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Titel

 

 

 

 

Nika Bechtel

 

 

 

Irminar

Das Seelenwort

 

 

 

Die Saga der Seelenleserin

Buch 2

 

 

 

 

 

 

E-Book Original

 

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Copyright 2015 by Nika Bechtel

Gestermannstr. 1, 33775 Versmold

Ebook – Version

Coverdesign: Yvonne Less

@ www.art4artists.com.au

 

 

 

 

nikabechtel.jimdo.com

www.facebook/nika-bechtel.de

 

 

 

 

 

 

Vorwort

Diesen Teil der Saga der Seelenleserin von Irminar widme ich all jenen Menschen, die sich auf die Suche nach der Basis unserer Gefühlswelten gemacht haben. Wofür wir auf der Welt sind, wer wir tief in unserem Inneren sind und was auch immer uns antreibt, all die Dinge zu tun, die wir schätzen, aber auch bereuen – das kann uns niemand sagen. Begegnet euch mit Selbstliebe, jeden Tag, und bleibt achtsam dem Wunder der Liebe gegenüber. Sie ist da, in uns.

 

 

 

 

 

 

 

Beim Lesen begleitet werden Sie in erster Linie von:

 

Mike von Irminar

Von besonderer Genetik. Er ist Mali versprochen und seines Zeichens das Licht des Winters im Kreis der Seelenleserin*. Eine Kette von Ereignissen wirft ihn in tiefe Zweifel, vor allem, ob er Mali ein guter Mentor ist.

 

Mali Theresia Schmidt

Urträgerin*. Sie ist die zukünftige Herrin derer von Irminar und wird gezwungen diese Rolle zu spielen, noch bevor sie Mikes Ehefrau wird. Bei ihrer Aufgabe ist sie nicht allein. Aber wem kann sie trauen und ist sie schon bereit?

 

Roger von Gunlau

Von besonderer Genetik. Er ist Mikes Ewiger Freund* und verkörpert das Licht des Frühlings. Als Malis zweiter Mentor gibt er alles, aber den Preis, den er dafür zahlen muss, ist höher als gedacht.

 

Alexander von Irminar (Alex)

Von besonderer Genetik. Mikes jüngerer Bruder. Mit seiner Frau Vivien hat er einen Sohn, Nikolas. Und er hütet schon sehr lange ein dunkles Geheimnis.

 

Ernest von Irminar

Von besonderer Genetik. Großvater von Mike und Alex. Erst seit Mikes Verlobung mit Mali sucht er wieder Familienanschluss.

 

Willem von Irminar

Von besonderer Genetik. Vater von Mike und Alex. Neben der Sorge um seine im Sterben liegende Frau Eleonore, kümmert er sich vorzugsweise um Nikolas, seinen einzigen Enkelsohn.

 

Etu (Adonis de la Cruze)

Von besonderer Genetik. Bruder unter einem Stern* von Mike und Roger. Als Cakchiquel* entstammt er dem Geschlecht der Maya und verfügt über eine entsprechende schamanische Prägung, wie weltgewandte Offenheit. Die Familie von Irminar benötigt seine Hilfe in einer sehr speziellen Angelegenheit.

 

Paris Herzlein

Expertin in Sachen Impetus*, die einen Schuldigen im Sinne der Liga A* für einen Mord sucht. Willkommen ist sie vor allem von einem …

 

 

 

 

*Begriffserklärungen finden Sie am Ende des Buches.

 

 

 

 

 

 

Was bisher geschah

Mike von Irminar verfügt über eine hoch entwickelte Genetik – er ist besonders. Aber er ist nicht allein. Mit vielen anderen, wie jedem männlichen Mitglied seiner Familie, sowie seinem Ewigen Freund, Roger von Gunlau, sind sie in der Liga A* vereint, einer uralten Gesellschaft besonders veranlagter Männer. Ihre Besonderheit zwingt sie zu einem eher isolierten Leben und Mike erdenkt sich ein Spiel, eine Art Brautschau, um endlich seine Frau fürs Leben zu finden, denn trotz aller Macht und Vorzüge glaubt er an die einzig wahre Liebe, die seinen Weg zu ihm finden wird.

Er findet sie in Mali Theresia Schmidt, einer scheinbar normalen jungen Frau. Und es sind nicht nur ihr Charme und ihre freche Zunge, die Mike sofort ansprechen. Nein, er hält sie spontan für eine Witterin* und glaubt, sie durch seine Küsse heilen zu können. Er ahnt jedoch nichts von der Gefahr, in der Mali schwebt. Man hatte ihr bereits ein Mittel verabreicht, von dessen Wirkung sie erst später erfuhren ...


Willem von Irminar, Mikes Vater, erkennt in ihr eine Urträgerin*, eine weitere besondere genetische Konstellation, von der Mike bis dato nichts wusste. Durch Mike und durch das Mischen ihrer Körperflüssigkeiten unter dem Siegel der Liebe ist diese erwacht und Mike fortan ihr Mentor.

Als Mike von Irminar sich all dessen bewusst wird, gesteht er ein weiteres entscheidendes Detail. Wenn Mike und Mali sich küssen, dann vereinen sich ihre Seelen. Er kann bildlich die ihre sehen und Gefühle, die wie farbiger Brodem* von ihr aufsteigen. Dies hat ihn anfangs völlig verwirrt, vor allem weil sie bestimmt, was er sieht, während er keine Macht darüber hat, was sie von der seinen sieht. Damit ist sie – laut der Entstehungssage* der Familie von Irminar – die einzig wahre Herrin seiner Dynastie. Infolgedessen lüftet Mike nicht nur ein gut gehütetes Geheimnis des Urrates, er läuft auch Gefahr, einen Krieg zwischen der Liga A und dem Schattenvolk auszulösen.

Deren Anführer, Beli der Bestimmer, beansprucht jede besondere Frau für sich. Zudem ist er maßlos in Mali verliebt, und zwar seit dem Tag ihrer Geburt.


Mike flieht mit Mali, der Familie und seinem Freund. Aber Beli spürt sie alsbald auf und verletzt Roger lebensgefährlich. Mali, die durch Küsse Energie fließen lassen kann, ist gezwungen, ihn auf diese Weise zu retten.


Anschließend stellt Mali sich dem harten Tribunal des Schattenvolkes. Sterben oder dem Schattenvolk beitreten, das sind ihre Optionen und Beli lockt mit allem Erdenklichen. Er weiß viel mehr über ihrem Kreis der Seelenleserin* und verfügt zusätzlich über illusionäre Fähigkeiten. Mali mag ihn, trotz seiner Vergehen, aber sie liebt Mike von Irminar.

Beli spielt seinen letzten Trumpf aus, indem er ihr verrät, dass Mikes Familie ihr ein Serum verabreichte, wodurch sie nie ein Kind tragen lassen wird.

Mali ist am Rande des Erträglichen angekommen, aber sie will dennoch bei Mike bleiben. In Belis Augen hat sie damit ihr Todesurteil gesprochen. Er verabreicht ihr ein Mittel und lässt Mike ein anderes zukommen, das vermeintliche Gegenmittel. Doch Beli spielt falsch und will, dass sie durch Mikes Hand stirbt. Was beinahe geschieht. Nur soeben rettet Ninfa, eine Schattenfrau mit Reuegefühlen, sie und zerfällt danach zu Staub.


Später, wieder im Herrenhaus von Irminar, erwacht Mali aus einem schweren Koma. Mike ist erschüttert und ihre Beziehung leidet. Gerade kommen sie einander wieder näher, da verliert Mali, die nach der Injektion vielleicht einzige Möglichkeit eines gemeinsamen Kindes. Eine Tochter, deren sterbliche Überreste sie gemeinsam verbrennen und einen Apfelbaum an der Stelle pflanzen. Was für beide so schrecklich ist, sie aber ganz fest zusammenschweißt. Denn das Leben ist und bleibt wunderbar.







Der will nur spielen

Jeder, der meint, er spiele nur so zum Spaß und es habe nichts mit der Realität zu tun, der belügt sich selbst und jeder, der es ihm glaubt, wird die Seele des Spielens niemals verstehen.

Einem Mann wie Roger von Gunlau, der stets das Abenteuer des Lebens im Spiel suchte, kam diese wiedergewonnene Erkenntnis dennoch wie ein harter Schlag in die Magengrube vor. Nur spielen, das gab es nicht. Auch nicht für ihn.


„Du suhlst dich wie ein kleines Ferkel“, mahnte er, weil er sich dazu bewogen fühlte und nicht, weil er den Anblick ihres mit Dreck verschmierten Gesichtes nicht lieben würde.

Strahlend lächelte Mali ihm entgegen und beschwerte sich mit keinem Wort darüber, hier draußen trainieren zu müssen, wo die ersten milden Frühlingstemperaturen den Boden völlig aufweichten.

„Du lässt mich immer Dinge erleben, die Mike mir niemals zumuten würde, und ich liebe das! Es ist so frei von Würde und Status“, schwärmte seine Herrin zudem.

Roger lachte auf.

Sein Reifling* fand darin ein Ventil und Lehre zugleich. Überhaupt griff sie rastlos nach allem, was sie reifen ließ, und es schien kein Ende in Sicht. Wie die Raupen unermüdlich jedes frische Blättchen abfraßen, so riss Mali alles an sich. Ebenso ehrgeizig wie sie, wählte ihr zweiter Mentor diese etwas erniedrigenden Trainingsmöglichkeiten häufig in letzter Zeit. Sie sollte es längst schon satt haben, aber sie brauchte immer mehr. Endlos mehr. Und er gab ihr mehr – doch wann wäre die Grenze erreicht? Nicht mehr reinweg nebenbei nährte dieser Versuch ihr Verlangen nach Erfahrung zu stillen, weit mehr als nur ihre Leidenschaft. Einen Engel wie Mali in den Dreck schicken zu können, wo sie schwitzend Glück fand, wirkte auf ihn in vielerlei Hinsicht stimulierend, und das war gefährlich. Gewandt sprang Roger von der Lehne einer Bank und trat an seinen Reifling heran.

„Als zukünftige Herrin derer von Irminar hast du deine Rolle selbst in der Hand. Du entscheidest, welche Würde Ursprung deiner Präsenz ist und nicht der Mann an deiner Seite“, unterrichtete er sie, denn einst wählte Roger sie, um ihren Part anders zu spielen als in Ligakreisen üblich. Seine enttäuschten Erwartungen waren hierbei belanglos. Schlimm dagegen Malis Entwicklung.

Sie war nicht sie selbst, nicht grundlegend, und das schon seit vielen Monaten. Eine Ewigkeit für einen Wartenden. Wann käme die Zeit des Schmetterlings? Im Glanz ihrer hinreißend grünbraunen Augen fühlte Roger von Gunlau alles, was er für sein Leben erhoffte, und wischte vorsichtig mit dem weichen Handtuch über ihren Mund. Sein Blick war weit und offen, während seine Fingerkuppen von dem atemberaubenden Gefühl, ihre Lippen durch das dünne Frottee zu spüren, kosteten. Er sah deutlich, wie er dadurch den Dreck in ihrem Gesicht nicht im Geringsten fortbekam. Ganz im Gegenteil, er verteilte den nur noch mehr auf ihrer Haut. Und das war es, was er tun wollte. Und keiner konnte ihn davon abhalten – bis der Wecker klingelte.







Morgenstund´ hat Gras im Mund

Dieser Tag begann wie die letzten 245 vor ihm, mehr oder weniger zumindest. Der Amsel Morgenlied weckte Mali nachdrücklich, und eigentlich wollte sie nicht aufstehen. Von diesem Sträuben erwachte der Mann neben ihr. Behutsam schmiegte er seinen festen Körper an ihren weichen und streichelte über ihre Schulter.

