Kapitel eins
Ich sitze auf meinem Bett und tippe schnell eine SMS, die sich, als ich sie abschicke, piepsend von mir verabschiedet und zum Empfänger wandert.
Leicht genervt schmeiße ich das Ding auf mein Bett, schlüpfe aus meinem Schlafanzug und springe in ein dünnes Sommerkleid, das sich an meinen Körper schmiegt, als wäre es für mich geschaffen. Der dünne Stoff schmeichelt meiner Haut, lässt meine schmale Figur weiblicher wirken.
Danach gehe ich zum Spiegel und betrachte mich darin. Ich habe mittelbraunes, recht langes, seidiges Haar, das mir in leichten Stufen über die Schultern fällt. Zischend puste ich den geraden Poni aus meinem leicht kantigen Gesicht. Er bleibt dort, wo ich ihn hinbefördert habe.
Meine Augen sind grün mit braunen Sprenkeln, umrandet von langen Wimpern.
Ich trage mir etwas Lippgloss auf die Lippen auf und forme damit einen Kussmund.
Direkt danach verrolle ich die Augen. Wie das mal wieder aussieht!
Meine Haut ist braun gebrannt, was ziemlich gut zu dem weißen Kleid passt, das mir fast bis über die Knie geht.
"Jamie Valeriya Wood! Bist du bald fertig? Ich muss dich in die Schule fahren. JETZT!", brüllt meine Mutter von unten zu mir herauf.
Sie klingt nicht gerade nett und freundlich.
Mein Gott, die soll sich beruhigen! Ich habe noch jede menge Zeit, es ist erst... Mein Blick wandert zur Uhr, die über meiner Zimmertüre hängt.
Zehn nach acht!
Okay, Mist. Dann muss ich mich eben doch noch beeilen.
Hastig werfe ich meinen Lippgloss in die Ecke, schnappe mein Handy und stopfe es umständlich in meine Schultasche. Dann renne ich aus meinem Zimmer in den Flur.
Laut polternd stolpere ich die Treppe hinunter und stoße mir mein Bein.
"Ah, verdammte Scheiße! Warum müssen Stufenkanten nur so scharf sein?!", zische ich und reibe mein Bein.
Mom kommt mit in die Hüften gestemmten Händen an. Sie sieht nicht gerade gut gelaunt aus. Na super. Da fängt mein Tag ja mal wieder (wie immer) supergut und harmonisch an. Was sind wir doch für eine tolle Familie!
"Jamie! Los, beweg deinen Hintern! Du kommst schon wieder zu spät!", kommandiert meine Mutter, der die blonden, zerzausten Haare wirr ins Gesicht fallen.
Sie deutet auf die Haustüre.
Ich muss fast über ihren Anblick lachen, aber wie gesagt, nur fast.
"Gleich, Mom! Ich habe noch nichts gegessen, ich..."
Da ich die wenigen Minuten, etwas zu essen, nicht verlieren will, indem ich meine Mutter mit Worten zuschütte, rase ich in die Küche und reiße den Kühlschrank auf.
Eilig wühle ich darin herum, stopfe mir hier und dort eine Salamiescheibe in den Mund. Als ich mir sicher bin, dass ich für einige Stunden ohne Essen auskommen kann, schlage ich den Kühlschrank zu.
Meine Schwester Pauline sitzt gemütlich am Tisch und kaut vor sich hin wie eine Kuh. Sie hat die ersten beiden Stunden frei, womit sie mir seit gestern im Rücken liegt und versucht, somit meinen Neid zu wecken. Glückwunsch, jetzt hat sie es geschafft, diese kleine Tyrannin!
Schnell stürze ich aus der Küche durch den Flur.
Meine kleine Schwester kommt mir hinterher und schreit mir irgendetwas beleidigendes nach, woraufhin ich ihr meinen besten Finger zeige. Daraufhin fange ich mir einen bösen Blick von Mom ein, die genervt draußen steht und auf mich wartet.
"Waaas? Sie hat doch angefangen!", maule ich und zucke ratlos mit den Schultern, als wäre ich ein Unschuldslamm.
Bin ich aber nicht, und das weiß Mom nur zu gut. Aber Pauline ist auch keines, jedoch weiß Mom das
nicht. Sie vermutet es nicht. Natürlich nicht, wie könnte ihr kleiner Schatz Pauline nur ein kleiner, verdammter Mistteufel sein, wie sie nun mal einer ist?
Mom und ich schwingen uns gleichzeitig in das kleine, magentafarbene Auto. Uh, das war nicht gut. Unsere Köpfe stoßen hart zusammen. Fluchend reibe ich mir die Beule, die langsam anwächst.
Brummend fährt sie los und weißt mich auf alles mögliche zurecht.
Jamie, du musst noch dies und das in der Schule erledigen. Jamie, du musst noch mit Mr Pancho reden. Jamie, du musst dich mehr anstrengen. Jamie, Jamie, Jamie...
Irgendwann brummt mein Schädel, und das nicht nur wegen der Beule, die jetzt bestimmt so dick wie ein Ei sein muss. Ich versuche, das Muttermonster neben mir zu ignorieren, so gut es geht.
Alles wird gut. Irgendwie.
Tja, und dann kommt Mom erst richtig in Fahrt und wirft mir Zeug wie "Du tust nichts für die Schule! Ich sehe nie, dass du Hausaufgaben machst! Du bist unfähig, Jamie!" an den Kopf.
Sehr aufmunternd, ich weiß.
Jeder meiner Tage fängt beschissen an. Jeden Tag das gleiche. Und heute ist es wieder besonders schlimm. Wenn das so ist, wird der Rest des Tages auch so, nicht nur später zuhause. Nein, auch in der Schule.
Aber was kann mir da schon passieren, außer dass wir vielleicht eine Klassenarbeit schreiben oder mir jemand Schimpfwörter an den Kopf knallt?
Nichts, genau. Mit den Schularbeiten komme ich schon klar (oder auch nicht). Und die Schimpfwörter erwiedere ich auf meine Weise. Tja, so geht das.
