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Franziska muss gerettet werden

Wie ich in das Viertel gekommen war, tut nichts zur Sache.
Ich war jahrelang nicht mehr hier gewesen. Doch es hatte sich nichts verändert. Mein Blick fiel auf heruntergekommene Wohnblöcke und mit Graffitis verzierte Mauern. Ein unangenehmer Geruch lag in der Luft, als würde irgendwo eine Leiche vor sich hin modern.

"Glasscherbenviertel", raunte man sich in anderen Teilen der Stadt zu, wann immer der Name der Gegend fiel. Die Polizei fuhr jeden Tag ihre Einsätze, mehr Drogentote als hier gab als nirgendwo sonst in der Stadt. Niemals hätte ich gedacht, dass ich Franziska ausgerechnet hier begegnen würde.

Hier, wo der Bodensatz der Stadtgesellschaft lebte, bei den Geringverdienern, die tagsüber in den Bäckereien bedienten oder den Müll für andere entsorgten. Sie gehörte hier genauso wenig hin wie ich selbst. Unsere Welt war eine andere, obwohl sie nur wenige Kilometer weiter südlich lag. In unserer Welt standen keine Mülltüten vor den Hauseingängen oder lungerten Menschen ohne Gesichter an dunklen Straßenecken herum.

Als ich auf der Suche nach einer Bushaltestelle durch die Gassen lief, fühlte ich mich nicht nur wie ein Eindringling. Ich war auch einer.
Ich sah kleine Eckkneipen, ein Fahrradgeschäft, Gemüsemärkte. Kinder riefen sich in ausländisch gefärbtem Dialekt Wörter zu, deren Sinn ich nicht verstand. Menschen lachten. Doch es war ein trostloses Lachen.

Nach einigen Minuten fand ich eine Haltestelle und stellte fest, dass der nächste Bus in Richtung Innenstadt erst in einer Viertelstunde fuhr. Ich ging in einen Supermarkt auf der anderen Straßenseite. In den Gängen zwischen den Regalen begegnete ich verschleierten Frauen, bärtigen, dunkelhäutigen Männern und Kindern, die mich misstrauisch musterten.

Als ich mit einer Wasserflasche an die Kasse trat, blickte ich die Kassiererin an und sie mich.
"Franziska?", fragte ich. "Bist du das? Bist du es wirklich?" Die Frau zögerte einige Sekunden, dann schüttelte sie den Kopf und formte mit ihren Lippen ein kaum hörbares "Nein".
"Wirklich? Ich meine, das kann doch nicht… Franziska! Was machst du denn hier an der Kasse?" "Ich glaube, Sie verwechseln mich mit jemandem."

Eine Entschuldigung murmelnd, stolperte ich nach draußen. Während mich der Bus zurück in die Innenstadt brachte, versuchte ich verzweifelt, das fleckige Tuch meiner Erinnerung sauber zu waschen. Es gelang mir nicht recht. Doch der Anblick der Kassiererin hatte etwas in Gang gesetzt. Franziska. Die Frau, mit der ich einst mein Leben geteilt hatte. Wie lange hatte ich nicht mehr an sie gedacht?
Aus dem trüben Teich der Erinnerung trieben allmählich Bruchstücke an die Oberfläche, die ich jedoch nur mit Mühe festhalten konnte. Alles war so lange her. Unsere Küsse, unser Kichern, das gedankenlose Sprechen über irgendeine Zukunft.

In meiner Wohnung durchsuchte ich die Kommode im Flur, bis ich die Schachtel gefunden hatte, die mein früheres Leben verwahrte.
Ausgebleichte Polaroid-Aufnahmen zeigten einen Menschen, der mir unzweifelhaft ähnlich sah, der aber doch unmöglich ich sein konnte. Ein lose beschriebenes Blatt, auf dem noch so viele Leerstellen prangten. Neben mir Franziska. Zwei Erstsemester, frisch verliebt, naiv, im Urlaub auf Rhodos.

Weitere Fotos von damals zeigten uns im Studentenwohnheim. Lachend und feiernd, immer lachend und feiernd. Dieser Lebenshunger, den wir damals ausgestrahlt hatten, wo und wann war er uns abhanden gekommen?
Noch ein Bild: Sie mit einer Flasche Wein auf irgendeiner Stockwerksfeier, neben Freunden von damals, deren Namen längst in der trüben Suppe untergegangen waren.
Später fand ich auch das letzte vor unserer Trennung aufgenommene Foto. Wir lehnten an ihrem VW Golf, vermutlich in der Einfahrt vor dem Haus ihrer Eltern. Unsere Gesichter verrieten nicht, was bald darauf geschah.

