Als ich Thomas betrachte, wie er auf meinem Sofa saß und nervös an seinen Fingernägeln kaute, fiel mir auf, wie wenig ich eigentlich über ihn wusste. Na gut, wir waren zusammen zur Schule gegangen, und damals hatten wir wirklich viel zusammen gemacht. Es stimmte wohl, dass wir vor vielen Jahren Freunde gewesen waren. Trotzdem wusste ich über ihn als Person so gut wie nichts. Wenn ich Thomas seit dem Abitur getroffen hatte, und das kam nur alle paar Jahre vor, dann unterhielten wir uns wie gute Bekannte. Wir sprachen über Alltägliches und manchmal auch über Politik. Aber nie über Privates oder persönliche Angelegenheiten. Wenn mich jemand gefragt hätte, was für Interessen Thomas hatte, wie es ihm finanziell ging, ob er vergeben oder gar verheiratet war – ich hätte nur mit den Schultern zucken können.
Ebenso wenig hätte ich bis zu jenem Abend zu sagen vermocht, ob Thomas viel über mich wusste. Ich war davon ausgegangen, dass ich für ihn dasselbe war wie er für mich – eine verblassende Erinnerung an die längst vergangene Schulzeit.
Plötzlich war er vor meiner Tür gestanden. Ich hatte gar nicht gewusst, dass Thomas meine Adresse kannte. Keiner von uns hatte Veranlassung gehabt, den jeweils anderen zu besuchen. Dazu waren wir bereits seit Jahren zu entfremdet, lag die kurze gemeinsame Episode in unseren Lebensläufen zu lange zurück. Doch nun war Thomas hier in meinem Wohnzimmer. Und ich merkte schnell, dass er anders war als sonst.
Er wirkte abgehetzt, seine Haare standen in einem wirren Durcheinander vom Kopf ab und sein Blick war flackernd und hektisch. Mich irritierte sein gelber Anorak, der von himmelschreiender Hässlichkeit war, und außerdem die abgewetzte blaue Sporttasche, die er bei sich hatte. Diese Tasche ließ er keine Sekunde aus den Augen. Selbst als ich ihn endlich soweit hatte, dass er auf meinem Sofa Platz nehmen wollte, wanderten seine unruhigen Augen immer wieder hinüber zu der Tasche, deren Inhalt mir verborgen blieb. Ich wartete, ob Thomas mir einen Grund für sein unerwartetes Kommen nennen wollte. Doch er blieb so vage wie bei der Begrüßung an der Tür, als er "Ich war gerade in der Gegend. Kann ich kurz reinkommen?" gemurmelt hatte. "Ich würde gerne ein wenig mit dir plaudern."
Doch ich merkte schnell, dass er nicht wirklich zum Plaudern gekommen war. An diesem Abend war mit Thomas schlicht keine normale Unterhaltung möglich.
Immer wieder wechselte er ohne erkennbaren Grund das Thema, oft brach er seine Sätze abrupt ab und verfiel in ein Grübeln, das ich an ihm überhaupt nicht kannte. An dem Bier, das ich ihm eingeschenkt hatte, hatte er nur kurz genippt und es danach nicht mehr angerührt. Schon nach wenigen Minuten wusste ich nicht mehr, worüber ich mit ihm reden sollte. Seit langer Zeit waren wir uns nur noch alle paar Jahre bei Klassentreffen begegnet. Doch das letzte dieser Treffen war erst drei Wochen her. Ich versuchte, mich zu erinnern, ob Thomas’ Verhalten dort auch schon so seltsam gewesen war.
Doch letztlich hatte es sich um ein normales Klassentreffen gehandelt. Alles war so gezwungen gewesen wie immer. Wie das halt so war bei Erwachsenen, die untereinander kaum noch Kontakt hatten, sich aber trotzdem regelmäßig trafen, um eine immer weiter verblassende gemeinsame Vergangenheit zu glorifizieren. Man versuchte sich zu erinnern, wie der blonde Kerl da am anderen Tisch hieß und ob man mit ihm während der Schulzeit zu tun gehabt hatte. Man klopfte Sprüche wie: "Na, was macht die Kunst?" oder "Schlechten Leuten geht es immer gut". Das immer selbe Geschwätz. Man heuchelte Freude, den jeweils anderen wieder zu treffen, obwohl man sich eigentlich schon während der Schulzeit kaum hatte leiden können. Oder man flüchtete sich in die immer selben alten Anekdoten, die beharrlich alle paar Jahre aufgewärmt wurden, obwohl sie längst jede konkrete Bedeutung eingebüßt hatten.
