Mit einem deutlich hörbaren Klacken wurde die Oka, eine speziell für diese Art von Einsätzen gebaute Maschine, vom Mutterflugzeug ausgeklinkt und sackte einige Meter durch. Der junge, unerfahrene Pilot ergriff hastig den Hebel für das Höhenruder und stabilsierte sein Flugzeug mit einiger Mühe. Das ohrenbetäubende Dröhnen der Propeller verebbte. Rasch warf er einen letzten Blick nach oben und sah gerade noch, wie die Mitsubishi G4M abdrehte. Sie flog zurück zum Stützpunkt, um ein weiteres Flugzeug aufzunehmen und über das japanische Meer zu seinem Einsatzziel zu bringen.
Yukio genoß die Lautlosigkeit des Gleitfluges und die unendliche Weite des Himmels. Hinter dem Horizont wartete seine Bestimmung und der Tod auf ihn. Sein Geist war erfüllt von Stolz und Heldenmut, in seinem Herzen existierten weder Zweifel noch Verzweiflung . Er gab sich einen heroischen, entschlossenen Gesichtsausdruck, presste die Lippen zusammen, spreizte seine Nasenflügel, seine Augen wurden schmal, so schmal wie zwei Tuschestriche. Ja, so musste ein Angehöriger der Shimpū Tokkōtai aussehen, der gefürchteten Kamikaze-Flieger.
Es war schwer diesem Idealbild zu entsprechen, wenn man 17 Jahre alt war und noch die weichen Züge eines Knaben hatte. Eines Jungen, der gestern noch mit einem Hundewelpen auf dem Arm im Kreise seiner Kameraden für einen Fotografen posiert hatte, und nun den Steuerknüppel einer todbringenden Waffe in den Händen hielt.
Diese, seine letzte Stunde wollte er mit aller Intensität, deren ein junger Mensch fähig ist, leben. Er berauschte sich an dem Gefühl der Freiheit, an der Leichtigkeit des Fluges und an der Schönheit des friedlich wogenden Meeres. Die Sonne stand hinter ihm an einem wolkenlosen, klaren Himmel und überzog die, sich schwach kräuselnden, Wellen mit einem goldenen Glänzen.
Was für ein wunderbarer Tag um zu sterben! Er gab sein Leben hin für den angebeteten, den göttlichen Tenno und für den glorreichen Sieg Japans.
Ehrenvoll würde sein Tod sein und er wollte ihm mit der Unerschütterlichkeit eines Samurai ins Auge schauen. Leicht wie sich eine Kirschblüte löst und unsagbar sanft zu Boden sinkt, so leicht trennt sich ein Samurai vom Leben.
Der Kirschbaum im Garten seiner Eltern stand jetzt sicherlich in voller Blüte und bedeckte die Wege mit seinen duftig zarten Blütenblättern. Wenn ein Windstoß durch die Zweige fuhr, stoben und wirbelten die Blüten wie Schneeflocken umher. Damals, als er noch ein Kind war, das nichts vom Krieg und vom Töten wusste, damals war er lachend in die Blütenwolken gelaufen, hatte nach ihnen gehascht, war über und über beschneit zu seiner Mutter gelaufen.
Er sah sie vor sich, in ihrem schönsten Kimono, den sie nur zum Kirschblütenfest und zu Familienfeiern trug. Sah ihr sanftes Lächeln und ihre ausgebreiteten Arme, die ihn auffingen, fühlte ihre warmen, zärtlichen Finger, die die Blüten aus seinen Haaren zausten. Auf der dunklen Holzterrasse saß aufrecht sein Vater, bedachte ihn mit einem leicht amüsierten, nachgiebigen Blick und wandte sich wieder dem köstlichen Essen zu, dass Mutter so appetitlich angerichtet hatte. Yukio wünschte, er könne noch einmal Mochis schmecken, Mutters Reiskuchen, die so schmelzend süß und klebrig waren, von denen er nie genug bekommen hatte.