"Jamie! Bist du jetzt auch noch blind?!", schreit meine Mutter.
"WAS?", brülle ich sie an.
Sie deutet auf den grauen Schulhof vor uns.
"Aussteigen! Und streng dich bloß an!"
Ruckartig schwinge ich mich aus dem Wagen und gifte:
"War das eine Drohung? Uhhh, jetzt habe ich aber Angst."
Mom guckt mich stinkwütend an. Ich schlage säuerlich lächelnd die Türe zu. Es knallt lauter als beabsichtigt. Naja, egal. Hoffentlich erschreckt sie sich wenigstens.
Sie fährt weg und wirft mir durch den Rückspiegel einen fiesen Blick zu.
Das ist fast jeden Tag so. Immer streiten wir uns, obwohl ich meine Mom eigentlich über alles liebe. Vor drei Jahren war ich noch das kleine Engelchen, und jetzt...
Ich presse die Lippen zusammen und stapfe über den Pausenhof. Dabei mustere ich meine Chucks, die irgendwie nicht richtig zu meinem schlichten Kleid passen wollen.
Na, da würden Cornelia und Suzan, meine Zickenfeindinnen, wieder etwas zum lästern haben. Super...
Ich bewege mich gerade immer mehr auf den Schlund der Hölle zu. Das Fiese: Ich weiß es nicht mal.
Ein Stück
vor dem großen Schuleingang, neben dem Abfalleimer, steht jemand. Ein großer, schwarzer Junge mit einem weißen Shirt, bemuskelt.
Tyson. Was macht der denn noch hier? Hat der Unterricht nicht schon lange begonnen? Naja, ist ja auch egal. Tyson macht öfter mal blau, warum also nicht heute?
"Hey, Ty!", brülle ich grinsend und renne auf meinen besten Freund zu.
Er dreht sich zu mir um und grinst ebenfalls. Dabei leuchtet mir das Weiß seiner Zähne entgegen.
Schwarze haben immer so weiße Zähne! Oder sehe nur ich das so?
Ich muss aufpassen, dass ich nicht über die Stufen fliege, die direkt vor meiner Nase sind.
"Jamie. Na, bist du mal wieder nicht aus dem Bett gekommen? Oder hast du dir in die Hose gemacht und bist deshalb zu spät?"
Ich ramme ihm kräftig meinen linken Ellbogen in die Rippen. Er verzieht noch nicht mal sein hübsches Gesicht.
"Und du? Hast du mal wieder Schiss vor den Lehrern? Oder warst du nur zur Pipi-Pause hier draußen, weil du zu faul bist, aufs Klo zu gehen?"
Wir lachen miteinander, oder besser gesagt, wir lachen uns gegenseitig aus. Wir beiden zusammen sind echt verrückt.
"Na komm, wir gehen rein.", sagt Ty.
Interessiert mustere ich ihn.
Was? Habe ich gerade richtig gehört? Mein bester Freund, der Blaumacher, will in die Schule?
"Gehts dir gut?", frage ich, lege meine Hand auf seine Stirn und imitiere das Geräusch von verdampfendem Wasser.
"Joah, mir gehts gut. Heute mache ich mal nicht blau. Ich muss von der Fünf in Chemie runterkommen."
"Na dann, viel Glück."
Nebeneinander schlendern wir zu unserem Klassenzimmer, darauf bedacht, nicht zu schnell zu gehen. Keiner von uns beiden ist scharf auf Unterricht.
Als wir hineinplatzen, mustert uns Mr Pancho mit einem aufgesetzt traurigen und anklagenden Blick, den er immer anwendet, wenn jemand zu spät kommt. Damit will er uns strafen und uns ein schlechtes Gewissen verpassen. Leider hat diese Masche noch nie geklappt.
"Schön, dass Sie beiden auch mal auftauchen. Setzen Sie sich hin. Sie wissen, dass das Konsequenzen für Ihre Noten haben könnte?"
Er studiert uns ernst und mit versteinerter Miene.
Ty und ich werfen uns einen Blick zu und nicken dann, so ernst und betroffen es möglich ist. Dabei will ich jetzt am liebsten laut auflachen, ihm meinen hübschen Finger zeigen und sagen, dass mir egal ist, ob ich zu spät bin.
Gelangweilt lassen wir uns auf unseren Plätzen nieder.
Die Stunde kriecht dahin, langsam, langsamer...
Jeden Tag das gleiche.
Als dann endlich ein dreifacher Klang ertönt, der die Pause einläutet, komme ich mir vor, als sitze ich schon hundert Jahre hier. Tyson scheint es nicht anders zu gehen.
Zwar haben wir jetzt Pause, aber...
Mr Pancho redet einfach weiter, als ob nichts war!
Alle Schüler haben ihre Schulsachen bereits in ihre Taschen geräumt und warten nur noch darauf, dass er uns entlässt. Was er aber nicht tut.
Na, warte! Das geht uns von der Pausenzeit ab!
Ich erhebe mich und verlasse meinen Platz, steuere direkt auf die Türe zu. Tyson folgt mir wie ein treues Hündchen.
Mr Pancho räuspert sich laut und nennt unsere Namen.
In der Klasse ist es totenstill. Ich kann die Blicke der anderen in meinem Nacken spüren.
"Ich habe Ihnen noch nicht erlaubt, diesen Raum hier zu verlassen."
Ich drehe mich zu ihm herum und schenke ihm ein absichtlich aufgesetztes Lächeln.
"Lieber Mr Pancho, falls sie es noch nicht gehört haben: Die Pause hat vor zwei Minuten begonnen. Deshalb werde ich, so wahr ich hier stehe, jetzt sofort nach draußen gehen und Spaß haben. Auf wiedersehen."
Ich warte seine Reaktion gar nicht ab, sondern verlasse mit Ty den Raum.
Kaum sind wir ein paar Meter entfernt, fangen wir an, laut zu lachen.
"Oh man, hast du sein Gesicht gesehen? Dem hast du es aber gegeben! Das muss dir mal jemand nachmachen!"
Wir brüllen vor lachen.
