Es gibt Menschen, die leicht aus der Masse herausstechen und die durch ihr Äußeres oder durch herausragende Fähigkeiten den Eindruck vermitteln, etwas Besonderes zu sein. Herbert Ritzinger war keiner von ihnen. Er war ein durch und durch unscheinbarer Zeitgenosse. Hätte man Freunde und Bekannte gefragt, was das Besondere an Herbert Ritzinger ist, hätten sie wahrscheinlich lange und angestrengt überlegt und dann irgendetwas gemurmelt wie "Also, er ist sehr höflich und nett ... aber Besonders ... tja ...". Es gab einfach nichts aufregendes über ihn zu erzählen. Er hatte keinerlei besondere Interessen, spielte kein Instrument, war kein Cineast oder Theatergänger oder Kunstexperte. Die, die ihn umgaben, schätzten ihn als einfachen, aber aufrechten Menschen. Ein stiller und umgänglicher Typ. Sehr beliebt bei den Kollegen in der Finanzdirektion, weil er immer ein offenes Ohr hatte und gerne half, wenn irgendwo Not am Mann war.
Bereits als Kind sah er so aus wie tausende andere Kinder. Er war ein stiller Junge, der wie alle seiner Altersgenossen im lokalen Fußballverein spielte, dort aber kein übermäßiges Talent zeigte. Auch tat er sich in keinem schulischen Fach besonders hervor, lediglich in Mathematik und Wirtschaftslehre schrieb er annehmbare Noten. Früh war deshalb klar, dass er eines Tages eine Karriere im Finanzsektor anstreben einschlagen würde. Nach bestandenem Durchschnitts-Abitur wurde aus dem Schüler also ein Beamter in der Finanzdirektion München, aus dem jungen Ritzinger im Laufe der Jahre ein völlig durchschnittlicher älterer Herr.
Schon in der Schule hatte Herbert seine zukünftige Frau kennengelernt. Monika und er wurden auf einer Jahrgangsfeier ein Paar, da war er 18 Jahre alt und sie 17. Fünf Jahre später heirateten sie und verbrachten ihre Flitterwochen am Gardasee. Sie waren ein ruhiges Ehepaar, das ein bescheidenes, aber sehr zufriedenes Leben führte. Streit gab es bei ihnen so gut wie nie. Auch der unerfüllte Kinderwunsch trübte das Eheglück nicht. Im Winter fuhren Herbert und Monika gerne zum Skifahren nach Garmisch. Im Sommer ging es meist nach Italien. Fernreisen oder exotische Abenteuer - das brauchte das Paar nicht. Sie waren einander genug und liebten es, abends auf der Couch eine Unterhaltungssendung anzusehen oder still nebeneinander ein Buch zu lesen.
Mehrmals die Woche traf sich Herbert mit Freunden in einer Giesinger Kneipe. Die Clique kannte sich untereinander schon seit der Schulzeit, es waren die einzigen engen Bekannten, die Herbert außer seiner Monika hatte. Seinem Naturell entsprechend war er am Stammtisch immer eher stiller Zuhörer als Geschichtenerzähler. Doch wenn er zuweilen einen trockenen Kommentar einstreute, klopften ihm die Freunde auf die Schulter und brüllten lachend: "Herbert, du bist echt ein Original!". Dann hoben sie alle gemeinsam die Maßkrüge und stießen auf das Leben und die Freundschaft an.
32 Jahre lang führte Herbert dieses unscheinbare, aber zufriedene Dasein. Der Lebensrhythmus einer immer hektischer werdenden Welt ging scheinbar unbeirrt an ihm und seiner Gattin vorüber. Da schlug das Schicksal eines Tages mit voller Wucht zu. Monika kam von einer Routineuntersuchung beim Arzt völlig verstört und tränenüberströmt zurück in die gemeinsame Dreizimmerwohnung. Diagnose: Krebs. Für eine vollständige Heilung war es bereits zu spät. Sie starb nur Monate später mit gerade einmal 54 Jahren. Von einem Tag auf den anderen war Herbert Ritzinger Witwer.
