Mir fiel sofort auf, dass mit dem Haus etwas nicht stimmte. Etwas war anders als sonst. Kleine Pfosten standen an der Straße vor der Einfahrt, an ihnen hing rot-weißes Absperrband. Kein Licht war zu sehen. Am Hang hinter dem Haus erkannte ich trotz der Dunkelheit die Umrisse von Baustellenfahrzeugen. Ich stellte mein Auto ab und stieg aus.
Was mich beunruhigte, war die gespenstische Stille, die mich umgab. Es wirkte nicht so, als wären die Bewohner des Hauses nur kurz spazieren. Vielmehr schien schon seit Wochen niemand mehr hier gewesen zu sein. Die Buckelige dämmerte still, grau und traurig vor sich hin. Dieses seltsame Haus mit dem seltsamen Namen, in dem ich viele Stunden meiner Kindheit verbracht hatte.
Es lag zwar am äußersten Ortsrand, schon halb im angrenzenden Wald. Trotzdem war das Haus im ganzen Dorf bekannt, und viele Anwohner hatten schon einmal einen Spaziergang in den Wald unternommen, nur um daran vorbeizugehen. Es war die ungewöhnliche Bauweise, die dem nicht sonderlich großen Anwesen einen gewissen lokalen Ruhm bescherte. Von Außen betrachtet erinnerte es an eine skurrile Mischung aus Fachwerkhaus und Hexenhäuschen. Seine linke Seite war ein Flachbau mit einer riesigen Eingangstür aus Holz. Direkt daneben ragte rechts ein turmartiger, erhöhter Teil empor. Der Bürgermeister unseres Ortes, ein Freund meines Vaters und daher oft bei uns zu Besuch, hatte für das kleine Anwesen beim Wald einen passenden Spitznamen. Immer, wenn ich von hier zurück nach Hause kam und er gerade mit meinen Eltern am Tisch saß, begrüßte er mich mit den Worten: "Na, kommst du wieder von der Buckeligen?".
Die Buckelige, das Hexenhäuschen. Der Name setzte sich irgendwann im ganzen Dorf durch. Hier also hatte Stefan mit seiner Familie gewohnt, so lange ich zurückdenken konnte. Doch jetzt sah alles verlassen aus. Ich war in den letzten Jahren nicht häufig in meinem Heimatdorf gewesen, doch wenn ich meine Eltern dann doch einmal besuchen kam, fuhr ich immer direkt an der Buckeligen vorbei.
Stefans Zimmer war das oberste Zimmer im kleinen Turm. Ich blickte hoch und erkannte sofort das Fenster wieder. Oft, wenn ich aus Richtung des Dorfes zu Besuch kam, stand er schon oben und begrüßte mich lautstark aus dem geöffneten Fenster, sobald er mich sah.
Ich hob das Absperrband an und schlüpfte darunter hindurch. Eine der Scheiben an der Stirnseite des Häuschens war eingeschlagen. Mit dem Licht, das mein Handy-Display erzeugte, konnte ich erkennen, dass innen alles leergeräumt war.
Ich ging zur Eingangstür und stellte fest, dass sie zwar abgeschlossen, aber auch schon morsch war. Offensichtlich war sie schon lange nicht mehr benutzt worden. Was konnte hier nur vorgefallen sein? Unwillkürlich fiel mir ein, wie ich das erste Mal durch die große Holztür gegangen war. Stefan und ich müssen damals in der dritten oder vierten Klasse gewesen sein. Wir hatten zwar schon denselben Kindergarten besucht, doch angefreundet hatten wir uns erst in der Grundschule. Stefan fragte mich eines Tages, ob ich nach der Schule noch mit zu ihm nach Hause kommen wolle. Selbst nach all den Jahren konnte ich mich noch lebhaft an das mulmige Gefühl erinnern, als ich durch die Eichentür, die mir damals noch viel größer vorgekommen sein musste als jetzt, zum ersten Mal das Innere der Buckeligen betrat. Vielleicht hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt tatsächlich noch geglaubt, dass hier eine Hexe wohnt.