Um die Ecke kommt Miss Bower, eine junge, blonde Lehrerin gebogen, die uns scheu ansieht und weitergeht.
"Hey, Lady! Hübscher Hintern!", schreit Ty ihr hinterher und lässt dem dann noch ein Pfeifen folgen.
"Ty, du Arsch! Das ist peinlich, sei doch still!", flüstere ich und boxe ihm gegen die harte Schulter.
Das findet er natürlich besonders witzig, weil es ihm überhaupt nicht wehtut. Mir aber.
Mit Ty ans Meer zu gehen ist warscheinlich der fatalste Fehler, den ich jemals begangen habe und auch weiterhin begehen werde.
Das liegt nicht nur daran, dass er fast jedem Mädchen, das an ihm vorbeiläuft, an den Hintern grapscht. Nö. Er schmeißt mich immer (wirklich immer wieder!) ins Wasser, obwohl ich es nicht will und ihm das schon tausende von malen gesagt habe.
Und das ist nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist, dass er sich lautstark mit anderen Jungs streitet und sich somit vollkommen blamiert.
Wenn der wüsste, dass ich mich für ihn schäme...
Tyson ist das selbstverständlich alles schnurzpiepegal. Der macht, was er will.
Nachdem er zwei jüngere Jungs mit blauen Augen versehen hat, schlängeln wir uns durch die Menge zu unserem Plätzchen im Schatten zurück. Ich mit rotem Kopf, Ty mit stolz erhobenem Haupt.
Um uns herum ist ein Meer aus bunten Handtüchern, schreienden Kindern und sich sonnenden Menschen. Möwen kreisen über uns, kreischen und flattern weiter.
Als wir fast bei unseren Sachen sind, kommen wir an einem neongrünen Handtuch vorbei, auf dem eine blonde, junge Frau liegt. Sie liegt auf dem Rücken und genießt die Sonne, die warm auf ihrem Rücken scheint. Ihre Augen sind geschlossen, auf den Lippen liegt ein zufriedenes Lächeln.
Tyson bleibt direkt vor ihr stehen und starrt auf sie hinunter. Was hat er denn jetzt schon wieder gewittert? Tyson ist ziemlich gut im aufstöbern von Frauen, die zu viel Haut zeigen.
Plötzlich, als die Dame sich bewegt, erkenne ich die zwei Tatsachen, die ihn hierher geführt haben:
Erstens, die Frau ist Miss Bower, eine Lehrerin an unserer Schule. Genau die, die er gestern schon mal angemacht hat.
Zweitens, sie ist nackt, bis auf das knappe Höschen, das ihren Hintern (halb) bedeckt.
Ich grapsche nach Tysons Arm und versuche, ihn weiterzuziehen. Vergeblich. Er steht wie angewurzelt, diesen Blick im Gesicht, den ich ihm am liebsten aus der Visage wischen will. Und zwar für immer.
Ich ahne, was er vorhat.
"Nein, Ty, nein! Das ist peinlich, lass sie in Ruhe! Das muss echt nicht sein!"
Ty hat ein perfektes Gespür für nackte Frauen. Und ich habe ein perfektes Gespür für das, was Tyson anstellen will, was meistens nur Mist ist. Deshalb weiß ich jetzt ganz genau, was er vorhat. Und das ist echt schrecklich! Leider steht es nicht in meiner Macht, ihn davon abzubringen. Das würde niemand schaffen.
Sein weißes Grinsen bedeckt fast sein ganzes Gesicht, als er Miss Bower auf die nackte Schulter tippt und sich zu ihr hinunterbeugt.
Sie zuckt kurz und kaum merklich zusammen und richtet sich dann ruckartig auf. Sie vergisst, dass sie oberhalb nicht bedeckt ist. Mitleid macht sich in mir breit.
Ich kneife meine Augen fest zusammen und stelle mich hinter Tyson. Kann ja sein, dass meine Noten darunter leiden können, wenn Bower mich sieht und denkt, dass ich zusammen mit meinem Kumpel Lehrer spanne.
"Hallöchen, Süße. Hatten wir neulich nicht erst eine Begegnung im Schulflur?", fragt mein bester Freund und zuckt mit den Augenbrauen.
Bower scheint nicht recht zu wissen, was hier gerade abgeht. Oder zu langsam.
Sie mustert Ty lange und wütend und merkt erst, dass sie obenrum nackt ist, als er sie obenrum schon auswendig kennt. Seine Augen kleben an ihrem Körper.
Das ist noch eine seiner Fähigkeiten. Er kann sich den Busen von Frauen genau in sein mickriges Hirn, das warscheinlich kleiner ist als eine Fliege, einbrennen, und das auch noch langfristig. Arme Miss Bower.
Miss Bower läuft so rot wie eine Tomate an und verdeckt ihren Busen mit den Händen, so gut wie es geht.
"Tyson Brandt! Das ist wirklich das Allerletzte!", schreit die Arme.
Er grinst sie schief an.
"Ach, machen Sie sich doch nichts daraus, Süße. Sie sind nicht die erste, deren Busen ich sehe. Aber ehrlich gesagt, wenn ich das mal so sagen darf... Ihrer ist ganz besonders schön!"
"Das reicht jetzt!", zische ihm zu, "Ach ja, dein Axe-Deo wird gerade geklaut."
Nur eine kleine Notlüge, um ihn von Mrs Bower wegzulocken. Er liebt sein Axe, weil er wirklich glaubt, dass es Frauen anzieht. Und nein, jetzt sage ich nichts über sein Hirn!
Er reißt erschrocken die Augen auf.
"Mein Deo?!", brüllt er und rennt zu unserem Platz.
Mrs Bower guckt mich an. Mist, jetzt bin ich bloßgestellt. Tolle Idee, Jamie. Super gemacht!
"Ähm... Ich entschuldige mich vielmals bei Ihnen wegen des Spanners, äh, Tyson. Tut mir leid!", spucke ich aus und renne zu unserem Schattenplätzchen.
Man, peinlicher gehts echt nicht mehr. Ich könnte diesen Supermacho umbringen! Hoffentlich begegnen wir ihr morgen in der Schule nicht. Ich kann ihr nie wieder in die Augen sehen, obwohl ich keine Schuld trage.
