(Handschriftliche Aufzeichnung aus dem Nachlass des Schriftstellers Martin Steiner; gestorben am 4. November 2012)
Ich bin auf der Zielgeraden. Das spüre ich. Täglich, stündlich, ja minütlich rückt mein Ende näher, lässt meine Kraft nach. Ich weiß, dass ich nicht mehr viel Zeit übrig habe, daher muss ich jetzt diese Zeilen niederschreiben, bevor es zu spät ist. Denn ehe ich endgültig abtrete, muss ich meiner Seele eine Last nehmen, die sie bereits viel zu lange niederdrückt. Eine Last, die ich über all die Jahre nur mir größter Anstrengung so stemmen konnte, dass kein Außenstehender sie bemerkt hat. Nicht einmal meiner Frau Barbara, die ich über alles liebe, auch nicht meinen beiden Kindern habe ich von dieser Last erzählt. Konnte ich es nicht, oder wollte ich es nicht? Über diese Frage habe ich lange nachgedacht, doch nun hat sie für mich keine Bedeutung mehr. Was ich mit Worten nicht beichten konnte, schreibe ich nun auf. Dies hier ist mein Vermächtnis für die Nachwelt. Lest es und macht mit mir, was ihr wollt. Versucht, mein Verhalten zu verstehen, verabscheut mich oder spuckt auf mein Denkmal – wenn diese Zeilen das Licht der Öffentlichkeit erblicken, werde ich ohnehin nicht mehr da sein.
Wer meinen Namen in die Suchmasken der Internetprogramme eingibt, erfährt als Erstes, dass ich einer der erfolgreichsten Schriftsteller der Nachkriegszeit bin. Meine Bücher wurden in insgesamt 27 Sprachen übersetzt, sogar ins Baskische, und verkauften sich über neun Millionen Mal. Eine Zahl, die mir selbstverständlich schmeichelt. Die mich aber auch abschreckt, da ich sie einerseits nicht begreifen kann – selbst, wenn ich mir vorstelle, dass jeder Einwohner Berlins drei Bücher von mir besitzt, fällt es mir schwer – und da sie andererseits das Ergebnis einer einzigen großen Lüge ist. Man hat mich gefeiert und mit Preisen überhäuft. Man ehrte mich für das, was ich in meinen Büchern vermittle. Für meine klaren Aussagen und meine aufrechte Haltung in gesellschaftlichen und auch politischen Fragen. Noch immer klingen mir die Worte des Bundespräsidenten im Ohr: „Sie können stolz auf ihr Lebenswerk sein“, sagte er, als er mir die höchste Auszeichnung unseres Staates verlieh. Und weiter: „Hätte es in Deutschlands Geschichte nur mehr Leute Ihres Schlages gegeben, dann hätte manch dunkles Kapitel vermieden werden können“. Jeder sieht in mir einen durch und durch integren Mann. Einen, der immer für seine Überzeugungen eingetreten ist. Das mag auch stimmen. Ich habe nie etwas niedergeschrieben, an das ich nicht geglaubt habe und habe in Fernsehen, Zeitung und Radio oft genug Stellung bezogen für die Dinge, die mir wichtig sind. Und doch weiß ich, dass ich jahrelang meine Leser, mein Umfeld und sogar meine engsten Vertrauten belogen habe. Ich bin nicht der, für den ihr mich haltet. Ich bin ein Betrüger.
