Cover

Die Liebe zur Farbe

Aus dem weiten Himmel, der aussah als wäre er mit dunkelgrauer Zuckerwatte bestickt, regnete es unaufhörlich und prasselte auf die überfüllten Straßen, die die Zeit so schnell vorbeizogen ließ. Regenwürmer krochen aus ihren Verstecken, damit sie ihr Leben nicht verloren, die Katzen zogen sich fauchend in ihre Häuser zurück um von ihren Besitzern mit dem Handtuch trocken gemacht zu werden und der Geruch des Himmelwassers strömte in alle Nasen, die sich draußen befanden oder an ihren geöffneten Fenstern saßen um über Gott und die Welt zu philosophieren. Genauso, wie es das Mädchen tat, das von allen nur das Farbenmädchen genannt wurde. Woran sie dachte? Sie dachte daran, wie es wäre, jetzt barfuß auf der nassen, matschigen Wiese zu stehen, die Augen zu schließen und das minimale Gewicht der Regentropfen auf ihrer Haut zu spüren. Sie würde vollkommen ruhig in diesem Moment sein; keine Gedanken, keine Gefühle – einfach nur ihre Seele und ihr Geist.  Ihr Kater kam schnurrend in ihr blau gestrichenes Zimmer. Es war kein einheitliches Blau; an manchen Stellen ihres Raumes ging es in Lila und Grün über. Es waren ihre Lieblingsfarben, denn sie symbolisierten, was sich auf ihrem ganzen Körper befand. Irgendwann einmal war ihr Zimmer rot gestrichen worden, doch sie mochte die Farbe des Blutes nicht.
Denn wenn sie zum Vorschein kam musste sie sich wieder schlecht fühlen und aufpassen, das niemand ihren Körper sah oder sie berührte, damit es nicht unnötig schmerzte. Bisher hatte sie es lange ausgehalten, und der Drang war kleiner geworden als sie das Zimmer endlich ihrer selbst anpasste. Es war offensichtlich, dass das Mädchen hier wohnte. Niemand, kein Fremder, kein Familienmitglied, kein Freund, kein Bekannter würde übersehen oder sich täuschen. Man sah es ihr einfach an: die ganzen Bücher, die Musik, die Dekoration ihres Zimmers, die Farben, die sie dazu gewählt hatte, die Konsolen, die sie besaß, die übergroßen Pullover, die überall herumlagen und der Kater, der ständig bei ihr war. Sie strahlte diese bestimmte Präsenz aus, versteht ihr?  Federleicht bewegte sie sich über das Holz, ging die braun lackierten Treppen herunter und öffnete mit zitternden Fingern die Haustür. Es mag übertrieben klingen, doch das Mädchen freute sich immer wie ein kleines Kind, wenn es um Regen ging. Niemand wusste, was sie daran so faszinierend fand, doch sie tat es – immer und immer wieder, sobald der Himmel zu weinen begann. In Melancholie versunken, überfiel sie eine bekannte Sehnsucht nach dem Nichts und das Farbenmädchen war still. Sie schloss die Augenlider, aus denen lilane Äderchen hervorstachen, und sie zerbrechlich wirken ließen – was sie irgendwie auch war. Tief sog sie die kühle, reine Luft ein und ein Lächeln malte sich auf ihre rosa Lippen, das ihre Augen erreicht hätte, wären sie nicht geschlossen gewesen. Früher war sie immer für krank gehalten worden, als sie ihre Haut zeigte. Fast niemand war so blass wie das Mädchen, manche waren neidisch und beleidigten sie, sodass das Blaufleckenmädchen ihren Körper zu hassen begann.
In diesen Momenten, wenn es regnete war es aber okay, dass sie ihn hasste.  Das Mädchen fing schon mit jungen Jahren an ihren Körper zu verzieren, damit die Stimmen endlich verstummten. Sie benutzte Eisen, Holz, Wände, ihre Fäuste und alles, was sie in ihre langen Finger bekam. Ihre Haut hatte immer unterschiedliche Farben: von Gelb zu Grün, von Rot zu Blau bis hin zu Lila. Sie mochte dieses Farbspiel, denn die Farben verschwammen oft ineinander.  Allerdings, und das bemerkte das Farbenmädchen viel zu spät, hörten die Menschen nicht auf über sie zu reden. Die Farben gaben ihnen nur noch mehr Anlass über sie zu reden und sie zu verunsichern – vor allem, wenn sie dem Druck mal wieder nicht standgehalten und Blut geflossen hatte. Doch sie kam nicht mehr davon los. Der Pinsel, der immer wieder anders aussah und die Farben, mit denen sie auf die Leinwand malen konnte, waren einfach wunderschön. Und sie war das Kunstwerk.
Das Mädchen sprach nicht gerne mit anderen Leuten über ihre besondere Art des Malens. Sie mochte es nicht, wenn man in ihrem Kopf herumblätterte als wäre sie ein offenes Buch, das jeder lesen sollte. Es gab keine Gründe, die sie alle von ihr wissen wollten. Sie malte einfach, grundlos. Die Woche wieder besonders oft. An den Beinen und Überschenkeln, an den Armen und auf den Bauch hatte sie sich wieder verziert. Zum Einen weil die alten Farben verblassten und sie Lust bekommen hatte, zum Anderen weil die Leute ihr gegenüber wieder sehr böse gewesen waren. Sie beleidigten sie wieder öfter.  Die viel zu großen Klamotten waren bereits durchnässt, sie klebten wie Sekundenkleber an ihrem Körper, ihr lief die Nase und es war bitterlich kalt, doch gehen wollte sie noch nicht. Auch wenn das hieß, dass ihre Mutter sie wieder schimpfen würde, weil sie höchstwahrscheinlich krank wurde. Sie drehte sich langsam im Kreis, richtete den Blick gen Himmel und öffnete den Mund. Sie tanzte, bis es nichts mehr zum Tanzen gab.
In ihrer Brust war ein ziepender Schmerz aufgetaucht, der das Mädchen oft heimsuchte. Besonders oft, wenn sie an die Vergangenheit dachte, ihrem Vater oder die Fehler, die sie begangen hatte. Und dann ließ das Farbenmädchen sich fallen. Schlamm bedeckte ihren brüchigen Körper und die schönen Haare, die sie heute offen gelassen hatte, weil ihr danach gewesen war. Dann kam dieser Schmerz und übertönte den ziependen. Sie seufzte erleichtert, strich sich eine nasse Haarsträhne aus ihrem Gesicht und breitete die Arme aus. Ihr Knie und der Ellenbogen, auf die sie gefallen war, pochten ein wenig – doch mittlerweile konnte das Mädchen gut einschätzen, ob Etwas gebrochen war oder nicht. Adrenalin schoss durch ihre Adern, ihr Herz hämmerte gegen das Gehäuse von Fleisch und Knochen und ihr Hunger war für diesen kurzen Moment gestillt.  Der kalte Regen, der auf die warme, bemalte Haut traf, war so beruhigend, fand das Farbenmädchen.

