Seit Jahren lebte der gelangweilte Trevor in seinem Einzimmerapartment, das eine Leere aufwies. Der Achtundzwanzigjährige kam sich schlimmer vor, als auf dem Friedhof. Nichts rührte sich. Er brauchte etwas für sein Gehör, bevor er sich selbst zwar nicht als Misanthrop, aber als griesgrämiger Einsiedler schimpfen konnte. Er besaß seit Jahren nichts, außer die Matratze, die er beim Sperrmüll einst entdeckte.
Niemand hatte ihn gebeten, in seiner Bude zu verschimmeln. Niemand hatte ihn gebeten, sich zu verstecken und niemals wäre eine einzige Person auf die Idee gekommen, ihn so dermaßen in die Enge zu treiben, dass er verschlossen seine möglichen Depressionen mit einem inneren Kampf unterdrückte.
Vor Jahren war er erst genervt, dann sauer, später außer sich vor Wut und dann ziemlich aggressiv und seelisch detonierend. Es war jegliche Form vom Lärm, der ihn auf die Palme brachte. Er wusste, wie es enden könnte, darum kaufte der Arbeitslose sich von dem bisschen an Finanzen Lebensmittelvorräte, denn er spürte, wie immer harmlos klingendere Geräusche ihn in Rage brachten. Als er letzten Endes von einer Fliege überrascht wurde, ließ ihn nichts davon ab, dieses Mistvieh mit hirnloser Gewalt zur Strecke zu bringen. Kein Erbarmen mit der Umwelt, kein Erbarmen mit dem Insekt. Jetzt käme kein Insekt mehr in seiner Bude. Nicht einmal aus den Ritzen, was ihm einen großen Nachteil verschaffte.
Es wurde seit Jahren nicht gelüftet und schon längst hätte ein Nachbar den Geruch der Verwesung gemeldet. Zu seinem Glück lief nichts. Kein Schreiben, keine Aufforderung. Trevor Kilner schlich sich zur ruhigsten Zeit (etwa zwei Uhr morgens) nach draußen, um den Briefkasten zu leeren. Eine sofortige Konfrontation mit verschiedenen Lärmmethoden würde ihn umbringen. Wahrscheinlich hatte er sich seine eigene Therapie angewendet und genau jetzt will er sich kontinuierlich dem normalen Lebensweg anpassen. Es musste einen Neustart geben, oder er würde ein verbitterter Einzelgänger sein, an dem das gesamte Leben stur und ruckartig vorbeizog wie ein Schnellzug. Vielleicht benötigte er doch Möbel? Wäre zumindest ein Anfang, er würde bestimmt eines Nachts aufwachen, wenn er ein Knacksen vernehmen sollte. Sperrmüll suchen, das wäre sinnvoll.
Draußen herrschte Windstille, was im Hochsommer manchmal üblich war. Nach den Geräuschen in seiner Wohnung zu urteilen, befand er sich sozusagen im Vakuumbehälter. Also mussten Schritte erfolgen...oh, zu spät.
Die Sonne war im Begriff, zu erscheinen. Der Zeitpunkt, wo die ersten Leute zur Arbeit gingen und jeden Geräuschpegel dabei ignorierten, bewusst oder unbewusst. Deshalb legte er sich schlafen und wartete einfach ab. Es kam nicht dazu, dass ein Traum herbeigeführt wurde. Bei so einem Leben, das nichts bot, durfte er keine Gegenleistung erwarten. Wann hatte er das letzte Mal richtig gegähnt? Bei jedem Versuch, sich zu recken oder zu strecken, stoppte der Körper das Entspannungsvermögen, denn seine gesamten Hormone waren völlig abgeschlafft. Noch nicht einmal Selbstgespräche wendete er an. Trevor konnte also davon ausgehen, dass er unter Heiserkeit litt und mit allen Sinnesorganen, die mit akustischen Signalen zu tun hatten, eine Menge Arbeit auf ihn zukam. Er ließ sich auf die Matratze nieder und vergrub sich unter seinem Kissen und der Bettdecke.
Am nächsten Tag, es war bereits vierzehn Uhr, stand er auf und lief hin und her wie in einer Gummizelle. Wieder einmal ließ er den Tag an sich vorbeiziehen, als wäre eine Verschwendung gerechtfertigt. Aber diesmal nahm er ein Ziel vor sich. Er würde seine Ohrenstöpsel mitnehmen und um zwei Uhr morgens seine Aktion starten. Die Voraussetzung bestand darin, sich zu beeilen. Denn würden pöbelnde Leute sein Unterfangen verändern, ging mit einem Happen alles in die Brüche. Gerade jetzt, wo er wieder langsam Leben in seinem Körper zu spüren begann und immer mehr zu schätzen wusste.