„Mein Schatz, meine Geliebte“, flüsterte er nah an ihrem Ohr und hauchte einen Kuss auf die Muschel.

„Wieder keinen Bock?“, war seine nächste Frage, und die hatte nichts mit dem gemein, was ihr im Sinn stand.

Deshalb wählte er auch das Wort Bock statt Lust oder Elan.

Doch wäre sie zu dieser Stunde nur ein wenig gesprächiger, sie würde betonen, im Grunde schon einen Bock zu besitzen.

„Mali“, sprach er weiter und liebkoste ihren frei dargebotenen Hals, ihren Nacken – er war so warm. „Ich liebe deine …“

Es war unglaublich schön, wenn er sie so anschnuffelte. Dabei rieb er mit seinem leicht kratzigen Morgenbart über ihre Haut und atmete sogleich den von ihr aufsteigenden Duft ein.

„Disziplin?“, bot sie schlaftrunken an.

„Genau“, antwortete Mike völlig gelassen und ohne einen Hauch von Sarkasmus in der tiefen Stimme.

Geschickt drehte er sie auf den Rücken, um sie anzusehen. Trotzig, sich gegen den Tag stellend, öffnete sie ihre Augen nicht. Dieses Verhalten kannte er bereits, wie sie wusste und es dennoch nicht ändern wollte.

Beinahe jeden Tag dasselbe Spielchen zu spielen war genau genommen schlicht einfältig, aber ihr war eben nach nichts anderem. Ihm blieb dadurch immerhin ein wenig Zeit, um sich etwas Motivierendes auszudenken.

Hoffentlich hat es viel mit überschäumender Leidenschaft gemein, dachte sie und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

Natürlich sah er es.

„Roger erwartet dich in einer Dreiviertelstunde. Und du selbst wolltest diese außerplanmäßige Trainingseinheit an einem Sonntagmorgen. Es ist also mehr als unhöflich, ihn warten zu lassen.“

Ja, gestern hatte sie gar nicht genug vom Training am Sandsack bekommen können. Aber das war eben gestern. Heute wollte sie nichts weniger als das, und nicht zum ersten Mal war das so. Wieso sie so fühlte, wusste sie nicht. Enttäuschung machte sich breit.

„Schatz“, mahnte er sie hauptsächlich, wenn sie allein waren.

„Geliebte“, mahnte er sie hauptsächlich, wenn sie nackt waren.

„Mali“, mahnte er sie zu jeder Gelegenheit.

„Drei Ermahnungen! Nach nur einem Wort von mir?“, quengelte sie hervor und sah ihn an.

Mikes Gesichtszüge waren morgens weicher. Der über Nacht gewachsene Bart gab ihm etwas Teddyhaftes und der Blick aus seinen klaren Augen sprach von Gefallen. Seine Haare trug er seit Beginn des Frühlings ein wenig länger und angeblich grauer, obwohl sich kein einziges graues Haar auf seinem Schopf befand. Sie liebte es, ihm diese zu zerzausen, wie letzte Nacht, weshalb sie aussahen, wie sie aussahen. Wild, aber auch kuschelig. Mit seinem zufriedenen Lächeln musterte er ihr Gesicht.

„Ich wollte sagen, ich liebe deine Haut, ihren einzigartigen Duft am Morgen danach.“

„Ich weiß nicht, wovon du sprichst“, sagte sie entschieden und leicht schnippisch.

Liebevoll strich er eine Strähne aus ihrem Gesicht und erklärte dabei: „Ich spreche von diesem genialen Geruchscocktail, der sich aus deinem und meinem Aroma ergibt, wenn ich jede Stelle deines Körpers geküsst habe. Du riechst nach einem Tanz unserer Seelen, nach unserer Liebe, besonders morgens.“

„Ungewaschen nennt man das auch.“

Sein linker Mundwinkel zuckte.

„Ja, meinetwegen. Soll ich dich sauber lecken?“, neckte er sie und zog doch tatsächlich eine frische Speichelspur über ihre Wange.

Lachend kniff sie die Augen zusammen.

„Da auch?“

Er setzte seine Zunge in ihrem Augenwinkel erneut an.

„Nein!“, rief sie und sah ihn vergnügt an. So nah wie gerade war er ihr viel zu selten. Während ihre Nasenspitzen beinahe einander berührten, konnte Mali in seinen unendlich stillen, graublauen Augen verloren gehen. Es fast bereuend, musste sie weiteratmen. „Muss ich?“, brachte sie leise hervor, was seinen Blick nicht änderte.

„Dich von mir ablecken lassen?“, wollte er grinsend wissen. „Ganz sicher.“

„Seit wann?“, versuchte sie ihn ihrerseits zu ärgern, warf ihn auf den Rücken und schwang sich besitzergreifend rittlings auf ihn.

So unter ihr gefangen genommen, wirkte er mürrisch. Sie wollte damit auf etwas anspielen, was sie jedoch nicht in Worte fassen, noch sonst irgendwie zum Ausdruck bringen konnte. Es ging um ihr Sexleben. Da mangelte es ihr an Durchsetzungsvermögen. Und er wusste das, aber er würde ihr nicht helfen.

Wünsche, so häufig sie auch der eigenen Seele entstiegen, waren noch nicht reif genug, wenn der Körper sie nicht auszusprechen vermochte. Das war eine Weisheit, die Mike auf ihrer Seele irgendwie gefunden hatte und die, zu Malis Bedauern, viel zu real war, um sie zu ignorieren. Erst wenn der Körper bereit war, ein Begehren der Seele auszusprechen, könnte dessen Erfüllung Glanz in die Existenz bringen. Manche Träume hegten damit vielleicht sogar einen immerwährenden Dornröschenschlaf, aber auch darin lag ein unbewusster Schatz.

Mali sah sich den Mann unter sich genau an. Seine muskulösen Arme lagen lässig ausgestreckt und sein ruhiger Blick: er war völlig entspannt. Er befürchtete offenbar gerade gar nichts von ihr. Was zum Heulen war! Wie könnte sie diesen göttlichen Kerl nur aus der Fassung bringen? Sie wusste es nicht. Schließlich wusste sie nicht einmal, wie sie ihn ganz in ihr Bett bekäme, und ganz sicher nicht, wie sie ihn so bearbeiten könnte, dass er mehr machte als das bereits übliche Standardprogramm. Immer wieder nahm sie sich vor, ihre Ansprüche kundzutun, aber sie schmolz regelmäßig unter ihm dahin, ohne überhaupt etwas eingefordert zu haben.

„Jemanden, der sich bereit macht dir zu helfen, dich zu unterstützen und dich damit weiterzubringen, solltest du nicht warten lassen. Besonders nicht, da Roger dein Freund ist und sich für dich extra früh aus dem Bett quält, damit du nicht warten musst. Eine undankbare Schülerin ist eine schlimme Beleidigung.“

Leicht genervt verdrehte Mali die Augen. Über Roger wollte sie gerade gar nicht sprechen. Sie wollte Zeit haben für sich und ihren Partner. Die Möglichkeit, jetzt mit Mike ein Liebesspiel nach ihrem Geschmack beginnen zu können und danach ein schönes Frühstück mit ihm zu teilen, davon träumte sie.

Zaghaft, als habe sie gar kein Recht ihn zu berühren, legte sie ihre Hand auf seine Brust, spürte die kräftigen Schläge seines Herzens und fühlte das Nahen einer neuartigen Verbindung zwischen ihnen.

Es funkelte in seinen Augen.

Und jetzt? Sie begann zu zittern. Was sollte sie jetzt tun? Ihn auf den Mund küssen oder seinen Körper? Und was würde geschehen? Ganz bestimmt würde er nicht wütend werden. Aber sicher abweisend, weil sie dafür gerade keine Zeit hatten.

Leise schluckend zog sie ihre Hand zurück, hickste dann auch noch zu ihrem Frust, und Mike zog eine Augenbraue provokant in die Höhe. Schmollend ließ sie von ihm ab und warf sich zurück in die Kissen. Der Moment war nicht der passende und Roger wartete bereits.

Sie hatte angefangen, Warten zu hassen. Es bestimmte schon seit Monaten ihr ganzes Leben. Wann wäre sie endlich soweit? Morgen? Übermorgen? Nächste Woche? Wann nur begänne das richtige Leben? Ohne ständiges Training und einen vollen Terminplan. Ihr blieb ja gar keine Zeit, sich darüber hinaus völlig normal zu entwickeln. Erwachsener zu werden.

„Ich liebe dich“, flüsterte er ihr sanft ins Ohr.

Mike wäre schlicht dumm und kein Mann mit 70-jähriger Lebenserfahrung, wenn er nicht wüsste, was in ihr vorging. Immer wieder versprach er, sie nicht zu drängen, weil sie den ersten Schritt machen oder ihn zumindest ansprechen müsste. Aber wenn die Situation es gebot, machte sie eben stets einen Rückzieher. Natürlich frustrierte sie das selbst langsam. Genau darum war ja der Sandsack beim Training auch so ideal für sie.

„Ich liebe dich mehr“, gestand sie ihm und fügte hinzu: „Und noch mehr, wenn ich erst richtig reif bin.“

Nicht nur in ihren Ohren musste das ein wenig albern klingen. Was, wenn Mike sie schon am nächsten Tag für reif erklären würde? Glückselig hatte sie sich diesen Moment bereits so viele Male vorgestellt und wie sie Mike noch zu selbiger Stunde endlich zu verführen wagte. Dann wäre Schluss mit dem Gänseblümchensex und er würde gar nicht anders können, als ihr seinen fruchtbaren Samen zu geben! Eigentlich dürfte er das nicht, weil die Liga A von ihnen eine Lüge zu leben verlangte.

Offiziell war nicht die Liga schuld an ihrer Unfruchtbarkeit, sondern Mali selbst war es, ihre Unreife. Dabei hatten sie Mikes Mutter mit einem Krieg gedroht, weil kein Ligist eine besondere Frau für sich beanspruchen durfte. Verängstigt ließ sie Mali mit einem Virus infizieren, der bisher noch jede Schwangerschaft verhindert hatte. Doch bevor die Liga das zugäbe, verboten sie Mike, es überhaupt zu versuchen oder eben mit den Misserfolgen zurechtzukommen. Der Urrat wusch seine Hände somit rein, aber Mali pfiff auf dessen Beschlüsse und sie wusste, Mike tat es auch. Ab und an, leider viel zu selten, gab er ihr nämlich seinen fruchtbaren Samen und hielt ihn nicht zurück, was Männer wie er konnten. Er wusste es und sie auch, aber sie sprachen nicht darüber. Daran war Mali schuld, denn sie hängte ihr Herz sofort an eine mögliche Schwangerschaft und brach damit das seine. Natürlich versuchte er das zu vermeiden. Unreif, wie sie nun einmal war, hatte das alles auch keinen Sinn. Doch würden sie es nicht wenigstens hin und wieder darauf ankommen lassen, gäbe es nicht einmal die Aussicht auf Erfolg – es war ihre Hoffnung. Mali träumte oft von dem Augenblick, ihm sein Kind ankündigen zu können. Es würde ihn glücklicher machen als alles andere. Dann würde ihr richtiges Leben beginnen. Es wäre Schluss mit dem harten Training, dem alles umfassenden Unterricht und vor allem mit den Moralpredigten, denn sie würde sich von ihm verwöhnen lassen und artig und achtsam sein. Sie wäre die Frau, die sich alle für Mike wünschten. Eine, die seine Kinder zur Welt bringen würde und eben nicht die unreife Frau, die Stress und Chaos verbreitete.