Klassentreffen waren nun einmal kein Ort für tiefgründige oder private Gespräche. Man klammerte sich an Vertrautes, um nicht gezwungen zu werden, mit im Grunde fremden Personen über zu intime Dinge zu sprechen. Mit Thomas war es beim letzten Treffen also eigentlich so gewesen wie immer - zu gleichen Teilen herzlich und distanziert. Ein paar Mal hatten unsere Biergläser geklirrt, ansonsten hielten wir uns schön an der Oberfläche und lachten stets an den richtigen Stellen. Oder war mir nur nichts an seinem Verhalten aufgefallen? Schon mehrere Ex-Freundinnen und eine Ex-Frau hatten mir eine geradezu pathologische Unfähigkeit bescheinigt, Emotionen wahrzunehmen, einzuordnen oder selbst darüber zu sprechen.
Was ich allerdings durchaus wahrnahm, war, dass ein sichtlich verstört wirkender Thomas auf meiner Couch saß, den eine unsichtbare Last geradezu niederzudrücken schien. Die Situation kam mir immer grotesker vor. Da ich nicht mehr wusste, über was ich mit meinem Gast noch reden sollte, verfiel ich in ein Schweigen und wartete, ob er mir von selbst erzählen wollte, was ihn hergeführt hatte. Endlich durchbrach er die Stille und sah mich zum ersten Mal direkt an.
"Hör mal, kannst du mir einen Gefallen tun?", fragte er.
"Kommt drauf an, um was für einen Gefallen es sich handelt. Eine Bank würde ich für dich jetzt nicht unbedingt ausrauben", antwortete ich und überspielte meine zunehmende Nervosität mit einem gequälten Lächeln.
"Eine Bank?" Er sah mich durchdringend an. Der Witz schien bei ihm nur mühsam anzukommen. "Interessant. Aber … nein. Es ist kein ganz normaler Gefallen. Es wird dir seltsam vorkommen. Aber ich vertraue dir, alter Freund. Außerdem weißt du, dass du mir etwas schuldest", sagte Thomas und sah mir in die Augen.
"Ich schulde dir etwas? Warum denn das?"
"Wegen der Sache mit Raphaela."
"Oh." Mir schoss das Blut in den Kopf. "Die Sache meinst du also."
"Ja, die meine ich."
"Ich dachte … also … ich meine, das ist doch so lange her", murmelte ich. "Ich bin davon ausgegangen, dass die Angelegenheit für dich schon längst erledigt wäre."
"Ist sie aber nicht", sagte Thomas nüchtern und ohne einen Anflug von Zorn. "Für euch vielleicht. Für mich aber nicht. Ich steckte damals bis zum Hals in der Scheiße, weißt du?" Er machte eine kurze Pause.
"Aber ich bin wirklich nicht hier, um dich wegen der Sache mit Raphaela zu erpressen. Das ist wirklich das Letzte, was ich will. Ich bitte dich lediglich um einen Gefallen, den du mir meiner Meinung nach wegen dieser Sache schuldest. Also?"
Ich überlegte. Thomas hatte Recht. Ich hatte mich bei ihm niemals für die Geschichte mit Raphaela entschuldigt. Ich hatte es nicht für nötig gehalten, und wir hatten nie persönlich darüber gesprochen. Das Ganze war längst zu einer der zahlreichen Anekdoten geworden, die bei unseren Treffen von irgendwem aufgewärmt und zum Besten gegeben wurden. "Sagt mal, erinnert ihr euch noch an die Sache mit Raphaela", brüllte irgendjemand über den Tisch, und dann wurde die ganze Geschichte aufgetischt. Doch Thomas war immer der, der am lautesten darüber lachte. Ich hatte nie geahnt, wie sehr ihn das mit Raphaela noch immer beschäftigte.
