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Trennungsfreude




Wann genau es anfing, weiß ich nicht mehr, aber ein Bein gehört mir nicht.

Wenn ich tief in meine Kindheit abtauche, dann erscheint mir ein Beinbruch als der Moment, in dem mir mein Problem zum ersten Mal bewusst wurde. Die Nachbarskinder hatten mich zum Schlittschuhlaufen überredet. Ungeschickt stolperte ich über das Eis und schon nach wenigen Augenblicken stürzte ich, unter dem Gejohle der Anderen, kopfüber auf den gefrorenen See. Als ich wieder aufstehen wollte, stand mein Unterschenkel in einem unnatürlichen Winkel ab. Den Jungen blieb das Lachen im Hals stecken, sie starrten entsetzt auf das Bein. Warum nur? Im Krankenhaus wurde das ganze Bein eingegipst und ich erhielt zwei Krücken, die in den folgenden Wochen meine ständigen Begleiter wurden. Irgendwann kam der Tag, an dem der Gips abgenommen wurde, auch meine unentbehrlichen Krücken nahm man mir weg. Der Krankenpfleger und meine erleichterte Mutter schauten mich aufmunternd an. Jetzt sollte also mein Leben wieder normal weitergehen. Das Bein war bleich und dünn, es war zu schwach, um meinen Körper zu tragen.
„Jetzt kannst du wieder laufen und springen, mit deinen Freunden Fußball spielen!“ sagte Mutter, nahm meine Hand und wollte mit mir nach Hause gehen.
„Gebt mir bitte die Krücken wieder“ bettelte ich, „ich brauche sie doch“. Alle lachten und schüttelten den Kopf: „Warte mal ab, in ein paar Tagen hast du sie vergessen!“

So humpelte ich an Mutters Seite aus dem Krankenhaus, zu Hause stürzte ich auf mein Bett und weinte bitterlich. Warum wollen die Erwachsenen mich nicht verstehen? Mein Alltag mit den Gehhilfen erschien mir so vollkommen, so angenehm, zum ersten Mal hatte ich mich in meinem Körper wirklich wohl gefühlt! Die Krücken, die von anderen Menschen nur als Übergangslösung angesehen wurden, waren für mich lebensnotwendige Stützen gewesen. Ich trommelte und schlug auf dieses blasse Etwas ein, das leblos an mir herunter hing.
„Ich will dich nicht! Ich brauche dich nicht! Hau ab!“ Doch es klebte stumm und beharrlich an mir. So beschloss ich, es in Zukunft zu ignorieren.

Tagelang blieb ich im Bett liegen und weigerte mich, auch nur einen Schritt zu tun. Der Hausarzt kam und ging unverrichteter Dinge wieder weg. Mutter flehte, bettelte, weinte, schimpfte. Ich blieb stur:
„Ich steh erst auf, wenn ich meine Krücken wieder habe!“ Die Androhung eines Hungerstreiks erweichte schließlich Mutters Herz und sie kaufte mir heimlich einen Stock.

Vater durfte es nicht wissen. Er war für die harte Tour, hätte den Gehstock bestimmt zerbrochen und Mutter angeschrien. Glücklicherweise ging er schon frühmorgens zur Arbeit, so konnte ich jeden Tag von ihm ungesehen zur Schule humpeln. Der Lehrerin und den Klassenkameraden erzählte ich, dass mein Bein schlecht heilen würde und es noch geschont werden musste.

So begann mein glückliches Leben als Krüppel. Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme wurden mir von allen Seiten entgegen gebracht. Vom gehassten Sportunterricht befreit, verbrachte ich die gewonnene Zeit mit Lesen und Träumen. In den folgenden Jahren suchte ich mir meine Gehstöcke selbst aus. Während andere Jugendliche ihr Taschengeld für Süßigkeiten ausgabe, sparte ich meines für etwas viel Wertvolleres. Wenn dann endlich genug zusammen war, kam der Moment auf den ich mich seit Wochen gefreut hatte. SchonTage vorher besuchte ich immer wieder den Sanitätsfachhandel am Ende unserer Straße. Dort gab es braune und blaue Stöcke, Stöcke aus Holz und aus Kunststoff, welche mit handfreundlichem Griff; andere längere, die bis zum Ellenbogen gingen. In einer Ecke der Ladens stand verstaubt und vergessen eine ganz alte Krücke aus Holz, die bis in die Achselhöhle reichte und mit einem Lederpolster ausgestattet war. Von ihr träumte ich jeden Abend vor dem Einschlafen und fasste den unumstößlichen Entschluß, sie zu erwerben. Sie musste mir gehören, sie war für mich bestimmt!

Zur Durchsetzung meines Plans freundete ich mich mit dem Besitzer des Geschäftes an, dem mein Interesse und meine Begeisterung sichtlich schmeichelten. Er nahm mich schließlich mit in seine Werkstatt und mir erschloss sich eine ganz neue Welt. Von der Decke hingen künstliche Arme und Holzbeine, in den Regalen warteten hölzerne Füße und Hände auf ihre neuen Besitzer. Mit großen Augen wanderte ich durch den Raum, streichelte sanft über die kühlen Gliedmaßen, drückte die ledernen Polsterungen, prüfte Gurte und Schnallen.

