Stellt Euch den Winter ... 24 Tage vor Heiligabend ... vor, draußen ist es bitterkalt ... und Ihr befindet Euch zurückversetzt in die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts.
Wir blicken auf Fred, einen fünfjährigen, zarten Knaben.
Um sieben Uhr morgens herrscht draußen, mit bloßen Augen kaum zu durchdringendes Zwielicht. Freds Mutter hat das Deckenlicht ausgeschaltet, um nicht unnötig Strom zu verschwenden.
Wir begegnen dem kleinen Fred in der Küche, die durch einen Kohleherd geheizt wird, auf dessen Herdplatte ein Topf mit Milch angewärmt wird.
Für Fred erscheint die Welt angesichts seines jungen Lebens vollkommen frisch und voller Wunder: Einerlei, ob Erwachsene die gegenwärtige, von ihm aufmerksam erkundete Jahreszeit als Frühling, Sommer, Herbst oder wie in diesen Wochen Winter nennen und um diese Bezeichnung viel Aufhebens machen.
Fred hofft noch durchweg auf Erfreulichkeiten, die ihm dann und wann begegnen könnten und sollten.
Was hat er sich gewundert, als sich vor einigen Wochen die Blätter an den Bäumen verfärbten und von den Ästen abgestoßen auf den Boden fielen.
Herrlich war es, als er mit den Jungen aus der Nachbarschaft am späten Nachmittag durch die Straßen rannte. Alle paar Meter warfen sie sich in die hochaufgetürmten Laubhaufen, um sich darin zu wälzen - ohne sich die Kleidung einzuschmutzen. Herrlich! Ein verboten-schöner Spaß ohne betrübliche erzieherische Maßnahmen der Eltern als Konsequenz.
Aber jetzt sitzt Fred am Küchentisch - in seiner dunkelblauen Nylonstrumpfhose und seinem dicken, grobgestrickten ebenfalls dunkelblauen Pullover.
Vom Ofen her strömt Teerduft, nachdem seine Mutter gerade die glühende Asche mit dem Schüreisen aufgelockert und neue Kohle mit der Hand-Schippe nachgelegt hat.
Die Kohlenglut wirft ein rot-behagliches Licht in den halbdunklen Raum - die reflektierende Zimmerdecke scheint zu glühen.
Fred wird in diesem Moment – als die Wärmestrahlen aus der Kohle sein Gesicht erreichen - von etwas durchströmt, das er von nun an für einige Jahrzehnte als „Weihnachts-Stimmung“ vergegenwärtigen wird. Die Erzieherinnen – die „lieben Tanten“ in seinem Kindergarten (die knausern trotz dieses von den Erwachsenen benutzten „Titels“ nicht mit fantasievollen Bestrafungen wie „eine-Stunde-in-der-Ecke-Stehen-und-Schämen“, „du-gehst-jetzt-nicht-nochmal-zur-Toilette“) - haben seit Wochen auf diese Stimmungslage hingearbeitet - durch Geschichten-Erzählen, Bastel-Aktionen und allerhand Unterweisungen in der Kunst, seine Familie durch das stockende Vortragen von Gedichten und Liedern vor dem Weihnachtsbaum zu Tränen zu rühren.
Nun sitzt er also da - winterlich-adventlich gestimmt - wartend auf die Frühstückszeremonie dieses Morgens.
Die Frühstückszeremonie kommt jetzt mit Volldampf in Gang. Die Milch, die Freds Mutter in die große Porzellan-Tasse gießt – ist im Topf schön heiß geworden und bringt uns zu dem Augenblick, den unser kleiner Held mit Spannung erwartet. Noch kann er hoffen, dass sich der Verlauf der kommenden Dinge anders entwickelt, als in den Tagen zuvor …:
Doch da – seine Hoffnung sinkt, als Frau Fischer einen großen Löffel greift und damit in das Honigglas eintaucht, das sie aus dem Küchenschrank geholt hat. - Fred hasst warme Milch mit Honig. Er seufzt laut auf – mehr traut er sich nicht; Einspruch erheben kommt bei seiner Mutter nicht in Frage. Die hat gewandt einen Riesenklecks bernsteinfarbenen Honig aus dem Glas gezogen und schafft es, den zähen Süßstoff ohne zu Klecksen in die Tasse mit der Milch laufen zu lassen.