"Verstehe", sagte ich leise. "Was also soll ich für dich tun?"
"Siehst du die Sporttasche da?", antwortete Thomas und deutete zur Wand. Mir fiel auf, dass die Tasche kein Markenetikett hatte. Sie musste sehr alt sein. Ohne meine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: "Darin befindet sich etwas, das sehr wichtig für mich ist. Ich muss aber für einige Tage weg. An einen Ort, an den ich die Tasche nicht mitnehmen kann. Ich kann dir das jetzt nicht genauer erklären, und ich weiß, wie verwirrend das alles klingt. Jedenfalls musst du auf diese Tasche aufpassen. Du darfst sie nicht aus den Augen lassen, OK? Ich weiß, dass dir jetzt viele Fragen auf der Zunge liegen. Aber vertrau’ mir einfach. Ich erkläre dir alles, sobald ich wieder da bin."
Die ganze Angelegenheit kam mir nun nicht mehr seltsam vor, sondern hochgradig gefährlich, doch ich ließ mir nichts anmerken. "Geht klar", murmelte ich, und Thomas’ Verhalten wandelte sich noch in derselben Sekunde komplett. Er wirkte plötzlich wie befreit und bedankte sich fast schon überschwänglich bei mir. Hatte er zuvor noch bleich und abwesend auf meinem Sofa mehr gelegen als gesessen, machte er nun Scherze, lachte und trank das Bier, das er zuvor kaum angerührt hatte, in wenigen Schlücken aus. Die Erleichterung war ihm derart deutlich anzusehen, dass ich immer neugieriger auf den Inhalt der ominösen Tasche wurde.
"Also", sagte er schließlich. "Ich muss jetzt los. Mach dir keine Sorgen, ich bin nicht lange fort. Pass' nur gut auf die Tasche auf. Und, noch etwas: Es wäre mir sehr Recht, wenn du nicht in die Tasche schaust, denn darin befinden sich wichtige und sehr persönliche Dinge von mir. Danke, dass du darauf aufpasst, während ich weg bin." Er stand auf und wandte sich zum Gehen, als ihm scheinbar noch etwas Wichtiges einfiel. Er fixierte mich noch einmal und fragte zögernd: "Verfolgst du eigentlich die Nachrichten?"
"Natürlich", antwortete ich. "Wieso?"
"Ach, nichts. Ich dachte … ist egal", sagte Thomas und verabschiedete sich. Dass er seinen gelben Anorak an meiner Garderobe zurückgelassen hatte, fiel mir erst auf, als er schon weg war.
Ich schaltete den Fernseher ein. Was sollte die Frage nach den Nachrichten? Was sollte diese ganze Geheimnistuerei, was hatte es mit der Tasche auf sich? Meine Nervosität wuchs, als ich die verschiedenen Nachrichtensender nach einer Schlagzeile absuchte, die ich mit Thomas in Zusammenhang bringen konnte.
Zunächst blieb ich an dem unscharfen Bild eines Mannes hängen, der einen gelben Anorak trug und mit einer Sporttasche aus einem Bankgebäude lief. Offenbar ein Bild von einer Überwachungskamera. Erst als sich dieses Bild in meine Netzhaut eingebrannt hatte, nahm ich die Stimme des Nachrichtensprechers wahr, der von einem Banküberfall in der Münchener Innenstadt berichtete.
"Der Täter konnte mit 32.000 Euro Bargeld entkommen und befindet sich momentan auf der Flucht. Die Polizei bittet um sachdienliche Hinweise. Der Täter trug bei der Tat einen gelben Anorak und versteckte das Geld in einer bläulichen Sporttasche, die nach Augenzeugenberichten abgenutzt aussah und keinen Markennamen trug."