Nun bin ich bereits ein alter Mann und blicke auf 41 Jahre schriftstellerischer Tätigkeit zurück. Acht Romane wurden in dieser Zeit unter meinem Namen veröffentlicht, vierzehn kürzere Erzählungen, ein Reisebericht über meinen einjährigen Aufenthalt in Australien, zudem zwei Gedichtbände und mindestens hundert kurze Beiträge für Zeitungen, Zeitschriften und so weiter. An unveröffentlichtem Material liegen noch ein Roman und drei Erzählungen in meiner Schreibtischschublade. Ich habe sie nie veröffentlichen lassen, weil sie es nicht wert sind. Soll sich die Nachwelt damit beschäftigen, wenn ich nicht mehr da bin. Vielleicht gefallen sie irgendwem. Das ist ohnehin nicht von Bedeutung. Mein ganzes Werk ist letztlich nicht von Bedeutung. Ich bin ehrlich genug, zu sagen, dass ich in meinen Romanen und Erzählungen nichts zu erzählen hatte, das nicht schon jemand vor mir erzählt hat. Ich war lediglich immer gut darin, die großen Meister nachzuahmen – Zweig, Dostojewski, Kraus, Böll oder in meiner depressiven Phase auch Kafka. Ich war immer ein guter Illusionist, der dem Feuilleton glaubhaft vermitteln konnte, er sei eine besondere Begabung. Doch revolutionär war meine Prosa zu keiner Zeit. Jeder, der sich ernsthaft mit meinem literarischen Werk beschäftigt – und das tun an den Universitäten ja inzwischen viele – wird völlig zu Recht behaupten, dass ich nur ein wirklich bedeutendes Buch veröffentlicht habe. Eines, das alle anderen überstrahlt. Mein erster Roman aus dem Jahr 1973, „Schwer wie Blei“. Bis heute mein bedeutendstes, wichtigstes, aussagekräftigstes Werk, mein Durchbruch als Schriftsteller, die Grundlage meines Daseins als Intellektueller. Außerdem der Beginn meiner großen Lebenslüge. Denn dieses so bedeutende Werk trägt meinen Namen zu unrecht. Ich ertrage es nicht länger, ich will diese Lüge nun endlich ein für allemal beichten.
Anfang der Siebziger Jahre studierte ich in München Literaturwissenschaften. Wie unbedarft und naiv ich damals doch war! Nach mittelmäßigem Abitur am Gymnasium meiner Heimatstadt auf dem Lande war ich nach München gekommen, mit wenig mehr als der ungefähren Absicht, Schriftsteller zu werden. Ich hatte weder konkrete Ideen, wie ich meinen Traum verwirklichen konnte, noch die Inspiration für gute Geschichten. Ein paar Semester lang hangelte ich mich ohne rechten Antrieb und mit mäßigen Zensuren von Seminar zu Vorlesung. Nachts zog ich mit den immer selben Leuten durch die stickigen, miefigen und schrillen Kneipen Schwabings. Ich vergnügte mich mit verschiedenen Frauen, doch für eine echte Bindung fehlte mir der Mut. Jeder, der mich heute für mein aufrechtes und konsequentes Wesen bewundert, wäre erschüttert, könnte er mit einer Zeitmaschine zurückreisen und mich in jener Zeit sehen. Ich dämmerte etwa zwei Jahre vor mich hin, schrieb ab und zu ein paar Gedichte oder fing mit Erzählungen an, die ich regelmäßig nach wenigen Seiten abbrach. Mein ganzes Dasein war nichts Halbes und nichts Ganzes.
Bis zu jenem Abend im Mai 1972. Die Stadt war damals in Aufbruchstimmung, denn die olympischen Spiele standen vor der Tür. Ich hatte mich mit meinem guten Freund Markus in der Schwabinger 7 verabredet, einer Kneipe, die bereits damals eine Institution war. Markus und ich besuchten die gleiche Vorlesung bei Professor Johannes Rieder: „Die Wiener Moderne“. Rieder, das war eine Koryphäe seines Fachs, allgemein respektiert für seine Beiträge zur Literaturtheorie. Aber er war auch ein ziemlich verschrobener Kerl. In seinen Ausführungen oft konfus, war er uns nicht sonderlich sympathisch, und noch dazu langweilte man sich in seinen Seminaren und Vorlesungen regelmäßig zu Tode. Ich besuchte diese spezielle Vorlesung wirklich nur, weil ich mich in meiner Abschlussprüfung eben auf die Wiener Moderne beschränken wollte.