Sie rührt um und lächelt Fred beruhigend an. Gerade deshalb steigt seine Anspannung – ihm kommt in den Sinn, wie unangenehm ihm der Geschmack dieser gesüßten Milch ist. Doch Mutter lächelt weiter:
„Das ist gut. Wir wären früher froh gewesen, wenn wir so etwas Gutes bekommen hätten.“
Zum Teil ehrlich gemeinte Fürsorglichkeit spricht in diesem Moment aus ihr. Aber auch Strenge. Vielleicht auch ein Hauch von Grausamkeit? Denn Mutter weiß genau, dass Fred Milch mit Honig nicht ausstehen kann.
Und nun kommt’s!
Sie setzt sich mit der Tasse Fred gegenüber, deutet mit ihrem Kinn auf den Löffel, den sie mit dem versüßten Milchgetränk gefüllt hat. Sie nähert sich damit unaufhaltsam Freds Mund. Widerwillig und millimeterweise bewegt der sein Kinn nach unten – bis - ja bis Mutter mit dem Löffel so gerade eben zwischen seine Zähne gelangen und die Milch abladen kann.
Nun beginnt sie mit einem Mal, zu erzählen, wobei sie gleichzeitig - ohne an Tempo zu verlieren - den Löffel flink ein zweites Mal füllt und auf Freds Mund zubewegt.
„Jetzt erzähle ich Dir die Geschichte von dem Jäger und dem Affen.“
Fred ist komplett abgelenkt. Der zweite Löffel entlädt sich, ohne dass sich unser Held so weit sammeln konnte, um den Löffel von seinem Ziel fernzuhalten.
„Der Jäger ging durch den Wald, und da war auf einem Baum ein Affe …“
Wie gelähmt hängt seine Kinnlade nach unten. In Freds Vorstellung pirscht ein grüngekleideten Jäger mit Hut und Büchse durch einen Wald. Am Hut trägt er einen mächtigen Gamsbart, und an den Tannenbäumen hängen dicke Tannenzapfen.
„… und der Affe bewarf den Jäger mit Kokosnüssen.“
Fred wird unruhig – er will sprechen, Einspruch einlegen. Er reißt den Mund auf. Doch da ist schon wieder der Löffel, der sich zügig in seinem Mund entlädt.
Wieder und wieder will Fred etwas sagen. Doch immer ist da der Löffel und die Honigmilch.
Fred ist verzweifelt: Im Tannenwald gibt es keine Affen, keine Kokusnüsse – die Geschichte kann so nicht gehen! Doch Fred kommt nicht zu Wort und schließlich … ist die Tasse leer. Mutter legt den Löffel ab.
Aus Fred platzt es heraus:
„Wie kommt ein Affe in den Wald?“
Mutter hat es nun eilig. Sie spült die Tasse und den Löffel in der Spüle unter dem Fenster und räumt hastig alles weg.
„Das erzähle ich Dir beim nächsten Mal.“
Aber: Noch einige hundert Male wird Freds Mutter in den folgenden Jahren zu heißer Milch mit Honig die Geschichte bis zur bekannten Stelle erzählen. Nie wird sie weiter kommen und nie wird Freds Frage beantwortet.
… und heute, über vierzig Jahre später, kann der erwachsene Fred seine Mutter nicht mehr befragen, um das Geheimnis des rätselhaften Affen im Wald zu klären. – Welch vertane Kindheit!
(...)
Der Traum beginnt:
Fred sieht sich in Oberbayern, in dem Dorf, in das seine Eltern mit ihm bereits einige Male in den Sommerferien gefahren waren.
Es ist Sonntagmorgen.