Wenige Wochen nach dieser Tragödie kam Ritzinger wieder ins Büro. Seine Kollegen hatten sich darauf vorbereitet, einen gebrochenen Mann anzutreffen. Doch davon war nichts zu spüren. Er wirkte sehr gefestigt - mehr noch, er schien sich plötzlich mit einem noch nie gekannten Eifer in seine Arbeit zu stürzen. Hatte er in den Jahren zuvor meistens Dienst nach Vorschrift verrichtet, so arbeitete er nun nicht nur seine Akten in einem Höllentempo durch, sondern übernahm auch liegen gebliebene Fälle der Kollegen. Dieser Einsatz blieb seinen Vorgesetzten natürlich nicht verborgen. So kam es, dass Herbert Ritzinger wenige Jahre vor der Rente noch einmal befördert wurde.
Auch in der Giesinger Kneipe ließ er sich wieder regelmäßig blicken. Seine Freunde waren ebenfalls erstaunt, dass Ritzinger sich durch den tragischen Verlust kein bisschen verändert hatte. Er war der selbe stille und sympathische Zuhörer wie all die Jahre zuvor. Trotzdem vermieden sie es, ihn direkt auf Monikas Tod anzusprechen. Oft saßen sie noch zusammen, wenn er sich bereits nach Hause verabschiedet hatte, und sprachen über ihren engen Freund, der viel zu früh Witwer geworden war. Steckte hinter seinen freiwilligen Überstunden im Büro nicht auch die Angst vor der Einsamkeit in der Wohnung, die nun zu groß für ihn alleine geworden war? Was würde passieren, wenn Herbert in wenigen Jahren in Rente gehen würde?
"Ihr werdet sehen", sagte einer aus der Gruppe, "er wird jeden Abend hier sitzen und sein Bier trinken. Er hat ja daheim niemanden mehr. Hoffentlich hat er den Alkohol dann noch im Griff." "Im Gegenteil", meinte ein anderer. "Ich fürchte, wir werden ihn gar nicht mehr zu Gesicht bekommen. Er wird daheim vor dem Fernseher versumpfen und abstumpfen wie so viele andere alleinstehende Rentner." "Jedenfalls müssen wir ein Auge auf Herbert haben", gab ein Dritter zu bedenken. Alle nickten zustimmend und hoben ihr Glas auf den Freund, der den Verlust seiner geliebten Frau so tapfer weggesteckt hatte.
Doch natürlich nahm die Zeit auf derlei Bedenken keine Rücksicht und lief ungerührt weiter. Tag für Tag, Monat für Monat und schließlich Jahr für Jahr rückte das Rentenalter immer näher. Eines Tages wurde Ritzinger schließlich mit einer kleinen, aber netten Zeremonie in den Ruhestand verabschiedet. Sein Vorgesetzter hielt eine kurze Rede, in der er den bemerkenswerten Arbeitseifer des geschätzten Kollegen vor allem in den letzten Jahren lobte. Mit mehreren großen Blumensträußen, einer Kiste teuren Weines und einem Reisegutschein in dreistelliger Höhe verließ Ritzinger zum letzten Mal das Büro, in das er über 40 Jahre lang jeden Tag ein- und ausgegangen war.
Am nächsten Tag fiel den Freunden in der Stammkneipe auf, dass er noch ruhiger war als sonst. Fast schon abwesend starrte Ritzinger auf das Bierglas vor ihm auf dem Tisch. An den üblichen Politik- und Fußballdebatten beteiligte er sich nicht, bei den derben und witzigen Sprüchen lachte er nicht. Unbemerkt tauschten die Freunde am Tisch Blicke aus, ehe einer von ihnen Herbert die Hand auf die Schulter legte. "Sag mal, was ist denn mit dir los? Fehlt dir etwas?"
Ritzinger hob den Kopf und blickte in die Runde. "Meine Monika", sagte er schließlich. In die plötzlich entstandene Stille hinein ergänzte er nach einigen Sekunden. "Mein Leben." Anschließend trank er sein noch halbvolles Bierglas in einem Zug aus und ging.
Die Stammtischrunde war sprachlos. Niemand von ihnen hatte Ritzinger jemals so niedergeschlagen erlebt. Die Besorgnis stieg in der nächsten Zeit noch an, denn Ritzinger war wie vom Erdboden verschwunden. Er tauchte einfach nicht mehr in der Giesinger Kneipe auf, die über Jahrzehnte hinweg sein zweites Wohnzimmer gewesen war. Nach drei Wochen beschloss einer der Freunde, auf dem Weg zur Kneipe bei Herberts Wohnung vorbeizugehen. Als er auf der Straße vor dem Mietshaus stand, sah er in Rizingers Wohnung im dritten Stock kein Licht brennen. Beunruhigt klingelte er an der Tür, doch niemand öffnete. Am nächsten Tag das selbe Bild. Die Wohnung war verlassen.