Zwei Uhr morgens. Die Aktion konnte beginnen. Die Ohrstöpsel dienten als Maskottchen und er machte sich bereit. Die übrigen Bewohner schliefen fest und belanglos. Der Arbeitslose schlich sich aus der Wohnung, nahm seinen Schlüssel und schloss die Tür zu. Als er draußen durch die Straßen schlenderte, fand er Möbel im einwandfreien Zustand. Stühle, Tische, ein Ofen, ein Fernseher, eine Kommode, Regale und ein Sessel. Ein Teil nach dem anderen zerrte er mit aller Kraft zu seiner Wohnung im ersten Stock. Er fing mit den untergewichtigsten Möbelstücken an und erfreute sich daran, eine reibungslose Aktion durchzuführen, die ihn alles verschönern könnte. Wenn doch im kurzen Moment Zweifel aufkämen, würde er sich selber eingestehen, dass er sich wie ein Verbrecher aufführte. Unversteuerte Einkommen brächten viel Ärger ein und ein gewisser Geräuschepegel würde nicht von null auf zehn Punkte steigen, sondern gleich auf hundert. Diese Ignoranten da draußen konnten einfach kein Verständnis aufbringen, sie würden es auch nicht wollen. Diese Behörden oder Leute, die sich zu viel für die Behörden einsetzten, gingen einfach ihren Pflichten nach, ohne auf mögliche Nebenwirkungen achten zu wollen.
Als er fertig wurde und zum Schluss den Ofen mitzerrte, tat sein ganzer Körper weh. Er schloss die Wohnung auf und erledigte den Rest. Nun saß er auf seine Matratze und grübelte vor sich hin.
Neuer Plan, oder besser nächster Plan: Morgen um diese Zeit werde ich die Fenster öffnen und dann die Ohrstöpsel frei machen, dachte er. Dann würde er die Ritzen und Löcher freilegen, um Möbel und Wände ein Knacksen vernehmen zu lassen. Und viele Schritte würden folgen, das war ein Versprechen. Bei jeder Tätigkeit, die er absolvierte, setzte er die Ohrenstöpsel ein. Ob er die Toilettenspülung betätigte oder sich buffetartige Essen kreierte, nie vergaß er seine Sicherheitsmaßnahmen. Und nun war diese Zeit angebrochen, die eine Selbstheilung produzieren sollte. Dann lag er sich schlafen. Die Ohrenstöpsel auf, aber diesmal nicht unter seinem Kopfkissen versteckt wie in seinem restlichen Leben, das er verschwenderisch in Kauf nahm. Zum ersten Mal schlief er normal wie die meisten anderen Leute.
Nächster Tag, neues Glück. Als er aufwachte, konnte er es nicht glauben. Er hatte tatsächlich diesen Schritt gewagt, den er zu träumen geglaubt hatte. Als nächstes fiel ihm ein, die Möbel in die richtige Position einzubringen, aber der Fernseher durfte noch ein Weilchen warten. Schließlich wollte man ja gewisse Dinge reibungslos durchführen. Jetzt schon mitten im Leben zu erscheinen wäre riskant und gesundheitsgefährdend.
„ Ich kann es kaum erwarten, nach so vielen Jahren mein Fenster zu öffnen, falls ich es öffnen kann.“
(Oder es sich öffnen lässt). Jahrelang redete er mit keiner Menschenseele und er gewöhnte sich sogar Selbstgespräche ab, um sich auf das vorzubereiten, was er offenbarte. Doch es war an der Zeit, erneut von vorne zu beginnen.
„ Wenn ich dieses Fenster öffne, dann erst, wenn es zwei Uhr morgens ist. Die lärmenden Autos würden mein Trommelfell zur Explosion bringen“, flüsterte er.
Ganz so Recht hatte er nicht, denn es gab mal einen Fall, der jahrelang sich im Luftschutzbunker befand, von der Außenwelt so dermaßen abgeschnitten, dass Außerirdische dagegen hohe soziale Kompetenzen besäßen. Er begann den schlimmsten Fehler seines Lebens, indem er ohne Bedenken herauskroch, während eine Rakete vor seiner Nase startete. Schon, als er die Luke zu öffnen begann, blutete er aus sämtlichen Öffnungen, die der menschliche Körper besaß. Dann explodierte der Körper vollends, als hätte er eine Handgranate verschluckt. Und das konnte ein Trevor Kilner, der stets hintern Mond zu kleben schien, sich zu gut vorstellen.
Er saß geduldig auf seiner Matratze und ließ die Zeit verstreichen. Für sein Alter besaß er schon schütteres Haar, seine Moral glich die eines Fünfzigjährigen, wovon auszugehen war, dass sein kurzes Leben wirklich eine Spielerei mit dem Feuer war und seine Lebenserwartungen ziemlich eingeengt verliefen.
Zwei Uhr morgens.
Er wachte auf wie ein fünfjähriger Knabe, der sich über seine Geburtstagsgeschenke freute und sich in etwas verrannt hatte, reich beschert zu werden. Er sagte sich: Jetzt ist es soweit. Ich öffne zuerst das Fenster und versuche dann meine Ohrstöpsel zu entfernen, aber sachte! Wenn auch nur irgendwo ein Tropfen Blut rinnt, werde ich wohl noch einen Tag warten.