„Andererseits, wenn ich es mir recht überlege …“, begann Mike rau zu knurren und biss ihr sanft in den Nacken. „Meine Ansprüche an dich als meine Frau gehen vor.“

Nein, er sollte das lassen! Er sollte ihr nicht die Arbeit abnehmen, nur weil er es konnte. Wenn er sie jetzt verführen würde, käme es ihr vor wie reiner Mitleidsgänseblümchensex. Nein, nein!

„Nein!“, fauchte sie und stand auf. Die Zeit war nicht richtig, sie war nicht reif genug – nicht ansatzweise. Deshalb drehte sie sich auch nur im Kreis, anstatt voranzukommen.

Mikes sorgenvollen Blick spürte sie, als sie ins Bad ging, und sie sah ihn, als sie wieder herauskam. Heute fände zuerst das Kampftraining statt, mittags dann Schwimmen und nachmittags sollte Mike ihren Orientierungssinn schärfen. Oder eher zunächst bilden, denn im Grunde war er kaum vorhanden. Verkümmert, wie ihr wahres Ich im Schatten eines übergroßen Egos.

„Versprichst du mir, dich nicht mehr dermaßen zu zügeln, wenn ich endlich reif bin?“, fragte sie und wollte Ermunterndes hören. Etwas, das sie antreiben würde weiterzukommen.

Auf seinem Gesicht spiegelte sich nicht viel.

„Ich bin immer für dich da und ich habe dir schon mehrmals versprochen, dass mein Verhalten angemessen sein wird, wenn deines eindeutig ist.“

Dieser generöse Unterton gefiel ihr ganz und gar nicht. Nein, überhaupt nicht. Mike, er wusste natürlich alles und räumte ihr großzügig ein, ewig Zeit zu haben. Als habe sie bloß ein Brett vorm Kopf und sei nicht einfach nur zu unreif! Alles in ihr sträubte sich gegen seine Worte.

„Ruhig bleiben“, warnte er sie, ihre Abwehr nur zu deutlich wahrzunehmen.

Gott, wie sie es hasste, wenn er ihr Lehrstunden aus dem Bett heraus gab. Beträfen sie wenigstens ein sexuelles Thema, ihre bestenfalls köchelnde Leidenschaft zum Beispiel, und damit das genaue Gegenteil von Selbstbeherrschung. Innerlich kroch Wut, aus Unsicherheit geboren, in ihr hoch.

„Mali“, mahnte er sie schon wieder.

Was war so verkehrt an ihrem Streben? Was? Mali brauchte das nicht laut zu fragen, seine Antworten kannte sie hinlänglich. Sie überfordere sich angeblich selbst, täte den zweiten Schritt vor dem ersten und würde scheitern. Dabei drehte sich vieles auch um seine ach so heiligen Kardinaltugenden, hauptsächlich um den Mäßigungspassus, schließlich treibe es ein Ehrenmann nicht mit seiner Frau, er wohnte ihr bei. Gemeinhin war das ja wohl unter Gänseblümchensex bekannt.

Mike wollte sie beschützen, vor allem, und er tat es aus Liebe. Gedehnt schluckte sie, sichtbar für ihn, doch unsichtbar damit auch ihren Frust. Und sie wusste, wann der wieder heraufkäme – später im Kampf gegen den Sandsack und Roger.

„Gut“, lobte er.

„Du kannst mich mal“, explodierte es aus ihr heraus, begleitet von Übelkeit.

Mit versteinertem Blick hielt Mike ihr sofort eine ihrer Brechschalen hin. Nicht nur die verdammten Schluckanfälle reichten ihr langsam, ständig erbrach sie sich auch noch vor den Augen anderer. Es war so demütigend. Auch wie er jetzt mitleidsvoll über ihren Rücken strich.

„Wir schaffen das schon“, ermutigte er sie, anstatt sauer auf sie zu sein, weil sie so widerlich mit ihm sprach.

Alles war mies – mit wenigen Ausnahmen. Ihm das Schälchen stumm aus der Hand nehmend, verließ sie seine Räumlichkeiten.

„Ich gehe zum Training“, teilte sie knapp mit und biss die Zähne zusammen.


„Holla Mali“, rief Roger gut gelaunt, als sie kurze Zeit darauf vor ihm stand.

Viel zu genüsslich biss der in ein belegtes Brötchen und hielt ihr ungefragt eine Tasse Kaffee entgegen. Wieder waren seine Hände verbunden, was Mali ein befangenes Gefühl bereitete. Keiner sagte ihr, was da bei Roger vorging, und sehen konnte sie nur die Folgen. Roger bemerkte sicher ihr Stirnrunzeln, ließ jedoch nur die Tasse und deren Inhalt lockend winken. Eigentlich wollte sie nicht, wollte sich nicht von ihm verführen lassen. Von seinem Duft.

„Verdammt, tut das gut“, entfuhr es ihr, als sie nach dem Dargebotenem griff. Und wie gut ihr erst der Kaffee tat!

Roger musterte sie natürlich, kauend.

„Habt ihr euch wieder gestritten?“, vermutete der.

Als Antwort ohne Worte mied sie seinen Blick.

„Ist heute mal wieder ein Tag zum aus der Haut fahren?“, rätselte Roger weiter und lachte kurz.

Unzufrieden schnappte sie ihm das Brötchen weg und aß es selbst.

„Oh, ein Tag der Maßlosigkeit?“

„Maul halten.“

„Ja, das klingt nach einer reifen, würdigen Herrin und einem gelehrigen Reifling!“, zog Roger von Gunlau sie auch noch auf.

Das war immerhin besser als Mikes für alles Verständnis habender Gesichtsausdruck, in dem sie jedes Mal meinte zu lesen, dass sie eben ein ihm lieb gewonnener Versager war. Aber reinweg gut war Rogers Benehmen deswegen auch nicht. Es war frech.

„Lass uns laufen, kleiner Engel, bevor dein Hintern noch so groß wird wie deine Schnauze.“

Er lief los und sie stellte ihre Tasse fort, um ihm zu folgen.

„Mike würde es gar nicht gefallen, wie du mit mir sprichst.“

Dafür lächelte er sie verschmitzt an.

„Was glaubst du, würde ihm am wenigsten gefallen? Der Engel, der Hintern oder die Schnauze. Oder die Kombination aus alle dem?“

Und wie Roger dabei aussah. Endlich konnte sie darüber lachen und setzte voller Elan zum Höchsttempo an. Roger war ihr auf den Fersen, noch. Ihre Seele befreiend, strömte die feuchte Morgenluft um sie herum und benetzte Gesicht und Arme mit kühlem Tau.

Wie auf Wolken, gelöst von der Erde, frei sein, einfach rennen, fliegen, das Leben intensiv spüren, dachte sie. Voran, es musste vorangehen. All diese Stunden des Wartens, Trainierens und Hoffens, sie musste sie hinter sich bringen. Die Zukunft rief nach ihr und sie wollte bereit sein, wenn es soweit war.

„Mali“, rief Roger plötzlich.

Sie strauchelte und verlor das Gleichgewicht. Trudelnd waren Muskeln und Sehnen nicht mehr zu kontrollieren und schon in der nächsten Sekunde schlug sie lang ins nasse Gras. Dunkel stöhnend erhob sie ihren Kopf und spuckte Blut mit Erde und Grünzeug. Roger hockte sich neben sie.

„Na, hast du mal wieder ins Gras gebissen?“

„Alles war so schön, bis du gekommen bist“, musste sie einfach sagen und meinte mehr die Vergangenheit als eben diese missliche Situation.

„Ich weiß Mali, du rennst einfach viel zu schnell. Willst du nicht auch einmal stoppen, ohne mit dem Gesicht voran in irgendetwas zu liegen?“ Mit diesen Worten half er ihr, auf die Füße zu kommen. „Mein Gott, was wiegst du eigentlich?“, beschwerte er sich dabei auf leichte und witzige Art, wie er es fast immer tat – und sie konnte fast genauso oft darüber lachen.

„Qualität hat eben ihr Gewicht. Aber die Frage ist doch eher, wie lange willst du diesen miesen Mentorenjob noch machen?“

„Eben so lange, wie es mir möglich ist, es sein muss“, antwortete Roger sehr ernst.

Und Mali schämte sich. Sie warf ihm nämlich unterschwellig und in Gedanken Unfähigkeit vor.

„Mali, du bist super, wirklich, ungeachtet deiner vielen Schwächen. Ich hab mal nachgerechnet. Wenn du im gleichen Tempo weiter reifst, wie seit deinem Erwachen, sind wir in 404 Tagen damit durch. Wirklich.“

„Heute schon eingerechnet?“, konnte sie nur wenig hoffnungsvoll fragen. Schließlich war Rogers fehlendes Zahlenverständnis weithin bekannt. Seine Statistiken und alles, was er sich noch zusammenrechnete, waren meist allerhöchstens so aussagekräftig wie die Zutatenliste einer Tiefkühllasagne.

„405.“

Beide lachten amüsiert und Mali stimmte ihm gerne darin zu. Es war richtig auf ein gewisses Ziel hinzuarbeiten, anstatt ewig auf das große Ganze zu warten.

„Laufen wir? Warte, du hast da noch Erde.“

Und Mali hielt still, während Roger mit den bloßen Fingern behutsam grobe Körner um ihren Mund herum fortstrich. Als sein Daumen jedoch ihre Lippen leicht spaltete, wich sie zurück. Das machte sie lieber selbst.

Rogers Reaktion war ein schmales Lächeln.

„Lass uns weiterlaufen.“

Irritiert von dem hinterlassenen Gefühl seines Daumens, ihres kurz gespürten, identischen Pulses, ging es weiter.

Bei lockeren zwanzig Kilometern pro Stunde konzentrierte Mali sich auf den evolutionären Vorderfußlauf, in Schuhen, die sie niemals zuvor gesehen hatte, an ihren Füßen aber saßen, als habe sie gar keine an. Manchmal lief sie trotzdem barfuß, und dafür liebte sie den Frühling. Überall gab es saftiges, frisches Grün und der Boden war weich und nachgiebig.

„Ein ausgewogener Lauf bringt dich genauso voran wie ein Sprint, sogar noch weiter“, belehrte Roger sie.

Ja, wie immer gleich langweiliger Sex auch. Aber darüber sprach sie jetzt besser nicht mit Roger, wenn sie es überhaupt je täte.

„Du hast zu viel Energie.“

Wie recht er hatte. Nur konnte sie diese nicht kontrollieren, nicht zielgerichtet einsetzen – noch nicht.

„Wie viele Jahre hast du eigentlich für diese Erkenntnis studiert?“

Die Antwort ließ auf sich warten, denn Roger rechnete die Semester wohl gerade zusammen oder er verstand ihren Vorwurf. Irgendwas mussten diese Mentoren vielleicht falsch machen, wenn ihre Ergebnisse immer noch nicht den eigentlichen Vorstellungen entsprachen. Sie rackerte sich schließlich jeden Tag ab. Konnte es da wirklich an ihr liegen? Und nicht zum ersten Mal dachte sie, ob Beli es eventuell doch besser können würde? Dem Herrscher des geheimnisvollen Schattenvolkes, dem Bestimmer, folgten bereits viele besondere Frauen. Frauen wie Mali, und sicher könnten ihre Erfahrungen hilfreich sein. Aber das konnte sie Mike nicht antun und auch nicht Roger. Und das Schattenvolk praktizierte ja noch nicht einmal Gänseblümchensex.