Die Wanduhr in meiner Küche machte Tick-Tack. Seltsam, dachte ich, dass mir das Ticken nie zuvor aufgefallen war. So ein monotones Geräusch, geradezu nervtötend. Doch die Wanduhr war nun wirklich mein geringstes Problem. Wo doch ganz offensichtlich die Beute aus einem Bankraub hier in meiner Wohnung lag. 32.000 Euro in bar. Ich erhob mich aus dem Sessel, meine Beine waren wie Pudding. Mit unsicheren Schritten ging ich zu der Sporttasche hinüber und war kurz versucht, sie zu öffnen. Halt, schoss es mir durch den Kopf, das darfst du nicht. Vielleicht war alles ein Missverständnis. Es gab da draußen viele Menschen mit gelben Anoraks und blauen Sporttaschen.
Außerdem sagte Thomas, dass der Inhalt der Tasche für ihn sehr wichtig war. Ich durfte sein Vertrauen nicht missbrauchen.
Ich betastete die Tasche von außen. Es knisterte und raschelte. Geldscheine! Es konnte nicht anders sein. "Verdammt!", entfuhr es mir. Hatte dieser Idiot tatsächlich eine Bank überfallen! Und ich hatte mich von ihm mit in den Abgrund ziehen lassen. Alles nur wegen einer lächerlichen Geschichte aus Kindertagen. Und weil ich meine Neugier nicht unter Kontrolle hatte, befanden sich jetzt auch meine Fingerabdrücke auf der Tasche. Ich war geliefert. Aus dieser Sache konnte ich mich kaum herausreden. Wenn mich jemand entdeckte, war ich nicht nur meinen Job in der Stadtverwaltung los. Dann war ich als Krimineller überführt. Thomas hatte mich überlistet.
Ich ließ mich in den Sessel zurückfallen und überlegte fieberhaft. Mir fiel nur eine Lösung ein. Ich musste die Beute und auch den verdammten Anorak loswerden, und zwar sofort. Aus meinem Fenster werfen konnte ich das Zeug nicht einfach. Direkt vor meinem Wohnblock verlief eine der verkehrsreichsten Straßen der Stadt. Man würde mich sehen. Nein, ich musste mir einen ruhigen Fleck am Isarufer suchen und die beiden Teile einfach im Fluss versenken. Es galt lediglich sicherzustellen, dass mich auf der Straße niemand erkannte.
Hektisch durchwühlte ich meinen Kleiderschrank und kramte ein schwarzes T-Shirt, einen schwarzen Pullover und meine dunkelste Jeans hervor. Außerdem setzte ich meine schwarze Mütze auf und warf mir meinen schwarzen Ledermantel über. Bevor ich derart getarnt in die Nacht hinausging, packte ich den Anorak und die Sporttasche in einen kleinen Reisekoffer. Meine Mission endete jedoch bereits auf der Schwelle meiner Wohnungstür.
Als ich die Tür öffnete, sah ich mich zwei Polizisten gegenüber, die mich mit hämischem Grinsen musterten.
"Guten Tag, der Herr", sagte der eine der beiden, ein Mann undefinierbaren Alters mit einem wild sprießenden Dreitagebart. "Darf man fragen, wohin die Reise geht?"
"Ich … wollte spazieren gehen", erwiderte ich. "Aber warum wollen Sie das überhaupt wissen? Darf man nicht mehr an die frische Luft gehen?"
"Doch, natürlich." Das kam von Polizist Nummer zwei, der im Gegensatz zu seinem Kollegen glatt rasiert war und geradezu bubenhaft wirkte. "Aber erstens gehen nur die wenigsten Leute nachts mit einer Sonnenbrille und mit einem Reisekoffer spazieren. Zweitens gibt es da etwas, über das wir gerne mit Ihnen reden würden." Sie drängten mich zurück in meine Wohnung und setzten mich mit sanfter Gewalt in den Sessel.
"Wissen Sie, wir haben da einen anonymen Hinweis bekommen. Sie haben doch heute sicherlich die Nachrichten gehört, nicht wahr?", fragte der Bärtige.
Ich nahm die Sonnenbrille ab und versuchte, möglichst ruhig zu wirken. "Leider nicht. Was ist denn passiert?"