Tyson glotzt mich mit großen, dunklen Augen an.
"Mein Deo ist nicht weg.", stellt er schlau fest. Wie gesagt, sein Hirn gleicht dem einer Fliege.
"Ich weiß.", murmele ich, verrolle die Augen und lasse mich seufzend auf meinem roten Handtuch nieder.
Nach einer Weile legt sich Tyson auch hin.
"Warum liegen wir hier rum?"
Noch so eine schlaue Frage. Nach was sieht es denn aus, man?!
"Weil ich braun werden möchte."
"Oh. Naja, dann mach ich das auch mal. Wer weiß, vielleicht werde ich auch noch ein bisschen bräuner."
Ich mustere meinen schwarzen Kumpel und kichere.
Dann schließe ich die Augen und überlasse den heißen Sonnenstrahlen meine Haut. Hinter meinen Augenlidern ist es dunkelrot. Vereinzelte Grashalme, die aus dem feinen Sand ragen, kitzeln meine Füße.
Das Stimmgewirr um mich herum verschmilzt mit dem Rauschen des Meeres. Ist eigentlich ganz angenehm. Man kann es aushalten.
Und sogar Ty ist ruhig, was selten oder nie vorkommt. Irgendwie... beunruhigend?
Plötzlich landet etwas eiskaltes auf meinem Oberschenkel. Vor Schreck schreie ich und reiße die Augen auf.
Neben mir sitzt Tyson, der sein Gesicht von mir weggedreht hat. Seine Schultern beben.
Ich entdecke die Tube Sonnencreme in seiner Hand. Er macht sich noch nichtmal die Mühe, sie vor mir zu verstecken.
War ja klar, dass er so etwas machen muss. Er kann sich einfach nicht beherrschen, dieser Junge. Unmöglich. Seine armen Eltern.
Manchmal ist es schrecklich, seine beste Freundin zu sein.
"Man, du Idiot! Musst du immer so etwas machen? Junge, dein Hirn ist echt noch kleiner, als ich gedacht habe! Oder hast du vielleicht gar keines?!"
Schnaubend drehe ich mich weg. Ich will ihn jetzt nicht sehen!
Er brüllt los vor lachen. Haha. Was soll daran jetzt bitte so lustig sein? Versteht einer doch mal die Männer!
Einige Menschen, die sich in Ruhe sonnen wollen, schauen genervt zu uns herüber. Das ist mir (klar!) sofort peinlich. Ich schaue in die andere Richtung, hauptsache weg von Ty. Nervensäge!
Wie ein Geist schleiche ich durch unser hübsches Haus an den Dünen. Ich schwebe zu dem großen hölzernen Bücherregal, in dem sich Moms zerlesene Romane stapeln, aneinanderreihen und überkreuzen. Das Chaos darin ist perfekt.
Ich wühle durch die Bücher, mein Blick wachsam und auf der Suche nach etwas, bei dem ich mir sicher bin, es nicht hier herein gesteckt zu haben. Mein Zeichenblock. Den würde ich eigentlich nie hier lagern, aber bei mir weiß man nie. Ich bin die Queen of Chaos.
Als meine Suche auch weiterhin erfolglos bleibt, gehe ich zur Terassentüre und reiße sie auf.
Vielleicht habe ich ihn draußen liegen lassen, als ich das Meer gemalt habe.
Der Tisch auf unserer kleinen Terasse, von der aus man direkt auf Strand und Meer schauen kann, ist leer. Na toll.
Wütend beiße ich die Zähne zusammen. Wenn ich nicht sofort meinen Block finde, gehe ich noch an die Decke! Und ich habe keine Lust, mich wegen eines Wutausbruchs wieder mit Mom zu streiten, was nicht allzu selten ist.
Ich gehe tief in mich und krame in meinen Erinnerungen. Zuletzt habe ich in meinem Zimmer gesessen und gezeichnet. Das weiß ich! Dann bin ich mit dem Block aufgestanden und... Zum Strand gegangen. Mit Ty.
Super. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, wo mein Zeichenblock sein kann.
Entweder Tyson hat sich mal wieder einen Scherz erlaubt und mein Heiligtum eingesteckt, oder es liegt durchweicht am Meer.
Seufzend marschiere ich wieder in das angenehm kühle Haus und knalle die Türe hinter mir zu, dass der Boden vibriert.
Mom kommt die drei Stufen, die das Esszimmer von der Küche trennen, mit einer durchsichtigen Schüssel in der Hand herunter zu mir. Sie lächelt mich an, was mich überrascht. Heute morgen haben wir uns zerstritten getrennt, und jetzt...
Naja, ich nehme es so hin. Es ist besser, so zu tun, als wäre nichts passiert, als sich zu streiten.
"Das Essen ist gleich fertig, Schatz. Holst du bitte Pauli?", sagt Mom und stellt die Schüssel auf dem Esstisch ab.
"Klar. Hast du meinen Zeichenblock gesehen?", frage ich.
"Nein, tut mir leid."
Also gut. Er liegt hundertprozentig bei Ty oder am Strand. Da ich aber jetzt keinerlie Lust verspüre, ihn zu suchen, werde ich mich bis morgen gedulden müssen, um Tyson zu fragen, ob er ihn gesehen hat.
Mom geht wieder in die Küche.
Ich springe die glatten drei Stufen hoch und stürme in den Flur, haste über die breiten Stufen, die mich in unseren oberen Stock führen.
"Pauline! Komm runter, es gibt gleich essen!", brülle ich.
Zehn Sekunden später wird die Türe, die der Treppe am nächsten ist, aufgerissen. Zum Vorschein kommt das kleine Biest, das leider meine Schwester ist.
Auf ihren vollen Lippen liegt ein Ich-bin-ja-so-viel-besser-als-du!-Lächeln, das eigentlich den lieben langen Tag an ihren mit rotem Lippgloss verschmierten Lippen klebt.
