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Leseprobe

Kindliche Sprachförderung im Alltag

Starke und selbstbewusste Kinder durch hohe Sprachkompetenz Inkl. 100 spielerischer Übungen – praxiserprobt und kinderleicht

Nina Kröllken

Inhalt

Einleitung

Teil I: Grundlagen des Spracherwerbs im Kleinkindalter

1. Was ist Sprache eigentlich?

2. Zeitlicher Ablauf des Spracherwerbs

3. Praxisbeispiele

4. Voraussetzungen für einen gelungenen Spracherwerb

Mögliche Störungen des Spracherwerbs

5.1 Störungen präverbaler Fähigkeiten

5.2 Störungen des Sprachverständnisses

5.3 Störungen der Aussprache

5.4 Störungen des Wortschatzes

5.5 Grammatische Störungen

5.6 Pragmatische Störungen

6. „Typische“ Störungsprofile

6.1 Late Talker

6.2 Spezifische Spracherwerbsstörungen

7. Ursachen von Spracherwerbsstörungen

8. Auswirkungen von Spracherwerbsstörungen

9. Spracherwerb und Sprachförderung bei Mehrsprachigkeit

9.1 Spracherwerb bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern

9.2 Sprachförderung bei mehrsprachigen Kindern

Teil II: Sprachförderung

1. Sprachförderung oder Sprachtherapie – Was brauchen wir?

2. Ziele der Sprachförderung

3. 24 Grundprinzipien der Sprachförderung

4. Sprachförderung mit Bilderbüchern

4.1 Warum sind Bücher für Kinder so wichtig?

4.2 Welche Ziele hat die Bilderbuchbetrachtung in der Sprachförderung?

4.3 Wie gehe ich altersgerecht mit Kinderbüchern um?

4.4 Welche Bücher sind für die Sprachförderung geeignet?

5. Sprachförderung in Kindergärten mit Themenstunden

5.1 Warum sind Themenstunden hilfreich?

5.2 Wie gestalte ich Themenstunden für die Sprachförderung?

6. 100 Spielideen für die Sprachförderung

6.1 Spiele für die Allerkleinsten

6.2 Spiele für die Wahrnehmung

6.3 Spiele für die Mundmotorik

6.4 Spiele für genaues Hinhören

6.5 Spiele für die Wortschatzerweiterung

6.6 Spiele für die Satzbildung

6.7 Spiele für die Artikulation

6.8 Spiele für das Erzählen

6.9 Spiele für Vorschulkinder (phonologische Bewusstheit)

Schlusswort

Über die Autorin

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Deutschsprachige Erstausgabe Januar 2021

Copyright © 2021 Nina Kröllken

Alle Rechte vorbehalten

Nachdruck, auch auszugsweise, nicht gestattet

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Nina Kröllken wird vertreten durch:

Matthias Popella Heinrich-Schütz-Str. 3

01277 Dresden

Covergestaltung und Satz: Wolkenart - Marie-Katharina Becker, www.wolkenart.com

Herstellung und Verlag: Dingi Verlag, Postfach 530118, 01277 Dresden

1. Auflage

Einleitung

„Kochmann“, „verschlafzaubern“ und „Nacktfroschalarm“ – wo haben unsere Kinder solche Wörter nur her? In der spannenden Zeit zwischen der Geburt und etwa ihrem sechsten Geburtstag lernen Kinder nicht nur zu sprechen und zu verstehen, sondern sie entdecken auch, welch ungeheure Macht hinter der Sprache steckt. Mit ihr können sie neue Wörter erfinden, über Mama und Papa schimpfen, Freundschaften schließen (und beenden), eigene Wünsche mitteilen und in der Welt präsentieren. Obendrein erschaffen Kinder durch die Sprachentwicklung auch die Grundlage für den späteren Schriftspracherwerb, der den sprachlich Fitten unter ihnen im Grundschulalter in aller Regel problemlos gelingt. Woher nehmen die Kinder diese Fähigkeiten? Wie schaffen sie es, all diese Entwicklungsschritte zu meistern – ohne, dass ihnen jemand explizit erklärt, wie „Sprechen“ eigentlich geht?