"Eine Bank in der Innenstadt, Nähe Rosenheimer Straße, ist überfallen worden. Und der Täter, der einen auffälligen gelben Anorak trug und eine Sporttasche, wurde gesehen, wie er bei Ihnen klingelte und in Ihre Wohnung ging. Sie erlauben doch?" Der andere Polizist öffnete den kleinen Reisekoffer und holte Tasche und Anorak heraus. "Na, da schau her. Das ist ja eine erfreuliche Überraschung", höhnte der Bärtige.
"Ich kann das erklären", stammelte ich, obwohl ich keine Ahnung hatte, was es hier noch zu erklären gab. Die Faktenlage war eindeutig. Niemand hatte das Gesicht des wirklichen Bankräubers gesehen, und sowohl seine Kleidung als auch die Tasche mit der Beute waren hier bei mir. Ich entschied mich zur Flucht nach vorne.
"Ich bin hereingelegt worden", hob ich an. "Von einem Schulfreund. Einem früheren Freund, meine ich. Wir waren in der Schule eng befreundet, aber haben schon lange nicht mehr viel miteinander zu tun. Vorhin stand er mit Anorak und Tasche vor der Tür. Thomas Liebherr ist sein Name. Er wirkte sehr nervös und bat mich um einen Gefallen. Er musste verreisen und ließ die Tasche hier bei mir. Wenn ich gewusst hätte, was da drin ist, hätte ich natürlich abgelehnt. Aber wissen Sie, dieser Kerl will sich an mir rächen. Er will, dass ich für ein Delikt in den Knast wandere, das ich gar nicht begangen habe."
Der bartlose Polizist räusperte sich. "Warum glauben Sie, dass sich dieser Herr Liebherr an Ihnen rächen will?" Es war offensichtlich, dass meine Geschichte unglaubwürdig klang.
"Das will ich Ihnen erzählen. Es geht um einen dummen Jugendstreich. In der zehnten Klasse. Zugegeben, rückblickend war das wirklich eine sehr blöde Aktion, und ich kann verstehen, dass sie Thomas immer noch belastet. In unserer Klasse war damals ein Mädchen namens Raphaela, die Tochter eines angesehenen Kunsthändlers, ein Mädchen aus bestem Hause. Sie war nicht besonders hübsch, sie hatte Sommersprossen und eine dicke Nase. Doch in ihrer etwas abgehobenen Art wirkte sie durchaus anziehend auf uns pubertierende Jungs. Jeder wusste damals, dass Thomas in sie verknallt war. Er war nur zu schüchtern, um sie überhaupt anzusehen, geschweige denn normal mit ihr zu reden. Sie müssen wissen, dass wir uns damals immer auch ein wenig über Thomas lustig machten, denn er gehörte mit seiner stillen, verschlossenen Art nicht unbedingt zu den coolen Jungs.
Eines Tages mussten ich und zwei Mitschüler länger in der Schule bleiben, ich glaube, es war wegen eines Wahlfachs. Jedenfalls kamen wir an unserem verlassenen Klassenzimmer vorbei, und da bemerkten wir, dass Raphaela die edle Halskette, die sie immer trug, auf ihrem Tisch hatte liegen lassen. Es war eine teure Kette mit einem dicken Edelstein darin. Doch für Schönheit hatten wir damals überhaupt keinen Blick. Es ging uns auch nicht um den Geldwert der Kette. Wir nahmen das Ding aus einem anderen Grund mit. Am nächsten Tag steckten wir das Stück in Thomas’ Schulranzen, während er auf dem Klo war. Raphaela war natürlich außer sich, als sie bemerkte, dass ihre Kette nicht mehr da war. Doch sie bekam während des Unterrichts einen Zettel gereicht, auf dem ein anonymer Informant ihr verriet, dass Thomas das Schmuckstück eingesteckt hatte. Sie ging noch in der großen Pause zum Direktor, der anschließend vor versammelter Klasse Thomas nach vorne zitierte und in seinem Ranzen die Kette entdeckte. Thomas stritt natürlich alles ab, doch kurzzeitig sah es tatsächlich übel für ihn aus. Er war damals schon strafmündig, er hätte sogar in das Jugendgefängnis kommen können. Doch weil es keine endgültigen Beweise für seine Schuld gab, Thomas bis dahin nie auffällig geworden war und Raphaelas Eltern die Sache auf sich beruhen lassen wollten, kam er mit einem Verweis davon."
