Als P. um die Ecke bog und am Horizont die mächtigen Felsen von Los Gigantes erblickte, fühlte er sich unbehaglich. Der Anblick der schroffen, dunklen Felsen, die sich hunderte Meter aus dem Meer erhoben, beeindruckte ihn einerseits. Andererseits befiel ihn eine Beklommenheit, die ihn freilich nicht überraschte. Schon Monate vorher hatte er sie gespürt, seit jenem Moment im Reisebüro, als er und seine Verlobte den Urlaub auf Teneriffa gebucht hatten.
P. ließ seinen Blick über die Felsen gleiten, ganz langsam, von oben nach unten. Es fiel ihm aus dieser Entfernung schwer, Details zu erfassen, einzelne Einbuchtungen oder erodierte Felsspalten. Unablässig warf sich zu seinen Füßen das Meer gegen die Mauer oder die kleinen vorgelagerten Felsen. Ein leichter Wind vom Atlantik her machte die drückende Hitze etwas erträglicher.
P. folgte der Uferpromenade in Richtung des Felsmassivs, das die Bucht von Los Gigantes überragte. Die Kulisse war einzigartig. Selbst die bunkerartigen Hotelanlagen des künstlich vom Fischerdorf zum Ferienzentrum aufgeblähten Städtchens Puerto de Santiago entwickelten durch sie einen gewissen Charme. Abgesehen vom Rauschen und Klatschen des Meeres war es still. Nur wenige Passanten waren um diese Zeit unterwegs, die meisten Feriengäste hatten sich bereits zum Abendessen zurückgezogen.
Langsam und bedächtig ging P. die Promenade entlang. Nach einer weiteren Kurve eröffnete sich ihm ein direkter Blick auf das Felsmassiv. Was er hier sah, war einzig und allein das Werk der Natur. Seit Jahrtausenden hatte sich an den Spielregeln nichts geändert. Unbeeindruckt von Zeitläuften, politischen Entwicklungen und menschlichen Einzelschicksalen schwappte das Wasser tagein, tagaus gegen die mächtigen Steinmassen.
Der Spazierweg setzte sich nur noch wenige Meter fort, ehe er hinter dem Hotel Barceló Santiago endete. P. wusste jedoch, dass er hier sein Ziel erreicht hatte. Alles an dieser Stelle kam ihm bekannt vor. Hier auf dieser Höhe musste es passiert sein. Er schloss die Augen und hörte auf das, was ihm das Meer mitzuteilen hatte. Diese Geräuschkulisse war immer in ihm gewesen, und sie würde auch nie wieder aus seinem Leben verschwinden.
Seiner Verlobten hatte P. lediglich gesagt, er vertrete sich ein wenig die Beine, während sie sich von den Reisestrapazen erholte. Sein Unbehagen rührte allerdings nicht von dieser Notlüge her. Es hatte einen anderen Grund. Er spürte das Gefühl nun wieder ganz deutlich in seinem Inneren, es saß in seiner Magengegend wie ein Tumor. Einige Minuten stand er so da, die Augen geschlossen, schwer und langsam atmend. Als er seine Augen wieder öffnete, war sie neben ihm.
Er hatte damit gerechnet, sie hier zu treffen. Trotzdem erschrak er ob ihres plötzlichen Auftauchens.
"Hallo." Ihre Stimme war ruhig und nüchtern, emotionslos.
"Hallo."
"Du bist also tatsächlich wieder nach Teneriffa gekommen?"
"Hätte ich das nicht tun dürfen?"
Sie zögerte kurz. "Jetzt bist du jedenfalls hier."
Sie schwiegen beide und blickten auf das Meer hinaus. Ein Fischerboot fuhr gemächlich in den kleinen Hafen des Ortes Los Gigantes ein. Im Westen schickte die Sonne sich an, über der Insel La Gomera unterzugehen.
"Ich habe damit gerechnet, dich an diesem Ort zu treffen", sagte P.
"Wo auch sonst, nicht wahr?" Ein leichter, kaum wahrnehmbarer Hauch von Wehmut lag in ihrer Stimme.
"Richtig, wo auch sonst. Es musste hier sein, bei den Felsen, an der Promenade. Nach all den Jahren." Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: "Es hat sich nichts verändert, seit ich das letzte Mal hier war."
"Es ist immer noch wunderschön."
"Ja."
