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Und der Vorhang fiel

Ich konnte mich nicht mehr erinnern, wie lange ich nun schon am Fenster stand und auf die Straße hinaus blickte. Jeden einzelnen Zentimeter in meinem Blickfeld hatte ich schon so lange angestarrt, dass sich das Straßenbild in meine Netzhaut eingebrannt hatte. Die Laternenmasten, die Bushaltestelle auf der anderen Straßenseite, die Gleise der Trambahn in der Mitte, die Schilder der Tankstelle und des Hotels, die Ampelsignale an der Kreuzung – all das hatte ich in den letzten Stunden wieder und wieder betrachtet. Wie ein Museumsbesucher jeden Pinselstrich seines Lieblingsgemäldes.

 

Von meinem Platz aus konnte ich beobachten, wie sich unter mir das hektische Treiben auf einer verkehrsreichen Straße einer Millionenstadt abspielte. Ich sah diesem Treiben zu, doch daran teilnehmen konnte ich nicht. Ich gehörte nicht dazu. Je länger ich den vorbeisurrenden Autos hinterher blickte, die Fußgänger auf den Bürgersteigen betrachtete oder die Radfahrer auf den abgetrennten Spuren, desto mehr wurde mir das bewusst. Wie so viele vor mir war ich vom Dorf in die Stadt gezogen, um der ländlichen Enge zu entfliehen, den vorgezeichneten Lebenswegen und der dumpfen Langeweile. Stattdessen wollte ich den süßen Duft des Lebens einatmen. Ich war jung und wagemutig, ich wollte etwas erleben, etwas riskieren. Wollte auf dem Vulkan tanzen und kurz darauf ins eiskalte Wasser springen. Ehe mir Beruf und Familie für immer die Fesseln der Vernunft anlegten, wollte ich die Unvernunft in vollen Zügen auskosten. Doch meine Träume zerschellten schon bald an der harten Realität. In der Anonymität der Großstadt wurde ich zum Gestrandeten. Nie gelang es mir, hier Wurzeln zu schlagen. Meine Bindungen zu anderen jungen Menschen hatten jenseits der Kneipen und Clubs keinen Bestand. Sobald das Licht erloschen war, landete ich immer wieder alleine in meiner Zwei-Zimmer-Wohnung mit Blick auf die Leopoldstraße. Jeder Versuch, meinem Dasein durch die Beziehung zu einer Frau Sinn zu verleihen, scheiterte. Erst am Tag zuvor hatte ich wieder erfahren müssen, dass ich zu mehr als einer kurzen Bettgeschichte nicht taugte. Nun war ich also wieder alleine und hatte niemanden in dieser großen und weit verzweigten Stadt. Es kam mir vor, als dürfte ich dem Leben nur zusehen, aber nicht daran teilhaben. Als hätte ich keinen Mitgliedsausweis für die Gesellschaft.

 

So viele Autos auf der Straße. Wie Murmeln auf einer schiefen Bahn kamen sie immer wieder von verschiedenen Seiten in mein Blickfeld gerollt. Manche mussten an der Ampel stehen bleiben, andere wechselten beim Fahren die Spur oder bogen in die Potsdamer Straße ab. Busse schnauften vorbei, hielten kurz und spuckten Menschen verschiedenen Alters, Aussehens und Geschlechts auf die Bürgersteige. Diese wiederum huschten alsbald von einem Ort zum anderen, trugen Einkaufstüten durch die Gegend oder starrten auf ihre Handys. Andere tanzten wie selbstverständlich über die Tramgleise und zwischen den Autos hindurch auf die andere Seite der Straße. Niemals passierte bei solchen Manövern ein Unfall, nicht einmal fast. Auch die Autos kamen sich trotz ihrer schieren Anzahl auf der breiten Straße niemals in die Quere. Anfangs wunderte ich mich noch darüber, doch dann begriff ich die Regeln, die alledem zu Grunde lagen. Das Leben war ein Theaterstück, in dem jeder seine Rolle hatte. Das war hier nicht anders als in meiner ländlichen Heimat, wo jeder im Dorf wusste, wo er hingehört und was er zu tun hat. Hier im gigantischen Schmelztiegel galten dieselben Regeln, nur in einem anderen Rahmen. Die Fußgänger spielten ihre Rolle, die Autofahrer auch und ebenso die uniformierten Bus- und Trambahnführer. So lange jeder in seiner Rolle blieb, ging alles in geordneten Bahnen und das Leben in der Großstadt blieb in seinem Fluss. Meine Rolle in diesem Stück war wohl die des einsamen und stillen Beobachters. Vielleicht, dachte ich mir, war es das Beste, wenn ich mich einfach damit abfand.

 

In diesem Moment sah ich sie.