„Zu viele, um heute nicht zu wissen, was deine Bewegung derart effizient macht. Aber ich bin eh nicht der Akademikertyp. Das ist Mike.“

Ja natürlich, kein Bisschen sah Roger ihre Worte als ein Zweifeln an seinen Fähigkeiten. Über sein dauerhaft glänzendes Selbstbild lächelte sie und neidete es ihm ein wenig. Es lag also an ihr. Immer nur an ihr. Natürlich.

„Hoch entwickelte Faszien sind es, die das hauptsächlich ermöglichen“, antwortete sie resigniert, aber auch stolz, und er stoppte ihren Lauf, als er sie am Arm berührte und ansah.

„Wirklich, deine Faszien ermöglichen das? Wie?“

„Ihr Netz ist feiner, dichter und dabei viel dynamischer als das eure. Sie nehmen über eine, für Mike nicht identifizierbare Quelle, große Mengen Energie auf und geben sie bei Bedarf wieder ab. Aber frag´ mich nicht weiter, denn ich habe das nicht studiert und bis zu jenem Tag nicht einmal von diesen Faszien gehört. Ich weiß nur, wie sehr er sich aufgeregt hat, weil ich ihm eine Biopsie dieser besonderen Fasern angeboten hatte.“

Roger verzog das Gesicht.

„Du weißt, von uns will niemand so was hören. Und er tut das, weil er dich beschützen möchte.“

Selbstverständlich warf Roger ihr dieses Angebot genauso vor, wie Mike es getan hatte. Ihre Körper waren heilig, weil jedes Leben in ihren Augen es war, und niemand durfte daran herumexperimentieren. Mali winkte ab, so war Mike eigentlich ja gar nicht.

„Mit Mikes Blut hat der Professor auch forschen dürfen, bis er verstarb. Ich glaube, Mike hat sich nicht einmal über mein Angebot derart aufgeregt, sondern über irgendwas anderes.“

Ganz genau beobachtete Mali Rogers Mienenspiel und seine noch aussagekräftigere Aura. Er wurde nervös.

„Irgendwas?“, äußerte Roger erstickt, weil er nicht richtig fragen konnte, aber wollte.

Ein herzloses Lächeln umspielte da ihre Mundwinkel.

„Ich weiß es nicht, aber ich finde es heraus. Irgendwas ist hier jedenfalls im Busch.“

Auf diese Vermutung, und es war nicht mehr als eine Vermutung, entspannte Roger sich viel zu schnell.

„Er beteuert mir so sehr sein Vertrauen in mich, und auch in dich und mich, dass ich annehmen muss, er tue es nicht.“

Roger verfiel schlagartig in bedächtiges Schweigen. Dieses Thema angerissen, wollte Mali weiter darüber sprechen.

„Das war unverständlich für dich, nicht wahr?“

„Überhaupt nicht“, sagte Roger da ganz ernst, und sie blickte ihn neugierig an.

Hinter Rogers Stirn schienen ganze Armeen von Gedanken unterwegs zu sein und Mali begann sich zu fragen, welchem Rätsel sie auf der Spur war.

„Ach nein? Klär mich dann doch bitte mal auf.“ Mali lachte.

Aber Roger blieb es ihr schuldig, dies zu erwidern und ihrer Bitte nachzukommen. Könnte Mali auch nur einen Moment meinen, ihr bester Freund habe größere Probleme als seinen unfähigen Reifling? Dann … aber …

Roger schüttelte bedauernd den Kopf. Und gerade das ließ Mali fremdeln. Mit düsteren Gedanken, um welche Art von Geheimnis es sich handeln konnte und wer noch alles davon wusste, wandte sie sich von diesem Geheimniskrämer ab. Sie trauerte regelrecht dem mangelnden Vertrauen ihrer beiden Mentoren in ihre Person nach.

Ja klar, dachte sie wütend, die unreife Verlobte wird mal wieder nicht eingeweiht. Wieso auch, sie hat ja weder studiert, noch ist sie sonderlich intelligent und ihre Fähigkeit Chaos zu bringen, ist selten hilfreich.

„Bleib“, bat Roger und griff nach ihrer Hand, als sie ihn genauso stehen lassen wollte, wie er sie im Unklaren ließ.

„Nein, ich will nicht zwischen euch stehen und das hier fühlt sich gerade so an. Oder soll das ein neues Spielchen werden?“

„Ich fürchte, die Zeit zum Spielen ist vorbei.“


Roger dachte gar nicht daran, Malis Hand loszulassen. Ihre Hand in seiner verbundenen Hand, ganz nah an einem Schmerz, der dort nur einen Hauch von seiner Größe zeigte, fragte er sich ernsthaft, ob nicht doch ein offenes Wort seinerseits das Richtige wäre. Der Augenblick schien günstig.

„Mali“, begann er und versuchte, Worte aus seiner Seele gegen den Willen seines Verstandes, gegen seine Ängste zu befreien.

„Roger“, ahmte sie ihn aber viel zu albern nach und versuchte, ihm ihre Hand zu entziehen.

Bevor das geschehen konnte, fasste er nach. Mali blickte ihn an, als eine unheimliche Energiewelle sie beide erfasste. Roger sah sich um, sie waren in einem der äußeren Waldstücke angekommen, die dunklen Tannen ragten fast fünfzehn Meter in die Höhe, darüber leuchtete ein hellblauer Himmel mit dicken Schäfchenwolken. Trotzdem klopfte sein Herz auf einmal und Malis Augen wurden groß.

„Du bist nicht außen vor, du bist mitten drin“, wagte er zaghaft einen Anfang.

„Ich möchte gehen.“

Mit ihrer nüchternen Art überraschte sie ihn. Nur mühsam schüttelte er seinen Kopf und ihre Augen funkelten auf. Es gab verabredete Grenzen, musste es immer geben und dieser einfache Satz galt ihrer Sicherheit. Kein unangemessenes Wort oder auch eine Verletzung beim Kampftraining würde Mikes Wut so hervorrufen wie eine Missachtung dieser gesetzten Grenze. Roger wusste das, war bereit, sich darüber ganz bewusst hinwegzusetzen, und die Luft zwischen ihm und ihr begann zu flimmern. Er griff zu, wollte sie näher an sich ziehen. Sie musste spüren, wie gut die Chemie zwischen ihnen passte und die Situation war so gefällig wie jede andere. Wenn Mike sich Mali gegenüber in Sachen Vertrauen ohnehin bereits besorgniserregend verhielt, war Rogers Geheimnis wohl nicht mehr nur seins. Es sollte geschehen.

„Mali“, erklang Mikes Stimme, und Rogers Herz stand still.

Nicht überhastet ließ er Malis Hand los. Mit einem leichten Zögern beim Drehen des Kopfes zur Stimme hin sah er seinen Ewigen Freund an.

„Mike, was führt dich hierher?“, wollte er wissen und Mike von Irminar legte seinen Kopf schief.

Rogers Befürchtungen wurden bestätigt, die Dinge hatten sich quasi über Nacht zwischen ihnen geändert. Was das hervorgerufen hatte, war jetzt jedoch von zweitrangiger Bedeutung. Schweigend sah Mike schließlich zu Mali, die ebenfalls ihren Kopf ein wenig zur Seite neigte.

„Nein, sie geht nicht mit dir“, bestimmte Roger, und demonstrierte Mike so, dass sie sich hier nicht der Hierarchie zu unterwerfen hatten. „Ich habe für heute Morgen einen Trainingsstand anvisiert, den ich erreichen will. Und Mali auch, sie weiß es nur nicht.“

Mali zögerte kurz, ging dann jedoch weiter.

„Bleib hier, Mali!“, befahl Roger.

Mike sagte nichts.

„Mali! Du wirst hierbleiben und dich deinem Training widmen! Willst du denn nie reif werden? Immer die kleine Unreife bleiben und dich dahinter verstecken, anstatt zu sein, wer du bist?“

Mali drehte sich erneut um und reckte Roger nachdenklich ihr feines Kinn entgegen.

„Du wagst es, mich, deinen Mentor, derart provokant anzuschauen?“, raunzte Roger harsch, weil er sich Revolution von ihr mehr wünschte als Resignation. „Bis 10:30 Uhr gehörst du mir.“

Verunsichert durch Widersprüchlichkeiten und durch unterschiedliche Gefühle in die Defensive gedrängt, verlagerte Mali instinktiv ihr Gewicht auf den vorderen Teil ihrer Füße und federte die Knie. Genau dieses Verhalten hieß Roger willkommen und er entschied sich für ein spontanes Kampftraining. Das würde zwar nicht seine Seele befreien, aber wenigstens seinen Körper. Und vielleicht auch ihren.

Sein Angriff kam vorhersehbar für Mali und sie wehrte mühelos seinen ersten Schlag ab, ging in Verteidigungsposition zurück. Auch mit den folgenden Schlägen und Tritten, noch durch Mikes Blick auf sich spürend gezügelt, gelang es Roger nicht, ihre Defensive sinnvoll zu durchbrechen. Anfangs machte ihn diese natürliche und völlig unerklärliche Überlegenheit Malis sehr stolz, doch sah er schon bald nur noch seine Unterlegenheit und so ging, was als eine kleine Einheit zwischendurch angedacht war, bald in einen echten und von seiner Seite aus erbitterten Kampf über. Schweiß flog dabei, hauptsächlich Rogers. Mali war äußerst konzentriert, fing seine Vorstöße ab, ohne selbst auszuteilen. Wenigstens lachte sie nicht über seine verzweifelten Attacken, ihrer habhaft zu werden. Sie war unerreichbar für ihn. Und das nicht nur hier, nein, er kämpfte jeden Tag gegen sein eigenes Herz! Gegen die Liebe und niemand konnte es sehen. Dafür konnte jeder jetzt seine Unfähigkeit und seine Schwäche sehen, die ihn in gewisser Weise unsichtbar und bedeutungslos werden ließen. Aber für ihn als ihr Mentor stand ein Aufgeben außer jeder Frage. Also sammelte er seine letzten größeren Energiereserven, um zu einem vernichtenden Punch auszuholen.

Urplötzlich gab sie sich geschlagen. Emotionslos sanken ihre Arme herab und sie schloss ihre Beine. Ihre Augen weiteten sich trotz ihres Entschlusses, während seine Faust auf ihr Gesicht zuraste, und für einen kurzen Moment sah Roger die Spiegelung seiner halb verzerrten Seele in ihrem Blick. Jetzt würde er sie hart treffen, wusste er. Adrenalin peitschte triumphierend den Sieg fordernd durch seine Adern. Die Augenlider nun geschlossen, fand seine Faust einen kräftigen Widerstand. Sie würde daran nicht sterben. Doch würde sie danach auch nicht frei sein, genauso wenig wie er.

Dennoch brauchte dieser Kampf eine Entscheidung. Egal welche. Nur war der Einschlag nicht von Roger erwartet. Er öffnete die Augen. Seine Faust umschlossen von Mikes Hand, bremste sein Ewiger Freund den Schlag undurchdringbar wie eine meterdicke Felswand nur knapp vor Malis Gesicht. Roger musste schwer nach Luft ringen und stützte sich auf seinen Oberschenkeln ab.

„Mali, ich glaube für heute ist Roger fertig mit dir“, hörte er Mike sagen und sah vorsichtig auf.

„Nein, ich bin fertig mit euch“, zischte sie und ging.

Beide Männer sahen ihr nach.

„Ist mir auch recht“, antwortete Roger, immer noch nach Sauerstoff japsend.

Dafür zückte sie noch ihren Mittelfinger.

„Ja, genau so benimmt sich eine reife Dame von Stand!“, schrie Roger ihr hinterher.