"Na, Jamielein? Wurdest du wieder als Laufbursche benutzt, um mich zu holen? Oh, das tut mir aber leid. Wer weiß, vielleicht darfst du ja meine Reste essen.", sagt sie schnippisch und wirft sich ihr blondes Haar über die Schultern.
Ich balle meine Hände zu Fäusten, um sie daran zu hindern, sich um Paulines dürren Hals zu legen.
"Igitt. Noch nicht einmal der Hund unserer Nachbarin würde deine Reste freiwillig fressen. Ach ja, du solltest dir weniger Lippgloss auftragen. Das wirkt irgendwie... naja, billig?"
Ich lege meinen Kopf schief und versuche, sie möglichst unschuldig anzusehen.
An ihrem entsetzten Gesicht erkenne ich, dass meine Worte gesessen haben. Sie mag es überhaupt nicht, wenn man ihr Aussehen beleidigt.
Meine kleine Schwester ringt mit den Worten. Ups, sie will wohl etwas sagen! Aber sie sieht eher aus wie ein wütender Nussknacker, der wahllos Nüsse zerhexelt.
Ich recke mein Kinn in die Luft und stolziere an ihr vorbei. Und als wäre das nicht genug (was es auch nicht ist), schreie ich ihr noch hinterher:
"Spiel dich nicht wie die Queen in diesem Haus hier auf, okay? Es gibt Menschen, die sind schon länger als du auf dieser Welt. Die haben hier mehr Sagen als du."
Ohne zurückzusehen, hüpfe ich die Stufen hinunter.
Der Tisch ist bereits gedeckt mit Köstlichkeiten. Kartoffeln mit Sahnesauce, Gemüse und hellem Fleisch... Hmmmm.
Ich lasse mich auf meinen Stuhl plumpsen.
Pauline kommt und setzt sich auf ihr Hinterteil. Sie überflutet mich mit giftigen Blicken, die ich alle gekonnt ignoriere.
Mom gesellt sich zu uns und dann essen wir endlich.
Meine Gabel kommt gar nicht zur Ruhe, so oft, wie ich mir Nachschub hole.
Und dabei muss ich nicht auf meine Figur wie andere Mädchen (zB. Pauline) achten. Ich bleibe dünn, was ich ziemlich gut finde.
Nicht nur, dass ich Pauline damit eines auswischen kann, sondern auch, weil ich mich mit Schokolade vollstopfen kann. Ja, ich habe schon gewisse Vorteile.
"Mom, das Essen schmeckt so gut. Ich könnte es mir eininhalieren!"
Als ich mir das wortwörtlich in Bildern vorstelle, muss ich laut lachen.
Genervt kritzele ich Bilder auf mein Mathebuch. Ein Strichmännchen mit einem riesigen Hammer in der Hand, der auf den Kopf eines anderen Strichmännchens einschlägt. Das sind Tyson und ich. Und jetzt ratet mal, wer von beiden ich bin.
Immer mal wieder lasse ich meinen Blick durch den Raum schweifen. Alles ist wie immer.
Suzan und Cornelia haben ihre Köpfe zusammengesteckt. Sie diskutieren wild über etwas. Manchmal wirft mir eine von beiden einen verstohlenen Blick zu. Ich weiß, was gerade das aktuelle Thema der beiden Superzicken ist.
Beleidigt starre ich auf meine Socken, die ich so weit heruntergeschoben habe, wie irgend möglich.
Der eine ist weiß, der andere dunkelblau. Keiner von beiden passt zu meinem roten Satinkleid.
Warum musste ich unbedingt die Chucks anziehen? Ich hätte auch meine hübschen, offenen Designerschuheanziehen können, für die ich keine Socken benötige!
Oder ich könnte meine Socken einfach ausziehen. Aber ich bin nun mal kein Freund von Käsefüßen.
Mal wieder, wie immer, bin ich zu spät gekommen. Heute bin ich nicht die einzige. Ty ist noch nicht da. Kann gut möglich sein, dass er heute wieder Schule schwänzt. Ich will es nicht für ihn hoffen!
Das Seltsamste von allem aber ist, dass Mr Pancho noch nicht hier ist, obwohl es schon viertel nach acht ist und er normalerweise immer der erste ist, der im Klassenzimmer ist.
Mir wird eine zusammengeknüllte Brottüte an den Kopf geworfen. Suzan kichert ein wenig zu laut. Ich werfe ihr einen tötlichen Blick zu und wünsche, dass sie wirklich tot umfällt.
Auf die Tüte folgt ein Zettel, ebenfalls aus Cornelias und Suzans Richtung.
Ich habe keine Lust, ihn aufzufalten und zu lesen, was für Beleidigungen die beiden mir heute an den Kopf werfen wollen.
Aber da mir totsterbenslangweilig ist, falte ich ihn doch auf.
Hübsche Socken, Wood. Hast du die auch in passend?
Ich unterdrücke ein genervtes Seufzen. Die beiden sind echt wie Kleinkinder!
Klar. Ich habe sie in türkis-lila gestreift, rotbraun gepunktet und neonorange. Hübsch, nicht? Ich wette, die würden eurem farblosen Auftreten auch Glanz verleihen!
Diese Worte kritzele ich hastig auf das kleine Stück Papier, knülle es zusammen und feuere es in Richtung Oberzicken. Zu meinem Glück treffe ich Cornelia mitten an die Stirn, was sie empört quietschen lässt. Typisch billige Zicke.
Diese beiden könnten sich absolut mit Pauline zusammentun. Gleiches gesellt sich gern zueinander.
Kichernd falten die beiden den Zettel auseinander. Es dauert nicht lange, da verstummt es auch schon wieder.
Die beiden haben das gleiche Problem wie Pauline. Ihr Aussehen darf nicht beleidigt werden.
Tyson kommt völlig unerwartet in das Klassenzimmer. Wie immer hat er ein breites, strahlendes Grinsen auf den Lippen.
Er knallt seine Schultasche auf den Boden und lässt sich neben mich fallen. So schnell wie ich kann ziehe ich ihm seinen Stuhl unter dem Hintern weg, bevor er darauf festwächst.