Franziska war stets die Fleißigere von uns beiden gewesen. Im Studium immer eine Nasenlänge voraus, im gesamten Jahrgang zu den Besten gehörend. Man beneidete mich um sie. Man beneidete uns beide um das, was wir aneinander hatten. Alle dachten, wir würden als erste vor den Traualtar treten um ein gebildetes Juristen-Ehepaar zu werden mit fabelhaften Kindern und einem Vorstadthäuschen.
Und dann war Franziska plötzlich aus meinem Leben gefallen, von einem Tag auf den anderen. Zwölf Jahre war das nun her. Die Umstände hatte ich nur noch schemenhaft vor mir. Ich konnte mich an einen Streit erinnern, vermutlich irgendetwas Lächerliches, das man leicht hätte aus der Welt schaffen können.

Ich starrte aus dem Fenster in die Dunkelheit. War es möglich, dass die glückliche, junge Frau auf den Fotos und die an der Supermarktkasse ein und dieselbe Person waren?
Ich musste es herausfinden.

Zwei Tage später. Ich beobachtete sie aus sicherer Entfernung, wie sie Schinkenwurst und Tiefkühlpizza abkassierte und stoisch das Geld in ihre Kasse sortierte. Jede Bewegung, jede Gesichtsregung studierte ich und glich sie mit der Frau auf den Polaroid-Fotos ab. Es gab keinen Zweifel. Die Kassiererin war Franziska, zwölf Jahre älter zwar und ein wenig abgezehrt, aber immer noch schön.

Die Frau, mit der ich einst glänzende Zukunftspläne geschmiedet hatte, die Vorzeige-Studentin, die ein Stipendium für ein Auslandsjahr in Yale bekommen hatte, war als Kassiererin in einem schäbigen Supermarkt gelandet.
Wie hatte es nur so weit kommen können?

Wie betäubt beobachtete ich sie weiter, während sich die Uhrzeiger quälend langsam der Ladenschlusszeit näherten. Als Franziska endlich aus dem Supermarkt trat, war die Sonne bereits hinter den grauen Betonburgen des Viertels verschwunden. Ich verließ mein Versteck und folgte ihr in sicherem Abstand.

Als ihre schlanke Gestalt vor mir durch die Straßen huschte, vorbei an hämisch pfeifenden Halbstarken und schummrigen Kneipen, aus denen Balkanmusik schepperte, kam mir der Gedanke, dass sie möglicherweise ein Doppelleben führte. Vielleicht würde ich sie gleich in den Bus Richtung Innenstadt einsteigen sehen, wo in der geräumigen Altbauwohnung bereits ihr Ehemann mitsamt der Kinder auf sie wartete.
Wieso nicht? Dies hier konnte doch eine Art Zeitvertreib sein, ein Ausgleich zur aufreibenden Arbeit vor Gericht, ein Versuch, die Bodenhaftung nicht zu verlieren.

Franziska bog nach rechts ab und ging auf einen der Wohnblocks zu. Ich blieb stehen und sah ihr nach, wie sie durch die Tür trat, kurz einen Blick in ihr Postfach warf und dann vom Dunkel der Eingangshalle verschluckt wurde. Hier hauste sie also, im Dreck, unter armseligen Verhältnissen.

In dieser Nacht rief ich einen alten Studienfreund an. Er schien erstaunt, von mir zu hören. Nicht zum ersten Mal wurde mir schmerzhaft bewusst, wie wenig Zeit ich in den vergangenen Jahren zur Pflege alter Freundschaften gehabt hatte.
"Das klingt jetzt vielleicht seltsam", setzte ich nach dem einleitenden Smalltalk an. "Aber hast du eigentlich jemals wieder etwas von Franziska gehört?" Mein Gegenüber ließ einige Sekunden verstreichen. Ich konnte ihn atmen hören.
"Dir ist doch wirklich nicht mehr zu helfen", sagte seine krächzende Stimme. Dann legte er auf.

Ich war wie vom Donner gerührt.
Irgendetwas musste mit Franziska geschehen sein, etwas, von dem man annahm, dass ich darüber Bescheid wusste. Ein schrecklicher Vorfall musste sie aus der Bahn geworfen haben. Wieso wusste ich nichts davon, oder konnte ich mich nur nicht daran erinnern?

