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Herr Professor Dr. phil. Gotthilf Vogel sitzt in der ersten Reihe des Auditoriums und wartet auf seinen Auftritt. Hinter sich spürt er die drückende Anwesenheit von 200 Wissenschaftlern. Vor ihm wartet das Stehpult, okkupiert von seinem Kollegen Lange, dessen Vortragszeit bereits jetzt deutlich überschritten ist.
Unter den Achseln seines gestreiften, bis zum Hals zugeknöpften Hemdes, bilden sich dunkle Halbmonde. Wochen hat er an seinem Manuskript gearbeitet und jetzt sollte eigentlich er dort oben stehen und seinen Diskurs über Habermas vorstellen.
Wieder und wieder streicht sein Blick über das Podium.

Professor Lange will kein Ende finden.
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Gotthilf Vogel streicht seine Hosenbeine glatt und zupft die Bügelfalten in Form. Begütigend streicht er sein schütteres Haar glatt, legt den Kopf schräg, spitzt die Lippen und erkundet routiniert mit der Zunge den Zustand seiner Zähne.


Seine Stirn kräuselt sich, der Blick wendet sich nach Innen. Energisch wühlt seine Zunge in den Zahnzwischenräumen und beult die Wange aus.
Endlich hat er es geschafft! Ein triumphierendes Lächeln gleitet über sein Gesicht, das aber schnell abgebrochen wird. Ruckartig dreht er seinen Kopf nach rechts und links. Hat jemand seine heimliche Entdeckungsreise bemerkt? Seine Nachbarin vielleicht, die so fleißig in ihr Skript schreibt und ihn immer wieder verstohlen mustert?

Er fixiert sie unverhohlen, sie weicht seinem Blick aus. Nachdenklich bezupft er sein Ohrläppchen, sein Zeigefinger verliert sich in dem Labyrinth der Ohrmuschel. Alle Wege führen die irrende Fingerbeere in das behaarte Ohrloch. Abrupt zieht Professor Vogel den allzu neugierigen Finger aus der verführerischen Mulde. Wieder blickt er rasch zu beiden Seiten.

Die Brille stört und drückt. Sie wird abgenommen und der eingedrückten Nasenwurzel wird von Zeige- und Mittelfinger eine hingebungsvolle Massage zuteil. Nun macht sich auch die andere Hand auf den Weg ins Gesicht und beide Hände widmen sich energisch den geschlossenen Augen. Sie werden nach außen gedrückt, mit kurzen Strichen geglättet, abschließend die Brauen beschwichtigt.
Kontrollblick nach rechts und links, dann nochmal mit Brille, rechts – links.

Kollege Lange blättert die nächste Seite seines Redeskriptes auf.

Der angespannte Körper verlangt nach Streckung, diesem Bedürfnis wird dezent nachgekommen. Das Räkeln stockt auf halber Strecke, es bleibt symbolisch. Scheinbar läßt sich der Körper täuschen, denn schon läuft ein zufriedenes Grinsen über die Lippen. Die aufmerksame rechte Hand schreitet rasch ein und der Daumen streicht über die geschlossenen Lippen, als wolle er sie versiegeln. Nach vollbrachter Tat wandert die Hand unter das Kinn. Daumen, Zeige- und Mittelfinger bilden ein Dreibein, das Kinn sinkt auf das dargebotene Stativ und der Kopf übt sich in Denkerpose.
Doch schon schreckt er wieder hoch. Kurzer rechts-links-Blick. Neue Sitzposition.

Das professorale Haupt nähert sich der linken Schulter, sein Besitzer gibt den interessiert Lauschenden. Die Arme verschränken sich, die Beine überschlagen sich, der Körper rutscht auf die Sitzkante. Unvermittelt pressen sich die Lippen aufeinander. Aus dem Pressen wird ein Gleiten, die Mundwinkel ziehen sich nach oben, Zähne werden entblößt. Die Lider verdecken hastig den spöttischen Augenausdruck. Der rechte Zeigefinger schnippt ein Stäubchen von der Krawatte, begibt sich dann in die Obhut der linken Faust und verharrt darin. Er wird gedrückt und gezogen. Endlich entlassen, taucht er noch ein-, zweimal in die Geborgenheit der Höhle ein.