Er plumpst zu Boden, landet direkt auf dem Hintern. Mit weit aufgerissenen Augen starrt er mich an. Jaaa, damit hat er ganz bestimmt nicht gerechnet!
Einige aus der Klasse haben den kleinen Vorfall gesehen und lachen in sich hinein. "Lachen" kann man es bei mir nicht mehr nennen. Ich halte mir den Bauch und wiehere wie ein durchgedrehter Gaul. Leider vergesse ich dabei, ihn nach meinem Zeichenblock zu fragen.
Tyson schaut mich ernst und beleidigt an, während er sich aufrappelt und sich auf seinen Stuhl setzt. Doch dann muss selbst er lachen.
Das ist ein Vorteil an meinem hirnlosen, besten Freund. Er kann über alles lachen.
Leider auch über meine verschiedenfarbenen Socken, die ihm sofort ins Auge stechen.
"Oh, Jamie! Hat Pauline sich einen Streich erlaubt oder warum sind deine Socken verschieden?", ruft er laut, dass es auch alle hören können.
Im gleichen Augenblick kommt Mr Pancho in die Klasse.
Alle Schüler verstummen. Na toll. Der Unterricht beginnt.
"Hübsche Zeichnung.", flüstert Ty mir zu, als er die Skizze auf meinem Mathebuch erkennt.
"Nicht war? Der mit dem Hammer auf dem Kopf bist du."
Tyson guckt grinsend nach vorne an die Tafel. Und sofort weicht es ihm von den Lippen.
"Heilige Scheiße. Der Typ könnte mir Konkurrenz machen.", sagt er schockiert.
"Wer? Mr Pancho?"
"Nein, du Schlaukopf. Der Typ, der neben ihm steht."
Ich weiß nicht, was er meint. Haben wir einen neuen Lehrer? Oder einen neuen Schüler?
Letzteres kann nicht sein, da uns nichts davon gesagt wurde. Gut, dann das Erste eigentlich auch nicht.
Ohne meine Aufmerksamkeit nach vorne an die Tafel zu richten, schaue ich mich wieder im Raum um.
Alle Augen der Mädchen ruhe an der Tafel. Alle sitzen angespannt auf ihren Plätzen. Und alle sind totenstill.
Was, zum Teufel, geht hier vor sich?
Tyson stößt mir leicht mit dem Ellbogen in die Seite.
"Was denn?", flüstere ich.
"Schau nach vorne und sag mir, ob der Typ heißer ist als ich."
Im selben Moment hallt eine Stimme durch den Raum. Mädchenseufzen ertönt.
"Hi. Ich bin Damen Evergreen und ab heute hier an dieser Schule. Freut mich wirklich, euch kennenzulernen."
Und wow. Diese Stimme ist wirklich schön. Sogar so schön, dass ich mir die Arme reiben muss, um zu verhindern, dass die Gänsehaut noch schlimmer wird.
Mein Blick wird jetzt fast nach vorne gezogen.
Langsam hebe ich den Kopf und sehe auf.
Und was ich sehe, verschlägt mir die Sprache.
Neben Mr Pancho, unserem alles andere als tollen Professor, steht der wohl schönste, heißeste, schärfste Typ, den ich jemals in meinem ganzen Leben gesehen habe.
Sein seidigis Haar ist mittelbraun und glänzt dunkelbraun. Es ist nicht kurz, sondern recht lang.
Sein Gesicht hat eine schöne Form. Die Lippen sind leicht geschwungen und schmal, aber nicht zu schmal.
Seine Nase ist gerade, was ihn umso verführerischer macht. Und erst die Augen... Ziemlich groß und von einem bezaubernden, richtig dunklen Rotbraun...
Er ist ein bisschen braungebrannt.
Damen ist groß und schlank, dünn, fast ein wenig schlaksig, wären da nicht die Muskeln, die sich unter seinem schwarzen Totenkopfshirt abzeichnen.
Ich kann meine Augen nicht mehr von diesem Gott lösen. Jemand tippt mir auf die Schulter.
"Und? Wer sieht besser aus? Er oder ich?", nervt mich Ty.
Was soll ich bitte dazu sagen?! Tyson ist hübsch und niedlich, aber der
da vorne... Mit dem kann er es nicht aufnehmen, das steht eindeutig fest. Das sage ich meinem Kumpel natürlich nicht.
Irgendwie macht es mich wütend, dass dieser Damen so schnell meine Aufmerksamkeit erregt hat. Niemand bekommt von mir schnelle Aufmerksamkeit. Das lässt mein Stolz normalerweise nicht zu.
"Ty, du siehst viel besser aus, mach dir da mal keine Sorgen.", flüstere ich zu ihm hinüber.
Meine Lüge bringt ihn zum grinsen.
Verärgert verschränke ich meine Arme vor der Brust und mustere diesen Damen. Nein, ich werde ihn ganz bestimmt nicht anschmachten wie die anderen hier! Ich werde ihn auch nie wieder ansehen!
Das kann doch nicht wahr sein, dass einfach ein wildfremder Typ auftaucht und meine Aufmerksamkeit für sich beansprucht! Nein, das lasse ich nicht auf mir sitzen! Irgendwie hasse ich ihn jetzt schon. Oh ja, das tue ich! Und dabei ist es mir völlig egal, dass er unschuldig ist!
Und genau ab hier stehe ich am Schlund der Hölle und springe hinein...
Kapitel zwei
Damen wirft ein wunderhübsches Lächeln in die Klasse, was die Mädchen zum seufzen oder quietschen bringt. Mich nicht. Niemals!
Er steuert auf den noch einzigen freien Platz in diesem Raum zu. Mia, die wohl unbeliebteste Schülerin, kann ihr Glück kaum fassen, das sieht man ihr an. Im Vorbeigehen wirft er mir einen Blick zu. Ich denke gar nicht daran, ihn zu erwiedern! Stur habe ich mein Gesicht in meine Hände gelehnt. Aus den Augenwinkeln heraus sehe ich, wie er lächelt. Ich gähne laut.