Jedenfalls verlief dieser Abend im Mai wie unzählige davor auch: Wir tranken viel Bier, spotteten über den langweiligen Professor Rieder, glotzten den Frauen hinterher, die wir ohnehin nicht kriegen konnten und vergeudeten Lebenszeit in dieser düsteren und doch anmutigen Kaschemme. Irgendwann gegen Mitternacht verabschiedete sich Markus, da er am nächsten Vormittag ein Referat halten musste. Auch ich schlug den Weg nach Hause ein – damals wohnte ich in einer winzigen Wohnung in der Kaulbachstraße, genau zwischen der Universität und dem Englischen Garten. Ich ging zu Fuß durch die engen Gassen Altschwabings, die zu dieser späten Stunde bereits zu schlafen schienen. Der einzige Mensch, dem ich auf meinem Weg begegnete, sollte mein Schicksal entscheidend beeinflussen.
Ich war gerade auf meinem Weg durch die Siegesstraße. Damals gab es in dieser kleinen Gasse keine Beleuchtung, und bei Nacht war sie ein unheimlicher Ort. Das Geräusch, das plötzlich aus der Dunkelheit kam, erschreckte mich also sehr. Es klang wie das Stöhnen eines Menschen. Ich blieb kurz stehen und wartete mit heftig klopfendem Herzen, bis sich meine Augen an das Dunkel gewöhnt hatten. Schließlich erkannte ich einen an der Hauswand kauernden Menschen. Er schien Schmerzen zu haben. Letztlich siegte meine Zivilcourage über die Angst, und ich ging auf ihn zu, um zu helfen. Als ich ihn ansprach, ob ich etwas für ihn tun könne, hob der Unbekannte seinen Kopf. Wie überrascht war ich doch, in dem stark betrunkenen Mann meinen Germanistikprofessor Rieder zu erkennen! Der bei uns als stinklangweilig verschrieene Mensch, der staubtrocken und ohne den geringsten Humor seinen Stoff herunterleierte, ausgerechnet dieser Professor Rieder kauerte nun vor mir an einer Schwabinger Hauswand und war kaum in der Lage, einen zusammenhängenden Satz zu artikulieren. Normalerweise war der graumelierte und distinguierte Herr eine angenehme Erscheinung, das musste sogar ich zugeben, doch hier und jetzt sah er einfach nur erbärmlich aus. Dass er mich nicht erkannte, überraschte mich kaum und war nicht zwingend auf seinen Zustand zurückzuführen. Immerhin hatte ich weder in seinen Vorlesungen noch in den Seminaren einen bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen.
„Hören Sie“, sagte ich zu Rieder. „Ich bringe Sie nach Hause. Sagen Sie mir, wo Sie wohnen.“ Doch das war für den Mann nicht einfach. Er lallte zunächst nur unverständliches Zeug. Ich war schon kurz davor, ihn mit in meine winzige Eineinhalbzimmer-Wohnung zu nehmen, die nur wenige Minuten entfernt lag, da brachte er endlich seine Adresse hervor: Er wohnte in der Martiusstraße, die ebenfalls nur ein paar Häuserblocks entfernt lag. Ich schulterte also den Professor, der nicht gerade wenig wog und zudem einen schweren Mantel trug. Ich musste ihn fast durch die Straßen schleifen, da der arme Mann kaum noch in der Lage war, zu gehen. Endlich vor seiner Haustür angekommen, durchsuchte ich seine Taschen nach dem Schlüssel und trug ihn anschließend schwer keuchend und schnaufend bis in den vierten Stock hinauf.
Das Innere seiner Wohnung war so prachtvoll, wie ich es von einem Universitätsprofessor erwartet hatte. Teures Holzmobiliar stand in den großen Räumen, an den Wänden hingen gerahmte Kunstwerke. Niemals zuvor war ich in einer so luxuriös eingerichteten Wohnung gewesen. Ich hievte Rieder auf einen riesigen Ohrensessel im Wohnzimmer, direkt neben einer beeindruckenden Bücherwand, in der ich sämtliche mir bekannten Klassiker der Weltliteratur vorfand.