„Wie läuft´s denn so?“, erkundigte sich da Mike keine Minute später.

Roger fiel über die neuerliche Trockenheit seines Freundes aus allen Wolken. Erleichtert hob er lachend die Arme in die Höhe. Er wollte sich ergeben und bekam so auch besser Luft.

„Das fragst du noch? Du hast es selbst gesehen!“

„Ich habe einen Mentor und einen Reifling gesehen, die beide an ihre Grenzen gingen.“

Verwundert nickte Roger von Gunlau Mike zu. Der war tatsächlich kein bisschen aufgebracht wegen des hitzigen Kampfes.

„Sie ist eine Kämpfernatur. Ich brauche sie dahin gehend nicht mehr zu trainieren. Ja sicher, ich konnte ihr einiges beibringen, viele verschiedene Techniken, und sie hatte genauso viel Spaß dabei wie ich, aber ihre Fortschritte stagnieren.“

Roger zog sein T-Shirt aus, um sich die Haare einigermaßen damit zu trocknen und setzte sich in den Schatten einer Kiefer. Mit schmalen Augen sah Roger zu Mike auf, dessen Blick in Richtung Wald gewandt war.

„Sag jetzt nicht wieder, dass du von Anfang an wenig von ihrem Kampftraining gehalten hast.“

Ein Lächeln zog über Mikes Gesicht, und ohne dabei Roger anzusehen, sagte er: „Sie sucht sich ihren Weg, was ich gut finde. Und mehr zählt da nicht.“ Mit einer kleinen Verzögerung fügte er hinzu: „Wir geben ihr, wonach sie so sehr verlangt, und lassen sie zur Obrussa, zur Feuerprobe, frei. Findet sie diese nicht zeitnah, stellen wir ihr eine. Sie soll ihre Fähigkeiten weitestgehend anwenden können und sich des Status quo ihrer Fortschritte bewusst werden. Es wäre nicht die erste Obrussa, die geplant wird, und auch nicht die erste, die sich schließlich eigenständig entwickelt. Sie braucht mehr Freiheit, gerade wenn sie nach weniger verlangt.“

„Freiheit“, wiederholte Roger und Tränen stiegen in seine Augen, die er eilig fortwischte. Offensichtlich geschickt genug, denn Mike entging dies.

„Ja, Freiheit. Also, ihre Obrussa ist unser nächstes Ziel, so oder so. Sehen wir mal, wie es läuft.“

Verwundert fragte Roger: „Mal sehen, wie es dann läuft? Dinge dem Zufall überlassen? Seit wann hast du keinen Plan?“

Hatte er erwartet ein Lächeln auf Mikes Gesicht zu sehen, so wurde er enttäuscht.

„Dinge geschehen zu lassen, bedeutet vor allem die Erkenntnis, nicht derjenige zu sein, der alles lenkt. Wir bereichern Mali nicht mehr mit unserer Mentorenschaft, nehmen ihr dagegen aber viel zu viel von unserer Freundschaft und Liebe.“

Hastig stand Roger auf und drückte sich dabei gedankenverloren mit seinen Händen ab.

„Willst du damit andeuten, dass alles umsonst war?“, fragte er, auf seine Gott sei Dank schmerzfreien Hände schauend.

Vorsichtig entfernte er die Bandagen und grinste grimmig, denn die Hände waren völlig verheilt.

„Umsonst sicher nicht. Nichts ist umsonst“, antwortete Mike, der seinen Freund beobachtet hatte, und fügte in einem rigiden Tonfall hinzu: „Den Preis zahlt ein jeder von uns.“

Und jetzt durchbohrten Mikes graublaue Augen Roger geradezu. Musterten, was es zu sehen gab, und Roger musste fürchten, dass das einiges war. Ein dicker Kloß aus Angst wuchs in seinem Hals und als wären sie gerufen worden, verdunkelten Gewitterwolken den bis eben strahlenden Tag.

„Was ist hier eigentlich los?“, wollte Roger, voll mit schlechtem Gewissen, wissen.

Als er dann vorsichtig zu Mike sah, erschrak er sich ein wenig. Dessen Stirnwulst war sichtbar hervorgetreten und ließ die Augen so noch schmaler erscheinen.

„Mike, was ist mit dir?“






Wer gackert, muss das Ei auch legen

Bis zum Mittag saß Mali in ihrem Zimmer und las einen Fantasy-Roman, der die Zeit zur Nebensache machte. Erst die spürbar wärmenden Strahlen der Sonne riefen ihren Sinnen das stete Voranschreiten dieses Tages ins Bewusstsein. Gedanklich noch leicht im erfundenen Leben anderer, sah sie sich irritiert um. Sie wusste, dass Mike in der Nacht da gewesen war. Gesehen hatte sie ihn allerdings nicht. Mali rechnete noch mit Ärger wegen der Sache mit Roger, auch wenn beide Mentoren es wortkarg als erledigt abgetan hatten. Zufrieden stellte sie das nicht, aber sie befand sich nicht in der Position, darüber zu klagen.

Seit dieser Begebenheit hatte sich ihr Trainingsplan beinahe stündlich verkleinert, bis hin zu einem gänzlich trainingsfreien Tag, ohne Ansage, wann es weiterginge. Einerseits war ihr das mehr als recht, andererseits hätten die beiden ihr wenigstens Bescheid geben und sie über deren Gründe informieren können. Schmollend darüber irgendwie vergessen worden zu sein, sehnte sie sich nach Urlaub. Ihr Spiegelbild rümpfte verdrossen die Nase. War sie nicht einst hierher gekommen, um so eine Art Urlaub zu genießen, um ihr eigenes Märchen zu leben? Und nun?

„Dann also Herrin spielen“, gab sie resigniert von sich, weil ihr dieser Part noch immer nicht in Fleisch und Blut übergegangen war, sie ohnehin das bewegungsfreundliche Trainingsoutfit stets der damenhaften Robe der zukünftigen Herrin bevorzugt hatte.

Missmutig dachte sie daran, ihrer Bestimmung nicht ständig davonlaufen zu können. Wenn sich etwas ändern sollte, dann musste sie dafür sorgen. Und mit ihren Wünschen hinsichtlich Jeans und Blusen erreichte sie bei Mike gar nichts. Und wenn sie ehrlich war, kam ihr das eigene Outfit von früher sogar selbst mittlerweile unpassend vor. Dinge veränderten sich und seit jeher zog eine innere Veränderung auch eine äußere nach sich. Sie bräuchte also neue Kleider, einen eigenen Stil, mit dem sie das richtige Statement abgäbe. Für sich, für Mike, die Angestellten und alle anderen auf diesem Anwesen.

Jede Frau sucht in einem solchen, für eine Frau kritischen Moment, die Unterstützung einer guten Freundin. Aber auf die Meinung ihrer Ladymaid Ani, die einer Freundin noch am nahesten kam, konnte Mali getrost verzichten. Die Freundschaft zwischen ihnen existierte kaum mehr. Ani hatte der Ehrgeiz gepackt, im schlechtesten Sinne. Sie wollte nur noch die perfekte erste Ladymaid der Herrin von Irminar sein und hatte leider nicht gefragt, wie Mali, die es ja betraf, sich das vorstellte.

„Juli“, rief Mali.

Die kam sofort aus dem geräumigen Ankleidezimmer.

„Da mich niemand zum Training abholt, möchte ich einen Spaziergang machen. Vielleicht mit Vivien und Nikki. Bitte wähle ein passendes Kleid für mich, du kannst das viel besser als ich.“

„Vielen Dank“, sagte Juli und freute sich aufrichtig. „Das mache ich gerne, aber Lady Vivien und ihr Sohn sind heute leider unpässlich.“

Mali verzog das Gesicht.

„Weißt du, wieso?“

„Nein, leider nicht.“

Bei Juli fiel es Mali nicht schwer zu erkennen, wenn diese mehr wusste, als sie sagte.

„Alex?“, vermutete Mali, und ihre zweite Ladymaid nickte betrübt.

Malis Unbehagen teilte sie offenkundig.

Ani hätte sie jetzt sicher gleich wieder kritisiert, weil man als Herrin dem Personal gegenüber nicht so viele Gefühle zeigen sollte, was, wie Mali fand, ausgemachter Quatsch war. Selbst Mike sprach von den Angestellten als einem Teil der Familie und der war in Sachen Etikette, Anstand und dem übrigen Maskeradenspiel bestens bewandert. Aber was heißt das schon, wenn in einem Buch mit dem Titel Das korrekte Verhalten zwischen Vorgesetzten und Angestellten anderes stand? Thomas, Malis Leibwächter und Anis Freund, hatte es Ani zum Geburtstag geschenkt, sie hatte es verschlungen und sich jedes dort beschriebene Verhalten angeeignet. Mali hingegen fand es grässlich.

Da fiel ihr ein, dass sie von Mike seit Monaten gar nichts mehr geschenkt bekommen hatte. Vivien bekam ständig etwas von Alex. Gut, hauptsächlich zur Versöhnung, weil sie häufig stritten. Und sicher war das auch wieder der Grund ihrer Unpässlichkeit. Oder war sie wieder schwanger? Würde Vivien ihr das als erstes, zweites oder drittes erzählen? Leider wusste es Mali nicht und das schwarze Loch ihres Selbstmitleids wuchs. Sich tröstend, betrachtete sie Mikes letztes und einziges Geschenk, das sie zum Neujahrsfest bekommen hatte. Er hatte es nicht eingepackt, sondern ihr einfach ohne viele Worte überreicht als buntes Feuerwerk die Nacht erhellte. Es war ein Schneeflockenobsidian, auf den er selbst einen stilisierten Adler graviert hatte. Mali mochte diesen Handschmeichler sehr, wenngleich er kein Schmuckstück war. Den Stein fest im Griff, langte sie nach ihrer anderen Kostbarkeit, einem kleinen Plastiktiegel gefüllt mit Rosencreme. Schon beim Öffnen stieg dieser einzigartige Duft auf und zauberte ein zufriedenes Lächeln auf ihr Gesicht.

„Danke, Mama.“

Voller Stolz auf die Mühen ihrer Mutter, mit dieser selbst gemachten Creme einen ganz besonderen Gruß von zu Hause zu schicken, nahm sie von dieser nur höchst selten und sparsam. Am schönsten war es, wenn Mike ihr damit sonntagmorgens liebevoll die Schläfen massierte. Ihr Liebster besaß so etwas wie goldene Hände und jede seiner Berührungen war voller Perfektion und Achtsamkeit.

Schwelgend in solchen Erinnerungen, die bedauerlicherweise älter waren, als es ihr lieb war, fügte Malis Fantasie einige wilde Details hinzu und sie begann, den Stein in ihrer Hand heftig zu reiben. So aufgeladen war er beinahe heiß und lebendig und genau richtig, um bei ihren Lippen beginnend ihren Hals hinabzugleiten und den Ansatz ihrer Brüste zu liebkosen.

„Wie wäre dieses?“, schreckte Juli sie aus ihrem Traum, und das Kleinod sprang regelrecht in ihren Ausschnitt.

Offensichtlich hatte Juli nichts von ihrem Abdriften in erotische Welten bemerkt oder sie konnte es gut überspielen – jedenfalls würde Mali jetzt besser nicht nach diesem Stein angeln.

„Wunderbar“, fand sie dagegen das scheußliche Kleid. Sie sah darin aus wie eine blöde Kuh und Kühe gehörten auf die Weide. Wenigstens kannte sie jetzt das Ziel ihres Spazierganges: Die Milchvieh-Wiesen.

Mali wusste es nicht, aber es kam ihr so vor, als fände selbst Juli diesen Fummel nicht sonderlich kleidsam. Jetzt, wo Mali ihn trug.