 

Sie stand an der Bushaltestelle auf der anderen Seite der Straße. Doch ich erkannte sofort, dass sie nicht auf den Bus wartete. Ihre Augen waren auf mich gerichtet. Und als unsere Blicke sich trafen, wusste ich instinktiv, dass sie genau dasselbe fühlte wie ich. Sie hatte keinen festen Platz in diesem Gebilde. Auch sie wurde ohne Anker in die Großstadt gespült und hatte noch keinen Halt gefunden. Ich konnte regelrecht sehen, dass auch sie bereits Enttäuschungen erlebt hatte. Äußerlich wirkte sie überhaupt nicht wie eine Außenseiterin. Sie war schön. Ihre dunklen Haare passten perfekt zu ihrem Gesicht, dem kein übertriebenes Make-Up die Natürlichkeit nahm. Ihr dunkelroter Mantel leuchtete dezent und wirkte stilvoll. Sie war keine von den Frauen, die so sehr mit dem Imitieren von anderen beschäftigt waren, dass sie es versäumten, eine eigene Identität zu entwickeln. Sie war individuell, und genau das machte sie so schön. Und vielleicht war das auch der Grund, warum sie ihre Rolle in der Stadt noch nicht gefunden hatte. Ich wusste, sie kannte das Gefühl, nicht dazu zu gehören. Den einen war sie vielleicht nicht cool genug, anderen vielleicht zu unterkühlt. Doch für mich war sie perfekt.

 

Einige Sekunden lang starrten wir uns an. Dann lächelte sie. Eine lange nicht gekannte Wärme durchströmte meinen Körper. Dort draußen war jemand, der mich verstand – nur wenige Meter entfernt von mir! Ich war also doch nicht allein in dieser großen Stadt. Ich lächelte zurück und hob meine Hand zu einem schüchternen Gruß. Sie blickte verlegen auf den Boden, dann aus den Augenwinkeln wieder zu mir hoch. Verwirrt und beglückt lächelte ich ihr zu, diesem Engel, der geschickt wurde, um mich vom Trübsinn zu befreien. Auf jemanden wie sie hatte ich gewartet, ohne es zu wissen. Ich begriff sofort, dass zwischen uns eine Verbindung war, wie sie nur zwischen Menschen mit gleichem Schicksal möglich war. Wir mussten uns nicht erst an der Theke Mut antrinken, um uns zu lieben. Mit dieser Frau würde ich genau die Abenteuer erleben können, die ich in der Millionenstadt immer gesucht hatte. Und wenn es keine Abenteuer mehr gab, dann würden wir uns eben selbst genügen. Niemals mehr würde ich stundenlang am Fenster stehen und auf die Leopoldstraße blicken müssen.

 

In diesem Augenblick traf ich eine Entscheidung. Viel zu oft in meinem Leben hatte ich durch Zögern gute Gelegenheit an mir vorüber ziehen lassen. Diesmal würde mir das nicht passieren. Mit einer Geste zeigte ich der Frau an der Bushaltestelle, dass sie nicht weggehen sollte. Dann schloss ich das Fenster, streifte mir hastig Anorak und Schuhe über und verließ die Wohnung. Ich wartete nicht auf den Aufzug, sondern sprang die fünf Stockwerke durch das Treppenhaus herunter, immer mehrere Stufen auf einmal nehmend. Durch die Haustür betrat ich die Szenerie, die ich gerade eben noch von oben analysiert hatte. Auf der Straße war der Lärm noch unmittelbarer und lauter. Doch meine Seelenverwandte stand immer noch an der Bushaltestelle und hatte auf mich gewartet.

 

Ich wollte, nein ich musste zu ihr auf die andere Seite. Und auch sie wollte, dass ich kam.  Sonst hätte sie längst die Flucht ergriffen. Was ich ihr sagen würde, wenn ich drüben war, wusste ich noch nicht. Doch wo sich keine Worte formten, würden Gesten genügen. Nur wenige Meter die Straße hoch war ein Café, in das ich sie einladen würde. Von dort aus konnte man ebenfalls die Straße überblicken. Ich würde ihr erzählen, was ich in den Stunden meiner Einsamkeit alles beobachtet hatte, und sie würde mir zustimmen. Doch zwischen mir, ihr und dem Café lag noch ein letztes Hindernis, das es zu überwinden galt. Der Verkehr auf der Straße war immer noch sehr dicht. Die Bushaltestelle nicht aus den Augen lassend, suchte ich nach einer Lücke in der Automasse, durch die ich schlüpfen konnte. Doch der Fluss riss nicht ab. Auch ihr wurde das Warten nun zu lange. Sie deutete mir an, dass sie zu mir hinüberkommen wolle. Ich nickte und lächelte ihr zu. Ich verstand, was sie vorhatte. Nun, wo ich meine Rolle aufgegeben hatte, wollte auch sie sich lösen. Wir würden gemeinsam unser eigenes Theaterstück schreiben. Und darin würden wir die Rollen gerechter verteilen. Sie ging los auf die Straße. Das letzte, was ich vor dem Aufprall hörte, war das Kreischen und Quietschen von Autobremsen. Dann fiel der Vorhang.

Impressum

Texte: Mark Read
Tag der Veröffentlichung: 06.01.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch wurde für den Kurzgeschichten-Wettbewerb bei Bookrix im Januar 2014 zum Thema "Im Großstadtdschungel" geschrieben.

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