Gestern habe ich noch gedacht, dass es schlimm in der Schule wird, eben genauso wie zuhause. Jetzt weiß ich es besser, VIEL besser! Heute
wird ein schlimmer Tag. Oh ja, das wird es.
Ich soll Recht behalten. Kaum ertönt der Pausengong, stürmen alle Mädchen von ihren Plätzen. Wirklich alle. Keines bleibt auf ihrem Hintern sitzen. Naja, doch, ich.
Alle versammeln sich um Damen und überfluten ihn mit Fragen. Ich wage es, kurz hinüber zu schauen. Damen grinst vor sich hin, mit einem Blick im Gesicht, der allen Jungs sagen soll, dass er hier der neue King in der Klasse ist. Das bemerkt auch Tyson, der vor Damen der absolute Klassenschwarm gewesen ist. Armer Ty, wird einfach von so jemandem unwürdigen abgelöst.
"Das gibt es doch nicht, oder? Sehe ich richtig?", meint er beleidigt und starrt zu der Menge herüber.
"Ich fürchte, leider ja.", stimme ich ihm zu.
"Aber... Was soll ich denn jetzt machen? Ich krieg keinen Tag ohne Mädchenpos rum!", seufzt er.
Über seinen beleidigten Gesichtsausdruck muss ich kichern.
Er scheint eine Weile zu überlegen, dann schnellt sein Kopf zu mir herum. Seine Augen funkeln.
"Aber... Jamie! Du könntest mir doch mal dein Hinterteil zeigen! Das wäre mal was ganz neues, das habe ich ja noch nie gesehen!"
Bumm, hat er eine sitzen.
Der wird meinen Hintern nie zu Gesicht bekommen! Ich glaube, ich bin das einzige Mädchen, dessen Kofferraum er noch nie gesehen hat, und das ist auch gut so. Natürlich lässt mein eigenartiger Stolz so etwas nicht zu.
Bedröppelt und sich die Wange haltend glotzt er mich mit großen Augen an.
"Man, JJ, das war doch nur ein Spaß! Glaubst du, ich bin scharf drauf, deinen Po zu sehen?!"
Und gleich hat er noch eine sitzen. Ich lasse meinen Allerwertesten doch nicht beleidigen! So sehe ich aus!
"Sag mal, weißt du jetzt, was du willst?! Bitte, Jamie, nimm Rücksicht auf mich! Heute ist warscheinlich mein schlimmster Tag in meinem ganzen Leben! Da musst du mich nicht noch schlagen."
Oh, Junge, du weißt gar nicht, wie du mir aus der Seele sprichst. Das hier ist nicht nur dein schlimmster Tag!
Neidisch linst er zu Damen und "seinen" Mädchen hinüber.
Einige drängen sich vor, um ganz nah bei Damen sein zu können. So entsteht der erste Streit.
Ty murmelt etwas, das klingt wie "Das gibt es doch nicht".
"Komm Ty, wir gehen raus. So etwas müssen wir uns nicht anschauen, oder?", sage ich und ziehe an seinem Arm.
"Nein, echt nicht..."
Er erhebt sich und zusammen wollen wir das Klassenzimmer verlassen.
Damen sieht uns bedröppelt hinterher. Besonders lange scheint sein Blick an mir zu kleben.
Tja, Bürschchen, nicht alle gehen nach deiner Nase! Für mich bist du, seit ich dich gesehen habe, offiziell gestorben!
Am liebsten hätte ich ihm die Zunge rausgestreckt.
Kaum sind Ty und ich aus dem verfluchten Klassenzimmer verschwunden, motzt er mir die Ohren voll.
"Das ist so unfair! Schau ihn dir mal an, ich sehe doch viel besser aus! Man, diese Mädchen haben alle keinen guten Männergeschmack! Wie kann das nur möglich sein? Ich kann es immer noch nicht glauben!"
"Ich auch nicht, Ty, ich auch nicht..."
Plötzlich ertönen gleichmäßige Schritte hinter mir.
"Wartet kurz.", spricht die wohl schönste Stimme, die ich je gehört habe.
Verdammt, wäre sie nur nicht so toll...!
Tyson verdreht heftig die Augen. Seine Muskeln spannen sich an. Sein Körper sagt ganz deutlich: Ich werde mein Revier verteidigen!
Genervt und seufzend wirbele ich zu dem Neuen herum.
Seine Schönheit trifft mich wie ein Schlag. Aus der Nähe ist er ja noch schöner!
Er hat unglaublich lange, dichte, schwarze Wimpern, auf seiner Haut kann ich keinen einzigen Pickel entdecken. Wie unfair ist das denn?!
Er schnickt sich sein seidiges Haar, das ihm ins Gesicht fällt, mit einer geschmeidigen Kopfbewegung dorthin, wo es vorher war.
"Das hier habe ich gestern am Strand gefunden. Ich glaube, es gehört dir. Ich habe dich und... deinen Freund nämlich gestern schon mal gesehen."
WAS?! Hat er etwa gespannt?!
Er hält mir meinen Künstlerblock unter die Nase, den ich ihm sofort aus der Hand reiße. Hoffentlich hat er das letzte Bild gesehen! Bild kann man es eigentlich nicht nennen, es ist eher ein verunglücktes Graffiti. Auf diesem bestimmten Blatt prangt nämlich groß eines meiner Lieblingswörter: Arschloch, was sonst?!
Aufeinmal... Warum soll er es nicht gesehen haben?! So wie der ist, hat er meinen Block ganz bestimmt durchschnüffelt! Ist doch nicht schlecht! Schließlich passt das Wort perfekt zu ihm!
Ich meine, ich kenne ihn nicht. Überhaupt nicht. Aber das, was ich gesehen habe, reicht mir, um zu wissen, wie er ist.
"Warte mal.", sage ich, ziehe den Kuli von den Ringen meines Blockes und schlage die letzte Seite auf.
Unter das "Arschloch" schreibe ich gut leserlich:
"Für Damen"
Dann reiche ich ihm grinsend das Blatt. Er nimmt es entgegen und mustert es.
Auf seinen Lippen entsteht ein strahlendes Lächeln.
