Zum Augenblicke dürft’ ich sagen:
Verweile doch, du bist so schön!
Es kann die Spur von meinen Erdentagen
Nicht in Äonen untergehn. –
Im Vorgefühl von solchem hohen Glück
Genieß’ ich jetzt den höchsten Augenblick.
Johann Wolfgang von Goethe
Faust II, 5. Akt
Irritiert blinzele ich in die Nachmittagssonne, die sich durch die Jalousien ins Zimmer drängt. Was hat mich aus meinem Schlummer aufschrecken lassen? War es eines der unzähligen Motorinos, die unaufhörlich hupend durch die sommerliche Stadt knattern? Oder ein gellend geführter Streit aus einem der Nachbarhäuser?
Das grafische Muster der Sonnenstrahlen, das vom Bett nahtlos auf meinen nackten Körper übergeht, zaubert eine entrückte Stimmung, jenseits vom Trubel der Straße, fernab vom Puls der nachmittäglichen Metropole.
Mein Blick wandert durch das unbekannte Zimmer. Eine schäbige Kommode, ein klappriger Stuhl, verschlissene Vorhänge, die trotz Windstille fast unmerklich hin und her wallen. Erhitzt bauschen sie sich ins Zimmer, um sich dann wieder zurück an das offene Fenster zu schmiegen. Vor und zurück, vor und zurück ...
Auf dem Boden entdecke ich mein Kleid, meine Sandalen, mein zerrissenes Höschen, über das sich ein verschwitztes T-Shirt geworfen hat. Herrenschuhe, die scheinbar mitten im Sprung herrenlos wurden, lagern zwischen Tür und Bett. Ein unentwirrbares Knäuel, wohl eine Jeans, umschlingt träumend, mit verknoteten Beinen, den Riemen meiner Fototasche. Mein BH hängt wie ein Artist mit einer einzigen Faser am Rahmen des blinden Spiegels. Jeden Moment droht er hinab zu gleiten.
Mein Blick fokussiert das aufgewühlte Bett. Am Fußende schlängelt sich ein schwarzer Ledergürtel mit aufgeklappter Schnalle träge durch die Streifen, die die Jalousien auf das Laken malen. Der Verschlußstift züngelt müde in die schwüle Luft. Es scheint, als schmecke er noch immer den betäubenden Duft, das Amalgam aus Schweiß und Wollust und Schmerz, der noch vor kurzem den Raum erfüllte.
Ich bin nicht alleine an diesem Junitag in Rom, in diesem billigen Hotelzimmer im dritten Stock, Südseite. Vorsichtig wende ich meinen Kopf nach rechts. Der Fremde neben mir schläft. Unhörbar hebt und senkt sich seine nackte Brust mit jedem Atemzug. Vollkommen entspannt, Arme und Beine weit von sich gestreckt, ruht sein ebenmäßiger Körper an meiner Seite. Auf seinem Bauch glitzern vereinzelte Schweißtropfen. Die letzten Spuren der leidenschaftlichen Stunden bewegen sich ganz langsam auf seinen Bauchnabel zu, um sich dort ein letztes Mal zu vereinigen.
Da liegt er, hin gegossen aus der Hand eines antiken Künstlers. Ein erschöpfter Achill, der sich von den Kämpfen vor Troja ausruht. Ein sonnengebräunter Apoll, der sich seinen göttlichen Träumen hingibt.
*
Auf der Piazza Navona hatte ihn meine Kamera entdeckt. Das Sprudeln und Schäumen des herunter prasselnden Wassers der Fontana dei Quattro Fiumi weckte meine Aufmerksamkeit. Ein Blick durch den Sucher ließ mich vor Überraschung erschauern, denn unvermittelt tauchte ein überirdisches Wesen aus den Fluten empor. Mitten in der grellen Mittagssonne stand dort ein Mensch gewordener Gott Eine Marmorstatue schien, nach Jahrhunderten des geduldigen Verharrens, ihren Sockel verlassen zu haben, um sich unter die Menschen zu mischen. Auf dem Weg durch die, in der Mittagshitze glühende, Stadt war er hier gestrandet und erfrischte sich nun am Brunnen.
Ich hob meinen Blick, schaute über die Kamera hinweg zu ihm. Mit der Sonnenbrille, die ich aus meinen Haaren zog, verbarg ich meine Augen, um ihn ein zweites Mal und noch genauer zu betrachten. War er nur ein Trugbild, hervorgerufen durch die vielen Eindrücke des Vormittags, die unzähligen Standbilder in den dunklen Kirchen und kühlen Museen, die ich heute schon fotografiert hatte?
Nein, er war Wirklichkeit! Seine Locken flirrten im Licht, sein Körper füllte den verlassenen Platz mit einer ungeahnten Lebendigkeit. Langsam, als habe er mein forschendes Auge gespürt, richtete er sich auf und blickte sich suchend um. Unsere Blicke begegneten sich. Unwillkürlich sank die Kamera in meinen Händen, und wir standen minutenlang wie versteinert im Focus der erbarmungslos herabbrennenden Sonne.