Ein nicht geringer Anteil an Kindern zeigt jedoch im Laufe des Spracherwerbs auch die eine oder andere Schwierigkeit an dieser oder jener Stelle. Manche beginnen als sogenannte „Late Talker“ verspätet mit dem Sprechen, andere haben hingegen Probleme mit dem Satzbau oder vertauschen einzelne Laute. Woran liegt es, dass einigen Kindern der Spracherwerb scheinbar ganz mühelos gelingt, während andere durchaus ihre Mühen damit haben? Und wie können wir diesen Kindern helfen und sie in ihrem Spracherwerb unterstützen?

Als Eltern und Erzieher1 werden wir immer wieder mit solchen Fragen konfrontiert. Wir wollen unseren Kindern so gut wie möglich helfen, jedoch ohne sie zu über- oder unterfordern. Wir wollen ihnen zu den bestmöglichen Ausgangschancen für den späteren Lernerfolg und das Leben insgesamt verhelfen. Wir wollen sie stärken, fit machen, motivieren. Wir wollen ihnen den Spaß an der Sprache vermitteln. Das ist im Alltag nicht immer einfach. Stress, Zeitnot oder das Abstimmen mit den Bedürfnissen anderer Familienmitglieder oder anderer Kinder in der Kindergartengruppe können dazu führen, dass die eigentlich notwendige individuelle Einzelförderung nicht so gelingt, wie wir uns das wünschen. Oder die Kinder bringen zusätzliche Herausforderungen mit, wie beispielsweise einen mehrsprachigen Hintergrund oder Probleme mit der Aufmerksamkeit sowie Konzentration. Angesichts all dieser Themen geraten wir als Eltern und Fachkräfte rasch ins Taumeln. Selbstverständlich wollen wir den Kindern helfen, aber wir wollen es auch nicht „irgendwie“, sondern „richtig“ machen. An genau diesem Punkt setzt dieses Buch an.

Auf der Grundlage des natürlichen, ungestörten Spracherwerbs stellt dieses Buch einen ganzheitlichen kommunikations- und teilhabeorientierten Förderansatz vor, der die Freude am Sprechen in den Mittelpunkt stellt. Hier stehen nicht einzelne grammatische Lernziele im Fokus, sondern das Kind mit seiner sozialen Fähigkeit der Kommunikation als Austausch- und Teilhabechance. Dies ist das wesentliche und ureigentliche Ziel jeder Sprachförderung.

Um die Bedeutung des Spracherwerbs besser verstehen zu können, wird in diesem Buch zunächst ein Blick auf seine fachlichen Grundlagen geworfen. Denn nur wer versteht, wie komplex das Sprachlernen ist und zu welchem Zeitpunkt im ungestörten Spracherwerb welche Lernschritte erfolgen, kann möglicherweise vorhandene sprachliche Auffälligkeiten erkennen und einordnen. Wir betrachten dabei auch die möglichen Störungen, die im kindlichen Spracherwerb auftreten können, deren Ursachen und mögliche sozial-emotionale Auswirkungen. Anschließend werden Grundprinzipien von Sprachförderung und Sprachtherapie erläutert. Dabei wird ein besonderes Augenmerk auf deren Abgrenzung gelegt, da Sprachförderung und Sprachtherapie nicht identisch sind. Beide haben ihre Daseinsberechtigung aus unterschiedlichen Gründen, entweder losgelöst von- oder parallel zueinander. Eine gut durchdachte, motivierend gestaltete Sprachförderung im häuslichen Umfeld oder im Kindergarten kann eine kassenfinanzierte Sprachtherapie nicht ersetzen – und umgekehrt. Anschließend liegt der Schwerpunkt jedoch auf der Sprachförderung und deren konzeptioneller Gestaltung. Prinzipien, Herangehensweisen und Ziele werden hierbei unter stetigem Bezug zur Praxis erläutert. Ziel ist es, dass der Leser direkte Ideen für die Sprachförderung der eigenen oder ihm anvertrauten Kinder gewinnen kann. Das Buch schließt zu diesem Zweck mit einer beispielhaften Sammlung von 100 konkreten Spielideen zur Sprachförderung im Kleinkindalter.

Viel Freude beim Lesen und Umsetzen!

Teil I: Grundlagen des Spracherwerbs im Kleinkindalter

1. Was ist Sprache eigentlich?

Bevor wir uns eingehend mit dem Thema Spracherwerb sowie mit möglichen Störungen des Spracherwerbs beschäftigen können, stellt sich zunächst grundlegend die Frage: Was ist Sprache überhaupt? Oder, anders gefragt: Was müssen Kinder im Laufe des Spracherwerbs lernen?

