Vielleicht lag es daran, dass er eineinhalb Stunden lang aus einem Buch über seine Kindheit vorgelesen hatte. Doch als der Applaus aufbrandete, fühlte sich Benno Stein an eine Episode aus seiner Internatszeit erinnert.
Der frenetische Beifall, erzeugt von aufeinander prallenden Handflächen, dieses Geräusch verschwamm in seinen Ohren zu einem einzigen Rauschen. Es erinnerte ihn an den kleinen Wasserfall in den Alpen. Die versteckte Idylle, die sie durch puren Zufall entdeckt hatten. Die erfrischende Kühle des Wassers spürte Stein noch so deutlich, als hätte er gestern seine wund gelaufenen Füße hinein gesteckt und nicht vor fast dreißig Jahren.
Er war damals mit seinem besten Jugendfreund Thomas aus dem Internat abgehauen, an einem schwülwarmen Mittwochnachmittag. Einfach nur, um die Regeln zu brechen, und um der eingesperrten Schülerseele ein paar Stunden herrlichster Freiheit zu gönnen. Niemand hatte ihre Abwesenheit bemerkt. Niemand hatte sie über die niedrige Mauer des kleinen Gemüsegartens hinter der Küche klettern sehen.
Sie waren etwa zwei Stunden lang durch die sommerliche Berglandschaft gewandert, ehe sie abseits des Hauptweges den kleinen Wasserfall entdeckt hatten. Ein vergessener Ort, der den Anschein erweckt hatte, als wäre er seit Jahrhunderten von keinem Menschen mehr betreten worden. All die Bilder hatte Stein noch deutlich vor Augen. Er sah sich selbst, wie er fasziniert das Wasser beobachtete, das mit stoischer Eleganz, Pirouetten drehend, zu Boden stürzte und im kleinen Fluss verschwand. Thomas und er waren bis zum Einbruch der Dunkelheit am Wasserfall sitzen geblieben, hatten sich erfrischt, hatten gelacht, zwischendurch ein wenig geschlafen und keine Sekunde über die Zukunft nachgedacht. Erst spät waren sie zurück ins Internat geschlichen. An jenem Abend war Stein glücklich eingeschlafen.
Er verbeugte sich noch einmal und winkte dem Publikum zu. Der Moderator ergriff das Mikrofon und sagte mit schnarrender Stimme: "Wie bereits angekündigt wird Herr Stein in wenigen Minuten unten im Foyer Bücher signieren. Keine Sorge, jeder von Ihnen wird drankommen."
Stein hörte den Moderator kaum zu und ließ seinen Blick über die ersten Reihen schweifen. Von der Bühne aus konnte er die Gesichter im Publikum nur mit Mühe voneinander unterscheiden. Die Menschen, die dort standen, zu ihm hoch sahen und begeistert klatschten, waren mal jung, mal alt, mal bärtig, mal glatt rasiert, mal interessant, mal langweilig. Es war die Sorte Mensch, die in seinen Büchern nur eine Nebenrolle spielte. Von links nach rechts schaute er durch jede Reihe, bis er schließlich die Person wiederfand, nach der er gesucht hatte. Schon ganz zu Beginn der Lesung war sie ihm aufgefallen. Denn sie war spät in den Saal gekommen und hatte sich als allerletzte hingesetzt. Als hätte sie den großen Auftritt penibel geplant, als wäre all das Teil ihres Plans gewesen. Das gefiel ihm.
Stein musterte sie, und ihre Schönheit verwirrte ihn. Sie war von einer geradezu unwahrscheinlichen Anmut, wie eine antike Statue, und zudem groß gewachsen, was er überaus schätzte. Kleine Frauen kamen ihm immer ein wenig unsicher vor, sie schienen ihre geringe Körpergröße durch ein übertrieben energisches Auftreten kompensieren zu wollen. Doch diese junge Frau hier war fast so groß wie er selbst. Brünettes Haar umrahmte ihr makellos schönes Gesicht. Die leicht spitze Nase bildete eine ausgefallene Ergänzung zu ihren wohlgeformten Lippen. Sie mochte Anfang zwanzig sein, ein junger Mensch an der Schwelle von der Kindheit zum Erwachsenenalter. Stein versuchte, seine Verwirrung durch ein Lächeln zu überspielen.
Wie schon zu Beginn der Lesung musterte sie ihn auch jetzt aus dem Zuschauerraum heraus mit unverhohlenem Interesse. Als wäre Stein für sie ein Forschungsgegenstand, den es auf seine Beschaffenheit hin zu untersuchen galt. Als eine der wenigen hatte sie bereits mit dem Applaus aufgehört, dessen Ausdehnung Stein ohnehin langsam lächerlich vorkam. Er hielt ihrem Blick stand. Die Frau belohnte ihn, indem sie sein Lächeln erwiderte. Stein spürte ein Kribbeln wie damals, in jener Nacht, im Wohnheim.
Eine letzte Verbeugung. Dann der Abgang. Nichts als Routine für ihn, doch er kostete diese Augenblicke gerne aus. Die Treppe hinter der Bühne hinunter, ein kurzer Plausch mit dem Veranstalter. Hohle Worte, Floskeln, vielen Dank für diesen schönen Abend. Alles wie gehabt.
"Hier entlang bitte, Herr Stein. Der Tisch ist unten am Fuß der Treppe. Frau Karl vom Verlag ist auch da."
Unten standen bereits einige der Zuhörer geduldig in einer Schlange. Er wurde erwartet, und er kostete diesen Augenblick aus. "Unglaublich!", rief Stein der Menschenmenge entgegen. "Wer hat Ihnen denn verraten, dass es hier Freibier gibt?" Lachen. Stein liebte es, die Stimmung anzuheizen. Man sollte ihn als bodenständigen, volksnahen Autor wahrnehmen. Es war ihm wichtig, einer von ihnen zu sein. Mochten sich seine Bücher auch fünfzigtausend Mal verkaufen: Niemand sollte über Benno Stein sagen können, er hielte sich für etwas Besseres.
Seine Augen suchten nach der Brünetten, doch
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Mark Read
Bildmaterialien: Coverfoto: Patrik Tschudin via flickr.com / CC BY SA 2.0
Tag der Veröffentlichung: 17.03.2015
ISBN: 978-3-7368-9885-1
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