Nach einer unruhigen Nacht wartete ich am nächsten Morgen vor dem Betonturm, in dem Franziska wohnte. Als sie schließlich heraustrat und sich auf den Weg zur Arbeit machte, stellte ich mich ihr in den Weg. Unter ihrem rechten Auge bemerkte ich etwas, das aussah wie eine Schwellung.
In dieser Sekunde begriff ich, wie tief mein Engel wirklich gefallen war. Nicht nur, dass sie in diesem Viertel leben musste - anstatt eines Anwalts hatte sie auch noch einen versoffenen Schläger geheiratet.

"Was wollen Sie von mir?", fragte sie, ohne mich anzusehen. Franziskas Stimme erkannte ich auch nach so vielen Jahren mühelos wieder. "Franziska", sagte ich. "Warum spielst du dieses Spiel? Warum können wir nicht einfach wie normale Menschen miteinander reden? Hör zu, mich interessiert nicht, was in den letzten Jahren alles schief gelaufen ist. Aber ich kann dir helfen, hier wieder herauszukommen. Im Leben lässt sich alles wieder einrenken…" "Ich heiße nicht Franziska. Kapieren Sie das denn nicht?", fuhr sie dazwischen und richtete nun doch ihre funkelnden Augen auf mich. "Lassen Sie mich endlich in Ruhe! Ich möchte nicht belästigt werden." "Aber erkennst du mich denn nicht?" "Ich habe Sie im Supermarkt zum ersten Mal gesehen. Und wenn Sie mir noch einmal auflauern, dann rufe ich die Polizei. Letzte Warnung! Verstanden?" Sie drehte sich nicht noch einmal nach mir um.

Sie log. Ihre Augen hatten verraten, was ihr Mund nicht sagen wollte, und niemand konnte in diesen Augen so gut lesen wie ich. Zwar hatte sie gesagt, was sie sagen musste. Doch in ihrem Blick lag ein Hilferuf – und ich war gewillt, ihn zu erhören.
Ob Franziska aus Scham oder aus Angst ihr einstiges Leben weggeworfen hatte, interessierte mich nicht. Doch der Gedanke, dies alles könne mein Verschulden sein, bedrückte mich zutiefst.

Zuhause kramte ich in der Schachtel nach meinem zerflederten Adressbuch aus Jugendtagen. Ich wählte die Nummer von Franziskas Eltern. Tatsächlich funktionierte sie noch.

"Hallo?" Es war die Stimme ihrer Mutter. "Heike, ich bin es. Es ist lange her, ich hoffe, du erinnerst dich noch an mich?" "Wer spricht da?" Ich nannte meinen Namen. Am anderen Ende der Leitung blieb es still. Keine erfreute Reaktion, kein "Schön, nach so langer Zeit wieder von dir zu hören", nichts. Dann ein leises, gequältes Stöhnen.
"Ruf' nie wieder hier an", presste Franziskas Mutter mit brüchiger Stimme heraus und legte auf.

Entkräftet ließ ich mich in den Sessel fallen und schlug die Hände vor das Gesicht. Was ging hier vor sich, was war mit Franziska passiert? Wir hatten uns seit zwölf Jahren nicht gesehen. Ich konnte nicht dafür verantwortlich gemacht werden, was mit ihr geschehen war.

Drogen, schoss es mir plötzlich durch den Kopf. Natürlich.
Sie war in die Abhängigkeit gerutscht, als ich nicht mehr da war, um ihr Halt zu geben. Deswegen lebte sie heute in dem dunklen Teil der Stadt, wo man das Zeug an jeder Ecke bekommen konnte. Deswegen hatte sie das Studium geschmissen, die Karriere in den Wind geschlagen und war an einer Supermarktkasse gelandet. Lebte im schmutzigen Wohnblock mit einem Mann zusammen, der sie zum Vergnügen windelweich klopfte wie ein Stück Fleisch.
Ob sie in den Nächten ihren Körper an die Junkies und Fixer verkaufte? Der Gedanke ließ sich nicht abschütteln. Er zersetzte mich langsam von innen heraus.

Franziska war tief gefallen, und ich hatte es nicht mitbekommen. Ich hatte sie im Stich gelassen, ich war Schuld an ihrem Absturz, nur ich alleine.

Ich nahm das Foto, auf dem wir an dem VW Golf lehnten, steckte es in einen Rahmen und hängte es an die kahle Wand meines Wohnzimmers. Zum ersten Mal störte mich die spartanische Inneneinrichtung. Die gesamte Wohnung kam mir abweisend und kalt vor.
Ich schwor mir, Franziska schon bald hierher zu bringen. Sie sollte das Foto an der Wand sehen.