Die Fähigkeit, die Lautsprache zu gebrauchen und dadurch in einen Austausch mit anderen Menschen treten zu können, ist bei genauerer Betrachtung ein sehr komplexes Unterfangen. Wenn man bedenkt, dass Neugeborene bei der Geburt noch nicht sprechen können, der Spracherwerb in der Regel jedoch bis zum sechsten Lebensjahr in seinen Grundzügen abgeschlossen ist, wird klar, dass es sich dabei in Wahrheit um eine Mammutaufgabe handelt. Was geschieht in diesen sechs Jahren? Wie schaffen es unsere Kinder, vom Nicht-Sprechen zur komplexen Fähigkeit des Lautsprachgebrauchs zu gelangen? Welche Zwischenschritte gibt es dabei, in welche Teilfähigkeiten lässt sich das komplexe Phänomen „Sprache“ unterteilen? All diesen Fragen gehen wir im folgenden Kapitel nach. Die Sprachfähigkeiten der Menschen sind jedoch nicht nur sehr komplex. Für einen Säugling, der „nicht-sprechend“ geboren wird, sind sogar prinzipiell alle Sprachen der Welt erlernbar. Auch können – z. B. in mehrsprachigen Familien – mehrere Sprachen gleichzeitig gelernt und angeeignet werden. Dabei erwerben die Kinder die Fähigkeit des Sprechens, des Sprachgebrauchs und der Kommunikation, ohne dass je ein Erwachsener ihnen explizit erklärt hätte, wie „Sprache“ bzw. wie „Sprechen“ geht. Ein kleines Wunder!

Das menschliche Sprachvermögen setzt sich aus vielen einzelnen Teilfähigkeiten zusammen, die in ihrer Gesamtheit die Sprachfähigkeit des Menschen ergeben. Dementsprechend müssen Kinder im Laufe des Spracherwerbs Fortschritte in all diesen Teilbereichen machen und all diese Teilfähigkeiten erwerben, um später zu kompetenten Sprachnutzern werden zu können.

Zunächst werden an dieser Stelle die Grundbegriffe erklärt, die diese Teilfähigkeiten und Teilbereiche der Sprache beschreiben. Damit wird deutlich, wie viele kleinste Teilschritte unsere Kinder im Laufe des Spracherwerbs meistern müssen.

Die präverbalen Fähigkeiten, also die vorsprachlichen Fähigkeiten, bezeichnen wichtige Grundfähigkeiten des Säuglings vor dem eigentlichen Sprachgebrauch. Sie bilden eine wesentliche Basis für den weiteren Spracherwerb. Die Entwicklung der Sprache beginnt nämlich nicht erst dann, wenn ein Kind ein Jahr alt geworden ist und mit den ersten verständlichen Wörtern sichtbare Zeichen des Spracherwerbs zu beobachten sind. Im Gegenteil, diese ersten Worte sind lediglich das Ergebnis eines schon weit im Voraus angestoßenen Lernprozesses, der die Grundlagen dafür geschaffen hat. Dieser Lernprozess hat bereits im Mutterleib begonnen. Schon ungeborene Kinder nehmen Sprache wahr und sind auch in der Fruchtblase täglich von Sprachgeräuschen umgeben. Sie sind bereits vor der Geburt in der Lage, die Stimme der Mutter zu erkennen. Wenn die Kinder auf die Welt gekommen sind, verbessern sich diese Fähigkeiten kontinuierlich. Außerdem lernen die Kinder in der wechselseitigen Interaktion mit den Bezugspersonen, mit diesen in einen Dialog zu treten. Sie äußern ihre Bedürfnisse, zunächst über nicht-sprachliche Wege, und erfahren Rückmeldungen wie Zuwendung oder Trost. Auch das Aufnehmen von Blickkontakt und das Zeigen auf gewünschte Gegenstände sind vorsprachliche, also präverbale Kommunikationsmittel. Im weiteren Verlauf entwickelt sich durch das wechselseitige Agieren und Reagieren von Bezugspersonen und Kind der sogenannte „trianguläre Blickkontakt“, auch Joint Attention genannt. Dabei wechselt die Blickrichtung der beteiligten Personen in einer Art Dreieck zwischen dem Gegenüber und einem Gegenstand hin und her. Damit wird klar, dass sich die Personen auf denselben Gegenstand beziehen – der Weg für die Verknüpfung dieses bestimmten Gegenstands mit einem Wort ist frei.