Stefan hatte von seinen Eltern einen großen Kassettenspieler geschenkt bekommen, der auch ein Aufnahmemikrofon hatte. Direkt bei meinem ersten Besuch nahmen wir zum ersten Mal etwas damit auf, irgendeinen Blödsinn, den wir anschließend mit halb gedrückter Pausetaste anhörten, was dazu führte, dass das Band doppelt so schnell abgespielt wurde. Wir haben uns halb tot gelacht über unsere komischen und nach oben verzerrten Stimmen. Im Laufe der nächsten Monate müssen wir dutzende Kassetten besprochen und wieder überspielt haben. Stefan und ich wurden beste Freunde, wir unternahmen jeden Tag etwas zusammen. Die Angst vor der Buckeligen verlor ich in Windeseile. Mehr noch, ich fühlte mich sogar richtig wohl in ihr. Zumal sie einige Geheimnisse hatte, die es zu erkunden gab.
Im flachen Teil des Gebäudes konnte man über eine angelehnte Leiter in einen Speicher klettern, der über der Garage lag. Hier haben wir oft gelegen und aus dem winzigen Fenster in den angrenzenden Wald geschaut. Einmal, es war ein heißer Sommertag, kletterte Stefan nach unten, um etwas aus dem Haus zu holen. Am Fuß der Leiter angekommen, nahm er sie weg. Es war ein harmloser Spaß, doch ich hatte nie zuvor so viel Angst gehabt. Ich schrie und weinte stundenlang, und Stefan bekam von seinen Eltern eine Standpauke. Wir durften nie wieder im Speicher spielen.
Stefans Eltern waren immer nett zu mir. Sie ließen mich gerne bei ihnen übernachten, im Sommer zelteten wir ab und zu im Garten. Sein Vater liebte es, mit uns auf der Wiese hinter dem Haus Fußball zu spielen – obwohl es dort abschüssig war und der Ball ständig hinunter in Richtung der Hecke rollte. Er war selbst kein schlechter Fußballer, doch er ließ uns immer gewinnen. Stefans Mutter stellte uns immer Gebäck und warmen Kakao auf den Tisch, damit wir uns nach dem Sport stärken konnten.
Nach der vierten Klasse wechselten wir beide gemeinsam auf das Gymnasium in die Kreisstadt. Jeden Tag mussten wir etwa eine halbe Stunde mit dem Bus dorthin fahren. Natürlich saßen Stefan und ich im Bus nebeneinander. Er schrieb die Englisch-Hausaufgaben bei mir ab - in Fremdsprachen war ich deutlich besser als er. Dafür half er mir oft bei Mathe. Bei uns wusch damals eine Hand die andere. Wenn es nichts abzuschreiben gab, unterhielten wir uns im Schulbus über die "Simpsons" oder andere TV-Serien.
Auf dem Gymnasium lernten wir natürlich neue Freunde kennen, doch Stefan und ich blieben noch jahrelang unzertrennlich. Obwohl wir letztlich doch getrennt wurden – zumindest schulisch. Nach der sechsten Klasse mussten wir uns für Französisch oder Latein als zweite Fremdsprache entscheiden, wir wurden auf verschiedene Klassen aufgeteilt. Ich nahm auf dringendes Anraten meiner Eltern Französisch, während Stefan in der Latein-Klasse landete. Doch unsere enge Freundschaft überlebte zunächst auch das. Als das Teenageralter begann, waren wir immer noch beste Kumpels. Oft war er nach der Schule bei mir oder ich bei ihm, und wir hörten gemeinsam The Offspring, die Toten Hosen, die Ärzte oder später, als wir cooler sein wollten, die ersten Tocotronic-Alben. Uns gefiel das Rebellische, Parolen wie "Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein".
An meinem 14. Geburtstag feierte ich bei mir zu Hause eine große Party. Meine Eltern waren für ein paar Tage weggefahren, und ich lud jede Menge Freunde ein. An diesem Abend hatte ich meinen ersten Rausch. Es war die Zeit der ekligen Alcopops. Stefan knutschte auf unserer Terrasse mit Lena aus meiner Klasse herum, die dann seine erste Freundin wurde. Nach ein paar Wochen war es allerdings schon wieder aus. Das war das einzige Mal, dass ich ihn weinen sah. Seltsam, dass ich mich ausgerechnet daran noch so gut erinnern konnte.