„Juli?“, fragte Mali in einem Tonfall, der diese heimlich grinsen ließ. „Ich brauche ganz, ganz dringend eine neue Schneiderin, oder?“

Als hätte sie die ganze Zeit nur auf diese Gelegenheit gewartet, pflichtete ihr Juli bei.

„Ich werde Herrn von Gunlau bitten, sich umgehend darum zu kümmern.“

Nun nickte Mali zufrieden. Veränderungen standen an und Roger konnte sie dahingehend vertrauen.

„Sag ihm doch bitte, ich brauche eine Schneiderin, die solche Kleider entwirft, dass ich sie gerne und würdevoll und dergleichen tragen möchte. Sie sollte Mikes Vorgaben etwas moderner umsetzen können. Glaubst du, du kannst ihm das verständlich machen?“

„Bestimmt“, versicherte Juli ihr, und als könne sie die Hässlichkeit des aktuellen Kleides abbekommen, zupfte sie wahllos daran herum. „Ich verstehe auch gar nicht, wieso du in diesen Kleidern immer so, na ja, wie soll ich es sagen, etwas blöd aussiehst, wohingegen Material und Verarbeitung von bester Qualität sind.“

Mali erschrak ob dieser Offenheit und sagte gar nichts mehr. Julis Worte waren eindeutig, wenn sie auch unüberlegt ausgesprochen wurden. So ging es aber auch. Und Ehrlichkeit war Mali ohnehin viel lieber, als wenn man sich nichtssagender Floskeln bediente.


Nachdem ihre zweite Ladymaid sie sowieso schon als in ihrem teuren Kostüm blöd aussehend bezeichnet hatte, durfte Mali nicht länger hier drinnen bleiben. Sie wäre sonst vor Scham überhaupt nicht mehr vor die Tür gegangen.

Auf die neue Schneiderin käme anspruchsvolle Arbeit zu, auch über das reine Nähen hinaus. Aber eine Designerin wusste das sicher und Mali wollte ihre Zeit nicht wieder mit Warten verbringen. Nein, draußen wartete das wahre Leben! Und die nächste Überraschung auf Mali. Eine, die zwar ihrem Outfit entgegen kam, aber nicht ihrem Herzen entsprach. Denn auf den sonst so eifrig frequentierten Wegen war es wie ausgestorben. Von Weitem grüßten einzelne Landschaftsgärtner, hielten dafür jedoch kaum in ihrer Arbeit inne. Genauso wie zwei Stallburschen zu Pferd. Eine freche schwarze Katze war beinahe das einzige Lebewesen, das ihr einen interessierten Blick zuwarf, bevor auch die sich trollte.

Im landwirtschaftlichen Bereich war es noch schlimmer. Fenster wurden geschlossen, Türen fielen wieder zu oder man tat so, als sei man sehr in seine Arbeit vertieft und habe sie gar nicht bemerkt.

„So kann ich nicht weiterarbeiten“, schimpfte da ein Mann in ihre Gedanken und sein Funkgerät. „Wo ist Herr Roger?“

Bevor Heinrich, einer der bäuerlichen Angestellten, sie entdecken konnte, hüpfte Mali hinter einen Baum und lauschte.

„Er ist mal wieder anderweitig beschäftigt, was auch sonst!“ – „Nein, Entschuldigung. Natürlich habe ich hier nicht die oberste Priorität für die Herrschaften.“

Die herbe Rüge, die er sich für seine dreiste Anmaßung anhören musste, bekam sogar Mali mit.

„Ja, aber ich brauche die Stecklinge genauso wie jedes Jahr.“ – „Wenn wir nicht säen, können wir nicht ernten, so einfach ist das!“ – „Die Schafe haben ihre Lämmer vor Wochen bekommen und müssen …“

Angespannt hörte Heinrich seinem Gesprächspartner zu und sein Gesicht wurde immer roter.

„Ja, ja, ich weiß auch, was heute Morgen an der Tür zur Kapelle stand!“

Mali fuhr zusammen.

„Welch gnädiges Ende, wenn man mich fragt. Jedes Jahr sterben Menschen, auch hier. Unfälle, Krankheiten, das Alter. Aber deswegen können wir ja nicht alle in Angst und Schrecken warten, bis der Herrgott uns zu sich ruft. Was ist unser Leben dann noch wert?“

Erneut lauschte der aufgebrachte Heinrich aufmerksam und nickte, offenbar genervt.

„Hört auf damit, ich schätze den höchsten Herrn über die Maßen und ich danke ihm für die Möglichkeit, hier auf diesem Anwesen ein schlichtes Leben mit meiner Familie führen zu können, aber das heißt nicht, dass ich wie im Mittelalter abergläubisch sein muss. Ich bin ja nicht von gestern.“

„Miss Mali“, vernahm diese ganz überraschend eine völlig andere Stimme. Mali fuhr wie vom Blitz getroffen zusammen.

Ani.

„Kannst du das nicht lassen? Du hast mich zu Tode erschreckt“, herrschte sie Ani an, was ihr gleich wieder leidtat.

Ihre Ladymaid hatte sie beim Lauschen erwischt, und ihre Wut rührte nur von ihrem schlechten Gewissen her.

„Mir sagt ja sonst keiner was!“, verteidigte sie ihr Verhalten sogleich.

„Tut mir leid, Herrin“, entschuldigte sich Ani mit weit aufgerissenen Augen. Und nach einem unterwürfigen Knicks machte sie ohne ein weiteres Wort auf dem Absatz kehrt.

Mali wollte ihr nach und sich bei ihr entschuldigen. Aber ein unerwarteter Blickkontakt mit Heinrich, ließ sie sich anders entscheiden. Die Sache mit Ani lag sowieso im Argen. Die Gegebenheit um Heinrich war allerdings noch offen.

Derweil rang sich der groß gewachsene Mann ein schiefes Lächeln ab. Er wusste wohl genau von dem Lauschangriff und verbeugte sich tief.

„Guten Morgen Heinrich, ich hab´s zufällig mitbekommen. Was war denn da los, an der Kapelle?“

Er erhob sich nicht und sagte nur: „Miss Mali, ich nehme an, ein dummer Jungenstreich. Allerdings …“

Mali drückte die Lippen aufeinander und er verharrte in seiner Verbeugung. Er brauchte Motivation.

„Nun sagen Sie es mir, bitte.“ Dabei berührte sie seinen Arm und er stellte sich aufrecht vor ihr hin. „So ist es besser“, quittierte Mali den nun möglichen Augenkontakt.

Heinrich nickte und ließ erkennen, wie klein sie aus seiner Sicht war.

„Ja, Herrin. Ich fürchte nur, wenn es Ihnen noch keiner gesagt hat, dann hat das seine Gründe. Und ich würde mich ungern einmischen, verstehen Sie mein Dilemma?“

Nein, nein, sträubte sie sich innerlich, ich muss jetzt am Ball bleiben und darf mich nicht abwimmeln lassen.

„Wissen Sie, ich bin eine Frau von fast 22 Jahren und ab und an behandelt mich mein Verlobter, als sei ich ein Kleinkind. Ich bin in einer Familie mit fünf Kindern groß geworden, mein Vater ist ein kleiner Postbeamter und meine Mutter Hausfrau. Ich bin nicht mit einer rosaroten Brille auf der Nase zur Welt gekommen und jetzt stehe ich vor Ihnen und ich möchte behandelt werden wie die erwachsene, realitätsbewusste Frau, die ich bin. Und Sie lassen sich bitte nicht von meinem feinen Kleidchen abschrecken.“

„Ich weiß das und ich würde es Ihnen sagen, wenn ich es mit eigenen Augen gesehen hätte. Habe ich aber nicht.“

Endstation. Leider. Seine Haltung war ja sogar lobenswert, nur war das eben nicht sonderlich informativ.

„Aber Sie haben ein Problem und verlangten nach Herrn von Gunlau. Kann ich Ihnen da weiterhelfen?“

Ein kleines Grinsen zeigte sich im wettergegerbten Gesicht des Mannes und er schien zu überlegen. Möglicherweise würde er sie doch noch ins Vertrauen ziehen.

„Das könnten Sie wirklich. Richten Sie Herrn Roger bitte höflichst aus, dass ich auf die Ware warte und die Zeit langsam drängt.“

Das sagte Mali ihm zu.

Viel zu ergeben dankend, dachte Mali, verbeugte sich der Gemüsebauer wieder tief. Roger um die Ware zu bitten war keine große Sache, wohingegen dieser Heinrich ihr beim nächsten Mal vielleicht mehr verraten würde.

Für Mali äußerst ungewöhnlich, sprach sie drei weitere Personen ganz direkt auf die Kapelle an, kam aber keinen Deut weiter. Die ganze Atmosphäre schien eher unheimlicher zu werden. Schließlich stieg echte Wut in ihr auf. Was war hier eigentlich los? Was verheimlichte man ihr?

Mit einem Stechschritt, der einem Feldwebel alle Ehre gemacht hätte, begab sie sich auf den Weg zur Kapelle. Die dicke Eichentür saß fest geschlossen in den Angeln, wie immer. Nicht, dass sie wirklich erwartet hatte, noch etwas anderes zu Gesicht zu bekommen. Ihre Hoffnung lag darin, vielleicht über eine kleine Spur zu stolpern, etwas Ungewöhnliches zu finden. Nur war da nichts. Unzufrieden nahm sie die nähere Umgebung in Augenschein. Hier ein Stapel Latten auf dem eine vom Regen durchweichte Schachtel mit bereits rostigen Nägeln stand, andernorts waren stehen gelassene Getränkeflaschen zu finden oder liegen gelassene Haken und Spaten im Gemüsebeet, die flink wachsendem Unkraut nun als Rankhilfe dienten. Kleinigkeiten. Während sie eine der Feuerstellen näher betrachtete, kam Heinrich wieder vorbei, diesmal mit seiner großen Schubkarre und warf ihr einen Blick zu, den sie nicht deuten konnte. Ernst und sehr beherrscht, irgendwie.

Egal wohin sie sah, nichts deutete auf einen harmlosen Dummjungenstreich hin, nachdem der Alltag einfach weiterging.

Jemand musste eine Drohung oder Warnung an die Kapellentür geschrieben haben. An wen oder von wem, hatte sie nicht heraushören können. Was da wohl stand, fragte sie sich immer wieder. Und was war dem vorangegangen? Ganz sicher erklärte die Summe dieser Ereignisse Mikes Abwesenheit. Aber wenn er sich um sie sorgte, wieso war sie dann allein?

Ihr Weg führte sie weiter. Der Tag war noch nicht zu Ende und sie hoffte doch zumindest auf ein offenes Wort des kirgisischen Falkners, der sein teils loses Mundwerk gerne mit seinen angeblich fehlenden Sprachkenntnissen entschuldigte.

Aber auch von dem fehlte jede Spur. Warum sie gedacht hatte, gerade ihn antreffen zu können, wusste sie nicht und sie trat enttäuscht an den Eingang zur großen Voliere. Es dauerte keine Minute, da glitt Mikes Lieblingsadler zu ihr heran. Er nahm auf einem nahegelegenen Ast Platz und machte mit seinen keckernden Lauten den Eindruck sie zu begrüßen und ihr gleichzeitig vorzuwerfen, sich sehr lange nicht blicken gelassen zu haben.