"Interessant", sagte der bärtige Polizist. "Sie haben Recht, das war wirklich eine sehr blöde Aktion. Aber ich nehme an, Sie haben Ihren Freund dann später über diesen lustigen Scherz aufgeklärt?"
"Natürlich. Sobald sich der Rauch verzogen hatte, erzählten wir es ihm. Na gut, er war mächtig sauer, und das auch völlig zu Recht. Aber es dauerte nicht allzu lange, bis wir alles vergessen hatten. Wissen Sie, immer wenn ich ihn zuletzt sah, lachte Thomas über die ganze Sache. Ich war mir sicher, dass das alles längst vergeben und vergessen war. Bis heute, als er urplötzlich vor meiner Tür stand und versuchte, mich damit zu erpressen."
Die Polizisten sahen einander an. Meine Geschichte kam ihnen scheinbar nicht mehr so abwegig vor. Der Bärtige musterte mich mit strengem Blick.
"Sie haben es ihm also erzählt. Fein. Aber haben Sie sich jemals bei Ihrem Schulfreund für das entschuldigt, was Sie ihm angetan haben? Ich meine, Sie hätten ihm um ein Haar seine Zukunft verbaut."
Ich überlegte kurz. "Nein", gab ich zu. "Ich habe mich nie bei Thomas dafür entschuldigt."
In meinem Innersten setzte sich eine Kette von Gedanken in Gang, die noch nie den Weg in mein Bewusstsein gefunden hatten. Warum eigentlich hatte ich mich nicht entschuldigt? Plötzlich sah ich viele Dinge klar, die ich zuvor bestenfalls verschwommen wahrgenommen hatte. Die Augen auf den Boden gerichtet, sprach ich weiter.
"Ich war damals jung und so dumm. Wir alle waren so, meine Clique und ich. Wir haben eigentlich über gar nichts nachgedacht, es ging uns nur um den Spaß. Besonders den Spaß auf Kosten anderer. Mich zu entschuldigen, habe ich damals einfach nicht auf die Reihe gekriegt. Dabei hätte eine kleine Geste genügt, um die Sache aus der Welt zu schaffen. Ein Händedruck und wenige aufrichtige Worte, das wäre vielleicht schon genug gewesen. Denn ich mochte Thomas ja gerne. Aber dafür war ich zu feige", sagte ich. Nie zuvor hatte ich so ehrlich über mich selbst gesprochen. Ich spürte, wie ein morsch gewordener Damm in meinem Innersten brach.
"Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr schäme ich mich. Ich schäme mich, und es tut mir unglaublich leid. Für uns war es nur ein dummer Jungenstreich, aber Thomas hätten wir damit fast hinter Gitter gebracht. Schlimm genug, dass ich das damals lustig fand. Noch schlimmer ist, dass ich nie den Mut hatte, meinen alten Schulfreund um Verzeihung zu bitten. Ich habe in meinem Leben überhaupt noch nie jemanden um Verzeihung gebeten."
Die Tränen schossen mir in die Augen. Nicht einmal bei der Beerdigung meiner Mutter hatte ich geweint. Doch nun war es zu spät.
"Verdammt, Thomas war damals in das Mädchen total verknallt. Einmal zeigte er mir sogar einen Liebesbrief, den er ihr geschrieben hatte, den zu überreichen er sich nie gewagt hatte. Wissen Sie, der Brief war eigentlich sehr schön. Offenherzig und ehrlich! Thomas muss Raphaela wirklich geliebt haben. Ich Idiot! Er hat mir vertraut! Und ich? Habe ihm alles verbaut! Nach der ganzen Sache hat ihn Raphaela gehasst. Sie hat ihm auf dem Schulgang eine runtergehauen, und einmal hat sie ihn im Pausenhof angespuckt. Wir haben ihn vor der ganzen Schule bloßgestellt! Wir haben ihm auch noch die letzte Chance auf das Mädchen genommen und tief in das Schlamassel geritten. Kein Wunder, dass er mich hasst! Ich Idiot!"