Das Knacken eines Zweiges riss mich aus meinen Gedanken. Ich wartete in der Dunkelheit einige Sekunden, doch hörte nichts mehr. Es war wohl nur ein Tier oder der Wind gewesen. In der Kälte des Herbstabends konnte ich meinen Atem sehen. Während ich die unförmigen Luftgebilde anstarrte, dachte ich an eine spätere Phase aus meiner Jugend. Etwa in der Mittelstufe geschah es, dass Stefan und ich von engen Freunden zu Bekannten wurden, ohne dass wir es merkten.
Es war ein länger andauernder Prozess. Irgendwann begann ich, eigene Interessen zu entwickeln, die sich von Stefans unterschieden. Ich verbrachte immer mehr Zeit damit, den großen Bücherschrank meiner Eltern systematisch zu durchstöbern und verschlang alles, was mir anspruchsvoll erschien. Stefan las so gut wie nie etwas, das über den "Kicker" hinaus ging. Einmal fragte er mich, ob soviel Lesen nicht schlecht für die Augen sei. Ich konnte schon damals nicht verstehen, wie man so etwas überhaupt fragen kann. Ich war gewohnt, dass wir alles zusammen für uns entdeckten, wie es bei der Rockmusik der Fall gewesen war. Doch meine Begeisterung für die Literatur prallte an ihm völlig ab.
Auch umgab er sich immer öfter mit Typen, die mir überhaupt nicht sympathisch waren. Laute und raue Jungs aus dem Fußballverein etwa, mit denen er sich häufig unten beim Vereinsheim betrank. Einer der Leute aus seiner anderen Clique war Rainer, der Sohn des Metzgers, im ganzen Dorf bekannt als Nazi. Ich konnte nicht verstehen, warum mein bester Freund ausgerechnet mit so einem stoppelhaarigen, grobschlächtigen Kerl herumhing. Ich erinnerte mich daran, wie mir Stefan einmal sagte, dass Rainer gar nicht so schlimm sei, sondern dass er nur keine Lust habe, sich vorschreiben zu lassen, wen er zu mögen habe und wen nicht. Eines Tages sah ich auf Stefans Schreibtisch eine CD der Böhsen Onkelz liegen. Ich begriff sehr wohl, was das zu bedeuten hatte.
Als meine Mutter mich dann – vielleicht Wochen, vielleicht Monate später – darauf ansprach, dass sie Stefan zusammen mit Rainer durchs Dorf habe laufen sehen und mich fragte, ob ich etwa auch mit dem Dorfnazi unterwegs sei, konnte ich sie beruhigen. Ich hatte keine Lust mehr, Stefan gegenüber meiner Mutter in Schutz zu nehmen. Zu diesem Zeitpunkt war die Entfremdung bereits fortgeschritten. Wir sprachen natürlich noch miteinander, es hatte nie einen Streit gegeben, aber das Vertraute zwischen uns war schon ein Stück weit verschwunden. Ich weiß, dass er das genauso empfand wie ich.
Im Haus seiner Eltern war ich damals so gut wie gar nicht mehr. Das machte mir aber nichts aus, ich war inzwischen fast nur noch mit Klassenkameraden aus der größeren Kreisstadt unterwegs. Sie umgab im Gegensatz zu Stefan ein Hauch von weiter Welt. Einer meiner neuen Freunde schrieb sogar Gedichte und Kurzgeschichten, und wir veranstalteten ab und zu Lesezirkel. Wir fühlten uns damals wahnsinnig intellektuell. Die Buckelige fehlte mir kein bisschen.
Mit 17 hatte ich meine erste feste Freundin. Sie hieß witzigerweise Stefanie und interessierte sich wie ich für Bücher, britische Musik und anspruchsvolle Filme. Ich habe sie Stefan nie vorgestellt. Warum auch? Wir sahen uns ohnehin kaum noch. Wir besuchten auch nicht mehr dieselbe Schule. Ich hatte noch mitbekommen, dass Stefans Noten immer schlechter wurden, besonders in Englisch und Deutsch. Doch wir halfen uns mittlerweile nicht mehr gegenseitig mit den Hausaufgaben, da wir auch im Schulbus nicht mehr nebeneinander saßen. Er verließ das Gymnasium nach der zehnten Klasse mit der Mittleren Reife in der Tasche und begann eine Bänkerlehre. Das erfuhr ich von ihm selbst bei einer unserer seltenen zufälligen Begegnungen im Dorf.