Blick nach rechts, nach links, auf die Armbanduhr, auf die Wanduhr.
Der Kopf sinkt auf die rechte Schulter, die Arme und Beine entflechten sich. Es folgt eine Kontrolle der Fingernägel, jeder einzelne Nagel wird untersucht und sorgsam gereinigt. Dann falten sich die Hände zu stillem Gebet. Die beschuhten Füße heben sich leicht vom Boden, kippen zu den Seiten, werden einer visuellen Prüfung unterzogen und sinken leise wieder hinab.
Wieder zieht es den unsteten Blick auf die Bühne, zu dem unaufhörlich redenden Kollegen.

Der eben noch so beherrschte Körper entwindet sich mehr und mehr seiner akademischen Kontrolle. Die Unruhe breitet sich aus, erfasst die wippenden Fußspitzen, die Hände, die sich reiben, falten, voneinander lösen und sich wieder aneinander fest halten. Die Lippen sind in steter Bewegung, werden gespannt, nach oben gezogen, nach unten verzerrt, der Mund spitzt sich zu einem Kuss, um gleich darauf eine schmale Linie ins Gesicht zu spannen..
Die Hand schnellt zum Hals empor und kneift einen Hautlappen, zieht ihn lang und lässt ihn unvermittelt zurück schnellen. Als sei das zu wenig, greifen die die Finger erneut zu und zerren wieder ein Hautstück aus seiner Umgebung, dehnen und strecken es unerbittlich, um es dann mit einem leisen Schnappen los zu lassen. Ein Fleck, einem Würgemal ähnlich, rötet den Hals.

Jetzt eilt der Blick zur Decke, misst sie flüchtig aus, kehrt zur Wanduhr, zur Armbanduhr zurück. Die Augenbrauen kräuseln sich, kommen der Nasenwurzel bedrohlich nahe. Die Brille wird von der Nase gerissen, es folgt das bekannte Ritual: Augen reiben, Brille aufsetzen, Brauen heben, Brauen senken, Lippen spitzen, Lippen schürzen, Nase reiben, Ohrläppchen zupfen..
Sichernder Blick nach rechts, nach links, nach hinten.


Entschlossen strafft Herr Professor Vogel seinen Körper, stellt die Beine im rechten Winkel auf, hebt den Unterarm in Augenhöhe, streift die Manschette zurück und studiert den Lauf des Sekundenzeigers. Anschließend hebt er die Augenlider und fixiert den Vortragenden über das Glas seiner Armbanduhr hinweg. Der Arm fällt herab, die Manschette wird in den korrekten Sitz zurück geschoben, der goldene Manschettenknopf prüfend betastet.
Er richtet seine Krawatte, korrigiert den Sitz der Bügelfalten und greift nach seinem Manuskript, stößt den Stapel wiederholt auf das Pult, schiebt die Blätter in Länge und Breite zusammen.

Professor Lange spricht unbeeindruckt weiter.

Resigniert sinkt der verhinderte Redner zusammen.
Der Rücken fällt gegen die Lehne.
Die Beine rutschen unter den Nachbarsitz.
Die Seiten verbreiten sich ungeordnet auf dem Tisch.
Der Montblanc-Füller verliert seine Kappe, rollt über das schräge Pult und fällt zu Boden.

Sein Besitzer findet ihn in einer Tintenlache zwischen den Füßen seiner Nachbarin, ergreift ihn und hört im selben Moment:
„Und nun freuen wir uns auf den Vortrag meines sehr geschätzten Kollegen Vogel, der uns seine neuesten Forschungsergebnisse präsentieren wird!“

Mit gesträubtem Haupthaar und preußisch blauen, gespreizten Fingern, taucht Herr Professor Vogel zwischen den Knieen seiner verdutzten Nachbarin auf.


© Elke Moritz


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Tag der Veröffentlichung: 07.07.2009

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