Vorsichtig ging ich in der Wohnung umher und suchte nach Rieders Frau, doch sie war nicht da. Die Tür zum Schlafzimmer stand offen, darin herrschte ein großes Chaos. Kleider und Bettwäsche lagen auf dem Boden, die eine Hälfte des Kleiderschranks war leer. Ich ahnte bereits, was vorgefallen war. Nachdem ich den Professor mit Hilfe eines eiskalten Waschlappens und vieler Gläser Wasser einigermaßen wieder hergestellt hatte, begann er von selbst zu erzählen.
„Danke, dass Sie mir geholfen haben, junger Mann“, sagte er leise und mit schwerer Zunge. „Sie werden sich sicher wundern, warum ein Literaturprofessor, ein wohlhabender Mann mit gesichertem Einkommen, sich so betrinkt, dass er wie ein Clochard auf der Straße einschläft. Glauben Sie mir, dass mir das Ganze sehr unangenehm ist. Aber das Leben lässt sich nun mal nicht planen wie ein Roman. Es passieren Dinge, die in der Handlungsskizze so nicht vorgesehen waren. Ich habe Zuflucht im Alkohol gesucht, um ein persönliches Schicksal herunterzuspülen.“ Er schloss die Augen und schwieg. Ich sagte leise: „Ihre Frau hat Sie verlassen, nicht wahr?“. Eine Träne kullerte seine Wange hinab. „Vierundzwanzig Jahre“, sagte er. „Vierundzwanzig verdammte Jahre, und sie lässt mich einfach so sitzen. Sie will noch mal was erleben, sagt sie. Ich bin ihr zu langweilig und zu alt geworden, sagt sie. Hocke nur noch über meinen Theorien und verstecke mich hinter meinen Aufsätzen und Essays. Jetzt fährt sie mit einem jungen Kerl, irgendeinem Bänker, durch Italien. Verprasst ihr Geld in Bars und Cafés.“
Er erzählte immer weiter, und es schien mir, als habe er nur auf eine Gelegenheit wie diese gewartet, als habe sich ein Ventil in seinem Innersten geöffnet. Je mehr Rieder von sich preisgab, umso hellhöriger wurde ich. Eigentlich habe er gar nicht in die Wissenschaft gehen wollen, klagte er, er habe das nur seiner Frau zuliebe gemacht. Im Grunde seines Herzens habe er die Literaturtheorie schon immer gehasst. Sein Traum sei es gewesen, selbst zu schreiben. „Etwas Plastisches formen, anstatt immer nur darüber zu schwätzen“, sagte er mit Pathos in der Stimme. Ich erzählte ihm, dass auch ich Schriftsteller werden wollte. „Wirklich?“, rief Rieder. „Sie müssen mir unbedingt mal etwas von dem zeigen, was Sie geschrieben haben. Gleich nächste Woche!“ Ich war ihm sympathisch. In mir sah er einen Seelenverwandten, einen Verbündeten. Doch ich wusste, dass immer noch der Rausch des Alkohols aus ihm sprach. Er vergaß den Altersunterschied zwischen uns und auch die Tatsache, dass ich ein bettelarmer Student war, der nicht soeben von seiner Ehefrau verlassen worden war. Unsere Lebenssituationen waren grundverschieden.