Erneutes Schweigen. Sie beobachteten die sich leicht kräuselnde Oberfläche des Ozeans, lauschten dem Anschwellen und Abebben des Meeres. P. versuchte, ein Muster in dem Geräusch zu erkennen, einen Takt, doch es gelang ihm nicht.
"Erzähl mir, wie es dir ergangen ist", sagte sie.
P. lachte kurz auf. "Wie es mir ergangen ist, willst du also wissen. Tja, wie wird es mir wohl ergangen sein? Was glaubst du, sag es mir?"
Da sie schwieg, fuhr er fort und versuchte es gar nicht, die Verbitterung in seiner Stimme zu unterdrücken. "Dreckig ging es mir. Richtig dreckig. Etwa zwei Jahre lang war ich ein Wrack. Am Boden, kaum mehr lebensfähig, geschweige denn tauglich. Ich war ein Nichts, verstehst du? Deinetwegen!"
"Du warst in Therapie?"
"Ja."
"Gut. Offensichtlich hat es ja etwas bewirkt."
"Wenn du es sagst, dann wird es wohl so sein." Sein Mund verzog sich zu einem schiefen Lächeln. "Aber ich will dir nichts vormachen. Der Erfolg der Therapie wurde maßgeblich von Außen beeinflusst, wenn du verstehst, was ich meine."
"Du hast dich also neu verliebt."
"Richtig."
"Glückwunsch." Sie brachte dies in demselben emotionslosen, distanzierten Ton hervor, in dem sie die ganze Zeit sprach. Es war ein Ton, den P. nicht deuten konnte.
Wieder schweigen.
"Ist sie hübsch?", fragte sie.
"Oh ja, das ist sie. Braune Haare. Wunderschöne Augen. Jetzt wo ich dich wieder vor mir sehe, muss ich sogar sagen, dass sie dir ähnlich sieht." Schnell fügte er hinzu: "Doch ich bilde mir zumindest ein, dass das nicht der alleinige Grund dafür war, dass ich mich in sie verliebte."
"Hast du ihr die ganze Geschichte erzählt? Hast du ihr von uns erzählt?"
P. zögerte. "Nein. Sie weiß nur, dass ich in psychologischer Behandlung war, als wir uns kennen lernten. Und der Rest… nun, es hat sich einfach noch keine passende Gelegenheit ergeben. Aber sie wird alles erfahren. Sie hat mich zu einem besseren Menschen gemacht. Ich habe ihr bislang nie einen Grund gegeben, nach den Hintergründen meines … nennen wir es Traumas zu fragen. Ich habe ihr versprochen, sie noch vor der Hochzeit in alles einzuweihen."
"Ach", sagte sie und blickte P. erstmals aus ihren blassen Augen an. "Ihr seid also verlobt?"
"Ja."
"Du hast es also wieder getan. Nach allem, was du durchgemacht hast. Das ist mutig."
Sie wandten beide ihren Blick wieder auf das Meer, das sich gerade in diesem Augenblick kurz zurücknahm, als würde es gebannt den Erzählungen über ihm lauschen. Doch nach wenigen Sekunden brandeten wieder Wellen gegen die Mauer, spritzten Wasser über die Felsen, ehe sie wieder vom alles verschlingenden Ozean aufgenommen wurden.
"Weißt du", setzte P. schließlich an, "ich musste hierher kommen. Genau an diesen Ort. Es ist sozusagen ein Teil meiner Therapie. Obwohl diese längst beendet ist."
"Du musst endgültig mit allem abschließen."
Er nickte.
Obwohl er es nicht wollte, erinnerte sich P. daran, wie alles begonnen hatte. Der erste Blickkontakt an einem kalten Februarabend in einer Schwabinger Kneipe. Das unbeholfene Fragen nach Feuer für die Zigarette, obwohl er damals nicht rauchte und es nach wie vor nicht tat. Das nervöse erste Gespräch. Die Notlüge, die er erfand, um sie begleiten zu dürfen. Der Kuss in seiner Wohnung. Der Song von Norah Jones im Hintergrund. Gemeinsame Spaziergänge im Englischen Garten, Ausflüge zum Chiemsee. Der erste gemeinsame Urlaub auf Sizilien. Schließlich die Frage aller Fragen, die er ihr nachts auf der Mariannenbrücke stellte. Die Verlobungsreise nach Teneriffa. Genau hier an dieser Stelle standen sie damals und blickten auf dieselbe schroffe Felswand.
