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Es geht ihm gut

Unerbittlich brannte die Mittagssonne auf den Strand hinab. Lassane hasste die Hitze, doch er hatte keine Wahl. Er musste wieder hinaus auf den glühend heißen Sand, um etwas von seiner Ware zu verkaufen.

 

Eingepfercht wie Ölsardinen lagen die Touristen nebeneinander, viele schliefen in der Sonne. Lassane hatte nie verstanden, warum gebildete und reiche Menschen so bereitwillig ihre Gesundheit aufs Spiel setzten. Überall um ihn herum war Lärm. Kinder schrien oder weinten, während Erwachsene mit dröhnenden Stimmen lachten oder plauderten. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es an einem Ort wie diesem möglich war, sich zu entspannen, und doch kamen jedes Jahr tausende Menschen aus ganz Europa hierher, um genau das zu tun. Und er war auf diese Menschen angewiesen.

 

„Towels! Watches! Good price!“, rief Lassane mit sonorer Stimme. „Signori i signorinas, ladies and gentlemen, meine Damen und Herren!“ Die auswendig gelernten Phrasen hatten in den vergangenen drei Jahren jegliche Bedeutung für ihn verloren. Seine Ware auf den Schultern und den augestreckten Armen tragend, stapfte er an hunderten Strandliegen vorbei, auf denen fremde Menschen mit geröteter Haut lagen, die  größte Anstrengung darauf verwendeten, ihn zu ignorieren.

 

Einige Meter vor ihm erhob sich eine Frau von einer Liege und kam auf ihn zu. Sie hatte einen schlanken Körper und Haare so hell wie Weizen. „Excuse me“, sprach sie ihn an. „How much for a watch?“. Sie war Deutsche, das hörte er an ihrer harten Aussprache. Im Laufe der Jahre hatte Lassane gelernt, die Europäer voneinander zu unterscheiden. Ein Norweger sprach anders als ein Russe, ein Deutscher anders als ein Franzose. Lassane wusste nicht viel über Europa, doch die unterschiedlichen Aussprachen konnte er auseinander halten.

 

„Twenty“, sagte er zu ihr und blickte dorthin, wo er hinter der riesigen Sonnenbrille ihre Augen vermutete. Die Frau überlegte, dann drehte sie sich um und rief: „Chérif!“. Lassane zuckte zusammen. Chérif, so hieß sein ältester Bruder, der vor fast zehn Jahren seine Heimat in Richtung Europa verlassen hatte – also sieben Jahre, bevor er selbst vor dem Bürgerkrieg in seinem Land geflohen war. Lassane sah einen Afrikaner von der Liege aufstehen und zu ihnen herüber kommen. War er es?

 

„My husband“, sagte die blonde Frau lächelnd, als sie Lassanes Gesichtsausdruck bemerkte. Der Mann hatte ihn ebenfalls gesehen und wirkte überrascht. Verzweifelt versuchte Lassane, sich ein Bild von Chérif vor Augen zu rufen. Eine Fotoaufnahme von ihm existierte nicht, und als er ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er selbst noch ein Heranwachsender gewesen.

 

Der Mann nickte ihm kurz zu und unterhielt sich dann mit seiner Frau. Doch unter seiner Sonnenbrille warf er einen verstohlenen Blick zu ihm, dem Strandverkäufer hinüber. „Bruder“, dachte Lassane. „Du bist es doch – erkennst du mich nicht?“. Er wartete auf eine Reaktion seines Gegenübers, doch vergebens.

 

„Mutter vermisst dich“, sagte er unvermittelt zu dem Mann in einem afrikanischen Dialekt, den nur sie beide verstehen konnten. Der Mann stutzte kurz, blickte Lassane streng an und sagte: „Sorry, I don’t understand.“ Dann begutachtete er wieder die Armbanduhr, die seine Frau ausgesucht hatte.