Stefan lud mich noch auf die Party zu seinem 18. Geburtstag ein, doch ich hielt es dort nicht lange aus. Er feierte nicht im Haus seiner Eltern, sondern im Vereinsheim beim örtlichen Fußballplatz. Aus den Boxen dröhnte harter Deutschrock, dessen Texte mich abschreckten. Ich fühlte mich fremd inmitten der Dorfjugend, mit der Stefan sich jetzt ausschließlich umgab. Die Fußballer mit raspelkurzen Haaren, die stark geschminkten Mädchen. Die Typen aus meiner Grundschulklasse, die nun alle eine Lehre beginnen würden oder es schon längst hatten, die nie aus dem Dorf herauskommen würden und sich irgendwann ein Haus direkt neben dem ihrer Eltern bauen würden – zu ihnen fühlte ich mich nicht mehr zugehörig. Stefan hingegen schon.
Wieder wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, weil ein Auto auf der Straße in Richtung des Dorfes vorbei fuhr. Damit mich niemand hinter der Absperrung sah, ging ich hinten um das Haus herum, den Weg mit meinem Handy notdürftig ausleuchtend. Der Garten war noch so, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Vor meinem geistigen Auge sah ich Stefans Mutter – wie hieß sie noch? - die Wäsche auf der Leine aufhängen, die zwischen den beiden Bäumen kurz vor Beginn des Hanges gespannt war.
Auf der Rückseite des Hauses setzte ich mich auf eine Bank und starrte in die Dunkelheit hinaus. Was war damals eigentlich geschehen? Wir waren beide älter geworden, hatten unterschiedliche Lebenswege eingeschlagen und uns irgendwann aus den Augen verloren. Das passierte vielen besten Freunden aus Kindertagen irgendwann. Für mich hatte sich das immer völlig natürlich angefühlt.
Nach dem Abitur zog es mich an die Uni. Ich ging nach München und wohnte dort in einer WG mitten in Schwabing. Meinen ohnehin nur leichten Dialekt legte ich dort schnell ab. Es war aufregend, in einer Millionenstadt zu wohnen und an der Uni Menschen aus ganz Deutschland, ja sogar aus der ganzen Welt kennen zu lernen. Das Dorf vermisste ich nicht. Vielleicht verachtete ich meine Herkunft sogar ein wenig. Ich kam jedenfalls immer seltener hier her. Im Laufe meines Studiums ging ich sogar für einige Monate ins Ausland, wo ich meine jetzige Lebensgefährtin kennenlernte. Ich war ein Großstadtmensch geworden, mehr noch, ein Mann von Welt, der sich eben hauptsächlich mit Dingen von globaler Bedeutung befasste.
Was hatte Stefan wohl in all den Jahren getrieben? War er jemals von hier weg gekommen? War er überhaupt mal im Ausland gewesen? Darüber hatte ich mir niemals Gedanken gemacht. Vermutlich, weil ich es nicht zulassen wollte, an die Vergangenheit zu denken. Wie bequem ich es mir doch in meinem Elfenbeinturm gemacht hatte.
Ich schüttelte den Kopf über mich selbst. Da saß ich also, über 30 Jahre alt und mittlerweile nur noch zu Besuch in der ehemaligen Heimat, die mir fremd geworden war. Ein Entwurzelter. Würden meine Eltern nicht mehr hier wohnen, käme ich wohl gar nicht mehr. Ich hatte den besten Freund meiner Jugendtage seit weit über zehn Jahren nicht mehr gesehen, und vor allem hatte ich nicht die geringste Ahnung, was mit diesem Haus hier passiert war, in dem ich viele schöne Stunden meiner Kindheit verbracht hatte.
Endlose Minuten verharrte ich auf der Bank hinter dem Haus, und dachte an alles und an nichts zugleich. Ich spürte nicht einmal die Kälte des Herbstabends, die sich durch meinen dicken Mantel bis an meinen Körper schlich. Erst das Klingeln meines Handys riss mich aus der Lethargie. Meine Mutter rief mich an.
Es dauerte bis nach dem Abendessen, bis ich genug Mut beisammen hatte, um meine Eltern zu fragen, was es mit der Baustelle beim Haus auf sich hatte. "Ach, wusstest du das nicht?", antwortete meine Mutter erstaunt. "Das Haus wird abgerissen, weil darin ja niemand mehr wohnt."