"Wo kann er nur sein?", fragte sich die Stammtischrunde besorgt. "Er hat nach Monikas Tod doch niemanden mehr außer uns." Anrufe auf Ritzingers Handy waren zwecklos, das Telefon schien ausgeschaltet zu sein. "Vielleicht musste er einfach mal raus", mutmassten einige aus der Gruppe. "Hoffen wir's", sagten andere bedrückt. Niemand wollte den Schlimmsten aller Gedanken aussprechen.
Einige Tage und weitere erfolglose Versuche einer Kontaktaufnahme später waren Ritzingers Freunde bereits kurz davor, die Polizei zu verständigen. Eines Mittwochs dann – es waren mittlerweile schon fast fünf Wochen seit seinem letztem Besuch vergangen – kam einer der Freunde aufgeregt in die Kneipe. Er hatte in seinem Briefkasten eine Postkarte von Ritzinger gefunden.
Die Karte war von Teneriffa aus geschickt worden. Dies sorgte für nicht wenig erstaunen, da Ritzinger früher nie weiter verreist war als an den Gardasee oder an die Costa Brava. Wohlgemerkt mit dem Auto. Ob Ritzinger in seinem Leben überhaupt schon einmal in einem Flugzeug gesessen hatte, vermochte niemand mit Sicherheit zu sagen. Und jetzt plötzlich Teneriffa?
"Es geht mir gut", war auf der Rückseite der Postkarte zu lesen. "Ich genieße den Frühling." Ritzingers Freunde sahen sich erstaunt an. Es war Oktober, der Frühling war bereits lange vorbei. Hatte er aus lauter Kummer den Verstand verloren?
Wenige Tage später hatte ein anderer aus der Runde eine Postkarte mit Ritzingers Handschrift im Briefkasten liegen. Diesmal war sie von der portugiesischen Insel Madeira aus abgeschickt worden. "Der Frühling auf Madeira ist einfach toll", schrieb Ritzinger. "Der spinnt doch", sagten einige der Freunde, als sie das lasen. "Was treibt er denn so weit weg von zu Hause?"
Niemand wusste eine Antwort darauf, und die Verwirrung wuchs weiter, als die nächste Postkarte aus Istanbul eintraf. Ritzinger in der Türkei! Ausgerechnet er, der, obwohl er sich nie zu ausländerfeindlichen Sprüchen hatte hinreissen lassen, doch immer das Paradebeispiel eines konservativen deutschen Spießbürgers gewesen war. Es fiel ihnen allen schwer, sich einen wie ihn in der Exotik von "Tausendundeiner Nacht" vorzustellen. Das Bild auf der Postkarte zeigte eine malerische Aufnahme der Blauen Moschee. Auf der Rückseite stand: "Frühling in Istanbul - ich fühle die Wärme und genieße die beeindruckende Pracht dieser Stadt".
"Frühling? Was soll der Mist? Wir haben schon November, die Temperaturen gehen gegen Null, und Ritzinger erzählt uns irgendetwas von Frühling!", brummte einer aus dem Stammtischrunde. "Will er uns zum Narren halten?" - "Weißt du", sagte ein anderer nach einer kurzen Pause. "Ich habe das Gefühl, er ist gerade sehr glücklich. Lass ihn doch."
Die Tage und Wochen vergingen, und Ritzingers Weltreise führte ihn zu immer exotischeren Zielen. Es trafen Postkarten aus Peking und Hongkong ein, er schickte Grüße aus Tibet, aus Manila, aus Havanna, aus Sydney und San Francisco, aus Montevideo und sogar aus Rio de Janeiro. Immer beschrieb er den Frühling im jeweiligen Ort, den er gerade besuchte - egal, zu welcher Jahreszeit er dort tatsächlich war. In Giesing warteten Ritzingers Freunde begierig auf ein neues Lebenszeichen des Verschollenen.
