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Prolog



„Das Verbrechen tritt zutage und eine verdächtige Frau beobachtet heimlich die Szene…“



Sonntag – der Morgen nach der Walpurgisnacht



7:00 Uhr



Sonnenstrahlen dringen durch die löchrige frühmorgendliche Bewölkung. Blauer Himmel schickt sich an, am ersten Tag des Monats Mai die Vorherrschaft zu gewinnen. Das Frühlingslicht bricht sich bunt-schillernd im Wasserschwaden über der Kalten Bode.

Franz Metzler, siebzigjähriger Rentner aus dem nahegelegenen kleinen Ort Elend im Oberharz, führt sein Morgenritual aus: Er entkleidet sich auf einer zwei Meter über der Wasseroberfläche aufragenden Klippe, faltet seine Kleidung auf einen Felsvorsprung und reckt seine Arme in die Höhe.

Das schnell fließende Flüsschen hat es Metzler angetan: Die Kalte Bode in ihrem über 600 Meter tiefen Tal bildet an dieser Stelle die imposante Trennungslinie zwischen den beiden höchsten Bergen Norddeutschlands – dem Brocken im Norden und dem Wurmberg im Süden. Ihre Gipfel sind hier keinen Kilometer voneinander entfernt.

Franz Metzler steigt die Felsstufen hinab und lässt sich in das schäumende Wasser gleiten. Der Fluss reißt ihn sofort meterweit mit. Routiniert dreht sich der alte Herr im Wasser, bis er flach auf dem Rücken liegend mit den Füßen voran von der Strömung getragen wird. Franz hat die Augen geschlossen und genießt für einen Moment seine Schwerelosigkeit.

Da streift ihn ein Gegenstand an der Seite. Er wird abrupt gegen einen Felsvorsprung gedrückt. Überrascht reißt der alte Mann die Augen auf, versucht sich zu orientieren und mit den Armen paddelnd wieder in ein Gleichgewicht zu kommen. Das gelingt nicht. Er behält trotz großer Kraftanstrengung seinen Kopf nur noch kurz über Wasser. Sein Schrei wandelt sich in ein dumpfes Gurgeln.

Fünf Minuten benötigen die beiden Wanderer, die Metzler beobachtet hatten, um den entkräfteten alten Herrn aus dem Wasser zu ziehen. Dazu müssen sie ihn von den beiden angeschwemmten männlichen Leichen lösen. Ihre starren Leiber drückten Metzler unter die Wasseroberfläche und verhakten sich dabei in den Felsen.

Für alle drei – für Franz Metzler und die Wanderer – war dies die erste hautnahe Begegnung mit Wasserleichen. Sie kauern in sicherem Abstand am Ufer und starren gemeinsam, für Minuten schwer atmend, in das vorbeifließende Wasser.

Keiner der drei Männer entdeckt die rothaarige Frau, die das Auftauchen der beiden Leichen hinter einem Baum stehend beobachtet hatte und sich jetzt leise durch den Wald zurückzieht. Sie nähert sich der Straße, an der sie ihren schwarzen Mercedes abgestellt hat.

Kapitel 1: Rattenfalle




„Die Probleme unseres Helden beginnen …“



16:00 Uhr



Vor einigen Minuten war Chris Schomburg, 36 Jahre, noch Geschäftsführer einer PR-Agentur. Aber jetzt sind seine ‚Siebensachen‘ in einem Umzugskarton verpackt. Er hat die Papiere und die Schlüssel seines Firmenwagens abgeben müssen, ebenso die Agenturschlüssel, das Agenturhandy. Er konnte nur seine persönlichen Dinge aus dem Schreibtisch zusammenraffen und steht nun derart ‚erleichtert‘ – aber bepackt – im Freien, während ihm die frische Luft vom Park her durch die Haare und um die Nase streicht. Es ist Donnerstag, 16:00 Uhr – der Augenblick, in dem die Ereignisse ins Rollen kommen, von denen er jetzt noch nichts ahnt. Chris seufzt tief und setzt sich mechanisch in Bewegung. Jetzt erst einmal zur Besinnung kommen: Wie funktioniert eigentlich der Heimweg ohne Auto? Er grübelt weiter und geht automatisch den Ring in Richtung Hauptbahnhof hoch.

Hundert Meter vor ihm an der Haltestelle stoppt eine Straßenbahn. Kurz entschlossen legt er einen Sprint ein, steigt an der hinteren Tür ein und stellt seinen Karton auf dem Boden ab. Ihm ist ein wenig warm geworden. Ein Anflug von Schweiß hat sich in seinem Nacken unter seinem kragenlangen Haar gebildet. Er wischt mit der rechten Hand über die feuchte Stelle und blickt sich im Wagen um, während er sich möglichst entspannt mit der Schulter an die Haltestange der hinteren Sitzreihe lehnt.

