme aus und umarmte den Boden, den er weich mit seinen Händen teilte.
Indessen war der letzte Lichtschimmer verschwunden, die Schwärze hatte den Quellen die letzte Kraft geraubt. Er konnte Robert in der Dunkelheit atmen hören. Dieser steckte sich nun eine Zigarette an, lehnte sich gegen die Wand die ihn halb umschloss und blies den Rauch aus.
„Gleich“, sagte er langsam, „ist es vorbei. Drei...zwei...eins...“
Tag der Veröffentlichung: 22.04.2009
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