 

„Doch, du hast mich verstanden“, schoss es Lassane durch den Kopf. „In deinem Gesicht kann ich lesen wie in einem Buch. Der kurze Augenblick des Zögerns und Überlegens hat dich verraten. Der nervöse Unterton in deiner Stimme war nicht zu überhören. Und, lieber Bruder, dein Englisch hat immer noch die Färbung unserer Heimatsprache. So sehr du dich auch bemühst, diesen Klang wirst du nie loswerden. Ich weiß genau, was in deinem Kopf gerade vorgeht. Und ich weiß auch, Chérif, wieso du deinen kleinen Bruder verleugnest. Warum du mich nach fast zehn Jahren nicht in die Arme schließt und fragst, wie es mir und Maman ergangen ist. Du hast Angst. Angst um deine mühsam aufgebaute Existenz in Europa. Deshalb hast du so lange keine Briefe mehr nach Hause geschrieben. Anfangs hast du dich noch oft bei uns gemeldet, hast aus Lyon geschrieben, aus Paris und dann aus Hamburg. Du hast davon geschwärmt, wie sauber die Städte sind und wie prall gefüllt die Regale in den Supermärkten. Du hast dich nicht geschämt, uns zu erzählen, wie du von Weißen angespuckt und einmal sogar verprügelt wurdest. Was machst du heute, Bruder? Damals hast du eine Stelle in einem Warenlager in Hamburg bekommen. Hast gesagt, du würdest uns zu dir nach Norddeutschland holen. Und dann hast du dich nie wieder gemeldet, acht Jahre lang. Weil es dir zu riskant war. Weil es das Schicksal gut mit dir gemeint hat. Genau wie ich viele Jahre später bist du mit dem Boot nach Lampedusa gekommen. Doch du hattest mehr Glück als ich, du bist nicht an einem italienischen Strand hängen geblieben. Du lebst nun in Sicherheit, hast dich hochgearbeitet und sogar geheiratet. Dein altes Leben ist nur noch eine blasse Erinnerung. Ich bin dir nicht böse, Chérif. Ich kann dich sogar verstehen. Wie solltest du deiner hübschen deutschen Ehefrau erklären, dass du diesen Strandverkäufer hier kennst, sehr gut sogar? Dass du mit ihm auf den Straßen Bamakos Fußball gespielt hast? Auf ihn aufgepasst und ihn großgezogen hast, nachdem Papa erschossen wurde? Warum solltest du riskieren, dass die Vergangenheit dein Leben in Freiheit gefährdet? Keine Angst, großer Bruder, ich werde dich nicht verraten. Aber wenn das der Preis für ein Leben in Freiheit ist, dann bleibe ich lieber hier und verkaufe Uhren an Leute wie dich.“

 

„We’ll take it“, sagte die Frau, die seine Schwägerin war, schließlich. Chérif blickte an Lassane vorbei auf das Meer. Die Frau bezahlte und bedankte sich höflich. Auf dem Weg zurück zu den Strandliegen fragte sie Chérif etwas, woraufhin dieser den Kopf schüttelte. Er legte sich bäuchlings auf die Liege und bedeckte seinen Kopf mit einem T-Shirt.

 

Am Abend schrieb Lassane nach mehreren Monaten wieder einen Brief an seine Mutter. „Ich habe Chérif gesehen. Es geht ihm gut. Er vermisst dich sehr. Aber er kann dir momentan keine Briefe schreiben. Frag nicht, warum. Wichtig ist, dass er in Freiheit lebt.“ Er steckte den Brief in einen Umschlag, legte sich ins Bett und schlief nach kurzer Zeit ein. In dieser Nacht träumte er von Afrika.

Mensch gegen Maschine

Als ich den Trockner zum ersten Mal sah, war er mir nicht unsympathisch. Im fahlen Licht der winzigen Wäschekammer im Keller unseres Miethauses sah ich ihn an der Wand stehen, unaufgeregt und anmutig. Der Vermieter führte mich durch das Gewölbe, um mir das zu meiner neuen Wohnung gehörende Abteil zu zeigen. Kurz blieb er stehen und deutete in das links vom Gang abgehende Zimmer. „Ach ja, und in diesem Raum haben wir noch eine Waschmaschine und einen Trockner, die gegen Gebühr zu benutzen sind“, sagte er beiläufig, ehe er weiter den Gang hinunter schlenderte. Ich blieb noch kurz stehen und riskierte einen Blick. Links an der Wand stand eine handelsübliche Waschmaschine, daneben ein Wäschetrockner der Firma Miele. Der Trockner wirkte nicht mehr ganz jung, doch das traf letztlich auf das gesamte Haus zu, diesen senffarbenen Wohnblock, der in den frühen 1960ern direkt an der geschäftigen Leopoldstraße im Norden Schwabings hochgezogen wurde. Ich war hocherfreut. „Toll“, rief ich dem Vermieter zu. „Da kann ich meine frisch gewaschene Wäsche ja gleich trocknen!“. „Dafür ist die Maschine da“, antwortete mein Vermieter lächelnd. Ich war begierig darauf, die Dienste des Trockners in Anspruch zu nehmen, ja ich freute mich darauf. Ich konnte damals noch nicht ahnen, welcher Albtraum mir bevor stand.