Aus dem vorderen Wagenbereich sieht ihm eine junge Frau direkt ins Gesicht. Chris errötet leicht und fühlt sich unwohl. Doch die knapp Zwanzigjährige mit dem – allzu offenbar – selbst blondierten Haar scheint sich überhaupt nicht für ihn zu interessieren und durch ihn hindurchzusehen. Sie ist beschäftigt: Ihr Kiefer bearbeitet intensiv ein für den Betrachter nachfühlbar äußerst zähes Kaugummi. Ihr Handy klingelt, und im Nu ist sie mit dem silbernen, winzigen Ding in ein lautstarkes Gespräch verwickelt.

Chris verliert sich in seine Gedanken. Er entspannt und fühlt sich mit einem Mal irgendwie erleichtert und atmet tief durch. Ja, er ist optimistisch – zwar weiß er noch nicht, was er nun anfangen wird, doch er ist sich sicher: Alles wird gut werden. Es kann nur besser werden! Auf den Plakatwänden, an denen die Bahn nun vorbeifährt, wird die Werbetrommel für den anstehenden ‚Tanz in den Mai‘ gerührt: Eine barbusige ‚Sexy Hexy‘ sitzt rittlings auf ihrem devoten ‚Zauberer‘, der nach seiner unnatürlichen Hautfarbe zu urteilen bei seinen häufigen Besuchen im Fitnessstudio gewohnheitsmäßig auf der Sonnenbank einschläft.

Die Bahn bremst abrupt. Chris stößt kräftig mit der Stirn gegen die Haltestange. Der Bahnhof! – Er greift sich seinen Karton und steht kurze Zeit später vor dem Fahrkartenautomaten. Er löst eine einfache Fahrt und kämpft sich mit seinem sperrigen Gut vor der Brust durch die Menschenmassen, die den Kölner Hauptbahnhof von frühmorgens bis spätabends vom Hinterausgang bis zum Vorderausgang und umgekehrt durchspülen. Es gelingt ihm, die Treppe zu seinem Bahnsteig zu erklimmen, ohne von diesem Strom mitgezogen zu werden. Oben angekommen braucht er nicht lange zu warten. Seine S-Bahn kommt kurze Zeit später mit kreischenden Bremsen am entfernten Ende des Bahngleises zum Stehen. Chris ergattert einen Sitzplatz und kann seinen Karton auf dem Nebenplatz abstellen.

Nach 25 Minuten steigt er an seinem Heimatbahnhof aus. Chris wohnt mit seiner Frau Kerstin ungefähr fünf Kilometer entfernt von hier. Als er die Treppen der Bahnunterführung hochsteigt, bewegt er sich deshalb auf direktem Weg zum Taxistand.

Tatsächlich – da steht ein alter cremefarbener Mercedes. Chris geht auf die Fahrerseite zu, wo ihm eine etwa fünfzigjährige Taxi-Chauffeurin mit leuchtend rotem Haar, knallroten langen Fingernägeln entgegenblickt. Sie nimmt routiniert einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette, lässt das Seitenfenster herab und mustert Chris von oben bis unten. Schließlich bläst sie eine Rauchfahne in seine Richtung: „Ziehen Sie um, junger Mann?“ Sie gibt sich wenig Mühe, zu lächeln. Chris‘ fragenden Blick beantwortet sie mit: „Der Kofferraum ist offen!“ Er geht zum Heck des Taxis. Neben dem linken Rücklicht ziert eine monumentale Verbeulung mit Lackabsplitterungen die Taxirückfront. Chris verstaut seinen Karton im leeren Kofferraum. Er nimmt auf der rechten Seite, auf dem Rücksitz Platz: „Zum Martinsring 20, bitte!“ Die Rothaarige startet die Fahrt und lässt ihre Zigarette stumm im Mundwinkel auf und ab wippen.

Eigentlich unterhält sich Chris gerne mit Taxifahrern. Ja, es macht ihm Spaß, sich vor einem Termin, wenn er sich also zu einem Kundenmeeting fahren lässt, ein wenig warm zu reden und zu ergründen, mit welchem Thema er mit seinem Chauffeur wohl ins Gespräch kommen kann. Doch zu so einem Gespräch ist er heute nicht aufgelegt und starrt stumm auf die mit rotem Plüsch bezogenen Polster der beiden Vordersitze. Vom Rückspiegel baumelt eine kleine rote Plastikfigur, die eine auf einem Besen reitende Hexe darstellt. Durch den Spiegel blickt seine Fahrerin Chris belustigt an: „Das ist nicht ihr Geschmack, was?“ Chris brummt etwas Unverständliches vor sich hin und ist froh, denn das Fahrziel ist erreicht.

Der Wagen kommt mit leichtem Rumpeln zum Stehen. Wie bestellt steht die Nachbarin vom Haus gegenüber am Fenster und beobachtet Chris‘ außerplanmäßige Ankunft mit höchstem Interesse.

Chris zahlt von seinem Sitz aus und gibt 20 Cent Trinkgeld – mehr hat sein Portemonnaie heute nicht zu bieten. Er steigt aus und hat noch den Türgriff in der Hand, da fährt das Taxi schon wieder an. Chris schaut dem sich schnell entfernenden Wagen mit offenem Mund hinterher. Er versucht, sich das Nummernschild einzuprägen. Doch seinen Karton ist er für heute wohl erst einmal los.

(…)

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 14.12.2011

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