Weiterhin lässt sich die Sprachfähigkeit in die Bereiche Sprachverständnis und Sprachproduktion unterteilen. Das Sprachverständnis umfasst die Fähigkeit, Sinn und Bedeutung sprachlicher Äußerungen zu erfassen. Dies ist eine wesentliche Kompetenz, die sowohl für einen gelungenen Sprachgebrauch als auch eine gelungene sprachliche Interaktion unerlässlich ist. Insbesondere ist dabei von Bedeutung, sprachliche Äußerungen auch unabhängig von der aktuellen Situation verstehen zu können. Es ist eine Sache, ob ein Kind die Aufforderung, seine Schuhe auszuziehen, versteht, weil sie in der Situation des Ankommens im eigenen Hausflur üblich ist und nach bisherigen Erfahrungen dazu gehört. Etwas ganz anderes ist es allerdings, ob ein Kind auch eine Äußerung versteht, die sich nicht unmittelbar aus der aktuellen Situation heraus erklärt. Außerdem macht es ebenfalls einen Unterschied, ob ein Kind einzelne Wörter sicher versteht, oder ob es bereits in der Lage ist, komplexe Äußerungen, die aus mehreren Sätzen bestehen, zu begreifen. Voraussetzungen für ein gelungenes Sprachverständnis sind eine ausreichende Aufmerksamkeits- und Hörmerkspanne sowie eine gute Konzentration. Gestik, Mimik und Satzmelodie können das Verständnis erleichtern.

Die Sprachproduktion lässt sich weiterhin in die Ebenen Aussprache, Wortschatz und Grammatik unterteilen. Auf diesen drei Ebenen müssen Kinder Kompetenzen und Fähigkeiten erwerben, um sich sprachlich angemessen und sicher verständigen zu können.

Die Aussprache bezieht sich auf die Bereiche der Lautbildung sowie der Lautverwendung. Für eine korrekte Lautbildung ist eine gute Koordination der im Mund-Nasen-Rachenraum ablaufenden Bewegungen zur Bildung der Sprachlaute erforderlich. Diese erlernen die Kinder nach und nach durch Ausprobieren und Üben, wobei vorübergehende Lautfehlbildungen im Spracherwerb normal sind, ehe die Kinder die Artikulation fehlerfrei beherrschen. Die korrekt gebildeten Laute müssen außerdem ihrer Bedeutung entsprechend korrekt verwendet und dürfen nicht verwechselt werden, damit die Kommunikation gelingt (z. B. die Verwechselung von /k/ und /t/ in den Worten Kasse und Tasse).

Der Wortschatz umfasst die Gesamtheit aller Wörter, die eine Person beherrscht. Er lässt sich unterteilen in den sogenannten aktiven Wortschatz, also die Gesamtheit aller Wörter, die die Person aktiv gebraucht, und den passiven Wortschatz, also die Gesamtheit aller Wörter, die die Person versteht. Der passive Wortschatz ist deutlich umfangreicher als der aktive Wortschatz.

Die Grammatik stellt wiederum ein System von Regeln für die Verbindung von Wörtern und Sätzen dar. Auch diese muss ein Kind erwerben, ohne dass ihm jemand explizit diese Regeln erklärt. Einerseits gehört dazu die Satzbildung (Syntax), also die korrekte Bildung von Haupt-, Neben- und Fragesätzen. Andererseits ist die Wortbildung (Morphologie) ein ebenso wichtiger Bestandteil der grammatischen Entwicklung. Zu ihr gehören beispielsweise die Subjekt-Verb-Angleichung (ich gehe – du gehst), die Mehrzahlbildung (ein Baum – zwei Bäume), die Fallmarkierungen (ich sehe den Jungen – ich gebe dem Jungen das Geschenk) und die Vergangenheitsbildung (ich gehe – ich bin gegangen).

Zu guter Letzt ist auch der Teilbereich der Pragmatik für die Sprachfähigkeiten eines Kindes von Bedeutung. Die Pragmatik beschäftigt sich mit dem Gebrauch der Sprache in verschiedenen kommunikativen Zusammenhängen. Die Anwendung der Sprache in unterschiedlichen sozialen Situationen erfordert pragmatische Kompetenzen, beispielsweise die Fähigkeiten des Hörer-Sprecher-Wechsels (Turn-Taking), des Zuhörens, des Frage-Antwort-Verhaltens, der Begrüßung und Verabschiedung oder der Frage nach der Angemessenheit verschiedener Äußerungen in bestimmten Situationen.