Die Gemeinde strömt in die Kirche. Die Fenster stehen auf – blauer Himmel – der Klang lebhaften Vogelgesangs strömt herein …
Fred stöhnt auf – die schönen Vogellaute versinken in einer sich jäh aufbauenden Geräuschkulisse. Denn der Organist beginnt oben auf der Galerie, sein Instrument ohrenbetäubend warmzuspielen.
Fred schaut eingeschüchtert unter die Kirchendecke … Reihen von Viertelnoten segeln mit schweren schwarzen Bäuchen durch die Andachtshalle.
Da! - Zwei Achtelnoten mit wehenden Fähnchen flattern an seinem Kopf vorbei. Fred sitzt hinten rechts in der letzten Reihe. Die beiden aneinandergehakten Noten prallen, mit einem fast unmerklichen Plopp-Laut unsichtbar werdend gegen die Kirchenmauer.
Nun segelt eine ganze Gruppe von Sechzehntel-Triolen auf Fred zu; gepunktete Sechzehntel-Noten prasseln quietschend – wie feuchte Dosen-Pilze in einer heißen Pfanne – auf die noch leere Bank in der Reihe vor Fred …
Während Fred weiter hochkonzentriert die Musik wahrnimmt und das lebhafte Notenspiel zu genießen beginnt, füllt sich die Kirche zusehends mit den sonntäglich-bayrisch gewandeten Kirchgängern.
Mittlerweile ist beinahe jeder Platz besetzt. – Andacht breitet sich aus, legt sich schwer auf Freds Brust und Schultern … er spürt Druck in den Ohren.
Freds Musikgenuss wird durch um sich greifendes Geflüster und Gemurmel im Kirchenraum aber auch unterdrücktes Husten und eine Art Geröchel gestört, das gegen den Orgelklang anbrandet.
Die Unruhe der Gemeinde wächst.
Fred blickt sich um … schaut nach oben auf die Galerie. Hier arbeitet sich der Organist weiter in die Tasten herein, entdeckt in diesem Augenblick seine beiden Lieblings-Töne – einer ist hoch, der andere tief. Das ganze Orgelspiel verdichtet sich auf das Spielen dieser beiden Töne – abwechselnd – hoch und tief – hoch und tief - …
Fred wird von einem Schwindelgefühl ergriffen, seufzt …
Auch die übrigen Gemeindemitglieder sind durch die Orgelklänge irritiert.
Nun wendet sich die ganze Gemeinde abrupt um – entgeisterte Blicke schnellen in Richtung Orgelbank, zu den matt schimmernden Orgelpfeifen – diese Musik hat hier noch niemand zuvor gehört.
Die Kirchgänger haben sich umgewandt – blicken nicht mehr in Richtung Altar und heiliges Kreuz. Sie heften ihren Blick oben auf die Empore. Hier lässt sich der Organist hemmungslos in seine Zweiton-Ekstase fallen – schlägt die beiden Töne in immer kürzeren Abständen an. Das ist der Zeitpunkt, an dem sich die merkwürdigen Ereignisse vor aller Augen zu entfalten … Da! – Die Dinge kommen ins Rollen! … -
Bis vor einer Minute hatte die große Kirchenglocke die Gemeinde zum Gottesdienst gerufen – jetzt erklingt vom Eingang her ein helles Gebimmel wie ein schaler Nachhall, ein verzögertes, fernes Echo.
Aber die Gemeinde blick geschlossen in die andere Richtung, nach vorn. Denn der Pfarrer - in seine schwarze Soutane eingehüllt - betritt stolpernd, schwankend in Gedanken versunken, das goldene, mit Halbedelsteinen besetzte Gesangbuch vor seinem Bauch tragend in die Andachtshalle. Er steht - leicht in den Hüften schaukelnd - neben dem Altar.
Er hebt den Kopf, blickt die Gemeinde an, öffnet den Mund … zu hören bekommen die Anwesenden statt einer Fürbitte oder einer Segnung das schrille Gebimmel aus Richtung des Eingangs.
Jäh drehen sich alle Köpfe, als eine schwarzweiß-gefleckte Friesen-Kuh – offenbar voller Panik – durch das offene Kirchentor hetzt und, ohne weitere Umwege zu machen, in Richtung Allerheiligstes, also auf den Altar zugaloppiert.