„Welche Ironie, der Einzige, der mit mir sprechen will, spricht eine mir fremde Sprache“, sagte sie lächelnd, und der Vogel senkte seinen Kopf, zeigte kurz sein goldgelbes Nackengefieder. „Sicher weißt du alles, was sich hier zuträgt. Dich verschont keiner mit Wissen.“

Mali sprach sonst nicht mit diesen Tieren und bedauerte sofort, es nie getan zu haben. Denn der mächtige Steinadler war in der Tat ein guter Zuhörer. Nicht nur, weil Mali von ihm weder Widerworte, noch eigenen Anliegen den Vorrang einzuräumen erwartete. Nein, auch weil sie so etwas wie Verständnis und Annahme in seiner Gegenwart spürte.

„Die Menschen hier beziehen mich nicht mit ein. Sie trauen mir nichts zu. Wie sollten sie auch? Ein unreifes Ding, das sich nur mit sich selbst beschäftigt, nützt keinem“, wisperte sie, da es nicht für menschliche Ohren bestimmt war.

Aus den kleinen dunklen Augen betrachtete der Adler sie mit demselben Ausdruck, wie es ihr Verlobter zu tun pflegte. Geradewegs in ihre Seele. Kein Wunder, Mike war diesen Tieren von Kindesbeinen an tief verbunden und Mali verstand diese Liebe schlagartig sehr gut. Man musste blind sein, wenn man in diesen Wesen keine weisen und großmütigen Lehrmeister sehen konnte.

„Vertraust du mir? Schau, ich vertraue dir“, sagte sie und schob ihre Hand durch eine Futteröffnung ungeschützt diesem zwar an Menschen gewöhnten, aber keineswegs völlig zahmen Jäger entgegen und schloss die Augen. „Bin ich es wert? Bin ich soweit?“, verlangte sie aus dem Impuls heraus zu wissen.

Ihr Herz klopfte, ihr Atem ging heftig, oder nicht? Erst ein kreischender Schrei ließ sie zurückschrecken.

„Au!“, fluchte sie, weil das grobe Gitter ihr den Arm zerkratzte, als der Falkner sie zurückgezogen hatte.

„Was tun Sie denn da, Miss Mali? Der könnte Sie verletzen, ohne es zu wollen.“

Aufgebracht toste der Adler auf seinem Ast und öffnete die weiten Schwingen. Mali verharrte überrascht, denn schon im nächsten Moment krallten sich dessen kräftige Fänge am Geflecht der Tür fest. Furios schwang er seine mächtigen Flügel und nahm Mali mit seinem linken Auge streng ins Visier. Von seinem aufgebrachten Körper ging spürbar Wärme aus. Lockende, wie sie fand.

„Hier hast du“, sagte der Falkner liebevoll und hielt ihm ein totes Küken hin.

Doch der König der Lüfte verschmähte das gebotene Futter und erhob sich in sein Reich. Am Dach der Voliere angekommen, drehte er bei und flog erneut direkt auf Mali zu.

„Treten Sie zurück“, warnte der Falkner. „Er verletzt sich sonst.“

Ein wenig konnte Mali darüber lächeln, denn seine Sorge galt nicht ihr, sondern dem Tier. Einen großen Schritt rückwärts gehend beobachtete sie, wie majestätisch der Adler seine Flugkünste darbot, während der Falkner ratlos, wenn nicht gar besorgt dreinblickte. Mali dagegen sah ihm fasziniert zu, es bewirkte etwas in ihr, als habe der Adler ein geheimnisvolles Ritual begonnen und sie sei Mittelpunkt dessen. Sein Schrei schickte sie bildlich über die Wipfel der Bäume, nahm sie mit an einen fremden Ort, eine Lichtung im dichten Wald. Dort sah sie hinab auf eine knorrige Wurzel zwischen dunkelgrünem Moos. Wie flüssiges Quecksilber versickerte ein Rinnsal in einer Spalte. „Nein“, rief sie und kehrte jäh um, als habe sie genug gesehen.

Ich muss helfen, bring mich wieder dort hin. Gegen ihr kurzes Aufbegehren fügte sie sich allzu machtlos und der Sinkflug begann. Sie wusste nicht, was dort zerrann, nur, dass es wertvoll war. Sehr sogar. Die spitzen Äste von Laubbäumen zerkratzten bereits ihre Beine und Arme, und sie weinte hilflose Tränen. Nichts ist für heute, alles für morgen.

Schneidend widersprach ihr realer Aar und flog so dicht an ihr vorbei, dass seine Federspitzen das Raster seines Käfigs durchbrachen. Mali roch sein trockenes, warmes Gefieder und schloss verzückt die Augen, als ein magentafarbenes Strahlen sie blendete. Von der Macht dieses Leuchtens katapultiert, gelangte sie augenblicklich …

Erschrocken riss Mali ihre Augen wieder auf und sah ihre Füße auf dem Boden stehend. Erstaunt suchte sie den Adler, der ein weiteres Mal seinen Aufwind zeigte. Im ganz normalen Tageslicht und einfach hier, jetzt. Von Malis Haarwurzeln bis hinab zu den Enden ihrer Finger und Zehen, alles kribbelte just erwacht. Was es war, wusste sie nicht. Aber es musste eine Bedeutung haben, denn der Greifvogel verhielt sich nicht umsonst derart sonderbar. Diese für den Flug recht schweren Tiere müssen mit ihren Energien sparsam haushalten und fliegen nicht zum Spaß.

Als Mike ihr das einmal erklärt hatte, fand sie das gleich bedauerlich. Wenn man schon fliegen konnte, dann musste man das doch auch zum Spaß tun dürfen.

Mike hatte daraufhin ihre kindliche Sicht auf die Wunder der Natur liebevoll belächelt und ihre Stirn geküsst. Und sie wollte niemals anders sein. Immer das Kind in sich bewahren, das die knallgelben Löwenzahnblüten genauso sehr liebte, wie dem Flug der kleinen Samenschirmchen von Pusteblumen träumend nachzusehen. Es waren die schlichten Dinge des Lebens, die in ihren Augen immer Wunder bleiben würden. Nur, wann hatte sie sich zuletzt die Zeit dafür genommen? Wie eine Blinde hastete sie an allem vorbei, auf ein vages Ziel im Nebel zu.

„Wie haben Sie überhaupt Ihre Leibgarde abgehängt?“, fragte der Falkner in einem wahrhaft anerkennenden Tonfall.

„Ich bewege mich bereits längere Zeit ohne die ständige Begleitung durch Sicherheitsleute. Die Zeiten sind sicher.“

Das kaum ausgesprochen, schwante ihr, dass andere Zeiten wieder aufleben könnten. Obwohl sie wusste, allein gekommen zu sein, sah sie sich prüfend um. Messerscharf, wie seine geflügelten Schützlinge betrachtete der Falkner ebenfalls die Umgebung.

„Achten Sie gut auf sich, Herrin.“

„Mir tut schon keiner was“, antwortete sie viel kleinlauter, als sie es vorgehabt hatte. Denn sie war jetzt trainiert, konnte sich sehr effizient wehren, und sollte tatsächlich mal ihr Leben in Gefahr sein, so könnte sie sogar töten. Sie wusste das nur zu gut.

„Böses bringt Böses hervor. Vertrauen Sie Ihren Instinkten. Alle sind unruhig, auch die Adler. Nehmen Sie sich besser in acht, es liegt gerade viel davon in der Luft. Die Kapellenschmiererei war weder der Anfang noch das Ende.“

„Wie meinen Sie?“, fragte sie holprig nach. Oh, hoffentlich hielt dieser Mann sie jetzt nicht für total naiv. „Wie kann Böses in der Luft liegen? Böses geht stets von Menschen aus und die liegen nicht in der Luft.“

Und wieder meinte sie, ihre Meinung in dem Moment, in dem sie sie ausgesprochen hatte, revidieren zu müssen. Er hatte recht, irgendwie. Zumindest war es eine plausible Erklärung. Die Leute fürchteten sich oft vor etwas, was sie zwar nicht sehen, jedoch auf irgendeine Weise wahrnehmen können.

„Sie haben ein gutes Herz, ich weiß das“, beschwichtigte er sie und ergriff ihre linke mit seiner schmutzigen, groben Hand. „Hat der Adler Ihnen eine Antwort gegeben?“ Dabei betrachtete er eindringlich ihre Handfläche.

Mali blinzelte. „Ich weiß nicht.“

Der Falkner schloss die klaren Augen, die wie kostbare Oasen in seinem haarigen Gesicht wirkten. „Denken Sie nicht, fühlen Sie! Diese Tiere sind weiser als wir, vertrauen Sie auf seine Antwort und handeln Sie danach.“

Verwundert hielt Mali die Luft an. Im Gegensatz zu ihrer Mutter besaß sie keinerlei spirituelle Erfahrungen, bis jetzt. Sie hatte Fragen, viele, und wollte sie stellen. Da lächelte der Mann, den sie niemals lächeln gesehen hatte, und stapfte von dannen. Seltsam berührt sah sie ihm eine Weile nach.

Wieder auf dem Weg zurück zum Haus erfasste Mali eine Erkenntnis. Ihre Schneiderin sollte nicht alles sein, was neu sein würde. Sie brauchte mehr. Aber zuerst musste sie herausfinden, was um sie herum los war. Schmerzend begannen ihre Schläfen zu pochen. Mali versuchte sich daran zu erinnern, wann zuletzt es derart von innen gegen ihren Schädel gehämmert hatte, als es auch schon wieder verschwand.







Der Berg kommt nicht zum Propheten

Seltsame Gefühle begleiteten Mali mehrere Tage. Tage, in denen es kein sonstiges Training gab. Mike musste sich vorrangig um das Anwesen Betreffendes kümmern, und sie sahen einander wenig. Ihren neugierigen Fragen wich er aus, wie alle anderen auch. Wer an die Kapellentür geschrieben hatte, war angeblich nicht herauszufinden und man hatte sich geeinigt, diesem Vorfall keine weitere Bedeutung beizumessen. Mali wurde das Gefühl nicht los, dass das nur die Version war, die für sie bestimmt war. Mit verschränkten Armen sah sie ihren Leibwächter Thomas wieder seinen Dienst aufnehmen. Wenn dies alles so harmlos war, warum dann Thomas? Mike hatte mehrfach den Ausdruck Dummjungenstreich wiederholt und war zuletzt derart gereizt, wie Mali es gar nicht von ihm kannte.

Skeptisch schnalzte sie immer wieder mit ihrer Zunge und musste nachdenken. Über den Adler, die wertvolle Flüssigkeit, das seltsame Leuchten, aber auch über Mikes befremdliche Art, die ihr am meisten Kummer bereitete. Einst plagten sie Sorgen, ob sie an Mikes Seite versagen würde, und sie hatte so sehr an sich gearbeitet, nur um sich jetzt allein eingestehen zu müssen, die Sache ihrer Reifung vielleicht völlig verkehrt angegangen zu sein. Schmollend, sich selbst betrachtend, aber nicht erkennend, trat Mali, wie es ihr Verlobter oft zu tun pflegte, auf das Dach des Herrenhauses. Von hier oben sah die Welt klein aus, beherrschbar – zumindest für Mike. Mali spürte nun viel mehr ihre eigene Bedeutungslosigkeit. Die letzten Vögel sangen noch ihre Lieder zu Ende, bevor es leiser wurde und zu dämmern begann. Vorsichtig blickte sie gen Osten, gen Westen und gen Süden. Wo gäbe es wohl die Antworten für ihre Probleme?

Für den bedeutungsvollen Blick in Richtung Norden sammelte sie zuerst ihre Kräfte. Es war die Himmelsrichtung ihres Verlobten, des Winterlichts. Ihre Tränen spiegelten der Sterne Glanz. Sie fühlte ihre Schwäche, ihre Müdigkeit hinsichtlich ihrer Reifezeit und vieles mehr, was sie belastete. Diese Worte kamen nie hörbar über ihre Lippen, denn sie schämte sich dieser Gefühle. Mike gab ihr alles, er liebte und verehrte sie, half ihr und musste sie wohl für die reinste Enttäuschung halten.