Die Menge all dieser genannten Teilschritte im Spracherwerb lässt bereits erahnen, wie umfangreich und folglich auch störanfällig der Spracherwerb insgesamt ist. In allen genannten Teilbereichen und Teilfähigkeiten können unter Umständen Schwierigkeiten bzw. Entwicklungshemmnisse auftreten, die den Erwerb und den Gebrauch der Sprache beeinträchtigen. Dass Kinder diesen komplexen Erwerbsprozess in der Regel problemlos meistern, grenzt aus dieser Perspektive schon fast an ein kleines Wunder.

2. Zeitlicher Ablauf des Spracherwerbs

Um den Spracherwerb Ihres Kindes einschätzen und weitergehend beurteilen zu können, ob die sprachlichen Fähigkeiten dem Alter des Kindes entsprechen oder ob möglicherweise eine Verzögerung des Spracherwerbs vorliegt, ist es zunächst notwendig, einen Überblick über den regelhaften Verlauf der Spracherwerbsschritte zu haben. Wie in allen Entwicklungsbereichen gibt es auch im Bereich der Sprache große individuelle Unterschiede. Das eine Kind lernt früher Laufen, das andere etwas später, das eine Kind krabbelt viel, das andere weniger, das eine Kind spricht sehr früh die ersten Worte, das andere später. Wir alle kennen Aussagen von Bekannten wie diese: „Meiner hat von Anfang an so viel geplappert, dafür war er irgendwie bewegungsfaul“ – oder umgekehrt.

Trotz aller großen individuellen Unterschiede gibt es für den zeitlichen Ablauf des ungestörten, regelrechten Spracherwerbs eine Art Grundgerüst, d. h. Eckpunkte und kritische Werte, die in einem bestimmten Alter erreicht sein sollten. Deren Fehlen oder Ausbleiben muss nicht automatisch auf eine Sprachstörung hindeuten, kann aber doch ein Hinweis auf eine Lernunsicherheit in diesem Bereich und somit ein frühes Anzeichen für mögliche Schwierigkeiten sein. Bei dem im Folgenden dargestellten Überblick über den zeitlichen Ablauf des kindlichen Spracherwerbs sollte man diesen daher lediglich als Richtwert verstehen und individuelle Variationen immer im Hinterkopf behalten.

Wie bereits angedeutet, werden die Grundsteine für den Spracherwerb bereits während der Schwangerschaft gelegt. Die Ausbildung der Hörorgane bildet die wichtigste Grundlage für den späteren Spracherwerb. Ungeborene Kinder sind im Mutterleib einer Vielzahl akustischer Reize ausgesetzt, die sie zwar gedämpft wahrnehmen, aber dennoch hören. Zuallererst bilden die Geräusche, die der mütterliche Körper mit all seinen Körperfunktionen verursacht – Strömungsgeräusche der Gefäße, gurgelnde Geräusche der Verdauung – die Geräuschkulisse für das ungeborene Kind. Es ist davon auszugehen, dass das Kind einem ständigen Geräuschpegel von etwa 60-80 Dezibel ausgesetzt ist (vgl. Largo 2001, S. 323). Hinzu kommt, dass Geräusche von außen zum Kind vordringen, beispielsweise Stimmen oder Musik. Nachgewiesenermaßen reagieren Kinder im Mutterleib sowohl auf Musik als auch auf Stimmen. Bei der mütterlichen Stimme reagieren sie beispielsweise anders, als bei unbekannten Personen. Diese vorgeburtlichen akustischen Erfahrungen bilden die Grundlage für die weitere Hör- und Sprachentwicklung nach der Geburt.

