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Der morgendliche Blick in den Spiegel lässt mich zurück schrecken. Ein talgiges Gesicht mit verquollenen, geröteten Augen, zerlaufener Wimperntusche und verschmierten Makeup-Resten starrt mir entgegen. Die Spuren des gestrigen Tages sind unübersehbar. Dabei war ich doch so glücklich gewesen und stürzte danach so tief ab. Wie soll ein Mensch das ertragen? Erst empor gehoben in den Himmel der Liebe und dann hinabgeworfen in die tiefste Hölle von Enttäuschung und Spott.

Ich schließe die Augen und werfe mir kaltes Wasser ins Gesicht. Dann konzentriere ich mich und lege innerlich den Schleier der Barmherzigkeit über mein Aussehen. Eigentlich bin ich doch immer noch schön und jung, man sieht es nur nicht auf den ersten Blick. Also greife ich in die Schminktrickkiste und versuche mich zu rekonstruieren.

Schließlich lächele ich meinem Spiegelbild aufmunternd zu und ich freue mich, wie jeden Tag, dass ich nur den einen Spiegel über dem Waschbecken habe. Mein Gesicht ist faltenlos und ich sehe besser aus, als andere Frauen meines Alters. Einen großen Spiegel, in dem ich mich ganz sehen könnte, habe ich nicht und das mit Absicht.

Mein Körper ist irgendwie außer Rand und Band geraten, dabei esse ich weniger als meine Kolleginnen im Büro des Amtsgerichts.
Na gut, abends, wenn ich alleine in meiner schnuckeligen Zweizimmerwohnung sitze, dann husche ich schon mal in die Küche und hole mir eine Tafel Schokolade, manchmal auch eine Tüte Chips, meist beides. Danach fühle ich mich entsetzlich, früher schaute ich in den großen Flurspiegel und hasste mich. Und weil ich so deprimiert war, gönnte ich mir noch ein Täfelchen Schokolade.
Die Lösung des Problems – der Flurspiegel musste weg. Es blieb ein großes Rechteck in der Originalfarbe der Tapete, rundum war das Rosenmuster doch schon arg verblichen. Ich füllte den freigewordenen Platz mit Fotos meines Liebsten.

Seitdem er in mein Leben trat, ist alles anders geworden. Ihn interessiert nicht, dass ich ein wenig mollig bin. Er liebt mich genauso wie ich bin. Und ich liebe ihn über Alles.
Äußerlichkeiten bedeuten ihm nichts. Genau wie ich, isst er gerne und tut den ganzen Tag kaum etwas anderes. Was soll man auch groß unternehmen, wenn man ein Gefangener ist? Seine Zelle ist zwar ganz gemütlich eingerichtet und jeden Tag hat er Freigang in einem begrünten Geviert, aber an der Tatsache des Eingesperrtseins ändert das nichts. Außerdem ist er Vegetarier und da muss man viel essen, denn Gemüse und Obst haben ja nun mal wenig Nährstoffe.
Natürlich lebe ich jetzt auch vegetarisch. Wie gut, dass Süßigkeiten und Knabbereien rein pflanzlich sind. In unserer Kantine gibt es auch vegetarisches Essen. Es stillt zwar meinen Hunger nicht, aber mit einem Stückchen Buttercremetorte zum Nachtisch geht es schon irgendwie. So bin ich meinem Liebsten nahe, auch wenn ich nicht mit ihm zusammen bin.

Nie werde ich den Tag vergessen, als ich ihn das erste Mal sah.
Es war auf einem Betriebsausflug, die Gruppe war schon weiter gegangen, als ich ihn entdeckte. Er saß weitab von den Anderen ganz allein für sich und ich fühlte mich direkt von ihm angezogen. Ich blieb stehen und war wie hypnotisiert. Er ist groß, seine Muskeln spielen unter der Haut, seine breiten Schultern und riesigen Hände faszinierten mich.
Als er meinen Blick bemerkte und zu mir sah, senkte ich meine Lider, denn ich konnte die Intensität, die Trauer in seinem Blick nicht ertragen. Fast fürchtete ich mich vor ihm, dabei saß er doch hinter Gittern und konnte mir nichts tun. Aber allein seine körperliche Präsenz war so beeindruckend, dass ich schließlich weiter ging, ohne ihn ein zweites Mal an zu blicken.

Später am Abend, einsam in meiner Wohnung, musste ich immer noch an ihn denken. Ich fragte, mich wie er wohl sei, was er fühle, was er denke. Warum saß er alleine dort? War er ein Einzelgänger wie ich? Den keiner mochte, der sich ausgestoßen fühlte? Oder hatten die Anderen Respekt, vielleicht sogar Angst vor ihm? Ja, das war es! Sie spürten, dass er etwas Besonderes war, dass er jede Kontaktaufnahme abweisen würde. Sie fürchteten, genau wie ich, seinen bohrenden Blick. Den Ausdruck von erbarmungsloser Kraft, diesen Blick, der hinter die Maske des Menschen schaut. Der das Gegenüber zu durchleuchten scheint und in die tiefsten Abgründe der Seele taucht. Mich schaudert noch heute, wenn ich an unseren ersten Augenkontakt zurück denke.

Am nächsten Wochenende war ich wieder da und besuchte ihn. Und seitdem besuche ich ihn regelmäßig. Jeden Samstag fahre ich nach Hamburg, um ihn zu sehen. Anfangs nahm er keine Notiz von mir. Schlimmer noch, er drehte mir den Rücken zu und gab mir so zu verstehen, dass er kein Interesse an mir hatte. Meine Besuche schienen ihm eher lästig zu sein. Ostentativ schaute er weg oder aß aufreizend langsam einen Apfel. Er liebt Süßes, also brachte ich ihm Leckereien mit. Es ist zwar verboten, den Gefangenen etwas zu Essen mitzubringen, aber im Laufe der Monate lernte ich einen der Wärter kennen und umging so die Vorschriften.