Er musste heftig schlucken.
Blinzelnd streifte sein Blick über den Horizont. Wie ein Schattenriß zeichneten sich die amerikanische Kriegsschiffe ab. Noch konnte er sie mit dem behandschuhten Zeigefinger abdecken.
Seine Gedanken kehrten zurück nach Hause, zu dem Baum, unter dem jetzt seine jüngeren Brüder sprangen und spielten. In wenigen Tagen, wenn der alte Kirschbaum all seine Blüten verloren haben wird, würde Mutter die Abschiedsbriefe vorlesen, die er bei seinem letzten Besuch verfasst hatte. Einen Brief für seine Eltern, einen für seinen älteren Bruder und diesen für die kleinen Brüder:
Lieber Yasuyoshi, Yoshio und Kunikatsu!
Lernt fleissig und esst viel. Ihr werdet nicht groß werden, wenn ihr nichts esst.
Bitte, gehorcht Euren Eltern und werdet gute japanische Männer!
Strebt nach Höherem und gebt Euch nicht mit kleinen Erfolgen zufrieden.
Gebt Euer Bestes in Allem was Ihr tut.
Euer älterer Bruder.
Mutter würde die Locke seines Haares in ihrem Medaillon um den Hals tragen. Vater würde die letzten Zeilen seines zweiten Sohnes zu den drei Briefen in die alte Truhe legen, die seit ewigen Zeiten die wichtigsten Papiere der Familie barg. Wieder und wieder würden die Eltern seine letzten Grüße gelesen haben, die er gestern rasch mit einem Bleistift auf einen Fetzen Papier geworfen hatte.
Lieber Vater, liebe Mutter!
Ich vertraue Euch und darauf, dass es allen gut geht.
Ich werde nun endgültig am 27.Mai zur Entscheidungsschlacht eingesetzt.
Ich schicke Euch eine Strähne meines Haares, die ich in der Nacht vor meinem Abflug abschneiden werde und das Abzeichen der Shinbu-Einheit von meinem Fliegeranzug.
Bitte passt auf Euch auf!
Verzeiht die hastig gekritzelten Zeichen!
Yukio.
Wieder musste er schlucken. Sein Blick verschwamm und er wischte sich energisch die Augen. Durch die zitternde Frontscheibe des Cockpits fixierte er die inzwischen bedrohlich deutlich zu erkennenden Schiffe.
Ein letztes Mal erlaubte er sich zurück zu denken, zurück an jenen Tag, als er Heimaturlaub hatte. Erinnerte sich an den klaren Aprilnachmittag als er seinen jüngeren Brüdern erzählt hatte, dass er zu den Fliegern abkommandiert worden war. Er hatte ihnen Papierflugzeuge gebastelt und sie liefen lachend und schreiend über die Wiese, machten Motorengeräusche mit ihren rosigen Lippen, wollten auch berühmte Piloten werden. Später, als die Kleinen schon auf ihren Futons träumten, war er mit seinem älteren Bruder durch den Garten hinunter zum See gegangen. Unterwegs hatte er einen der Papierflieger aus den Zweigen des Kirschbaums gepflückt und mit auf den alten Steg genommen.
Wie oft hatten die beiden Jungen dort zusammen gesessen, wenn sie der elterlichen Aufsicht entfliehen wollten. Gemeinsam hatten sie die Karpfen gefüttert, die zahlreich den Teich bevölkerten, hatten sich gegenseitig darin übertroffen, den größten Fisch entdeckt zu haben. Sie hatten auf den Holzplanken gesessen, die Beine vom Steg baumeln lassend.
So saßen sie auch an jenem Abend beieinander und sprachen über die Zukunft und über ihre Träume. Der Mond erhob sich aus dem See und sein orangerotes Leuchten tauchte die Welt in ein rätselhaftes, unwirkliches Licht. Die Jungen verstummten und beobachteten Schulter an Schulter wie der Mond hoch und höher stieg, wie er seine warme Farbe verlor und schließlich kalt am Himmel stand. Auf dem stillen Wasser des Sees erschien sein Spiegelbild bleich und rund.