Der Meister weihte mich in die Geheimnisse des Prothesenbaus ein, und als ich ihn Wochen später nach einer Lehrstelle fragte, war er sofort einverstanden.
„Du kannst gerne bei mir anfangen. Eigentlich wollte ich keine Lehrlinge mehr ausbilden, weil die meisten Jugendlichen diesen Beruf nur ergreifen, weil sie keine Alternativen haben. Aber Du bist anders als die Anderen.“ Ja, so war es wohl. Aber wie Recht er hatte, konnte er zu dem Zeitpunkt noch nicht wissen.
Noch am selben Abend verkündete ich den Eltern meinen Berufswunsch und dass ich sofort das Gymnasium verlassen würde. Nach einer drückenden Minute des Schweigens begann Mutter zu weinen, Vater stand brüsk auf und verließ Türen knallend das Wohnzimmer. Natürlich war ihm im Laufe der Jahre nicht verborgen geblieben, dass ich ein körperbehinderter Mensch war. Er hatte sich knurrend damit abgefunden und mich aus seinem Leben gestrichen. Ich war zwar vorhanden, aber nicht mehr als sein Kind, eher wie ein Gast, den man nicht raus werfen kann.

Nachdem ich meine Ausbildung mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, warf ich mich dann selber raus. Mein Meister war verwitwet und bot mir eine kleine Wohnung, die über der Werkstatt lag, an. Glücklich zog ich dort ein und ließ das Familienleben erleichtert hinter mir.
Während meiner Lehrzeit hatte ich viele amputierte Menschen kennen gelernt und sie waren meine neue Familie geworden. Sie fühlten sich von mir rückhaltlos akzeptiert, weil ich mich aufgrund meiner eigenen Behinderung gut in ihre Situation einfühlen konnte. Und ich beneidete sie insgeheim um ihre Freiheit. Ihnen war gelungen, ein unnützes Körperteil loszuwerden, was mir bislang verwehrt blieb. Natürlich wußte ich, dass meine Kunden das ganz anders empfanden. Sie erzählten mir von schrecklichen Unfällen oder bösartigen Erkrankungen, die zum Verlust ihrer Gliedmaßen geführt hatten. Manche brachen in Tränen aus, andere waren bemüht tapfer, wieder andere hatten sich mit ihrem Schicksal abgefunden. Also heuchelte ich Mitgefühl und verbarg meine wahren Gefühle sorgsam vor ihnen.

Abends, wenn der Laden geschlossen war und eine geradezu feierliche Stille in der Werkstatt herrschte, schnitzte und feilte ich an meinem eigenen Holzbein herum. Sorgfältig wählte ich das beste Holz, das feinste Leder und fertigte Riemen mit silbernen, kunstvoll verzierten Schnallen. Es wurde das persönlichste und schönste Werkstück, das ich je gemacht hatte, und als es fertig war, nahm ich es mit auf mein Zimmer und betrachtete es immer wieder liebevoll. Nachts teilten wir das Bett und schmiegten uns aneinander.

Die Zeit war gekommen. Nun endlich musste ich dieses leblose Etwas von Bein loswerden, das an meiner Hüfte angewachsen war. Mein richtiges Bein war bereit seine Position an meinen Körper einzunehmen. Mir war inzwischen klar geworden, dass ich nicht einfach zu einem Chirurgen hingehen konnte und sagen „Schneiden Sie mir das Ding ab“. Ich hatte vorher schon gründlich in der Stadtbücherei recherchiert und ahnte, dass man mich zu einem Psychologen oder Psychiater schicken würde. Dabei war doch nicht ich krank, sondern dieses seltsame Bein war krank, es gehörte nun mal nicht zu mir. Ich wollte es loswerden, also sann ich auf eine Lösung des Problems.
In der Zeitung las ich von einem Mann, der sich auf die Schienen gelegt hatte und sich von einem über ihn hinwegdonnernden Zug die Beine abreißen ließ. Ein anderer hatte seinen Arm mit einem Hammer zerschmettert und erst als sich die Entzündung in die Tiefe gefressen hatte, begab er sich in ein Krankenhaus und wurde dort von seinem Leiden erlöst. Man kann auch aus dem dritten Stock springen, aber wenn man Pech hat, retten einem übereifrige Ärzte das Bein mit Schrauben und Nägeln, mit externen Schienen. Na ja, und wenn man noch mehr Pech hat, ist man tot. Die praktikabelste und risikoärmste Methode ist das Einlegen des unerwünschten Körperteils in Trockeneis bis es abstirbt, nekrotisch wird und dann entfernt werden muss. Man erspart sich sinnlose Diskussionen, Behandlung mit Psychopharmaka und überflüssige orthopädische Rettungsversuche.

Heute ist es endlich soweit. Alles ist vorbereitet. Das Trockeneis steht parat, das Telefon liegt neben mir, drei Flaschen stilles Wasser befinden sich in Reichweite, auch ein Gefäß zum Pinkeln. Mein richtiges Bein lehnt an meiner Seite und gibt mir Kraft und Zuversicht. Bald, bald sind wir für immer vereint.

Weiße Nebelschwaden kriechen langsam über den Boden auf mich zu. Ich bebe in Vorfreude auf das Aufwachen aus der Narkose und meinen ersten Blick auf den Oberschenkelstumpf ...


© Pen.the.silea



Impressum

Texte: Titelfoto von der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 09.06.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Gewidmet allen Menschen, die von BIID betroffen sind * Herzlichen Dank an Samtstimme für seine wertvollen Tipps beim Überarbeiten des Manuskriptes.

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