Freitagabend gehe ich in den Supermarkt um die Ecke und kaufe das schönste Obst für ihn, exotische Früchte, deren Namen ich nie vorher gehört hatte und am nächsten Tag stecke ich sie heimlich dem Wärter zu, der mir versprochen hat, sie an ihn weiter zu geben.

Mein Leben hat einen neuen Sinn gewonnen und die ganze Woche zehre ich von dem Gedanken an ihn. Sonntag bis Mittwoch erfüllen mich die Erinnerungen an den vergangenen Samstag und ab Donnerstag fiebere ich dem bevorstehenden Treffen entgegen.

Am Samstag mache ich mich schön – für ihn. Nur für ihn. In der Woche ist es egal, wie ich aussehe, mich beachtet eh niemand. Ich bin unsichtbar. Früher hat sich mal der ein oder andere Mann nach mir umgeschaut, aber die Zeiten sind lange vorbei. Je älter, vor allem je üppiger ich wurde, um so unsichtbarer wurde ich für die Männer. Das tat weh und mein Schmerz musste wieder mit noch mehr Süßigkeiten gemildert werden.
Vorbei, vorbei. Das Alles zählt für mich nicht mehr. Ich liebe und werde geliebt.

Ich ziehe ein buntes, auffälliges Kleid an, nicht die graue Bürokluft, wie sonst während der Woche. Ich bürste mein blond gefärbtes Haar bis es knistert und lasse es offen auf die Schultern fallen, denn das gefällt ihm. Und ich will ihm gefallen, nur ihm. Wenn die Leute in der Bahn hinter mir tuscheln und kichern, dann ist es mir egal. Es kümmert mich nicht mehr, was Andere über mich denken und reden. Nur was er empfindet und mir zeigt, ist wichtig. Alles Andere nehme ich nicht wahr. Denn es ist verlogen, die Menschen sind verlogen und gemein. Nur er ist aufrichtig, gradlinig und klar in seiner Aussage. Wenn ich ihm gefalle, zeigt er es mir unverhohlen, wenn nicht, dann schaut er mich nicht an und wendet sich ab.
So einfach kann eine Beziehung sein, so einfach und ohne jeden Falsch und Trug.

Wir sprechen nicht viel miteinander, das heißt eigentlich spreche nur ich und er hört mir zu – manchmal. Meist schauen wir uns nur an und das ist mir mehr wert, als das verlogene Geschwätz der Leute, die Scheinheiligkeiten, die Heucheleien. Er blickt mich an und meine Seele jubelt.

Gestern geschah das Unvorstellbare! Normalerweise sitze ich nur auf der harten Bank und dränge mich ihm nicht auf, aber dieses Mal nahm ich all meinen Mut zusammen. Ich legte zitternd meine Hand auf die Panzerglasscheibe, senkte meinen Kopf und wartete ab. Nach einer Weile spähte ich vorsichtig, fast unmerklich hoch und sah, dass er meine kleine, bleiche mit seiner große, schwarze Hand bedeckt hatte.
Mein Herz stand still, Alles um mich herum versank. Das muss das Glück sein, von dem ich bisher nur gehört, aber es vorher nie erlebt hatte.

Die Frauen im Büro tratschen gerne über ihre Männer, ihre Liebesaffären und lachen laut und auffällig. Das geschieht natürlich nur, wenn ich nicht dabei bin. Manchmal ertappe ich sie. Ich komme ins Zimmer und das lüsterne Grinsen steht noch auf ihren Gesichtern, dann verstummen sie oder plappern über Belanglosigkeiten. Aber ich weiß genau, wovon sie geredet haben. Diese schmuddeligen Geschichten vom Wochenendsex, oh, wie ich das verabscheue. Ich begebe mich meist schweigend an meine Arbeit und die Gruppe zerstreut sich schnell. Ja, sie fürchten mich, fürchten meinen vernichtenden Blick, genau wie die anderen Gefangenen meinen Liebsten fürchten.
Meine törichten Kolleginnen, sie wissen nicht was wahre Liebe und wahres Glück ist.

Da gibt es nur etwas, eine Kleinigkeit, die mich beunruhigt. Nein nicht nur beunruhigt, ein Stachel steckt in meinem Fleisch, ein Satz nagt an meiner Seele. Er brennt wie Salz in einer offenen Wunde und ich werde ihn nicht los. Alle beglückenden Erinnerungen werden trübe. Gestern Abend stand ich wieder vor meinem Kühlschrank und leerte ihn in sinnlosem Taumel. Trotzdem bleibt der Satz wie eine juckende Narbe auf meiner Seele haften. Ich versuche nicht zu kratzen, denn dann wird der Juckreiz schlimmer. Ich versuche ihn zu vergessen, aber es will mir nicht gelingen.

Als ich beseelt und beschwingt am Ende der Besuchszeit ging, hörte ich wie ein Wärter zum anderen sagte: „Guck, mal da geht wieder die komische Dicke. Die ist total verknallt in unseren Motumbo. Wenn die wüsste, wie er abends die Weibchen ran nimmt.“
Daraufhin der andere: "Tja, so ein Silberrücken ist auch nur ein Mann!"

Und sie lachten, lachten dieses dreckige Lachen, das noch immer in meinen Ohren klingt und mir den Schlaf raubt.


© Elke Moritz

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Tag der Veröffentlichung: 29.06.2009

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