Bereits direkt nach der Geburt ist der Säugling in der Lage, sich lautlich zu äußern: Er schreit. Dieses Schreien markiert den Anfang der Lautentwicklung. Es erfolgt noch ohne gezielte Lippen- oder Sprechbewegungen, dennoch drückt es bereits unterschiedliche Bedürfnisse wie Hunger, Müdigkeit oder Unwohlsein aus. Damit ist das Schreien eines Säuglings nicht im eigentlichen Sinne eine sprachliche Äußerung, wird jedoch von den Eltern entsprechend aufgegriffen. Außenstehende sind oft nicht in der Lage sind, das Schreien zu „verstehen“. Als Eltern erkennen wir jedoch oft schon am Klang des Schreiens, was unser Baby braucht. Wir verstehen intuitiv und aus der Erfahrung der ersten Lebenstage und -wochen des Kindes heraus, welches Bedürfnis dieses gerade hat und reagieren darauf entsprechend mit Zuwendung, Trost oder Füttern. Durch diese Zuwendung und die beruhigende Ansprache stellen wir einen Kontakt und einen ersten einfachen Dialog mit dem Kind her. Das Kind wiederum zeigt von Beginn an Interesse an der menschlichen Stimme und zieht sie allen anderen Geräuschen vor. Es nimmt Veränderungen im menschlichen Stimmklang wahr und reagiert auf eine ruhige, freundliche Ansprache mit einem aufmerksamen, zufriedenen Gesichtsausdruck, während es bei Streit oder Geschrei zu weinen beginnt. Bald schon ist das Baby in der Lage, den Kopf in die Richtung einer Schallquelle zu drehen. Die Hörfähigkeit eines Kindes ist Grundvoraussetzung für den Spracherwerb. Darum werden in Deutschland alle neugeborenen Kinder direkt nach der Geburt einem Hörscreening unterzogen.

Im Laufe der ersten Lebensmonate entwickelt das Kind zunehmend ein Gefühl für die Sprache, von der es umgeben ist. Es beginnt, vertraute Stimmen fremden vorzuziehen und ahmt die Betonung und Melodie der Sprache nach. Es zeigt Interesse an der freundlichen Ansprache durch die Eltern und beginnt mit etwa zwei bis drei Monaten, auf den Mund und die Lippenbewegungen zu achten, wenn jemand mit ihm spricht. Gleichzeitig lernt es nach und nach, dass bestimmte wiederkehrende Geräusche und Äußerungen der Bezugspersonen mit bestimmten wiederkehrenden Situationen verknüpft sind. Auf diese Weise entwickelt sich langsam das Sprachverständnis.

Im Alter von etwa zwei bis drei Monaten beginnen die Kinder, neben dem undifferenzierten Schreien zunehmend sogenannte „Gurrlaute“ zu bilden. In dieser Phase, auch „erstes Lallstadium“ genannt, geben die Kinder nun auch andere Laute als Schreien von sich und probieren verschiedene Bewegungen von Zunge und Lippen zusammen mit ihrer Stimme aus. Zunächst werden dabei vor allem Vokale (a/e/i/o/u), Konsonanten des vorderen Mundraums (m/n/b/p/l/t/d/f) und „gurrend“ klingende Laute im hinteren Rachenbereich gebildet. Diese erste Lallphase ist ein internationales Phänomen, d. h. bei Kindern aller Nationen lassen sich ähnliche Lautbildungen beobachten, auch solche, die nicht zur Muttersprache des Kindes gehören.

Im weiteren Verlauf werden die Laute zunehmend sprachähnlicher und es sind erste silbenähnliche Verbindungen zu erkennen. Mit etwa sechs bis neun Monaten ist das „zweite Lallstadium“ erreicht, in dem gehäuft Silbenketten und Silbenverdopplungen zu beobachten sind („bababa“, „mememem“). Typischerweise greifen wir Eltern diese Lautäußerungen der Kinder auf und imitieren sie. Das Kind wiederum ahmt auch unsere Äußerungen nach. So entstehen erste kleine Dialoge, die eine wichtige Basis für die Eltern-Kind-Bindung bilden. Oft ist auch zu beobachten, dass die Kinder bei Wohlbehagen alleine und in Ruhe vor sich hin „brabbeln“. Dies dient tatsächlich dem spielerischen Ausprobieren der Sprechwerkzeuge und ist für das Kind eine lustvolle und spielerische Aktivität.

Wenn die Lautproduktionen bei einem Kind im Alter von sechs bis neun Monaten plötzlich nachlassen, sollte in jedem Fall ein Hörtest durchgeführt werden. Das Nachlassen des Lallens zu diesem Zeitpunkt kann ein Hinweis auf Schwerhörigkeit oder gar Gehörlosigkeit sein. Gehörlose Kinder beginnen im ersten Lallstadium häufig mit dem Plappern, hören jedoch zum Zeitpunkt des zweiten Lallstadiums, in dem die Weiterentwicklung wesentlich von der Rückmeldung der Umwelt abhängig ist, wieder damit auf, weil für sie die nötige Rückmeldung als Impuls ausbleibt. Kinder, die ausgesprochen wenig oder gar nicht lallen, erfordern in jedem Fall eine besondere Aufmerksamkeit und Beobachtung. Ein auffälliges Lallen kann ein frühes Symptom für spätere Sprach- oder Ausspracheprobleme sein.