Wie Sturzbäche rannten die Tränen meine Wangen hinab. "Er war mein Freund, und ich habe ihn behandelt wie Dreck. Es tut mir leid, so leid! Vielleicht hatte er Recht, mich in seinen Bankraub hineinzuziehen. Vielleicht hat jemand wie ich das Gefängnis wirklich verdient." Schluchzend vergrub ich den Kopf in meinen Händen. Minutenlang presste ich alles aus mir heraus. Das war es nun also. Die gerechte Strafe, mit vielen Jahren Verspätung. Im Geiste verabschiedete ich mich vorerst von meiner Wohnung, von den Spaziergängen durch die Innenstadt, von den Kneipenbesuchen mit den Kollegen aus dem Büro. Während ich weinte und mich elend fühlte, sagten die Polizisten kein Wort.
Als ich schließlich wieder aufblickte, sah ich als Erstes die Tasche, die nun nicht mehr auf dem Boden lag. Einer der beiden Polizisten hielt sie in der Hand. Stimmt, fiel mir in diesem Augenblick ein, bis jetzt hatte niemand den Inhalt überprüft. Ohne hineinzusehen, drehte der Polizist die Tasche um und ließ Zeitungsschnipsel zu Boden fallen. Die Polizisten lachten. "Geht doch", sagte Thomas, der am Türrahmen lehnte.
Im gedimmten Licht des Nobelrestaurants machte Peter Schneider einen noch selbstherrlicheren Eindruck als zuvor in den sterilen, weißen Wänden seiner Starnberger Villa. Dort, in seinem Hoheitsgebiet, wo auf nichtssagenden Möbeln nichtssagende Gegenstände aus den Lifestyle-Abteilungen der teuren Kaufhäuser standen, wo in Wandregalen großformatige Bücher über berühmte zeitgenössische Künstler residierten, die ganz offensichtlich noch nie aufgeschlagen worden waren, dort war Schneiders Art schon kaum zu ertragen gewesen. Doch hier, außerhalb seines wuchtigen Neubauquaders, kannte er noch weniger Hemmungen. Dieser Mensch ist ein Ballon, dachte sie, während sie seinen Ausführungen lauschte und vom Lachscarpaccio kostete. Prall gefüllt, immer auf dem Weg nach oben. Ein Ballon, der nur eine Richtung kennt, bis er irgendwann platzt.
Während Schneider sich mit Trüffeln vollstopfte und unentwegt Anekdoten aus seinem erfolgreichen Leben zum Besten gab, während er die Liste von Schauspielern, Künstlern und hochrangigen Politikern herunterratterte, die er auf Veranstaltungen und Empfängen kennen gelernt hatte, musterte sie sein Gesicht. Widerwillig musste sie sich eingestehen, dass er äußerlich tatsächlich attraktiv war. Sicher, ein paar Falten hatten sich in dem sechsundvierzigjährigen Gesicht breitgemacht, und die Geheimratsecken hatten bereits viel vom kastanienbraunen Haar aus seiner Stirn vertrieben. Jung sah Schneider nicht mehr aus. Dennoch strahlte sein Mund mit den kräftigen Lippen eine raue Männlichkeit aus, und seine stechenden blauen Augen waren voller Kraft.
Es schmeichelte ihr durchaus, dass ein so ansehnlicher und noch dazu schwerreicher Mann Interesse an ihr hatte. Nicht nur wegen der darin enthaltenen Bestätigung
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Texte: Mark Read
Bildmaterialien: Umschlaggestaltung: BeTA ; Bildcopyright: "Echoppe de barbier (Sa Dec, Vietnam)" von Jean-Pierre Dalbéra, heruntergeladen unter Creative Commons CC BY SA 2.0
Tag der Veröffentlichung: 15.09.2015
ISBN: 978-3-7396-1373-4
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Gewidmet der einzigartigen K. mit unendlichem Dank für alles.