"Was? Wieso wohnt denn dort keiner mehr?", entfuhr es mir. "Das habe ich dir doch damals erzählt", sagte meine Mutter. "Am Telefon. Frau Brucker ist schon vor Jahren ausgezogen, in der Ehe hatte es wohl schon lange gekriselt. Sie ist zu einem anderen Mann gezogen, nicht hier im Dorf."
"Und ihr Mann? Stefans Vater? Und Stefan?" - Meine Eltern tauschten erstaunte Blicke aus. "Du bist wirklich selten hier", bemerkte mein Vater und starrte betrübt auf das Weinglas in seiner Hand. Ich verstand zunächst nicht. "Hast du das wirklich nicht gewusst? Ich bin mir sicher, dass wir dir damals die Todesanzeige zugeschickt haben."
Ich spürte, wie es mir eiskalt den Rücken herunterlief. "Welche Todesanzeige?", fragte ich und hoffte inständig, dass es nicht Stefan war, der gestorben war, sondern sein alter Herr. Ja, in diesem Augenblick wünschte ich diesem Mann, der immer nett zu mir gewesen war und mit mir Fußball gespielt hatte, den Tod. Mein Vater goss sich und mir einen Schluck Wein ein. "Herr Brucker hat sich das Leben genommen. Vor etwa anderthalb Jahren." Mir schoss das Blut in den Kopf. Vor meinem geistigen Auge sah ich Stefans Vater von einem der Bäume hinter dem Haus hängen. "Kann sein, dass wir da am Telefon mit dir gar nicht drüber gesprochen haben. Aber die Todesanzeige aus dem 'Anzeiger' haben wir dir ganz sicher zugeschickt."
"Nein! Nichts habe ich bekommen!", rief ich und schlug mit der Faust reflexartig auf den Tisch. Meine Eltern blickten mich überrascht an, weil ich plötzlich so laut geworden war. Hatte ich wirklich nichts bekommen oder hatte ich es einfach verdrängt? Vielleicht hatte ich ihn einfach nicht geöffnet, weil ich mit meiner Vergangenheit nichts zu tun haben wollte. "Tut mir leid", murmelte ich. "Aber … ihr müsst verstehen, dass mich das jetzt überrumpelt hat. Außerdem -" Ich stockte kurz. "Außerdem habe ich zufällig heute wirklich an Stefan gedacht. Zum ersten Mal seit …" Ich wusste nicht, seit wann. Jede Zeitspanne wäre eine reine Schätzung gewesen.
Es entstand eine unangenehme Pause. Meine Mutter ergriff das Wort. Sie sah mitgenommen aus. "Stefans Vater hatte offenbar massive Schulden. In den letzten Jahren hatte er wohl auch keine Arbeit mehr. Hier im Dorf hat ihn fast niemand mehr zu Gesicht bekommen. Gefunden hat ihn dann … jemand, den die Bank vorbeigeschickt hat."
"Stefan?", fragte ich. Meine Eltern nickten. Ich starrte auf die Tischdecke. Sie war kariert, in den Farben rot und weiß. Das Muster fraß sich in meine Netzhaut, während mir tausend Gedanken durch den Kopf schossen. Ich hatte Stefans Welt verlassen oder er meine, jedenfalls hatten wir in den letzten Jahren offenbar auf verschiedenen Planeten gelebt. Ob er irgendwann an mich gedacht hatte? An die ausgelassenen und sonnigen Tage unserer Kindheit? Was ging in ihm vor, als er seinen Vater tot auffand?
"Er ist letztes Jahr weggezogen", sagte mein Vater nach einer weiteren Pause. "Wohin, wissen wir nicht. Aber seinen Job in der Bank hat er gekündigt. Vielleicht wollte er ganz neu anfangen."
Ich nickte und blickte aus dem Fenster in die Dunkelheit. Plötzlich musste ich lächeln. Ich wusste, was ich jetzt zu tun hatte. In der Spiegelung des Fensters konnte ich sehen, wie sich meine Eltern wieder überrascht anblickten.
Am nächsten Tag war ich wieder beim Haus. Bei Tageslicht betrachtet sah die Buckelige noch trostloser aus als in der Dunkelheit. Und doch ging von dem heruntergekommenen Gebäude mit dem kaputten Fenster und der morschen Holztür nach wie vor eine Anziehungskraft aus.