Sein linkes Auge war milchig trüb, weiß wie Carraramarmor, als sei die Inkarnation unvollständig geblieben. Trotz dieser Entstellung erschien er mir schön, vielleicht noch schöner, weil dieser Bruch der Perfektion, seine Vollkommenheit verstärkte, sie fast schmerzhaft fühlbar machte .
Ich riß mich aus dem hypnotischen Zustand und ging mit raschen Schritten auf ihn zu, sprach ihn mit meinem holprigen Italienisch an. Ob er sich von mir fotografieren ließe? Er schien mich nicht zu verstehen, schüttelte fragend den Kopf und hob bedauernd die Hände. Kräftige, geäderte Hände, die ursprünglich Michelangelo gemeißelt haben musste.
Nun versuchte ich es erneut, diesmal auf Englisch. Meine Dreistigkeit schien ihn zu verwirren, aber ihm auch zu schmeicheln. Der ehemals steinerne Mann ließ sich erweichen: „Si, Signora, perché no?“. Ich ging ein paar Schritte zurück, um einige Aufnahmen zu machen und um meine professionelle Distanz wieder zu gewinnen. Es wurde mir schnell klar, wie unsinnig es war, im gnadenlosen Mittagslicht eine Aufnahme zu machen, die seiner Außergewöhnlichkeit gerecht wurde.Also bedeutete ich ihm mit meinen Händen, mir doch in den schattigen Innenhof zu folgen, um dort bessere Fotos zu machen
„Albergo? Hotel!“ entgegnete er fragend.
„Si, perché no?“ hörte ich mich sagen
Und so landeten wir in diesem kargen Zimmer.
*
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie mein BH vom Rahmen des Spiegels abreißt und mit einem leisen Rascheln vor die gespreizten Beine des Kamerastativs fällt. Das schläfrige Auge des Fotoapparates scheint mich an zu zwinkern. Meine Kamera verliert nie ihre Objektivität, sie ist gleichgültig gegenüber dem Geschehen. Sei es Marmor oder Mann, Leiden oder Leidenschaft, Schönes oder Schreckliches, sie nimmt alles in sich auf und bewahrt es stumm in ihrem dunklen Inneren. Sie weiß nichts von den Irrungen und Wirrungen des Gefühls, läßt sich nicht fort reißen in einem Wirbel ders Unvorhersehbaren. Sie kennt nur Brennweiten, Belichtungszeiten und Lichtempfindlichkeiten.
Ich besinne mich. Was wollte ich eigentlich hier? Vergängliches unvergänglich machen. Der erschöpfte Körper neben mir schläft noch immer. Meine treue Gefährtin ist bereit. Was für eine wunderbare Gelegenheit, den jungen Gott doch noch zu fotografieren. Seine Erscheinung auf einen Film zu bannen, seine Schönheit einzufangen und den Moment festzuhalten
Lautlos winde ich mich aus dem Bett und schalte die Kamera ein. Durch den Sucher betrachte ich erneut den hingestreckten Körper, wähle verschiedene Einstellungen, fotografiere den Kopf, die Füße, die Hände, zerlege den Körper mit goldenen Schnitten in Einzelbilder.
Das warme Gefühl tiefer Befriedigung durchflutet mich ein letztes Mal, als ich die Kamera vom Stativ nehme und ausschalte. Den zerrissenen Slip lasse ich ihm liegen, als Erinnerung, so wie die Fotos zeitlose Andenken für mich sind. In kürzester Zeit raffe ich meine wenigen Kleidungsstücke zusammen und ziehe mich an.
Am Ende dieses längsten Tages im Jahr werde ich zurückfliegen. Fort aus der ewigen Stadt, fort von dem weichen Licht des Südens, fort von diesem Mann, dessen Namen ich nicht kenne, und der auch den meinen nicht weiß. Nie wieder werden unsere Körper sich vereinigen, nie wieder werde ich ihn aufnehmen.
Auf Zehenspitzen schleiche ich zur Tür, drücke leise die Klinke nieder und schaue ein letztes Mal zurück, auf das zerwühlte Bett, die zerknüllten Kissen und den ahnungslos Schlafenden. Ich sauge diesen Augenblick in mich hinein, brenne sein Bild auf meine Netzhaut, genieße noch einmal seine Gegenwart und atme das Licht des Raumes.
Dieser Augenblick wird nie vergehen. Die Fotos werden objektive Zeugen bleiben. -
Aber können Bilder den Zauber des Nachmittags erhalten? Die rasende Leidenschaft, das hitzige Verflechten der Körper, den Geschmack seines Schweißes, den Schrei meiner Lust?
Nur noch ein kurzer Moment des Zögerns, dann nehme ich meine Kamera, lösche die Fotos und schließe die Tür lautlos hinter mir.
© Elke Moritz
Tag der Veröffentlichung: 20.06.2009
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Beitrag zum BookRix-Wettbewerb "Schneller, höher, weiter"