„Wenn es auch jetzt Nacht wird, das Leuchten meiner Seele bleibt immerdar und ich find es wieder“, versprach sie dem Norden und fühlte sich kindlich gehalten.

Mike wachte später in der Nacht über ihren Schlaf.

Mali öffnete ihre Augen und blickte in sein Gesicht. Selbst im Schlaf machte er einen verbissenen Eindruck. Ganz sanft liebkoste sie seine Wange, streichelte heilsam seinen kräftigen Hals entlang bis zu seinem Nacken. Dort stutzte sie. Waren seine Nackenhaare schon immer so fest gewesen? Beinahe drahtig? Sie wusste es nicht. Vieles schien sich im Aufbruch zu befinden. Und sie handelte aus diesem Impuls heraus, als sie sich aus seiner Umarmung schlich, sich anzog und in schwarzer Kleidung hinauslief. Meinte sie doch wirklich, da draußen rufe die Antwort auf all ihre Probleme nach ihr. Sie wollte jenen Ort finden, den der Adler ihr in der mysteriösen Vision gezeigt hatte und das Rinnsal aufhalten oder ihm folgen.

In den folgenden Nächten fühlte sie sich dadurch freier, lebendiger und mehr sie selbst. Das Böse ließ sich nicht blicken, aber Mali stimmte den Menschen zu: Es war da. Egal, was Mike sagte.

Gerade als Mali beschlossen hatte, die kommende Nacht ausschließlich in ihrem Bett zu verbringen, zeigte sich jenes Unheilvolle in einer frischen Blutspur. Was sie anschließend entdeckte, raubte ihr einen Herzschlag und trieb sie vorerst zurück in Mikes Arme. Geborgen unter seinem Schutz, ging sie immer wieder in Gedanken einen frisch gesponnenen Plan durch und glitt in einen unruhigen Schlaf.

„Guten Morgen, mein Schatz“, war das erste, was sie dann hörte, und von draußen schien bereits hell die Sonne in ihr Zimmer. „Du hast schlecht geschlafen.“

Das hätte er Mali nicht sagen müssen. Langsam öffnete sie die Augen und blickte in Mikes besorgtes Gesicht.

„Guten Morgen, ja, ich träumte von meiner Obrussa“, flunkerte sie ein wenig, was möglich war, denn innerlich betrachtete sie ihre geplante Aktion für dergleichen.

Liebevoll legte Mike seine große warme Hand auf ihre Wange. Fast ihr ganzer Kopf fand Platz in dieser Liebkosung.

„Dein langes Warten tut mir leid, denn das ist meine Schuld“, begann er richtig bekümmert, und sie wollte ihn lieber sogleich glücklich küssen.

„Ich nehme meine Verpflichtungen sehr ernst“, brachte er sie aber sogleich auf Abstand. „Du solltest darunter nicht leiden. Aber ich musste mir unlängst eingestehen, verschiedene Sektoren vernachlässigt zu haben. Und jetzt will ich alles nicht nur aufarbeiten, sondern optimieren. Ich hoffe noch immer auf unsere Hochzeit in diesem Jahr. Wann willst du mir ein Datum nennen?“

Wie geschickt er doch von seinen Mankos zu den meinen kommt, stellte sie zerknirscht fest.

„Na, ich schaue mir erst einmal deine Optimierungen an. Und wenn die mir zusagen, dann und erst dann werde ich einen Tag finden.“

Er lächelte freudlos, nickte zwar, aber in Wahrheit, ob er sich selbst diese eingestehen konnte oder nicht, lag es anders. Natürlich, Mali wollte ihn heiraten, am liebsten jetzt gleich. Aber wenn sie in den Kalender sah, der immer dünner wurde, denn bald war die erste Hälfte des Jahres bereits um, da gefiel ihr doch keiner der Tage. Einmal war es der Geburtstag ihres Vaters, der störte, einmal war es schlicht ein ungerades Datum, später die Jahreszeit oder was auch immer. Es fand sich immer etwas, das dagegen sprach. Also war sie offenbar im Herzen noch nicht soweit und Mike spürte das und drängte sie deshalb nicht.

„Vielleicht solltest du den Tag bestimmen“, schlug sie vor, doch sein Gesicht erhellte sich kein bisschen. „Du bist viel, viel älter“, neckte sie ihn. „Reifer noch dazu, und du musst die Chose auch bezahlen.“

„Mali“, mahnte er. „Ich werde das nicht tun.“

„Es bezahlen? Dann wird es eine sehr kleine Feier und es gibt Pizza.“

Diese Vorstellung zauberte wenigstens ein winziges Grinsen auf die schmalen Lippen ihres Zukünftigen.

„Als dein Ehemann werde ich anstandslos essen, was du mir hinstellst“, log er, in einem Anflug von guter Laune. „Hast du heute schon etwas vor? Oder können wir im Bett bleiben?“

Nun sank Malis Stimmung und ihre Pläne gerieten kurzzeitig in Gefahr. Wieso musste er ihr auch unbedingt heute so ein verlockendes Angebot machen und nicht gestern, vorgestern oder morgen?

„Ja, leider. Eigentlich schon.“

„Und was?“

„Ich habe mich mit Vivien und Nikolas im Wellnessbereich verabredet. Du weißt ja, morgen kommt die neue Schneiderin, die Roger aufgetan hat, und da wollen wir uns noch abstimmen. Das mache ich hauptsächlich, um sie ein wenig abzulenken. Ich weiß längst was ich will“, sagte sie lachend, weil das zu behaupten sich gut anfühlte. „Aber sie und Alex stecken gerade mal wieder in einer Krise. Sie kommt mit der Sprache nicht raus, worum es sich dieses Mal dreht, aber es scheint schon so was wie mittelernst zu sein.“

Im Wechselspiel von Mikes Aura wurde Mali genauso schwindelig, wie sie sich fühlte, wenn sie über die Masse von zu treffenden Entscheidungen für die nächsten Tage nachdachte. Ganz zu schweigen von ihrem heutigen Vorhaben und dessen Konsequenzen.

„Gut, so werde ich mich seiner annehmen. Ich teile deine Meinung hinsichtlich einer kleineren Krise.“

Mali betrachtete seinen breiten Rücken, den er ihr nun zuwandte, sowie seinen strammen Hintern in der lockeren Schlafhose, als er aufstand, und wollte all ihre Pläne verwerfen. Sie hätte sich niemals vorzustellen vermocht, selbst Gänseblümchensex vermissen zu können.

„Wir verbringen in den letzten Wochen viel zu wenig Zeit miteinander“, bedauerte sie und wollte anfügen, dass das auch ein Grund sei, keinen Termin für die Hochzeit finden zu können.

Das muss sich ändern, entschied sie stattdessen und lächelte in sich hinein. Er wollte Zeit mit ihr verbringen, also musste er sie auch vermissen. Und mit Sehnsüchten konnte eine Frau doch arbeiten, wenn sie einen exklusiveren Höhepunkt erleben wollte. Genau das wollte sie, einen Orgasmus, bei dem sie ihre Finger in die Kissen, seine verschwitzten Schultern, die gewaltigen Oberarme oder aber in ihre eigenen Schenkel krallte und …

„Hast du es dir anders überlegt?“, raunte er, ohne sie anzusehen.

Mali schluckte. Waren ihre ihn gierig verschlingenden Blicke und die Bilder in ihrem Kopf etwa für ihn spürbar gewesen? Mit zusammengekniffenen Augen und einem undurchdringlichen, irgendwie halbseitigen Grinsen musterte er sie. Sie wünschte sich sehnlichst, jetzt nackt zu sein oder Zeit zu haben und ausreichend Selbstvertrauen, diesen riesigen Muskelmann auf den Rücken zu legen und zu …

„Ich muss los, bis später“, war, was sie stattdessen von sich gab, und sich enttäuscht aus seiner Hand schlich, weil er sie einfach ziehen ließ.

Dennoch, der letzte Blick, den er ihr zuwarf, bevor sie im Bad verschwand, sprach von reiner Gier.

Vielleicht war es gerade gut, dich ein wenig zappeln zu lassen, dachte sie da.


Wenig später wünschte Mali ihrer zukünftigen Schwägerin zwinkernd viel Vergnügen und sah Vivien hinter ihrem Vorhang des in einer Kreisform errichteten Massagebereiches verschwinden. Jedes Familienmitglied besaß dort ein persönliches Segment – ganz nach dessen Vorlieben gestaltet. Viviens Segment war klassisch im provenzalischen Stil, und auf sie wartete eine zweistündige Lavendel-Ganzkörperbehandlung. Auf Mali ganz etwas anderes, aber sicher ebenso Wirkungsvolles. Ihr Blick schweifte zu Nikolas’ Wiege. Total erschöpft vom Planschen im Wasser, schlief der ganz fest und so ließ Mali das Kind in Julis Obhut.

„Wenn jemand fragt, sagst du, ich hätte ausdrücklich um Ruhe gebeten“, erinnerte sie ihre einzige Komplizin noch einmal.

Und die nickte, ohne den spürbaren Versuch, weitere Fragen stellen zu wollen.

Mali war selbst so schlecht im Lügen, dass sie auch niemanden zwingen wollte, das glaubhaft für sie zu tun. Das war auch gar nicht wichtig. Je weniger Juli von ihrem Vorhaben wusste, desto besser. Nur gestört werden durfte sie unter keinen Umständen, das schärfte Mali ihr mehrmals ein. Gleichsam waren die einzigen dafür infrage Kommenden anderweitig beschäftigt.

Eiligst in einen viel zu feinen Frotteeanzug geschlüpft, weil sie in der Kürze der Zeit nichts Geeigneteres gefunden hatte, verschwand Mali durch eine japanische Tür aus beinahe transparentem Papier aus dem Wellnessbereich.

Draußen schlug ihr die Mittagshitze entgegen. Zudem war es sonntäglich ruhig.

Der Zeitpunkt ist ideal zur Verwirklichung meines Planes und alles läuft wie am Schnürchen, freute sie sich und bekam im nächsten Augenblick eine Gänsehaut. Hauptsache, sie käme nicht zu spät und auch auf frischer Tat ertappt zu werden, wäre fatal. Mali bebte, ihre Chancen auf ein erfolgreiches Ergebnis stiegen, wenn sie jetzt nicht noch länger herumstünde. Voller Elan rannte sie los, um zu handeln.


Mike von Irminar genoss die Ruhe dieses friedlichen Sonntagvormittags. Es wäre die längste Zeit so geblieben, wusste er. Für diesen Tag und eine nicht abzuschätzende Zeit. Der Sturm kam näher und er war der Letzte, der ihn rief, aber auch der Letzte, der ihn aufhalten könnte. Als habe er die letzten Monate verschlafen, musste er erwachen und feststellen, dass sein eigener Bruder seltsame Verhaltensweisen an den Tag legte, und Mali irgendwie auch. Beide trieben etwas hinter seinem Rücken, verheimlichten etwas. Er konnte nicht einmal Roger in seine Vermutungen einweihen, denn dessen Gebaren war Mike ebenfalls ein Rätsel.

Es gab also respektiv viele Gründe, nicht auf der Dachterrasse seines Anwesens zu sitzen und sich einer Tasse Pfefferminztee mit Honig hinzugeben. Er liebte diesen

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 09.05.2017
ISBN: 978-3-7438-1174-4

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