 

Wenige Tage später hatte ich meine neue Wohnung bezogen und brachte erstmals meine Schmutzwäsche in den Keller. Glucksend und gurgelnd sprang die Waschmaschine an und tat ohne weitere Umschweife das, wofür ich sie mit Geldmünzen bezahlt hatte. Eine knappe Stunde später hatte ich feuchte, wohlriechende Wäsche in meinen Händen. Nun würde ich erstmals die Dienste des Trockners in Anspruch nehmen. „Sind wir startklar?“, fragte ich gut gelaunt, nachdem ich die Wäsche hinein geräumt und die Münze in den Zähler geworfen hatte. Ich sollte nicht mit einem Wäschetrockner sprechen, schoss es mir durch den Kopf, als ich den Startknopf betätigte. Ruckartig und kraftvoll setzte sich die Trommel in Bewegung. Ich blieb noch einige Sekunden stehen und lauschte dem gleichmäßigen Klicken und Klackern aus dem Trockner. Dann verließ ich befriedigt den Keller, in dem Wissen, dass das Werk in vollem Gange war.

 

Eine Stunde später stand ich wieder im Keller und öffnete die Tür des Trockners. Doch zu meiner Überraschung war die Wäsche noch angefeuchtet – genauer gesagt fast so feucht wie zu dem Zeitpunkt als ich sie hinein gesteckt hatte. Ich untersuchte das Flusensieb und stellte fest, dass fast nichts darin hängen geblieben war. Offenbar hatte die Maschine nach wenigen Minuten aufgehört zu trocknen. Ich war überrascht und enttäuscht. Doch bei aller Entrüstung über diese Form der Arbeitsverweigerung war ich dennoch gewillt, dem Trockner eine zweite Chance zu geben. Ich warf eine weitere Münze ein und startete die Maschine mit der noch feuchten Wäsche erneut. Diesmal kam ich bereits nach einer halben Stunde zurück aus meiner Wohnung, um den Vorgang zu überprüfen. In der Tat rumorte der Trockner noch, als ich den Raum betrat. Gut, dachte ich mir, dann war es wohl doch nur ein einmaliger Aussetzer. Wir hatten einen schwierigen Start gehabt, aber der Trockner schien nun doch gewillt, mit mir zusammen zu arbeiten. Doch gerade als ich das Licht im Keller ausknipsen und die Tür schließen wollte, verstummte das Geräusch aus dem Kämmerchen plötzlich. Ich rannte zurück in den Raum und fand den Trockner stumm und apathisch vor. Die Signalleuchte „Ende“ leuchtete auf. „Was? Wie? Ende?“, entfuhr es mir. „Du hast noch eine halbe Stunde Dienst zu verrichten!“. Der Trockner reagierte nicht. Bockig und abweisend stand er nun da, ein hämisches Gefühl der Lustlosigkeit verströmend. Ich drückte erneut den Startknopf, woraufhin die Maschine sich mit einem widerspenstigen Unterton wieder in Gang setzte.

 

Zwar war meine Wäsche anschließend tatsächlich trocken, doch das Erlebte ließ mir keine Ruhe. Ich spürte, dass dies eine Arbeitsverweigerung mit System war, ja mehr noch, dass diese Maschine mich zum Besten hielt. Sie wollte mich demütigen, mich, einen Menschen! Fieberhaft überlegte ich, wie ich weiter verfahren sollte. Für eine Beschwerde beim Vermieter war es noch zu früh. Nach nur wenigen Tagen würde das doch sehr verklemmt und damit typisch deutsch wirken, und außerdem hatte ich noch nicht genügend Beweise für eine hinterliste Revolte im Waschraum. Ich brauchte noch mindestens einen weiteren Zeugen. Zufällig traf ich am nächsten Tag meinen Nachbarn auf dem Gang. Wir plauderten über dies und jenes, ehe ich ihm die Frage stellte, die mir auf der Seele brannte: „Hatten Sie eigentlich auch schon mal Probleme mit dem Trockner im Keller?“. Mein Nachbar, ein freundlicher Herr mittleren Alters in einer

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Mark Read
Bildmaterialien: Coverfoto: (c) Mark Read
Tag der Veröffentlichung: 04.02.2014
ISBN: 978-3-7309-8077-4

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