Er hätte auch zum Ohrenarzt gehen können, doch der Straßenlärm tagsüber lasse seine Ohrstöpsel niemals Schutz gewährleisten. Er wandte sich zum Griff und bewegte ihn langsam nach oben. Natürlich bereitete ihn dies anfängliche Schwierigkeiten, erst einmal sich an die nächste Hürde heranzutrauen und dann war dieser Kraftakt. Er müsse es so sehen, als wäre alles verrostet. Nach circa zwei Minuten schaffte er es tatsächlich und war nicht einmal mit Schweißperlen übersäht. Er war mehr darauf aus, mit Geschick Probleme zu lösen.
Der Wind brachte den Herbst deutlich herüber. Trevor wich zurück und begann den Versuch, einen seiner Ohrstöpsel zu entfernen. Zuerst pochte es an seiner Schläfe und die Kopfschmerzen erschienen plötzlich, aber Blutstropfen waren nicht vorhanden. Dann nahm er sich Nummer zwei vor. Natürlich musste er sich mit gewissen Schmerzen herumquälen, dennoch passierte nichts Schlimmeres. Draußen gab es keine Stimmen, die miteinander kommunizierten, es war dort lediglich einer Geisterstadt ähnlich. Nur Blätterrauschen konnte er vernehmen und sein Trommelfell ließ Toleranz walten. Gott sei gepriesen, sagte er sich und er ging schlafen.
Einige Stunden später wurde er durch ein Gebrüll geweckt. Vermutlich konnte ein Besoffener seinen Frust nicht verinnerlichen und ließ freien Lauf auf die Umwelt einwirken. Daraufhin knipste er das Licht an, weil er möglicherweise mit einem Schnupfen zu kämpfen hatte und er dringend ein Taschentuch benötigte. Würde er keines besitzen, konnte er immer noch improvisieren. Der Einsiedler blickte auf seine Handfläche und entdeckte einige Blutstropfen. Das hieße also, wäre dieser grölende Vollidiot nicht gewesen und existierten keine anderen Blödmänner, so hätte der Versuch seine Wirkung zu hundert Prozent erfolgt. Aber diese Nebenwirkungen waren unnötig. Er musste sich entscheiden: Fenster schließen oder Stöpsel benutzen?
Trevor entschied sich für letzteres, aber erst einmal betrat er das Badezimmer, beugte sich über das Waschbecken und ließ über sein rechtes Nasenloch kaltes Wasser laufen. Nach zehn Minuten nahm er die Stöpsel, knipste das Licht aus und legte sich hin. Diesmal für längere Stunden.
Nächster Tag, nächster Schritt. Schlafen bis zur Mittagszeit gehörte an der Tagesordnung. Nicht arbeiten, (noch wäre es relativ voreilig), alles in aller Ruhe betrachten, um sich vielleicht doch der Zivilisation anzuschließen. Um den Anfang zu bringen, entschloss er sich nach einem Frühstück aus seinen Lebensmittelvorräten den Fernseher einzuschalten, aber vorerst lautlos. Aller Anfang war schwer. Die Kanalsuche, dann noch mit der Feinabstimmung zu experimentieren, was auch noch als extrem knifflige Angelegenheit zu betrachten war, denn er kannte sich mit Technik nicht aus, war aber auch nicht ganz ahnungslos, wie er sich selbst beschrieb.
Trevor war verbissen und etwas an Grundkenntnissen war möglicherweise hängen geblieben, sodass er in seiner Vergangenheit herumkramte und siehe einer an: Es gab schon einmal ein Erlebnis, als er zwölf war. Sein erster eigener Fernseher bekam er zu Weihnachten. Seine Eltern waren zwar nicht gerade gut situiert, aber auch alles andere, als von Engpässen gepeinigt. Jedenfalls hoffte er, herumzappen zu können, als er den Stecker in die Steckdose drückte. Leider war die Enttäuschung zu groß und er bat seinen Eltern mal nachzuschauen, woran das Problem lag. Nach einer halben Stunde setzten sie der Suche ein Ende und der kleine Trevor durchstöberte das richtige Programm, ohne auf die Zeit zu achten, sich zu bedanken. Das war ein Rückblick, der sich ergänzend verdeutlichte. Das Mosaik der Erinnerung hatte sich nun vervollständigt und er erkannte seine momentane Aufgabe.
Als er fertig wurde, entstand eine weitere Enttäuschung, die ihn sogar verwirrte. Er konnte umschalten, wie er wollte.
Jedes Programm – Jeder Sender präsentierte die gleiche Sendung.
Eine Dauerwerbesendung.
Ein Mann in mittleren Jahren, unseriös wirkend, abertrotz allem sich bemüht, seine Authentizität beibehalten zu können, warb mit experimentellen bishin zu genehmigten Produkten, die Erweiterungen von marktorientierten Gütern darstellten. Aber der Einsiedler verstand nur Bahnhof. Genausogut hätte er abschalten oder wegschauen können. Er murmelte zu sich, was dieser Quatsch sollte. Der nächste Schritt bestand darin, sämtliche Löcher und Ritzen, die vollgestopft waren, von Papierfetzen und Ähnlichen zu befreien.
Zwei Uhr morgens. Bevor
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 11.09.2015
ISBN: 978-3-7396-1313-0
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