Doch Rieder sprach unbeirrt weiter: „Ich werde das Beste aus meiner Lage machen. Jetzt bin ich frei, und ich fange noch mal ganz von vorne an. Meine Tage an der Universität sind gezählt! Ich mache das nur noch bis zum Ende des Semesters, dann verlasse ich dieses Irrenhaus“, verkündete der Professor mit leuchtenden Augen. „Nie mehr langweilige Literaturgeschichte unterrichten, nie mehr faulen Studenten trockene Theorie vermitteln! Nein, ich werde selbst schreiben. Beziehungsweise habe ich damit bereits gestern begonnen.“ Stimme und Augenlider wurden nun wieder schwerer – es schien, als zeigte der Alkohol nun seine Wirkung. „Mein Reich wird künftig nur noch der Schreibtisch sein“, lallte er nun. „Schon jetzt liegen dort einige meiner Ideen, und es wird alles ganz großartig werden. Ich werde einen großen, einen bedeutenden Roman schreiben.“ Kaum hatte er den Satz vollendet, schlief er auch schon ein.
Ich schleppte Professor Rieder hinüber in das Bett und deckte ihn zu. Er schnarchte laut und schlief so fest, dass er nichts mehr mitkriegte. Bis jetzt hatte ich mich geradezu vorbildlich verhalten. Ein Mensch war in Not, und ich hatte ihm geholfen. Hätte ich zu diesem Zeitpunkt die Wohnung verlassen, hätte ich zu Recht stolz auf mich sein können. Doch ich entschied mich anders, und so begann in dieser Sekunde meine große Lebenslüge.
Ich schlich hinüber in das Arbeitszimmer des Professors. Auch hier hunderte von Büchern in staubigen Regalen und in der Mitte ein mit Manuskripten und Zetteln überfüllter Schreibtisch. Ich setzte mich in Rieders Arbeitssessel und begann damit, die Papierflut zu sichten. Tatsächlich hatte der kauzige Professor bereits Ideen für einen Roman ausformuliert, die ich mit zunehmendem Interesse las. Es war ein Abgesang auf die moderne Konsumkultur, eine Liebesgeschichte an der Schwelle zwischen Wirtschaftswunder und der Jugendrebellion der Sechziger Jahre. Der Erzähler ist zu Beginn ein junger, rebellischer Mann aus der Arbeiterklasse. Er kämpft im konservativen München der späten Fünfziger gegen alle Widrigkeiten um ein Mädchen aus gutbürgerlichem Hause und brennt anschließend mit ihr durch. Ihre Weltreise führt die beiden bis nach Kuba, wo sie den Sieg von Castros Revolution miterleben. Später landen sie in den USA, wo der Erzähler wegen angeblicher kommunistischer Umtriebe verurteilt und Jahre später nach Vietnam geschickt wird. Nach ernüchternden Kriegserlebnissen kommt er zurück nach Deutschland, um an einer besseren Gesellschaft zu arbeiten. Das Konzept war an vielen Stellen bereits detailliert ausgearbeitet und insgesamt sehr durchdacht. Ich bemerkte, dass der Professor sein Theoriewissen über gute Literatur mit einer fesselnden Story kombiniert hatte. Die Figuren waren lebendig und interessant. Nun war ich damals ein junger und ahnungsloser Kerl, doch zwei Dinge wurden mir in diesem Augenblick schlagartig klar: Erstens, dass dieses Buch mit Sicherheit ein Erfolg werden würde. Zweitens, dass ich selbst nie in der Lage gewesen wäre, ein so durchdachtes und interessantes Romankonzept zu Papier zu bringen.
Ich nahm ein leeres Blatt und begann, alles abzuschreiben. Nachdem ich eine Kopie angefertigt hatte, nahm ich Rieders Original zur Hand – und fällte nach kurzem Überlegen eine Entscheidung, die meine Schuld besiegelte. Ich riss seine Aufzeichnungen in kleine Stücke, öffnete das Fenster und warf die Schnipsel hinaus in die Dunkelheit. Der Schwabinger Nachtwind trug sie auf und davon. Anschließend ordnete ich alle Blätter auf dem Schreibtisch wieder so, wie ich sie beim Eintreten vorgefunden hatte.