Es war Sonntag, daher arbeitete niemand auf der Baustelle. Dennoch schienen die Planierraupe und der Bagger nur darauf zu warten, zur Tat zu schreiten. Nicht mehr lange, und das Haus würde vom Erdboden verschwunden sein. Vielleicht würde hier ein neues Haus entstehen, eines, das von der Geschichte noch unbefleckt war und mit dem niemand Erinnerungen verbinden konnte. Ich saß wieder auf der Bank hinter dem Haus und blickte in den Garten. Der Wald lag still und unbewegt dahinter. Die Luft war klar und rein.
Ich hörte, wie auf der Straße ein Auto angefahren kam und abbremste. Es bog auf die Einfahrt ein. Ich stand auf und schlenderte um das Haus herum. Mein Herz pochte, ich spürte wie meine Beine zitterten. Stefan hatte sich kaum verändert. Ich erkannte ihn sofort wieder, als er aus dem Auto stieg. Sein Gesicht war fülliger geworden, er bekam den Ansatz einer Glatze, doch ansonsten erkannte ich in ihm sofort den kleinen Jungen von früher wieder.
Stefan war genauso nervös wie ich. Wir beide wussten nicht, wie wir uns nach so vielen Jahren begrüßen sollten. Ich war verkrampft, ich hatte Angst davor, ihm wie einem Geschäftskunden die Hand zu geben. Stefan ging langsam auf mich zu. Er zögerte, er war unschlüssig. Auf einmal lächelte er und breitete seine Arme aus. Es war eine der schönsten Umarmungen meines Lebens.
"Mein Vater hat das Haus nie geliebt", sagte er später, als wir nebeneinander auf der Bank im Garten saßen. "Er wollte gar nicht hierher ziehen. Doch er hat es von meinem Großvater geerbt, und schon dessen Vater hat hier drin gewohnt. Das Haus ist unendlich alt. Meine Mutter fand das Haus von Anfang an wunderschön. Sie waren damals jung verheiratet und sind vor allem ihretwegen hierher gezogen."
Die Herbstsonne ließ sich zwischen den Bäumen des Waldes blicken. Irgendwo zwitscherten ein paar Vögel. "Wie ist es mit dir?", fragte ich Stefan, ohne ihn anzusehen. "Hast du das Haus geliebt?".
Er schien darüber nachzudenken. "Ja", sagte er nach kurzer Pause. "Ich hatte hier eine schöne Kindheit. Aber trotzdem könnte ich hier nicht leben." Er drehte seinen Kopf und sah mich direkt an. "Du kanntest meine Eltern gut." Ich nickte. "Aber dass mein Vater meine Mutter über Jahre hinweg betrogen und das gemeinsame Geld für Geschenke an seine Geliebte ausgegeben hat, wusstest du das?"
Ich wusste, dass es besser war, jetzt nichts zu sagen. Wir blickten in Richtung der beiden Bäume am Beginn des Abhangs. "Es ist schon gut so, dass das Haus abgerissen wird. Man muss nicht alles bewahren. Alles ist vergänglich, auch die Erinnerung an schöne Tage." Ich musste auflachen. "Seit wann interessierst du dich denn für Philosophie? Das war früher nicht gerade dein Steckenpferd."
Er lachte ebenfalls. "Jetzt schon. Ich bin doch kein Bänker mehr. Ich lerne gerade Französisch an der Volkshochschule und will ins Ausland gehen. Menschen ändern sich. Gerade du solltest das doch wissen."
"Richtig", sagte ich. "Aber trotzdem war früher nicht alles schlecht. Hast du Lust auf ein Comeback des ewig jungen Duells?" Ich griff unter die Bank und holte meinen alten, abgewetzten Fußball hervor. "Ist das tatsächlich der Ball von früher?", fragte Stefan erstaunt. "Den gibt es noch?"
Ich warf den Ball in Richtung der beiden Bäume. "Finale", sagte ich. "Letztes Spiel im alten Stadion. Der Verlierer gibt einen aus."
Texte: Mark Read
Bildmaterialien: Coverbild: Monirapunzel
Tag der Veröffentlichung: 14.02.2013
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