"Oh. Vielen Dank auch. Viele Mädchen versuchen mit so etwas, mir näher zu kommen."
Waaaaaaas?! Der Typ hat mich vollkommen falsch verstanden! Nein, er hat mich sogar absichtlich falsch verstanden! Und das bringt meinen Kragen ordentlich zum Platzen.
Meine Hand, die ich zu einer Faust zusammenballe, zuckt. Mein Knie wird magisch von Damens Schritt angezogen.
Ich muss mich mit aller Macht beherrschen, um ihm nicht das Knie wohin zu rammen.
"JJ, kommst du?", fragt Ty mit zusammengebissenen Zähnen.
"Gleich, Kumpel!", zische ich.
Dann wende ich mich wieder an den selbstgefällig grinsenden Damen.
"Hör mal zu, du Möchtegern-Mädchenschwarm! Ich bin alles andere als verrückt nach dir, okay? Und das hier war auch keine Anmache, klar? Los, verpiss dich in die Hölle, dorthin, wo du herkommst!", gifte ich.
Sein Grinsen wird noch breiter.
"Wenn ich meine Mission erledigt habe, mache ich das, Süße. Aber vorher noch eine kleine Warnung: Leg dich niemals mit dem Teufel an."
Bei den letzten Worten verschwindet sein Grinsen und seine Miene wird ernst. Er funkelt mich aus seinen atemberaubenden, dunklen rotbraunen Augen an, dreht sich herum und verschwindet.
Was war das denn?! Man, der Typ hat echt Sprüche drauf, die ich noch nie gehört habe! Die einzige Mission, die der zu erledigen hat, ist, so viele Mädchen wie möglich abzukriegen. Und dann das mit dem Teufel! Beinahe hätte ich über diesen Witz gelacht!
Als ich mich, noch immer zitternd vor Wut, zu Tyson herumdrehe, tippt dieser mit dem Zeigefinger auf seine Stirn.
"Der Typ hat nicht alle Tassen im Schrank!"
"Fast, Ty. Der hier hat überhaupt keine im Schrank."
Nach der Pause haben wir Geschichte, was ich eigentlich ganz interessant finde.
Dumm ist nur, dass dieser Damen im gleichen Kurs wie ich und Ty ist. Mein Kumpel verrollt die Augen, als er das bemerkt.
"Ich glaube, morgen schwänze ich wieder Schule.", flüstert er mir leise zu.
"Hast du was dagegen, wenn ich mitmache?", flüstere ich zurück.
Er schüttelt grinsend den Kopf.
Unsere Professorin, Miss Cutt, ist so beeindruckt von Damen, dass sie mich übersieht und mich kein einziges Mal an die Reihe nimmt, wenn ich mich melde. Das macht mich stinkwütend!
Noch schlimmer ist aber, dass sie mich nach dem Unterricht zu sich ruft und mir ernsthaft weismacht:
"Jamie, Sie müssen sich mehr mündlich am Unterricht beteiligen. Sie wollen doch eine eins ins Zeugnis, oder?"
Hallohoooo? Entschuldige Mal, da habe ich mich doch gerade verhört, oder? Klappts noch? Ich kann doch nichts dafür, wenn sie ständig diesen Damen aufruft, obwohl ich mich melde!
Zähneknirschend und vor Wut schäumend setzte ich mich wieder neben Tyson. Mehr mündliche Beiträge. Gut, die kann sie haben. Sie kann sich schon mal auf die nächste Stunde freuen!
Als die Schule endlich vorbei ist, lasse ich mich laut seufzend auf einer Bank an der Bushaltestelle nieder. Mom fährt mich immer in die Schule, aber nachhause muss ich mit dem Bus fahren. Ich bin froh, dass mein Auto bald von der Reparatur kommt.
Tyson sitzt neben mir. Eigentlich hat er auch ein Auto, aber da er fünfzig Kmh zu schnell gefahren ist, muss er sich im Moment auch mit dem Bus zufriedengeben.
Ich krame meinen Block aus meiner Schultasche und blättere meine Kunstwerke durch, auf der Suche nach einem freien Blatt.
Als ich mein zuletzt gemaltes Bild umschlage, fallen mir fast die Augen raus.
Das folgende Blatt ist nicht frei. Es ist bemalt, und wie.
Auf dem Papier prangt nämlich groß Damens Gesicht, das beinahe so aussieht wie in Echt.
Unter der wirklich gut gelungengenen Bleistiftzeichnung steht in eleganter Schrift geschrieben:
"Damit du mich länger anschauen kannst."
Meine Finger krallen sich in meine Schenkel.
Ich könnte ihn umbringen! Und das würde ich auch tun, irgendwann, ganz bestimmt!
Ty schaut das gut gezeichnete Bild an.
"Was für ein arroganter Arsch.", murmelt er und verrollt die Augen.
"Da hast du recht. Der kann was erleben! Das Bild hat er bestimmt im Unterricht gekritzelt, anders kann es gar nicht sein!"
"Und dann ruft Mrs Cutt ihn auch noch so oft auf..."
"...worunter MEINE Note leiden muss!", vollende ich den Satz.
Ich reiße das Blatt Papier mit Damens schönem Gesicht heraus und werfe es auf die Straße. Ich schaue zu, wie es davongeweht wird, wie es sich überschlägt.
Ja, weg damit! Je weiter, desto besser!
Ein weißer Mercedes fährt über den Schulparkplatz auf die Straße. Damen sitzt darin und grinst uns an.
"Na, soll ich euch mitnehmen?", ruft er herüber.
"Neee, danke! Lieber fahr ich in einem Müllauto!", brülle ich zurück.
Sein Grinsen weicht nicht aus dem Gesicht, was mich ärgert. Wie gerne würde ich es aus der Visage wischen...
Er zuckt die Achseln. "Dann eben nicht."
Ein lautes Dröhnen folgt, als er wegfährt.
Texte: Das Cover wurde von mir bearbeitet.
Tag der Veröffentlichung: 16.06.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für meine Freunde und alle, die dieses Buch lesen! Und besonders für die Person, die mir beigebracht hat, die Cover so zu gestalten. :)