Der Schwarzgekleidete lässt verstört das Gesangbuch zu Boden fallen, hebt die Arme, um das Rind zu beschwören – vergebens …
Das Tier drängt ihn an die Kirchenwand, scheint ihn dort mit seinen Hörnern an die Wand nageln zu wollen.
Der fromme Mann übergibt sich angesichts dieser Attacke der Ohnmacht, gleitet an der Wand zu Boden.
Ein halbgeleerter Enzian-Flachmann gleitet aus der weitgeschnittenen Soutane, kullert klirrend die Stufen des Altars hinab, um an dessen Fuß lautstark zu zerschellen.
Dieses Geräusch treibt die Kuh zu weiterer Aktivität:
Sie läuft auf die Tür neben dem Altar zu, welche der Pfarrer nicht zugezogen hat. Mit einem Stoß der Hörner hat sich das Tier den Weg aus dem Andachtsraum hinein in die Diensträume der Geistlichkeit gebahnt. Nach wenigen Sekunden ist den verstörten Blicken der Gemeinde entzogen.
Voller Entsetzen starrt die Gemeinde auf die zuklappende Tür. Mancher Kirchgänger hält die Beobachtungen der letzten Sekunden für einen Traum, eine Nachwirkung des samstäglichen Besuchs beim Oberwirt des Ortes.
Doch Raum für solche Illusionen bleibt an diesem Morgen in der Kirche niemandem. Es kommt auch niemand dazu, sich um das hilfebedürftige Gemeinde-Oberhaupt zu kümmern, das zusammengesackt hinter dem Altar liegt … Schon hallen feucht-quietschende Schritte immens großer Gummistiefel vom großen Kirchentor her durch das Kirchengewölbe.
Ein mit lederner Kniebundhose und grauer Filz-Trachtenjacke bekleideter, rotwangiger Mann mit wildem, vom Kopf abstehenden dunklen Haarschopf stolpert in den Andachtsraum – eine doppelläufige Schrotflinte beidhändig im Anschlag … als wollte er Jagd auf die vor Sekunden vorbeigestürmte schwarz-weiße Kuh machen.
In voller, hastiger Bewegung tritt Bewaffnete auf den halbgefüllten Klingelbeutel – Fred kann sich nicht erklären, wie der jetzt da auf den Boden kam.
Der Rotwangige stolpert, stürzt zu Boden – Groschen und ein vereinzelter, abgerissener Knopf rollen direkt vor Freds Füße.
Bevor sich Fred bücken kann, knallt der Kolben der massiven Flinte mit der Wucht ihres hohen Gewichts ebenfalls zu Boden.
Beide Abzugshähne entspannen sich, wodurch sich die in der Waffe befindlichen Schrotladungen in Richtung Decke entladen – besser gesagt in Richtung Orgelgalerie. Hier sitzt seelenruhig der Organist, der von den Vorgängen unten nichts mitbekommt, weiter mit Inbrunst die beschriebenen beiden Töne spielt ...
Peng (Doppelpeng!).
Die ohrenbetäubende Detonation der Doppel-Schrotladung ist fürs Erste das letzte deutlich vernehmbare Geräusch in der Dorfkirche, in der sich eine glitzernde Wolke aus abrieselndem Deckenputz und Staub ausbreitet.
Das Orgelspiel ist beendet - endlich! - die Gemeinde schöpft vorsichtig Atem … leichtes, ahnungsvolles Hüsteln, tiefes Röcheln beginnt.
Da ertönt ein schrilles, lautes Lachen direkt an Freds Ohr und …
Fred erwacht.
Fred ist von seinem eigenen hysterischen Lachanfall geweckt worden.
Neben seinem Bett steht seine Mutter, mustert ihn neugierig wie amüsiert:
„Na – Du scheinst tolle Träume zu haben. Erst schreist Du ‚Hilfe’ und fängst Du an, zu lachen. Was ist los?“
Tag der Veröffentlichung: 02.03.2012
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