Am nächsten Morgen schwänzte ich die Vorlesung bei Rieder und ging auch für den Rest des Semesters nicht mehr hin. Stattdessen verbarrikadierte ich mich in meiner Wohnung und begann damit, Rieders Ideen in eigene Worte zu kleiden. Er hatte mir das Skelett vorgegeben, ich musste es nur noch mit Fleisch füllen. Das war keine Kunst, und mein Beitrag war auch nicht der eines Künstlers, sondern eines soliden Handwerkers. Ungelenk flossen die Sätze aus meinen damals noch ungeübten Fingern. Doch weil Rieders Konzept so genial und wohl durchdacht war, reichten diese Sätze aus, um spannende Unterhaltung entstehen zu lassen. Mein kreativster Anteil am gesamten Roman war sein Titel. Nach sechs Wochen war ich mit allem fertig und schickte das Manuskript zu „Schwer wie Blei“ an verschiedene Verlage. Sofort bekam ich positive Rückmeldungen. Am Ende konnte ich mich sogar zwischen drei Verlagen entscheiden, und das Buch erschien schließlich ein Dreivierteljahr nach meiner Begegnung mit Professor Rieder.
Ich habe ihn nie wieder persönlich getroffen. Einmal, es muss drei oder vier Jahre nach dem Vorfall gewesen sein und ich inzwischen bereits ein sehr bekannter Autor, erblickte ich ihn aus der Entfernung. Er wartete an der Münchner Freiheit auf einen Bus. Alt sah er aus, eingefallen und schwach und zerbrechlich. Ich sah sofort, dass er zu viel trank. Und doch ging ich nicht zu ihm hin. Er starb im Jahr 1979 an den Folgen seiner schweren Alkoholabhängigkeit. Ich habe seine Todesanzeige bis heute aufbewahrt. Meine Schuld an seinem Tod war mir schon damals bewusst, ebenso die Tatsache, dass ein klärendes Gespräch mit ihm sein Schicksal hätte verändern können. Doch ich habe geschwiegen, genauso wie ich gegenüber allen anderen geschwiegen habe, sogar gegenüber meinem engsten Kreis, meiner über alles geliebten Familie.
Nun habe ich das aufgeschrieben, was ich nie jemandem erzählen konnte: Das Buch „Schwer wie Blei“, das meinen Ruhm begründete und meine Karriere erst ermöglichte, basiert auf einem Diebstahl. Ich habe eine Person, die mir vertraut hat, auf das Schändlichste ausgenutzt und bestohlen. Dass der Professor, soweit mir bekannt ist, niemals versucht hat, die wahre Geschichte ans Tageslicht zu bringen, macht meine Tat nicht besser und schmälert nicht das Ausmaß meiner Schuld. Ich lebte über Jahrzehnte hinweg mit einem Stachel in meiner Seele, den ich bis heute nie herausgezogen habe. Darüber hinaus war ich vom Beginn meiner schriftstellerischen Laufbahn an mit der Bürde belastet, ein weiteres Buch schreiben zu müssen, das an die Klasse von „Schwer wie Blei“ heranreicht. Es gelang mir nicht. Denn ich konnte nicht noch einmal die Idee eines wahren Meisters klauen.
Wie ich bereits sagte, sieht die Öffentlichkeit in mir nur den schonungslos ehrlichen und aufrichtigen Chronisten unserer Zeit. Die Wahrheit ist, dass ich nie aufrichtiger war als jetzt, wo ich nach vielen Jahrzehnten diese Schuld endlich von meiner alten Seele geschrieben habe. Meine Hand zittert, meine Glieder werden schwach, doch in meinem Herz pulsiert zum ersten Mal seit Jahren wieder das Gefühl reinen Glücks. Auf der Zielgeraden habe ich den rechten Weg wieder gefunden, den ich damals im Mai 1972 verlassen habe.
Das Licht, das durch das Fenster auf meinen Schreibtisch fällt, wird immer schwächer. Die Sonne geht unter, und auch ich werde bald nicht mehr da sein. Wer auch immer dieses Vermächtnis findet, der möge
(Ende der Aufzeichnung)
Tag der Veröffentlichung: 08.01.2014
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