Die Brüder begannen zu frösteln, standen auf und beschlossen ins warme, elterliche Haus zurück zu gehen.
Yukio sah das Papierflugzeug im Mondlicht schimmern. Er hatte während des Gesprächs damit gespielt und es irgendwann neben sich abgelegt. Nun hob er es auf und schleuderte es hinauf in die kühle Abendluft. Das Flugzeug stieg steil empor, als wolle es den Himmel erstürmen, den Mond erreichen, verharrte für einen Sekundenbruchteil auf dem Scheitelpunkt seines Fluges, begann zu trudeln, stürzte schneller und schneller herab. Mit einem leisen Klatschen schlug es auf die Spiegelfläche des Sees auf und verwischte das Ebenbild des Mondes. Konzentrische Kreise markierten die Absturzstelle wie eine gläserne Zielscheibe.
Plötzlich wurden die sich ausbreitenden Wellen von anderen, größeren gekreuzt. Sie wurden überlaufen von der Bugwelle eines sich unsichtbar nähernden Karpfens.
Da war er, der größte Karpfen, der Herrscher des Sees! Der Fisch, um den sich ihre kindlichen Fantasien einst gedreht hatten.
Für einen kurzen Moment fanden die verwischten Umrisse des Mondes zueinander, der Zauberkarpfen schien wieder abgetaucht zu sein. Die Brüder sahen sich lächelnd an und es bedarf keiner Worte ihre Empfindungen zu teilen. Abschied nehmend schauten sie noch einmal auf den glatten See, auf den sich ungerührt darin spiegelnden Mond.
Dann erstarrten sie. Die Wasseroberfläche schien sich an jener Stelle zu heben, auf der sich weiß das Papierflugzeug abzeichnete, ein Strudel bildete sich und riss das Flugzeug in eine taumelnde Kreisbewegung. Ein riesiges,weit geöffnetes Fischmaul tauchte auf, schnappte nach dem Papierflieger und zog ihn hinab in die kalte Tiefe des Sees.
Schweigend waren die Brüder nach Hause gegangen.
Ein Donnern und Knallen riss Yukio aus seinen Erinnerungen. Das Pfeifen von Geschossen gellte in seinen Ohren. Direkt unter ihm erhob sich das gewaltige, feindliche Schiff. Die Flak spuckte Zerstörung und Tod.
Es gab kein Zurück.
Er zündete den Raketenantrieb, krallte sich an den Steuerknüppel, lenkte seine kleine Maschine in den Höllenschlund aus Rauch und Feuer, schrie mit unhörbarer Stimme „Tennō heika banzai!“ .
Sein junges Leben löste sich in einer Wolke von Metallsplittern auf, die auf das Meer herab prasselten, um dann langsam und glitzernd wie Blütenblätter in der Tiefe des Ozeans zu versinken.
© Elke Moritz
Nachtrag
Yukio Araki starb am 27.Mai 1945 im Alter von 17 Jahren bei einem Kamikaze-Einsatz in der Nähe von Okinawa.
Seine Abschiedsbriefe, die hier nur teilweise zitiert wurden, sowie ein Foto von Yukio findet man unter folgendem Link:
http://wgordon.web.wesleyan.edu/kamikaze/writings
/araki/index.htm
Das im Text erwähnte Foto, das Yukio mit einem Hundewelpen zeigt, ist hier zu sehen:
http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Youngest_kamikaze_only_17_years_old.jpg
Erläuterung zum Titel:
Kamikaze bedeutet 'göttlicher Wind' oder auch 'Hauch Gottes'
Tag der Veröffentlichung: 09.08.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Gewinnerbeitrag des 9. Wortspiels mit dem Thema:
Das Papierflugzeug, der Fisch und der Mond