Doch dann riss der Strom eines Tages plötzlich ab. Ritzingers letzte Karte war von der spanischen Insel La Gomera aus verschickt worden - ein Ort, der einigen der Stammtischbrüder nichts sagte und den sie erst einmal auf der Weltkarte suchen mussten. Doch dann - nichts mehr. Kein Lebenszeichen. Wochen vergingen, und der Giesinger Stammtisch wurde immer nervöser. Anrufe auf Ritzingers Mobiltelefon brachten nichts, die Nummer war bereits seit Monaten nicht mehr aktiv. Niemand wusste, ob Ritzinger noch lebte oder wie man von einer Münchener Stadtteilkneipe aus eine Suche nach ihm organisieren sollte. "Ihr werdet sehen - er genießt halt einfach den Frühling diesmal ein bisschen länger", versuchte einer der Freunde die anderen zu beruhigen. Doch sein Lachen war gespielt und nervös. Insgeheim dachten alle daran, dass Ritzinger etwas zugestoßen sein könnte - dass seine Weltreise ihn ins Verderben geführt haben könnte. Erleichtert durften sie einige Zeit später feststellen, dass sie sich erneut geirrt hatten.
Denn als der Kalender April zeigte und der Winter auch in München endgültig den Rückzug angetreten hatte, war er auf einmal wieder da. Ohne Vorwarnung stand Ritzinger eines Abends plötzlich in der Kneipe. Er war kaum wiederzuerkennen: Er sah gesund aus, war braungebrannt und trug ein schickes, sommerliches Hemd. Vor allem war er nicht alleine. "Darf ich vorstellen - das ist Veronica", präsentierte er der verdutzten Runde seine Begleiterin. "Meine Frau."
"Deine Frau?" - "Ja, wir haben vorige Woche geheiratet. Jetzt verbringen wir unsere Flitterwochen notgedrungen hier, denn ich muss hier ja noch einiges regeln. Die Wohnung auflösen zum Beispiel. Und dann ... geht's zurück nach La Gomera." Im Raum herrschte eine gebannte Stille. Selbst der Wirt hinter dem Tresen hörte interessiert zu. "La Gomera?", fragte einer aus der Runde schüchtern. "Ich weiß, dass ihr erst nachschauen musstet, wo das liegt", lachte Ritzinger. "Da haben wir uns kennen gelernt und nach ein paar Wochen gemerkt, dass es mehr ist als nur eine Urlaubsliebe." Lapidar fügte er hinzu: "Ach so, Veronica versteht euch leider nicht. Sie spricht nur Spanisch, will aber jetzt Deutsch lernen." Alle Blicke fielen auf die schüchtern lächelnde Frau an Ritzingers Seite. Sie war ein paar Jahre jünger als er und sah tatsächlich aus wie die südländische Ausgabe von Monika.
Obwohl sie ihn teilweise seit über 50 Jahren kannten, lernten die Mitglieder der Stammtischrunde an diesem Abend einen völlig neuen Herbert Ritzinger kennen. Das war nicht mehr der stille, ruhige, höfliche Beamte in der Finanzdirektion. Keine Spur mehr zu sehen von dem Witwer, der nach Monikas Tod ein zurückgezogenes Leben geführt hatte. Hier stand ein lebenslustiger, weltoffener Mensch, der viel jünger wirkte als er wirklich war. Kein müder Rentner, sondern ein redseliger, selbstbewusster Mann, der seinen Freunden erstaunliche Geschichten und Anekdoten aus seinen Reisen erzählte, der lauthals lachte und mit seiner guten Laune alle ansteckte. Jeder merkte, dass er dem letzten Drittel seines irdischen Daseins mit Zuversicht und Freude entgegensah.
Ritzinger bestellte eine Runde Bier für alle und für seine Frau ein Glas guten Wein. "Lasst uns anstoßen", rief er, was er in all den Jahren noch nie getan hatte. "Auf das Leben." Gläser klirrten. Ein paar Schlücke später stellte einer der Freunde Ritzinger eine Frage. "Sag mal, Herbert - was hat es eigentlich mit dieser Frühlingssache auf sich? Du hast auf jeder einzelnen Postkarte etwas vom Frühling geschrieben."
"Tja", sagte Ritzinger und wischte sich mit dem Handrücken den Bierschaum vom Mund. "Es ist doch so: Der Frühling ist einfach die schönste Jahreszeit. Da ist der Winter vorbei, es wird wieder wärmer, man kann sich wieder nach draußen setzen und ..." Er schwieg kurz. Dann sah er zu seiner neuen Frau hinüber. "Das schönste am Frühling ist: Es dauert noch so lange bis zum Ende des Jahres. Man hat noch so viel Zeit."
ENDE
Texte: Mark Read
Bildmaterialien: Bookrix
Tag der Veröffentlichung: 11.04.2013
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