Meinem Chef sprach ich auf den Anrufbeantworter, dass ich wegen einer schlimmen Erkältung leider die nächsten Tage nicht in die Kanzlei kommen konnte. Dann begann ich, an Franziskas Rettung zu arbeiten.

Es war nicht schwer, herauszufinden in welcher Wohnung Franziska und das versoffene Schwein lebten. Eine Waffe war ebenfalls schnell beschafft. Dunkle Straßenecken gab es in dem Viertel viele, und die dort herumlungernden Menschen ohne Gesichter stellten keine Fragen, solange man genügend Bargeld dabei hatte. Ich hatte nicht vor, die Waffe einzusetzen, aber sicher war sicher.

Franziskas Mann hatte eine zerfurchte Visage und sah mindestens zehn Jahre älter aus als sie. Die Nase war gerötet, ob vom Saufen oder Koksen konnte ich nicht beurteilen. Er sah aus wie ein Zuhälter .Als sie das Haus verließen, legte er seine Hand auf ihren Hintern.
Ich hatte alles genau geplant. Ihre Rettung musste unauffällig und leise ablaufen. Geduldig wartete ich nach Einbruch der Dunkelheit vor dem Wohnhaus, bis mir ein höflicher Bewohner beim Verlassen die Eingangstür aufhielt. Ich huschte hinein, verschaffte mir mit einem gebogenen Kleiderbügel Zutritt zur Wohnung, versteckte mich und wartete.

Dunkel war es in der Drogenhöhle. Die Möbel alt, abgewetzt, durchgesessen. Aber immerhin stank es nicht. Während ich wartete, gönnte ich mir noch einen kurzen Augenblick der Unsicherheit. Gab es nicht vielleicht doch einen anderen Weg, um Franziska zu retten? Hatte ich wirklich alles bedacht?

Der Schlüssel rasselte, die Wohnungstür öffnete sich. Mein Herz klopfte bis zum Hals. Nicht Franziska stand vor mir, sondern der Mann mit dem zerfurchten Gesicht, der Zuhälter.
"Was machen Sie in meiner Wohnung?" "Ich werde Franziska retten."

Warum ich abdrückte, tut nichts zur Sache. Vielleicht ein Reflex, vielleicht gab es auch einen anderen Grund. Der Kerl würde Franziska jedenfalls nie wieder Leid antun.
Als sie Minuten später in die Wohnung kam, fast gleichzeitig mit der Polizei, schrie sie trotzdem entsetzlich herum. Damit hatte ich gerechnet. Dankbarkeit konnte man nicht erwarten von einer Drogenabhängigen, die sich so sehr an den täglichen Schmerz gewöhnt hatte. Franziska würde Zeit brauchen, um wieder sie selbst zu werden.
Ich war gerade dabei, die Kommode nach alten Fotos von ihr und mir zu durchstöbern, als die Polizei mich zu Boden warf. Meine Schulter tat höllisch weh, doch ich sagte keinen Ton. Ich war glücklich. Mein Plan war aufgegangen.

Auf dem Weg zum Polizeiwagen drangen Fetzen einer Unterhaltung an mein Ohr.
"… war jahrelang in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht, erst vor wenigen Monaten wurde er wieder entlassen…" "Warum hatte er es auf den Mann abgesehen?" "Wenn Sie meine Theorie hören wollen… Fixierung auf seine ehemalige Lebensgefährtin, die er vor vielen Jahren erschlug... weil sie sich trennen wollte… die Frau des Ermordeten sieht ihr tatsächlich etwas ähnlich…" "Warum ich, warum…" "Bitte, Frau Chamakh, bitte gehen Sie dort hinüber, man kümmert sich um Sie…" "Johanssen, auf ein Wort. Galt der Mann nicht eigentlich als geheilt?" "Die Begutachtung war positiv… aber der Anblick von Frau Charmakh hat wohl einen Rückfall…" "Er hat offenbar sogar bei seinem früheren Chef auf den Anrufbeantworter gesprochen, dass er nicht zur Arbeit kommen könne. Dabei arbeitet er dort schon seit Jahren nicht mehr… seit dem Vorfall meine ich…"

Ich grinste. Sie hatten keine Ahnung, doch ich gönnte ihnen ihre Unwissenheit. Sollten sie doch weiter Lügen erzählen. Franziska war jedenfalls in Sicherheit. Ich nahm mir vor, ihr das Foto mit dem VW Golf in meiner Wohnung zu zeigen, sobald ich wieder herauskam.

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Tag der Veröffentlichung: 22.01.2017

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