Durch die Interaktion und Rückmeldungen der Umwelt reduziert sich die Vielfalt der gebildeten Laute nun außerdem auf die Laute der Muttersprache. Die übrigen Laute verschwinden nach und nach aus der Lautbildung.

Etwa in der Zeit vom 10.-13. Lebensmonat steigern sich die Lautbildungen der Kinder weiter und schließlich tritt es auf: das erste, richtige Wort. Es entsteht aus einer einfachen Silbenverdopplung (beispielsweise „Mama“, „Papa“) und wird durch die freudigen Reaktionen der Umwelt so verstärkt, dass das Kind es immer wieder vor sich hin sagt und dadurch schließlich auch den Zusammenhang mit der betreffenden Person begreift. Damit sind die ersten Wörter das Ergebnis der vorangegangenen Lautentwicklung. Im Durchschnitt sprechen Kinder an ihrem ersten Geburtstag etwa zwei bis zehn verschiedene Wörter. Als Wort zählt dabei jede lautliche Äußerung, die für den gleichen Gegenstand wiederkehrend verwendet wird, beispielsweise auch „wauwau“ für Hund. Sobald die immer gleiche Bezeichnung für den immer gleichen Gegenstand gebraucht wird, zählt sie in diesem Alter als beherrschtes Wort. Zu den ersten Wörtern gehören in der Regel überwiegend Hauptwörter, also Bezeichnungen für Personen und Gegenstände. In diesem Alter ist das Sprachverständnis der Sprachproduktion weit voraus. Die Kinder verstehen bereits weit mehr, als sie selbst sprechen können. Beispielsweise reagieren sie auf den eigenen Namen, befolgen Aufforderungen wie „gib mir“ oder „winke winke“ und verstehen Wörter wie „nein“.

Wie bereits betont wurde, gibt es hierbei allerdings große individuelle Unterschiede. Das eine Kind beginnt früher zu sprechen, das andere hingegen später. Es gilt jedoch als Richtwert, dass Kinder rund um den ersten Geburtstag dazu übergehen, Lautäußerungen nicht mehr nur spielerisch auszuprobieren, sondern ihnen auch eine Bedeutung zu verleihen.

Im weiteren Verlauf vergrößert sich der Wortschatz des Kindes zunächst eher langsam. Mit etwa 18-20 Monaten ist der kritische Wert von etwa 50 aktiv beherrschten Wörtern erreicht. Dieser Wortschatz umfasst nun Namen, Hauptwörter, Tätigkeiten, Eigenschaftswörter und Funktionswörter (z. B. da, auch). Diese Wörter werden vom Kind sozusagen als „Einwortsätze“ gebraucht: Mit einem einzigen Wort kann es um etwas bitten, nach etwas fragen oder eine Frage beantworten, indem es den Stimmklang variiert.

Der Schwellenwert von 50 aktiv beherrschten Wörtern markiert den Einstieg des Kindes in den sogenannten Wortschatzspurt bzw. die Wortschatzexplosion. Nun lernen die Kinder in rasendem Tempo täglich neun bis zehn neue Wörter – der Wortschatz nimmt explosionsartig zu. Dies ist die Phase, in der die Kinder neue Begriffe oft schon nach einmaligem Hören in ihren Wortschatz übernehmen. Zunehmend werden Tätigkeits- und Funktionswörter in den Aktivwortschatz aufgenommen und ermöglichen dem Kind damit den Einstieg in die grammatische Entwicklung und die Satzbildung.

Die ersten Zweiwortkombinationen treten im Alter von etwa 20-24 Monaten auf. Sie stellen den Beginn der Entwicklung des Satzbaus dar. Kombiniert werden dabei überwiegend Haupt- und Tätigkeitswörter (z. B. „Papa schlafe“) oder Haupt- und Funktionswörter („Mama auch“). Das Sprachverständnis ist dem Aktivwortschatz auch in diesem Alter weit voraus. Die Kinder verstehen deutlich mehr Wörter, als sie selbst aktiv verwenden.

Sollte Ihr Kind im Alter von 18 Monaten

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 10.02.2021
ISBN: 978-3-7487-7425-9

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