Der Himmel hörte danach bald das Weinen auf. 
Das Mädchen, immer noch lächelnd, erhob sich und humpelte zurück in ihr Haus. Das Knie schmerzte, doch sie war so zufrieden wie schon lange nicht mehr.
Ein großer, blau-lilianer Fleck mit grünen Punkten befand sich darauf. Ihren Ellenbogen hatte sie leider nur aufgeschliffen.
Während sie ins Bad lief ließ sie einige Fußabdrücke hinter sich, die sie später noch würde wegwischen müssen. Sie ging duschen. Erst als sie neben ihrem Kater im Bett lag, begann sie selbst zu weinen.

Der ganze Schmerz, den sie zu übertünchen versuchte, brach in den Nächten aus ihr heraus. Der als Einziger ihre Schwäche sehen durfte, war eben jener Kater, der sie täglich trösten kam und davon abhielt Blut auf den Boden tropfen zu lassen.
„D-danke ...“, flüsterte das Farbenmädchen holpernd, denn die Tränen zerrten ihren Körper aus, nahmen ihr die Luft zum Atmen. Es waren die ersten Worte, die sie heute gesagt hatte. Mit jeder Nacht starb sie ein wenig mehr, doch das war okay, denn ihr Kater war neben ihr.  Morgen würde sie ihr Kunstwerk fortführen, bis es fertig war. Und sie vielleicht tot.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 03.05.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
für alle, die an irgendwelchen psychischen Krankheiten leiden. Bleibt stark!

Nächste Seite
Seite 1 /