"Das war ein schöner Abend damals", sagte sie, als könne sie seine Gedanken lesen. Was sie mit Sicherheit auch konnte.
P. antwortete nicht sofort. Es war ohnehin sinnlos, etwas zu ihrer Aussage hinzuzufügen, denn sie wusste so gut wie er, was am Tag darauf geschehen war.
Er fragte: "Was wäre gewesen, wenn damals alles anders gekommen wäre?"
"Nichts Besonderes. Wir wären wohl ein glückliches Ehepaar geworden."
"Hätten wir Kinder gehabt?"
"Natürlich. Ich hätte gerne zwei gehabt, einen Jungen und ein Mädchen."
"Ich auch." Am liebsten hätte er ihr die Hand auf die Schulter gelegt.
Ein Boot voller Touristen fuhr an der Küste entlang, auf die Felsen von Los Gigantes und den Hafen zu. Deutlich war zu erkennen, wie die Menschen an Bord ihre Kameras in Richtung der Gesteinsmassen hielten. Näher als hier würden sie der schroffen Felswand nicht kommen.
Sie beobachtete die Szene und seufzte leise auf.
"Warum wolltest du damals unbedingt diesen Ausflug machen?", fragte er. "Warum bist du an diesem Tag nicht bei mir geblieben? Du wusstest, dass ich nicht mitfahren würde. Du wusstest, dass ich mich auf Booten nicht wohl fühle. Aber du wolltest unbedingt fahren."
"Du weißt so gut wie ich, dass es keinen bestimmten Grund dafür gab außer meiner Neugier", antwortete sie mit der immer noch selben, tonlosen Stimme. "Ich war jung und voller Tatendrang. Es war eine spontane Idee, mehr nicht. Ich wollte mir die Felsen nun einmal aus nächster Nähe ansehen. Niemand konnte vorhersehen, was passieren würde."
"Nein, das konnte niemand." P. traten die Tränen in die Augen. "Aber ich …"
"Ich weiß." Sie sah ihn aus ihren blassen Augen an, sah die Tränen, die über seine Wangen liefen.
Leise fügte sie hinzu: "Du musstest alles vom Ufer aus mit ansehen. Es geschah am helllichten Tag, und du konntest mir nicht helfen."
"Das einzige schwere Bootsunglück an dieser Stelle, das es je gab", murmelte P.
"Das Schicksal hat manchmal einen grotesken Humor."
Sie sah an P. vorbei die Promenade hinunter. "Ist sie das?"
P. folgte ihrem Blick und sah seine Verlobte herankommen. Sie rief seinen Namen.
"Deine Verlobte ist wirklich hübsch", sagte sie.
"Sagte ich doch", sagte P., während er sich die Tränen abwischte. Unwillkürlich musste er lächeln. Er drehte sich kurz nach ihr um, doch sie war verschwunden.
"Da bist du ja", sagte seine Verlobte, als sie ihn erreicht hatte. "Ich habe mir Sorgen gemacht, weil du nicht ans Handy gegangen bist."
Sie nahm sein Gesicht in ihre warmen Hände. "Was machst du hier? Hast du etwa geweint? Deine Augen sind gerötet."
"Es ist … ich … es kamen einfach so viele Erinnerungen hoch, als ich an dieser Stelle stand", stammelte er. "Der Anblick der Felsen hat mich überwältigt."
Seine Verlobte schmiegte sich an ihn. "Du wirst es mir sicher eines Tages alles erzählen, nicht wahr?"
"Das wird schon sehr bald passieren." Er hielt sie fest in seinem Arm und starrte mit ihr auf die Felsformation, die den Anschein erweckte, als läge sie auf der Lauer und könnte jeden Augenblick auf sie herabstürzen.
"Weißt du, was ich gelesen habe?", fragte sie in die Stille hinein.
"Was denn?"
"Sie bieten hier Bootsausflüge an. Man wird ganz nah an die Felswand heran gefahren. Da kann man sicher tolle Fotos schießen. Was meinst du, sollen wir das machen?"
"Lass mich da noch einmal drüber nachdenken", sagte P. Er horchte in sich hinein, und stellte fest, dass mit sein Unbehagen verschwunden war.
Texte: Mark Read
Bildmaterialien: Coverfoto: Mark Read
Tag der Veröffentlichung: 12.04.2015
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